Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 1 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6
ОглавлениеIn der Kinderklinik Birkenhain machte sich Dr. Kay Martens große Sorgen. Es ging um seine Schwester, die junge Kinderärztin Dr. Hanna Martens.
Hanna hatte sich eine starke Erkältung zugezogen, die sie ein wenig zu leichtgenommen hatte. Auf seine besorgten Worte hatte sie nur lächelnd gesagt: »Ich bin doch keine Zuckerpuppe, Kay. Du kennst mich doch, mich wirft so schnell nichts um. In ein paar Tagen ist alles wieder vergessen.«
Das war am Wochenende gewesen. Aber obwohl Hanna sich am Sonntag ziemlich geschont hatte, verschlimmerte sich ihr Befinden über Nacht. Ihr Husten wurde stärker. Es war anhaltender trockener Husten. Ihr Atem ging schneller, und es traten beim Husten und Atmen auf einmal Schmerzen in ihrer Brust auf. Hanna war Ärztin genug, um sofort zu erkennen, dass sich da etwas Ernsteres zusammenbraute.
Als Kay am Montagmorgen den Wohnraum betrat, wunderte er sich darüber, dass Hanna nicht wie an jedem anderen Morgen schon wach war und das Frühstück für sie beide fertig hatte. Rasch stellte er die Kaffeemaschine an und deckte den Frühstückstisch.
Danach klopfte er an Hannas Zimmertür und rief lachend: »Hallo, Schwesterherz, aufgewacht, es wird Zeit.«
Als er auch nach einem nochmaligen Klopfen keine Antwort von ihr bekam, öffnete er besorgt die Tür und betrat das Zimmer.
Im gleichen Augenblick begann Hanna erneut anhaltend zu husten.
»Um Gottes willen, Hanna, was ist denn los mit dir?«, kam es bestürzt von Kays Lippen, denn aus fiebrig glänzenden Augen sah Hanna ihn an.
»Ich glaub, mich hat es doch erwischt, Kay. Du musst heute wohl ohne mich auskommen.« Ihre Stimme war heiser, und ihr Lächeln kläglich.
»Du machst vielleicht Sachen! Hanna, du hast ja hohe Temperatur«, sagte Kay, der eine Hand auf ihre Stirn gelegt hatte, nun doch erschrocken.
»Ich hole rasch ein Thermometer, dann werde ich dich erst einmal untersuchen. Du stehst auf keinen Fall auf.«
Als er mit seiner Untersuchung fertig war und auch die Temperatur gemessen hatte, sagte er betroffen: »Neununddreißig. Ich denke, dass wir nachher eine Lungenaufnahme machen.«
»Lungenentzündung, nicht wahr, Kay? Ich habe es schon selber erkannt«, kam es heiser über Hannas trockene Lippen. »Und da habe ich immer geglaubt, mir kann so etwas nicht passieren.«
»Es ist nun einmal passiert, Hanna. Ich hole dir jetzt etwas zu trinken, danach schicke ich dir Schwester Elli herauf, die dich in eines unserer Krankenzimmer bringt. Wir werden die Geschichte schon in den Griff bekommen.«
»Ich kann doch hier oben …«
»Auf keinen Fall. Ich will, dass du auf die Station kommst, da hast du bessere Pflege. Wenigstens für ein paar Tage. Du bist jetzt meine Patientin.«
Kay brachte Hanna ein großes Glas Mineralwasser, das sie bis auf den letzten Tropfen leer trank.
Obwohl Kay wusste, dass es selten zu Komplikationen kam, seitdem man eine Lungenentzündung mit Antibiotika behandeln konnte, machte er sich große Sorgen um Hanna. Denn auch mit einer Lungenentzündung war nicht zu spaßen.
*
In einer der großen Villen in einem Vorort von Regensburg lebten Professor Günther Martens und seine Frau Leonore. Eine Köchin und das Hausmädchen Lena wohnten schon seit Jahren im Haus und sorgten dafür, dass alles in Ordnung war. Trotzdem packte Leonore Martens mit an, denn sie war keine Frau, die nur die Hände in den Schoß legte.
Leonore war eine gut aussehende, gepflegte Frau mit ihren einundsechzig Jahren. Das schwarze Haar wies erst vereinzelte graue Härchen auf. Aber seit ihre einzigen Kinder, Kay und Hanna, sich selbstständig gemacht und sich so weit weg von der Heimat mit ihrer Kinderklinik eine eigene, schöne Existenz aufgebaut hatten, fehlte noch etwas, und sie fühlte sich oft sehr einsam.
Dabei war ihr Mann Günther fast jeden Nachmittag im Haus. Erst vor einem Jahr war er, fünfundsechzig geworden, in den Ruhestand getreten. Das betraf jedoch nur seine aktive Arbeit. Vormittags hielt er an der Uni noch seine Vorlesungen. Auch sie selbst war im karitativen Bereich tätig. Trotzdem vermisste sie vor allem die Fröhlichkeit ihrer selbstbewussten und klugen Hanna. In der letzten Zeit war immer öfter der Wunsch in ihr, ihre beiden Kinder einmal für einige Tage zu besuchen.
Mitten in ihrer Unterhaltung am Abendbrottisch klingelte draußen in der kleinen Halle das Telefon. Lena klopfte kurz danach und sagte: »Ein Anruf für Sie, Frau Martens. Es ist Ihr Sohn Kay.«
»Danke, Lena, ich komme schon.« Rasch erhob Leonore sich.
Als sie nach wenigen Minuten zurückkam, fragte ihr Mann lächelnd: »Nun, Liebes, was wollte der Junge?« Doch das Lächeln erstarrte auf seinem Gesicht, als er in ihr Gesicht blickte.
»Hanna ist erkrankt, Günther. Sie hat sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen. Ich will sofort hin. Bitte erkundige du dich, wann der nächste Zug fährt, ich packe nur rasch einen kleinen Koffer.«
»Aber Leonore, Liebes, du willst doch wohl nicht mitten in der Nacht fahren wollen? Reicht es nicht, wenn du morgen früh den ersten Zug nimmst?«
»Nein, Günther, ich hätte doch die ganze Nacht keine ruhige Minute mehr. Außerdem ist es gerade erst zwanzig Uhr vorbei. Ich fühle es in meinem Herzen, dass unsere Hanna mich jetzt braucht. Bitte, tu, um was ich dich gebeten habe. Ich beeile mich mit dem Packen. Und bestelle mir auch sofort eine Taxe zum Bahnhof.«
Mit leichtem Kopfschütteln sah der hagere Mann hinter seiner Frau her, dann stand auch er auf und ging in die Halle zum Telefon.
Eine knappe Stunde später befand sich Leonore Martens schon im Eilzug, in Richtung Hannover. Obwohl ihr Mann für ein Schlafwagenabteil gesorgt hatte, war Leonore Martens viel zu aufgeregt, um auch nur ein Auge zu schließen. Ihre Gedanken galten ihrer erkrankten Tochter, ihrer Hanna.
In Gedanken an die Vergangenheit schlief Leonore Martens schließlich doch ein und wurde erst kurz vor dem Ziel vom Zugschaffner geweckt.
*
Martin Schriewers, der gerade seinen Dienst in der Aufnahme angetreten hatte, sah überrascht auf die schlanke gepflegte Dame, die aus dem soeben vorgefahrenen Taxi stieg.
Das war doch die Mutter von Kay und Hanna Martens. Kay musste sie wohl noch am vergangenen Tag benachrichtigt haben.
Eilig verließ er die Aufnahme und begrüßte sie höflich. Kennengelernt hatten er und seine Frau Marike die Eltern von Kay und Hanna bei der Eröffnung der Klinik, und das war inzwischen schon fast eineinhalb Jahre her. Nach ein paar Fragen nach dem Befinden von Marike fragte Martin Schriewers, ob er eine Schwester rufen sollte. Aber Leonore Martens antwortete mit einem ernsten Lächeln: »Nicht nötig, Herr Schriewers, ich kenne mich ja hier schon aus. Sagen Sie mir nur, ob meine Tochter oben in der Privatwohnung liegt oder auf der Krankenstation.«
»Auf der Station, Frau Martens, damit ständig jemand in der Nähe ist.«
»Danke, Herr Schriewers, dann gehe ich sofort hinauf«, erwiderte Leonore Martens. Sie nickte ihm noch einmal kurz zu und ging mit eiligen Schritten die Treppe hinauf.
Kay kam gerade mit sehr ernstem Gesicht aus Hannas Krankenzimmer. Seine Augen weiteten sich überrascht, als er die Frau sah, die mit eiligen Schritten auf ihn zukam: »Du, Mutter? Wo kommst du denn schon so früh am Morgen her?« Zärtlich umarmte er die schlanke Gestalt und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
»Wo soll ich schon herkommen, mein Junge? Mich hat es nach deinem Anruf gestern Abend nicht mehr daheim gehalten. Aber sag mir zuerst, wie es Hanna geht. Du hast mir und Vater mit deinem Anruf einen gehörigen Schrecken eingejagt.«
»Tut mir leid, Mutter, aber Hanna hat es schlimm erwischt. Ich glaube nicht, dass sie dich erkennen wird, die Temperatur ist auf einundvierzig gestiegen. Ich habe ihr gerade wieder Medikamente verabreicht, und auch sonst tun wir alles, um die Sache in den Griff zu bekommen.«
Rasch legte Leonore ihren Mantel ab und reichte ihn Kay.
»Wir sehen uns dann später, Junge.« Damit wandte sie sich ab und betrat leise das Krankenzimmer, das Kay kurz zuvor verlassen hatte.
Es war genauso, wie es Kay gesagt hatte. Schwester Elli, die gerade wieder den Schweiß von Hannas fieberheißer Stirn getupft hatte, machte bereitwillig Platz, als sie die Mutter der von allen verehrten jungen Chefin sah.
Mit leiser Stimme begrüßte sie Leonore und verließ dann still das Zimmer, um Mutter und Tochter für kurze Zeit allein zu lassen.
»Hanna, Mädel, ich bin es, Mutti«, sagte sie mit weicher Stimme. Sie beugte sich über die Fiebernde und legte mit einer sanften Geste ihre Hand auf die glühende Stirn.
Doch wie Kay es gesagt hatte, Hanna nahm die Mutter überhaupt nicht wahr. Sie hatte die Augen geschlossen, und ihr Kopf, die ganze Gestalt, bewegten sich unruhig hin und her.
Mit zarter Hand tupfte Leonore die Schweißperlen von Hannas Stirn und umfasste mit ihren kühlen Händen die fieberheißen ihrer Tochter. So blieb sie sitzen, bis Schwester Elli mit einer Kanne Tee und einem Glas das Zimmer wieder betrat.
»Wie lange geht das schon so, Schwester Elli?«, wollte sie wissen.
»Heute ist der zweite Tag, Frau Martens.«
»Ich bleibe einige Tage hier auf Birkenhain und werde Sie in der Betreuung und Pflege meiner Tochter ablösen, Schwester Elli. Ich will mich jetzt nur rasch umziehen und mich ein wenig frisch machen. Es war eine lange Fahrt hierher nach Ögela.«
»Darf ich Ihnen einen Kaffee besorgen lassen, Frau Martens?«
»Danke für das Angebot, Schwester Elli, aber ich werde mich in der Wohnung selbst versorgen.«
»Gehen Sie nur unbesorgt, Frau Martens, ich werde Frau Doktor inzwischen nicht aus den Augen lassen.«
Es dauerte noch zwei Tage und Nächte, in denen das Fieber in Hannas Körper wütete und sie schwächte, dann bekam Kay die Lungenentzündung endlich in den Griff, und die Temperatur ging langsam zurück. Nur für Stunden war Leonore in dieser Zeit dazu zu bewegen gewesen, von der Seite ihrer Tochter zu weichen, um etwas Schlaf zu bekommen.
»Wenn du noch lange so weitermachst, Mutter, dann kannst du dich gleich neben Hanna in ein Bett legen«, hatte Kay besorgt gesagt. Aber Leonore hatte immer nur abgewehrt und gesagt: »Ich kann Hanna nicht allein lassen. Sie braucht mich jetzt.«
Erst als sie wusste und selbst sah, dass Hanna die kritischen Stunden ohne weiteren Schaden überwunden hatte, zog sie sich erschöpft nach oben in Hannas Schlafzimmer zurück und fiel in einen tiefen, fast zehn Stunden andauernden traumlosen Schlaf.
*
»Wie hoch ist die Temperatur, Schwester Elli?« Fragend sah Kay die Oberschwester an, die gerade mit dem Fieberthermometer aus Hannas Zimmer kam.
»Weiter gesunken, es sind nur noch achtunddreißig sechs, Herr Doktor. Aber ich glaube, dass die vergangenen Tage sehr viel Kraft gekostet haben.«
Hannas Augen waren noch ein wenig trüb, als Kay an ihr Bett trat.
»Hallo, Schwesterherz, du hast uns vielleicht Sorgen gemacht! War wohl nichts, als du mir sagtest, dass dich so rasch nichts umwirft? Aber ganz im Ernst, ich bin ungeheuer erleichtert, dass wir die Sache endlich in den Griff bekommen haben. Deine Temperatur ist zwar noch erhöht, aber wenn es sich so weiterentwickelt, dann können wir alle zufrieden sein. Wie fühlst du dich?«
»So, als habe man mich durch den Wolf gedreht, am ganzen Körper wie zerschlagen«, antwortete Hanna mit matter Stimme.
»Kann ich mir vorstellen. Fieber schwächt den Körper immer ganz enorm.«
»Hör mal, Kay, mir war so, als ob Mutti hier war. Oder habe ich das vielleicht nur geträumt?«
»Du hast nicht geträumt, Hanna. Mutter kam gleich am zweiten Tag deiner Erkrankung und sie war kaum von deiner Seite zu bekommen. Gott sei Dank, jetzt schläft sie schon fast zehn Stunden. Sie war erst dazu bereit, als das Fieber bei dir zu sinken begann. Aber du solltest noch nicht zu viel reden, noch bist du nicht über den Berg und brauchst viel Ruhe. Du hast jetzt vier Tage keinerlei feste Speisen zu dir genommen. Du solltest versuchen, es jetzt mit etwas leichter Kost zu versuchen. Ich werde dafür sorgen, dass man dir eine kräftige Hühnerbrühe und dazu etwas frisches Weißbrot bringt. Deine Wangen sind in den wenigen Tagen richtig schmal geworden. Versuche jetzt, noch ein wenig zu schlafen. Schlaf ist in deinem Fall nun die beste Medizin.«
»Ich bin auch schrecklich müde, Kay«, entgegnete Hanna mit matter Stimme und schloss die Augen.
Leise verließ Kay nun das Krankenzimmer. Im Schwesternzimmer gab er Schwester Elli noch einige Anweisungen, danach ging er mit eiligen Schritten ins Erdgeschoss hinunter, wo er von seinen Mitarbeitern schon erwartet wurde.
*
Nach weiteren drei Tagen war Hanna zum ersten Mal fast fieberfrei. Am Abend, als Hanna schon schlief, saß Leonore Martens mit Kay oben in dem privaten Wohnraum und unterhielt sich mit ihm über Hanna.
»Weißt du, Junge«, sagte sie zu Kay. »Ich bin so froh darüber, dass es Hanna etwas besser geht. Aber ich meine, sie sollte nicht zu rasch wieder alle Aufgaben und Pflichten übernehmen. Ich will damit sagen, dass sie sich irgendwo in gesunder Luft ein paar Wochen so richtig von ihrer Erkrankung erholen kann. Ich weiß, du könntest jetzt einwenden, dass die Luft hier in der Heide gesund ist. Ich will es auch nicht abstreiten. Aber du kennst auch Hanna. Wenn sie hierbleiben würde, dann würde es ihr Ehrgeiz und ihr Selbstbewusstsein nicht lange zulassen, zuzusehen, wie ihr alle schafft, während sie selber die Hände in den Schoß legt. Nein, mein Vorschlag wäre schon, vielleicht für ein paar Wochen in den Schwarzwald zu fahren. Nun, was meinst du dazu?«
»Eine blendende Idee, Mutter, wenn es dir gelingt, Hanna dazu zu überreden. Weißt du, ich war inzwischen schon zwei Mal für einige Tage auswärts zu einem der Ärztekongresse, und Hanna ist dagegen überhaupt noch nicht fort gewesen. Ein richtig schöner Erholungsurlaub würde ihr guttun. Natürlich muss sie sich zuerst noch hier ein wenig erholen. Von heute auf morgen geht es freilich nicht.«
Eine halbe Stunde später wurde es dunkel hinter den Fenstern der kleinen Giebelwohnung.
Schon am nächsten Tag brachte Leonore Hanna gegenüber ihren Vorschlag zum Ausdruck, in Kürze einige Wochen in den Schwarzwald zu fahren, um sich richtig zu erholen und auszukurieren.
»Hat Kay dir das vorgeschlagen, Mutti?«
»Nein, Hanna, dieser Vorschlag kommt von mir persönlich. Aber ich habe gestern Abend mit Kay darüber gesprochen. Er findet ihn gut. Es geht ja nicht gut, wenn du dich zu schnell wieder in deine Arbeit stürzt und dadurch vielleicht sogar einen Rückfall bekommst. Während der letzten acht Tage musste es auch ohne dich gehen. Kay wird also auch noch einige Wochen länger allein auskommen müssen.«
»Wollt ihr mich hier loswerden, Mutti?« Hannas Stimme, noch immer etwas leise, klang halb scherzend und halb ernst.
»Aber, Hanna, Liebes, das glaubst du doch wohl selbst nicht«, entgegnete Leonore Martens betroffen.
»Es war nur ein Scherz, Mutti. Natürlich bedeutet mir die Arbeit sehr viel. Aber ich sehe auch ein, dass ich noch lange nicht so weit bin. Ich bin schon glücklich, dass ich bis jetzt alles so gut überstanden habe. Ich verspreche dir, dass ich darüber nachdenken werde … Beruhigt?«
»Ja, ich bin beruhigt. Du hast Zeit genug, es dir zu überlegen, denn bis zum Ende der Woche, das sind noch fünf Tage, bleibe ich bei euch. Danach fahre ich wieder zu Vater zurück, denn allzu lange möchte ich ihn nicht allein lassen.«
»Du bist ein Schatz, Mutti. Noch fünf Tage, dann haben Kay und ich ja noch etwas von dir. Weißt du, ich fühle mich ganz gut, und ich möchte eigentlich morgen hinauf in unsere Wohnung, da haben wir beide es etwas gemütlicher. Ich kann über den Tag auf der Couch liegen und mich von dir verwöhnen lassen. Außerdem können wir für die restlichen Tage noch ein zweites Bett in mein Schlafzimmer stellen lassen. Es würde mir guttun, dich einmal ganz in meiner Nähe zu haben, nicht nur hier im Krankenzimmer. Ich werde nachher, wenn Kay kommt, mit ihm darüber reden.«
»Ist es nicht noch ein wenig zu früh, Liebes?«
»Warum sollte es, Mutti? Ich bin heute schon den zweiten Tag fieberfrei. Außerdem habe ich doch Ärzte genug in unmittelbarer Nähe. Ich werde mir bestimmt noch nicht zu viel zumuten.«
»Das will ich wohl auch hoffen, Hanna«, kam da Kays Stimme von der Tür her. Er hatte das Zimmer unbemerkt betreten und die letzten Worte Hannas mitbekommen.
»Schön, dass es dir wieder besser geht. Ich möchte jedoch heute zur Kontrolle noch eine Lungenaufnahme machen. Ich denke doch, dass du mit dieser Maßnahme einverstanden bist. Noch einmal möchte ich die vergangenen Tage, vor allen Dingen die ersten fünf Tage, nicht durcherleben.«
»Natürlich bin ich einverstanden. Sag mir nur Bescheid, wann, dann stehe ich dir zur Verfügung. Ich möchte auch in unsere Wohnung hinauf, damit Mutti es für die paar Tage, die sie ja noch bei uns ist, ein wenig bequemer hat. Liegen kann ich auch oben.«
»Von mir aus, Hanna. Ich weiß ja, dass du jemanden bei dir hast, der schon dafür sorgen wird, dass du dir noch nicht zu viel zumutest. Nicht wahr, Mutti?«
Leonore Martens nickte nur zustimmend, dann sagte sie: »Ich wollte eigentlich noch etwas anderes zur Sprache bringen. Ihr wohnt zwar oben in eurer Wohnung recht gemütlich, aber reicht es euch auf die Dauer gesehen? Vater sagte doch vor einiger Zeit, dass ihr vorhabt zu bauen. Wie sieht es denn mit diesem Vorhaben aus? An den Finanzen kann es doch nicht liegen, oder? Ihr habt beide die Klausel in Opas Testament erfüllt, habt euch eure Existenz aufgebaut. Ihr könnt euch jederzeit euer Erbe auszahlen lassen. Und wir sind ja schließlich auch noch da.«
»Zum nächsten Frühjahr ist Baubeginn, Mutti. Wir haben schon vor längerer Zeit die ersten Vorgespräche mit einem Architekten geführt. Und zwar wollten wir hinten, hinter dem Klinikpark, einen Zweifamilienbungalow bauen lassen. Das Grundstück gehört auch zum Klinikgebäude, also uns. Aber gut Ding will Weile haben. Du kennst das alte Sprichwort, Mutti. Natürlich brauchen wir dazu auch unser Erbteil von Opa. Unsere jetzige Wohnung kann dann von einem unserer Mitarbeiter oder für Pflegepersonal genutzt werden. Bist du zufrieden mit dieser Auskunft?«
»Prima, mein Junge, mehr wollte ich auch nicht wissen«, gab Leonore Martens ihrem Sohn lächelnd zur Antwort.
*
Dann war es so weit. Es war ein sonniger Herbstmorgen, als Hanna ihre Koffer verstaute, um ihre Reise in den Schwarzwald anzutreten.
Bis zuletzt war Kay dagegen, dass Hanna mit dem eigenen Wagen fuhr. Als sie schon die Koffer verstaut hatte, sagte er noch: »Ich bin nicht damit einverstanden, Hanna. So kräftig bist du noch nicht. Die lange Fahrt ist viel zu anstrengend für dich. Willst du es dir nicht noch überlegen und mit dem Zug fahren? Die Reise wäre für dich viel angenehmer und bequemer.«
»Lass nur. Ich bin mit dem Wagen unabhängiger. Außerdem kann ich ja längere Pausen einlegen. Mich treibt doch niemand«, erwiderte Hanna mit einem beruhigenden Lächeln.
»Du musst es wissen, es ist deine eigene Entscheidung. Aber pass gut auf dich auf. Ich möchte dich ja letztendlich gesund und fit wieder hier in Birkenhain erwarten können.«
Mit umwölkter Stirn sah Kay dem Wagen seiner Schwester nach, bis er seinen Blicken entschwunden war, dann ging er ins Klinikgebäude zurück.
Für ein paar Wochen musste es nun ohne Hanna gehen.
Hanna aber freute sich auf die vor ihr liegenden Wochen. Ihr Ziel war der Titisee im Hochschwarzwald, in der Nähe von Neustadt. Sie hatte zwar keine Vorbestellung für ein Zimmer, aber sie war sicher, als Einzelperson eine Unterkunft in einer gemütlichen Familienpension zu bekommen. Doch zunächst lag eine Strecke von etwa sechshundert Kilometern vor ihr.
Körperlich fühlte sich Hanna schon seit Tagen sehr gut, sie hatte keinerlei Beschwerden mehr. Sie fühlte sich nur manchmal noch etwas schwach, kraftlos, aber das würde sich in den kommenden Wochen bei viel Ruhe, guter Luft und kräftigem Essen auch noch geben, dessen war sie sicher.
Nachdem Hanna über die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatte, fühlte sie sich trotz der zwei über eine halbe Stunde dauernden Pausen doch ziemlich abgespannt. Sie entschied sich kurzerhand, von der Autobahn abzufahren, in einem hübschen Ort zu übernachten und erst am kommenden Morgen die restliche Strecke bis zum Titisee zu fahren.
Ruhlbach hieß das Dörfchen, in dem sie schließlich halt machte und wo sie sich in einem kleinen Gasthaus des Ortes ein Zimmer nahm.
Sie bestellte sich zuerst eine warme Mahlzeit und legte sich anschließend für zwei Stunden hin. Gegen Abend unternahm sie dann einen langen Spaziergang durch die landschaftlich sehr hübsche Umgebung. Das Dörfchen lag in einem weiten Tal, umgeben von viel Wald. Ein kleines Flüsschen schlängelte sich malerisch mitten durch den Ort. Hanna bedauerte, ihren Fotoapparat nicht mitgenommen zu haben, so hübsch fand sie alles. Als die Dämmerung hereinbrach, ging sie langsam zum Gasthaus zurück. Nach einer leichten Mahlzeit zog sie sich auf ihr Zimmer zurück und legte sich zu Bett, um am nächsten Morgen schon sehr früh frisch und ausgeruht ihre Fahrt fortzusetzen.
Gegen Mittag war sie dann endgültig am Ziel. Der Titisee breitete sich vor ihr aus.
»Zimmer frei«, las Hanna, und über der Tür des hübschen Fachwerkhauses mit den blumengeschmückten Balkonen stand in verschnörkelter Schrift »Pension Waldfrieden«.
Wunderhübsch, dachte Hanna. Sie brachte ihren Wagen zum Stehen und stieg aus. Sie sah sich genau um. Dicht an einem Waldrand geschmiegt lag die Pension. Alles sah recht malerisch aus. Was Hanna jedoch am meisten begeisterte, war der Blick, den man von dieser Stelle aus über den blau schimmernden Titisee hatte. Sie schätzte die Strecke bis zum See so auf die 150 bis 200 Meter. Ja, so hatte sie sich den Ort vorgestellt, an dem sie Urlaub machen würde.
Die Inhaberin der Pension war eine hübsche, sehr gepflegte Frau, die Hanna auf etwa vierzig Jahre schätzte.
Mit Marlies Korf stellte sie sich Hanna vor und führte sie in ein sehr wohnlich eingerichtetes Zimmer mit Balkon und Blick auf den See.
»Gefällt es Ihnen, Frau Dr. Martens?«
»Es ist wunderschön, Frau Korf. Ich glaube, bei Ihnen werde ich mich sehr wohlfühlen. Haben Sie viele Gäste?«
»Zurzeit nur sechs, aber die restlichen vier Zimmer, außer diesem hier, werden wohl zum Wochenende auch belegt werden. Es sind elf Zimmer, die wir vermieten können. Es ist also in der Regel bei uns immer verhältnismäßig ruhig.«
»Ich nehme das Zimmer, Frau Korf. Ein ruhiges Haus kommt meinen Wünschen sehr entgegen. Ich möchte mich nach einer Erkrankung erholen«, gab Hanna mit einem herzlichen Lächeln zurück.
Sehr rasch waren die Formalitäten erledigt, und Klaus Korf, der vierzehnjährige Sohn des Hauses, brachte Hanna das Gepäck ins Zimmer hinauf. Dann war sie erst einmal allein.
Nachdem sie ausgepackt und sich ein wenig erfrischt hatte, ging sie in das Zimmer und richtete sich ein. Danach zog es sie auf den Balkon hinaus, und sie genoss den wunderbaren Ausblick. Sie war plötzlich sehr glücklich, den Rat der Mutter befolgt zu haben. Sie bereute ihren Entschluss nicht.
*
Ein paar Tage weilte Hanna nun schon in dem kleinen Ort am Titisee, in der Pension »Waldfrieden«. Bis um elf Uhr hatte man Zeit für das Frühstück. Wer wollte, konnte auch die anderen Mahlzeiten im Haus einnehmen, musste diese aber am Abend zuvor anmelden.
Hanna hatte von Beginn an Frühstück und Mittagsmahlzeit bestellt. Eine leichte Abendmahlzeit bekam sie immer irgendwo, wenn sie mit dem Wagen oder zu Fuß unterwegs war.
Die Pensionsinhaberin Marlies Korf, ihr Mann Manfred sowie der vierzehnjährige Sohn Klaus und die zwei Jahre jüngere Tochter Amelie waren sehr nette Menschen. Es war so, wie Marlies Korf es am ersten Tag gesagt hatte, ein ruhiges Haus.
Schon ein paar Mal war Hanna auf ihren Spaziergängen ein Mann aufgefallen, der genau wie sie lange Spaziergänge unternahm. Anfang dreißig schätzte sie sein Alter. Er hatte aber immer einen kleinen zarten Jungen bei sich, der kaum älter als sechs Jahre sein konnte, vielleicht sogar noch jünger. Der junge Mann war wohl der Vater des Jungen, dafür sprach die große Ähnlichkeit. Der Mann hatte dichtes schwarzes Haar, das ihm leicht gewellt in die Stirn fiel und Hanna ein wenig an ihren Bruder Kay erinnerte.
Schlank, hochgewachsen, war er ein äußerst gut aussehender Mann, der Hanna sehr sympathisch war. Der Junge hatte das gleiche schwarze wellige Haar. Ihr Interesse als Ärztin erwachte, da der zarte Junge einen kranken Eindruck machte.
Vater und Sohn mussten wohl ganz in der Nähe wohnen, denn fast jeden Tag liefen sie Hanna irgendwo über den Weg. Ein wenig wunderte sich Hanna auch darüber, dass niemals eine Frau bei den beiden war. Immer waren sie allein. Aber Hanna sah noch mehr. Sie sah auch, wie liebevoll dieser Vater mit dem Jungen umging, und langsam keimte der Wunsch in ihr auf, die beiden näher kennenzulernen. Aber sie konnte ja nicht gut einen fremden Mann ansprechen.
Eine Woche hatte Hanna hinter sich. Es waren Tage gewesen, die ihr so richtig gutgetan hatten.
Am Sonntagnachmittag, einem herrlichen, sonnigen Herbsttag, war Hanna wieder am See unterwegs. Als sie ein hübsches, dicht am See gelegenes Strandcafé sah, beschloss sie, ein Weilchen zu bleiben.
Sie suchte sich einen Platz, von dem aus sie einen guten Ausblick hatte, und bestellte sich ein Kännchen Kaffee und ein Stück Kuchen.
Während sie dem Treiben auf dem vor ihren Augen sich ausbreitenden blau schimmernden Wasser des Titisees zuschaute, entstand plötzlich seitlich der Terrasse Bewegung. Passanten blieben stehen und lenkten auch ihre Aufmerksamkeit vom See ab.
Plötzlich sah Hanna durch eine schmale Gasse der Passanten, wie sich ein Mann bückte und einen kleinen Jungen hochhob. Ihr Herz begann unwillkürlich zu klopfen, als sie erkannte, dass es sich um den sympathischen jungen Mann handelte, der schon seit Tagen ihr Interesse erregte. Im nächsten Moment erkannte sie jedoch auch bestürzt, dass der Junge bewusstlos war. Rasch erhob sie sich, um ihre Hilfe als Ärztin anzubieten. Da kam er auch schon mit seiner leichten Last auf die Terrasse des Strandcafés zu, wohl um Hilfe zu suchen.
Hanna trat ihm entgegen und sagte: »Mein Name ist Martens, ich bin Kinderärztin. Kann ich Ihnen helfen? Kommen Sie, der Junge muss liegen, damit ich ihn untersuchen kann.«
Sie wandte sich an die Kellnerin, die zu ihnen trat, und fragte freundlich: »Haben Sie vielleicht einen Raum, in dem wir den Jungen hinlegen können? Ich bin Kinderärztin, und es handelt sich, wie Sie sehen können, um einen Notfall.«
»Bitte, Frau Doktor, wenn Sie mir folgen wollen.«
Das junge Mädchen führte Hanna und den jungen Mann mit dem Jungen in einen als Büro eingerichteten Raum, in dem auch eine Liege stand.
Während Hanna ihn untersuchte, kam der Kleine wieder zu Bewusstsein und sah sie voller Angst an.
»Ganz ruhig, mein Kleiner, ich tu dir nichts, ich will dir nur helfen«, sagte sie mit weicher Stimme und lächelte ihn beruhigend an.
»Ist das schon öfter passiert?«, fragte sie dann und sah den Vater des Jungen fragend an.
»Nein, so schlimm war es noch nie. Bitte, sagen Sie mir, was meinem Jungen fehlt. Er ist plötzlich ohne ein erkennbares Vorzeichen einfach umgekippt.« Die Stimme des jungen Mannes klang aufs Äußerste erregt.
»Der Junge, Herr …«
»Oh, bitte, entschuldigen Sie, Frau Dr. Martens. Mein Name ist Berkel, Knut Berkel, und der Junge ist mein Sohn Sven«, unterbrach der junge Mann Hanna, und eine dunkle Röte stieg in sein Gesicht.
»Es ist das Herz Ihres Jungen, Herr Berkel. Er gehört dringend in die Behandlung eines guten Arztes. Sie sollten damit auch nicht zu lange warten. Es gibt doch hier in der Umgebung sicher einen guten Arzt, den Sie kennen. Genaues kann ich nicht feststellen, und mein Arztkoffer befindet sich in meiner Pension.«
»Ich kenne hier keinen Arzt, Frau Dr. Martens, ich bin fremd in dieser Gegend. Ich verbringe hier mit meinem Sohn, der seit einiger Zeit kränkelt, einen längeren Urlaub. Ich weiß nicht, ob es sehr vermessen von mir ist, wenn ich Sie darum bitte, meinen Sohn noch einmal zu untersuchen, und wenn keine unmittelbare Lebensgefahr besteht, ihn in den nächsten vierzehn Tagen hier zu behandeln. Aus Gründen, die ich Ihnen im Augenblick nicht näher erklären kann, möchte ich, wenn es nicht unbedingt sein muss, unseren Aufenthalt nicht abbrechen. Ich lebe normalerweise in Hannover, und ein guter Freund von mir hat hier sein Ferienhaus für ein paar Wochen zur Verfügung gestellt.«
War es das Mitleid mit dem Jungen oder dieser seltsame Ausdruck, der bei seinen Worten in seinen Blicken zu lesen war? Hanna nahm sich nicht die Zeit, lange darüber nachzudenken. Vielleicht war es auch der plötzliche Wunsch, ihn näher kennenzulernen, der sie antworten ließ: »Wenn ich helfen kann, gern, Herr Berkel. Bis zu meiner Pension ist es nicht allzu weit. Ich bezahl nur rasch meinen Verzehr, dann können wir gehen. Von meiner Pension aus kann ich Sie und den Jungen zu Ihrer Unterkunft fahren. Solange ich nicht weiß, was Ihrem Jungen genau fehlt, sollten Sie vorsichtig sein und den Jungen nicht laufen lassen.«
»Das würde ich nicht zulassen, nicht wahr, mein Junge?«
Liebevoll fuhr Knut Berkel seinem Jungen über den schwarzen Schopf.
»Wir können es auch noch anders machen, Herr Berkel. Sie bleiben mit Ihrem Jungen hier, und ich hole meinen Wagen. Und du, kleiner Mann, kannst ja während der Zeit eine Schokolade trinken. Die magst du doch sicher gern. Und du musst keine Angst haben. Sobald ich genau weiß, was dir fehlt, holt dein Vati aus der Apotheke die richtige Medizin, und es wird dir besser gehen«, sagte Hanna zum Abschluss zu dem Jungen.
»Ich habe keine Angst, Frau Doktor, ich bin doch schon acht Jahre alt«, kam es tapfer über die Lippen des Jungen, und doch konnte er den ängstlichen Ausdruck in seinen Blicken nicht verbergen. Hanna übersah es und sagte liebevoll: »Soso, Sven, du bist schon acht Jahre alt. Dann bist du ja schon ein großer Junge. Jetzt sei schön brav, ich komme dich in wenigen Minuten mit deinem Vati hier abholen. Wir sehen uns dann an, wie krank dein Herz wirklich ist.«
»Ich danke Ihnen, Frau Dr. Martens, dass Sie sich meines Jungen annehmen wollen«, kam es mit rauer Stimme von Knut Berkels Lippen.
»Ich bin Kinderärztin, Herr Berkel. Es ist mein Beruf, kranken Kindern zu helfen.«
Hanna nickte Knut Berkel noch einmal lächelnd zu und lief hinaus.
Auf der Terrasse beglich sie noch ihre Rechnung, danach ging sie zur Pension Waldfrieden, um ihren Arztkoffer und ihren Wagen zu holen.
*
Es war eines für den Schwarzwald typischen Ferienhäuser, eines der sehr hübschen Nurdachhäuser, das Knut Berkel mit seinem kleinen Sohn bewohnte.
»Hübsch haben Sie es hier, Herr Berkel. So ein Häuschen würde mir auch gefallen. Aber zuerst will ich mich einmal um Sven kümmern.«
Mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln untersuchte Hanna den Achtjährigen so gründlich, wie es ihr möglich war. Sie stellte bei dem Jungen eine Herzschwäche, eine Herzinsuffizienz fest, deren Ursache herauszufinden es klinischer Apparate bedurfte. Mit bestimmten Medikamenten konnte sie ihm nur vorübergehend helfen. Aber eine unmittelbare Lebensgefahr bestand nicht.
Wie von einer schweren Last befreit, atmete Knut Berkel auf und schüttelte ihr überschwänglich die Hand, als Hanna es ihm sagte.
»Werden Sie meinen Jungen im Auge behalten, ihm helfen, solange wir noch hier sind, Frau Dr. Martens?«
»Ja, das werde ich, Herr Berkel. Jetzt schreibe ich Ihnen ein Medikament für den Jungen auf, das Sie ihm aus der Apotheke holen. Während Sie zur Apotheke fahren, bleibe ich noch bei Ihrem Sohn, wenn es Ihnen recht ist.«
»Ob es mir recht ist, fragen Sie, Frau Doktor? Ich muss Ihnen für Ihre Freundlichkeit danken.«
»Ich tue es gern, Herr Berkel. Sie brauchen mir nicht zu danken. Fahren Sie schon, damit Ihr Junge seine Medizin bekommt.«
»Schön brav sein, Sven, ich bleibe nicht lange fort«, sagte Knut Berkel zu seinem Jungen, dann war Hanna mit ihm allein.
»So, kleiner Mann, was wollen wir zwei machen, bis dein Vati zurückkommt? Was machst du denn immer mit deinem Vati?«
»Wir spielen Mensch ärgere dich nicht, dann malen wir zusammen Bilder und spielen mit meinen Autos, die ich von daheim mitgenommen habe, Frau Doktor.«
»Gut, dann spielen wir jetzt eine Runde Mensch ärgere dich nicht, magst du? Und sag nicht Frau Doktor zu mir, du darfst mich Tante Hanna nennen, wenn du magst.«
Mit glänzenden Augen nickte der Achtjährige, und bald darauf waren sie so in das Spiel vertieft, dass sie sogar die Rückkehr von Knut Berkel überhörten.
Ein Weilchen verhielt Knut sich still und sah den beiden zu. Es war ein schönes Bild, der schwarzhaarige Bubenkopf und das lange blonde Haar dieser jungen, hübschen Ärztin so dicht nebeneinander in das Brettspiel vertieft. Er sah auch, wie die Augen seines Jungen in Gesellschaft der jungen Ärztin glänzten. Es zeigte ihn mit einem Mal überdeutlich, was dem Jungen seit längerer Zeit fehlte.
Auf einmal sah der Junge hoch und rief mit strahlenden Augen: »Vati, du bist schon zurück? Schau nur, ich habe Tante Hanna geschlagen, ich habe gewonnen.«
»Aber, Sven, du kannst Frau Dr. Martens doch nicht einfach Tante Hanna nennen.«
»Kann ich doch, Vati, Tante Hanna hat es mir selbst gesagt. Es stimmt doch, nicht wahr, Tante Hanna?« Treuherzig sah der Achtjährige Hanna an.
»Es stimmt, Herr Berkel, es ist mir auch lieber so. Ich bin hier, um mich zu erholen, und wenn der Junge mich Frau Doktor nennt, dann klingt es so streng. Aber ich möchte Sie nun nicht länger stören. Sie möchten jetzt sicher gern mit Ihrem Jungen allein sein. Das Medikament haben Sie bekommen, nicht wahr?«
»Ja, ich werde ihm sofort davon geben. Aber ich hätte da noch eine Frage.«
»Ja, bitte, fragen Sie.«
»Darf ich mit dem Jungen weiter spazieren gehen?«
»Ja, Herr Berkel. Achten Sie nur darauf, dass er sich dabei nicht überanstrengt. Lassen Sie es langsam angehen.«
»Ich habe Sie in den vergangenen Tagen mehrfach gesehen, Frau Dr. Martens. Darf ich Sie zu einem gemeinsamen Spaziergang einladen? Aber nur, wenn Sie nicht allein bleiben möchten. Ich will mich Ihnen auf keinen Fall aufdrängen.«
»Ich nehme Ihre Einladung gern an, Herr Berkel. Warum sollen wir nicht gemeinsam einen schönen Spaziergang unternehmen? Außerdem mag ich Ihren Jungen. Da ich ihn für die nächsten vierzehn Tage hier ärztlich betreue, fühle ich mich ein wenig verantwortlich für ihn. Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns am Strandcafé. Sagen wir, nach der Mittagsmahlzeit. Ist es Ihnen recht?«
»Gern, also abgemacht, um vierzehn Uhr am Strandcafé«, entgegnete Knut Berkel erfreut, und Hanna bemerkte, dass es dabei in seinen Augen aufleuchtete.
»Auf Wiedersehen, Tante Hanna«, sagte Sven mit glänzenden Augen, als Hanna sich von ihm verabschiedete, und Knut Berkel hielt ihre Hand ein wenig länger fest, und in seinen Augen erschien für Sekunden ein Ausdruck, der ihr Herz zum Klopfen brachte.
Es war noch nicht spät, aber für diesen Tag blieb Hanna in ihrem Zimmer in der Pension, und ihre Gedanken beschäftigten sich noch einmal mit der Begegnung mit Knut Berkel und seinem kranken Jungen. Als sie sich sein Bild vorstellte, begann ihr Herz heftig zu pochen. Sie fragte sich, was denn auf einmal mit ihr los wäre. Hatte dieser Mann einen so nachhaltigen Eindruck auf sie gemacht?
Gegen zwanzig Uhr klopfte es an Hannas Zimmertür. Auf ihre Aufforderung zum Eintreten kam Amelie, die zwölfjährige Tochter der Pensionsinhaberin, ins Zimmer.
»Ja, bitte, Amelie, was möchtest du?«, fragte Hanna freundlich.
»Mutti schickt mich, Frau Doktor. Sie lässt fragen, ob Sie mit uns zu Abend essen möchten. Mutti würde sich sehr darüber freuen.«
Einen Augenblick zögerte Hanna, dann aber sagte sie lächelnd: »Ich komme gern, wenn ich deiner Mutti keine Mühe mache. Hat deine Mutti auch gesagt, wann?«
»Ja, jetzt gleich, Mutti hat den Tisch schon gedeckt.«
»Gut, Amelie, ich komme sofort hinunter.«
Wenig später saß Hanna mit am Tisch.
»Schön, dass Sie noch einmal herunterkommen, Frau Dr. Martens. Ich habe Sie zufällig so früh zurückkommen sehen. Da Sie nicht mehr fortgingen, haben Sie auch noch nicht zu Abend gegessen. Ich bereite immer reichlich vor, damit auch meine Gäste Gelegenheit haben, hier im Haus zu essen. Ich hoffe, Amelie hat Sie nicht gestört.«
»Sie haben mich nicht gestört, und ich danke Ihnen für Ihr freundliches Angebot. Ich nehme es gern an.«
Es waren noch ein Ehepaar und ein junger Mann am gemeinsamen Abendbrottisch, und Hanna verlebte mit ihnen und den Wirtsleuten noch eine angenehme Stunde nach der Mahlzeit, in der man sich angeregt unterhielt.
*
Als Hanna am nächsten Tag kurz vor vierzehn Uhr die Stufen zur Terrasse des Strandcafés hinaufging, hörte sie eine helle Jungenstimme rufen: »Hier sind wir, Tante Hanna.«
Nun sah Hanna Vater und Sohn und hob winkend ihre Rechte. Erneut klopfte ihr Herz ein wenig rascher, als sie auf den Tisch zuging, an dem Knut Berkel mit seinem Sohn Sven saß.
Der junge Mann erhob sich und begrüßte sie herzlich. Lächelnd sagte er: »Ich freue mich, dass Sie gekommen sind, Frau Dr. Martens. Wenn es nach Sven gegangen wäre, hätte er am liebsten seinen Mittagsschlaf nicht eingehalten, um Sie ja nicht zu verpassen.«
»Ich habe gesagt, dass ich komme, und wenn ich etwas zusage, dann komme ich auch, Herr Berkel«, gab Hanna mit ihrer dunklen Stimme zurück und fuhr Sven über das Haar.
»Und du, kleiner Mann, wie geht es dir heute?«
»Ich habe heute schon zwei Mal meine Medizin genommen, Tante Hanna und geschlafen habe ich heute Mittag auch. Ich bin überhaupt nicht müde.«
»Fein, so soll es auch sein, Sven, denn wir werden jetzt einen schönen Spaziergang machen. Die frische Luft wird dir guttun.«
»Erst noch ein Eis essen, hat Vati gesagt.«
Hanna sah Knut Berkel fragend an, und dieser sagte lächelnd: »Ich habe es dem Jungen versprochen, Frau Dr. Martens. Darf ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen? Spazieren gehen können wir anschließend.«
Hanna zierte sich nicht und lächelte zustimmend. Höflich schob Svens Vater ihr einen Stuhl zurecht und winkte dann die Kellnerin herbei, um die Bestellung aufzugeben.
»Darf es vielleicht auch noch ein Stück Torte sein?« Fragend sah er Hanna an.
»Danke, nein, Herr Berkel, nur einen Kaffee. Ich habe erst vor einer knappen Stunde zu Mittag gegessen«, wehrte Hanna ab.
Knut bestellte daraufhin für Hanna und sich Kaffee und für Sven einen Eisbecher.
»Geht es ihm wirklich heute einigermaßen, Herr Berkel?«, wollte Hanna mit leiser Stimme wissen, während sich der Junge mit seinem Eisbecher beschäftigte.
»Er ist heute eigentlich recht munter, und ich bin auch ein wenig beruhigt, da er ja jetzt Medikamente bekommt. Aber ich weiß auch, dass das keine Dauerlösung ist. Der Junge hatte sich so auf den Urlaub mit mir gefreut, da bringe ich es nicht übers Herz, die schönen Tage mit ihm einfach abzubrechen. Etwas anderes wäre es, wenn Sie mir gesagt hätten, dass unmittelbare Lebensgefahr besteht. Dann hätte ich ihn in die nächste Klinik gebracht.«
»Ich kann Sie schon verstehen, Herr Berkel. Doch wenn Sie mit Ihrem Sohn wieder daheim sind, sollten Sie ihn zu einer gründlichen Untersuchung in eine Klinik bringen. Sie wollen doch sicher nicht, dass er vielleicht einen schweren Herzschaden hat.«
»Das werde ich ganz bestimmt tun«, erwiderte Knut Berkel mit ernster Stimme. »Ich liebe meinen Jungen, und seine Gesundheit ist das Allerwichtigste für mich.«
»Ich bin fertig, Vati. Gehen wir denn jetzt mit Tante Hanna spazieren?«, meldete sich nun Sven mit leicht ungeduldiger Stimme.
»Natürlich gehen wir jetzt, Sven«, sagte Hanna lächelnd und erhob sich auch schon.
Während Knut die Rechnung beglich, fasste der Achtjährige nach Hannas Hand und sagte treuherzig: »Ich freue mich, dass du gekommen bist, Tante Hanna. Du bist lieb, ich mag dich.«
»Ich mag dich auch, mein Kleiner«, gab Hanna mit weicher Stimme zurück und fuhr ihm liebevoll durch das schwarze Haar.
Knut trat zu ihnen, sie verließen die Terrasse des Cafés und schlenderten langsam, den Jungen zwischen sich, am Seeufer entlang. Aber lange hielt es den Jungen nicht so zwischen ihnen, und er lief einige Schritte vor, fand immer etwas Neues, was er betrachten konnte, was für ihn interessant war.
Diesem Nachmittag folgten weitere, aber noch nie hatte Knut von Svens Mutter gesprochen. An einem der Nachmittage, als sie langsam durch den Wald spazierten, fragte Hanna, und ihr Herz klopfte sofort etwas heftiger, weil sie sich ein wenig vor seiner Antwort fürchtete: »Haben Sie inzwischen schon Ihre Frau über Svens Krankheit informiert, Herr Berkel? Sie macht sich doch sicher auch Sorgen.«
»Kaum, Frau Dr. Martens, ich lebe nämlich mit Sven schon seit einiger Zeit allein. Morgens besucht er die Schule und am Nachmittag, wenn ich noch einmal zur Bank muss, kümmert sich das Hausmädchen, unsere Elsa, um ihn. Ich spreche nicht gern darüber. Aber bei Ihnen habe ich das Gefühl, als würde ich Sie schon eine Ewigkeit kennen. Meine Frau hat mich und den Jungen vor einiger Zeit verlassen. Darum ist es für mich auch doppelt schwer, dass mein Junge nicht gesund ist.«
»Das tut mir leid, Herr Berkel. Entschuldigen Sie, dass ich mit meiner Frage an eine Wunde gerührt habe. Das wollte ich nicht, das lag nicht in meiner Absicht.«
»Es muss Ihnen nicht leidtun, Sie konnten es ja nicht wissen. Es ist auch keine Wunde mehr. Cornelia, meine Frau, fühlte sich eingeengt und hat es vorgezogen, ihre Freiheit zu suchen. Es lohnt nicht, auch nur noch einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden. Um des Jungen willen hätte sie anders handeln müssen. Er ist in einem Alter, in dem man die Mutter doch mehr als den Vater braucht. Aber reden wir nicht mehr davon. Wenn ich Sie um etwas bitten dürfte, nennen Sie mich Knut. Ich bin sehr gern mit Ihnen zusammen, und auch Sven mag Sie. Knut klingt nicht so fremd.«
»Einverstanden, Knut, aber nur, wenn Sie mich Hanna nennen.«
»Also dann, auf gute Freundschaft, Hanna. Sie werden mir und dem Jungen fehlen, wenn unsere Zeit hier vorüber ist.«
Hannas Herz pochte heftiger, und eine dunkle Röte stieg ihr ins Gesicht. Rasch wich sie seinen Blicken aus, in denen ein ganz neuer Ausdruck lag.
»Warum sagen Sie nichts, Hanna?« Seine Hand legte sich auf ihren Arm. »Werden wir Ihnen auch ein wenig fehlen?«
Hanna kam nicht dazu, ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben, denn in diesem Augenblick kam Sven auf sie zugelaufen, und Hanna erschrak, weil er mit einem Mal leicht schwankte und heftig atmete.
»Sven, mein Kleiner, du sollst doch nicht so schnell laufen. Komm, wir setzen uns ein Weilchen ins weiche Gras, du musst dich jetzt unbedingt ausruhen. Nachher gehen wir ganz langsam zurück.«
»Was hat er, Hanna?« Knuts Stimme klang bestürzt.
»Er hat sich etwas überanstrengt, Knut. Wir sollten ein paar Tage auf die Spaziergänge verzichten. Sven braucht mehr Ruhe.«
»Dann machen wir jetzt eine längere Pause und gehen dann zurück. Morgen bleibt Sven dann den ganzen Tag liegen.«
»Will ich aber nicht, Vati. Dann kann ich Tante Hanna doch nicht sehen.«
»Kannst du wohl, mein Kleiner«, sagte Hanna sofort, weil sie sah, dass der Junge plötzlich Tränen in den Augen hatte.
»Aber wenn ich doch …«
»Wir machen es eben anders. Ich werde ein großes Paket Kuchen besorgen und komm dich morgen in eurem Häuschen besuchen. Wir können ja mit deinem Vati ›Mensch ärgere dich nicht‹ spielen. Nun, was meinst du dazu?«
»Du kommst ganz ehrlich, Tante Hanna?«
»Wenn ich es doch sage, und wenn es deinem Vati recht ist, natürlich«, erwiderte Hanna mit einem weichen Lächeln.
»Natürlich ist es mir recht, Hanna, ich freue mich darauf.«
Erneut wich Hanna seinen Blicken aus, denn sie hatte das Gefühl, als müsse er das Pochen ihres Herzens hören. Sie kannte sich auf einmal selbst nicht mehr. Was war mit ihr los, dass ihr Herz immer heftiger klopfte, wenn er sie nur ansah?
Um Knut in diesem Augenblick nicht in die Augen sehen zu müssen, beschäftigte sie sich rasch wieder mit Sven. Ihre ganze Selbstsicherheit bröckelte ab, je länger sie Knut Berkel kannte und je öfter sie mit ihm und seinem Jungen zusammen war. Dabei war sie voller Hochachtung für ihn, der sich so liebevoll und zärtlich um den Achtjährigen kümmerte, ihm nun auch die Mutter ersetzen musste.
An diesem Tag fiel es Hanna sehr schwer, sich gegen Abend von Vater und Sohn zu verabschieden. Auf der einen Seite war es der Junge, der ein Gefühl in ihr geweckt hatte, das mehr als Mitleid mit einem kranken Kind war. Und da war in ihr ein Gefühl des Glückes. Es gab niemanden, der daheim auf ihn und den Jungen wartete. Gab es vielleicht ein wenig Hoffnung für sie?
*
Viel zu rasch waren die Tage vergangen, die Knut und seinem Jungen noch in dem kleinen Ferienhäuschen verblieben waren. Jeden dieser Tage hatten sie und Hanna gemeinsam verbracht. Obwohl Hanna schon längst erkannt hatte, dass sie Knut und auch seinen Jungen liebte, versuchte sie alles, um diese Gefühle vor ihm zu verbergen. Sie glaubte, dass er das gleiche Gefühl für sie empfand, und dass nur das Scheitern seiner Ehe ihn davon abhielt, ihr zu diesem Zeitpunkt seine Gefühle zu offenbaren. Aber das Allerwichtigste war jetzt sowieso erst einmal die Gesundheit von Knuts Jungen.
So war der letzte Tag herangekommen. Da es Sven erneut nicht besonders gut ging, hatte Hanna zugestimmt, diesen letzten Tag mit Knut und dem Jungen in dem kleinen Ferienhaus zu verbringen.
Sven war selig, als Hanna gegen zehn mit der Brötchentüte das Ferienhaus betrat.
»Endlich bist du gekommen, Tante Hanna«, sagte er mit leuchtenden Augen. »Vati und ich haben schon auf dich gewartet. Wir wollen doch zusammen frühstücken.«
»Nur weil wir frühstücken wollen, Sven?«, fragte Hanna scherzend und streichelte ihm liebevoll über die Wange.
»Aber nein, Tante Hanna. Es ist nur, es ist, weil wir doch morgen nicht mehr hier sind. Kannst du nicht mit uns fahren?«
»Das geht nicht, Sven, ich habe es dir doch schon erklärt. Ich bleibe noch eine Woche, danach muss ich wieder zu den kranken Kindern in meine Klinik zurück. Wenn dein Vati dich dann zu uns in die Klinik bringt, sehen wir uns ja wieder. Jetzt frühstücken wir erst einmal. Ich habe hier auch eine große Tüte Brötchen mitgebracht. Ich will hoffen, dass du tüchtig zugreifst.«
Sven nickte eifrig, und Hanna kam jetzt auch dazu, Knut zu begrüßen, der sie bewundernd ansah und mit warmer Stimme sagte: »Ich freue mich, dass Sie uns diesen Tag schenken, Hanna. Sven ist gleich viel lebhafter, wenn Sie in seiner Nähe sind. Er ist dann nicht mehr so still, so traurig, wie noch in der vergangenen Zeit, als wir Sie noch nicht kannten. Ich würde gern noch eine Weile bleiben. Leider muss ich erst einmal nach Hause zurück.«
Hanna kam nicht dazu, etwas darauf zu erwidern, denn Sven sagte etwas ungeduldig: »Ich habe Hunger, Vati.«
»Schon gut, Sven, wir frühstücken ja sofort. Ich hole nur rasch den Kaffee und deinen Kakao aus der Küche.«
Sven sorgte dafür, dass weder sein Vater noch Hanna viel Zeit hatten, nachzudenken. Er genoss es sichtlich, dass er von beiden an diesem Tag besonders verwöhnt und umsorgt wurde.
Während Hanna es übernahm, für die etwas verspätete Mittagsmahlzeit zu sorgen, verließ Knut das Häuschen für kurze Zeit, um noch eine Flasche guten Wein zu besorgen.
»Kochst du in deiner Klinik auch immer für die kranken Kinder das Mittagessen, Tante Hanna? Ich war noch nie in einer Klinik.«
»Nein, Sven, in der Klinik haben wir eine Köchin und noch einige Frauen und Mädchen, die der Köchin in der Küche helfen. Ich bin für die kranken Kinder da. Wenn ich kann, mache ich sie gesund. Natürlich nicht allein. Bei uns in Birkenhain gibt es außer mir auch noch andere Ärzte und Ärztinnen. Mein Bruder ist auch Doktor und macht kranke Kinder gesund. Dich werden wir auch gesund machen, wenn du zu uns kommst.«
»Du bist lieb, Tante Hanna. So lieb wie eine Mutti. Ich mag dich sehr, ich hab dich ganz doll lieb.«
»Ich hab dich auch lieb, Sven. Aber jetzt muss ich mich ein wenig beeilen, damit ich das Mittagessen fertig bekomme. Sonst kommt dein Vati gleich zurück, und ich bin noch nicht so weit. Ein paar Minuten musst du dich jetzt allein beschäftigen. Nach dem Essen stellen wir dann einen Liegestuhl draußen auf, damit du heute noch ein wenig an die Luft kommst. Nicht wahr, du bist jetzt ganz brav.«
Bis Knut zurückkam, war Hanna aber doch mit dem Essen fertig.
Den Rest des Nachmittags verbrachten sie mit Sven vor dem Haus, in dem kleinen Gärtchen, der Junge bequem in einem Liegestuhl und Knut und Hanna bei einem Glas Wein.
Als Hanna sich dann am Abend von beiden verabschiedete, gab es bei Sven reichlich Tränen. Weinend klammerte er sich an ihr fest und stammelte: »Ich will nicht fort, ich will noch bei dir bleiben, ich hab dich doch lieb.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass ich dich auch lieb habe, Sven. Aber du musst jetzt ganz vernünftig sein. Eine Woche geht rasch vorüber. Dann sehen wir uns jeden Tag. Heute ist es für dich schon spät genug, du musst jetzt schlafen.«
»Dann bring du mich hinauf ins Bett und sag mir dort gute Nacht, Tante Hanna.«
Hanna sah Knut kurz an, der zustimmend nickte, und Hanna brachte den Jungen hinauf in die kleine Schlafkammer.
Mit einem sanften Kuss auf seine Stirn verabschiedete sie sich dann endgültig von ihm. Als sie sich aufrichten wollte, umschlangen Svens Arme ihren Hals, und leise kam es von seinen Lippen: »Ich hab dich lieb, Tante Hanna. Es wäre so schön, wenn du immer bei mir sein könntest.«
Hanna war über die letzten Worte des Achtjährigen sehr gerührt. Es zeigte ihr aber auch, wie sehr sich das Bubenherz nach der Liebe und Zärtlichkeit einer Mutter sehnte. Wie sehr musste er die Mutter vermissen.
»Bald sehen wir uns ja wieder, Sven«, antwortete sie nur weich, dann ging sie rasch wieder hinunter.
Als sie sich kurz darauf auch von Knut verabschiedete, hielt dieser ihre Hand ein wenig länger fest. Mit einem Blick, der ihr Herz heimlich vor Glückseligkeit erzittern ließ, sagte er: »Schade, dass die schönen Tage schon vorüber sind, Hanna. Aber ich freue mich schon jetzt auf unser Wiedersehen, wenn ich in gut einer Woche meinen Jungen zu Ihnen nach Birkenhain bringen werde.«
»Ich freue mich auch, Knut«, entgegnete Hanna leise. Hastig befreite sie sich aus seinem Griff und eilte, ohne sich noch einmal nach ihm umzusehen, davon. So sah sie auch nicht das glückliche Lächeln auf seinem Gesicht.
*
Gut erholt und strahlender Laune kehrte Hanna eine Woche später nach Ögela zurück.
Kay, der sie empfing, sah sie prüfend an und sagte lächelnd zu ihr: »Ich freue mich, dich so gesund und erholt zu sehen, Hanna. Du schaust geradezu blendend aus. Willkommen daheim.«
»Ich bin auch froh, endlich wieder daheim zu sein. Jetzt bin ich wieder voll da. Es war sehr schön dort im Schwarzwald, aber meine Arbeit und unsere Klinik habe ich doch irgendwie vermisst.«
»Heute ruhst du dich noch von der langen Fahrt aus. Wenn du willst, kannst du ja morgen wieder mit deiner Arbeit beginnen. Ich werde versuchen, mich heute etwas eher freizumachen, dann kannst du mir ein wenig vom Schwarzwald erzählen. Du hast ja während der vergangenen Wochen nicht gerade viel von dir hören lassen.«
Als Hanna dann am Abend von ihrem Erholungsurlaub berichtete, hörte Kay, der seine Schwester nur zu gut kannte, zwischen ihren Worten auch noch etwas anderes heraus. Als sie ihm von Knut Berkel und seinem kranken Jungen erzählte, sagte er lächelnd: »Du hast es also nicht lassen können, du musstest auch im Urlaub die Samariterin sein. Geht es dem Jungen denn inzwischen besser?«
»Nein, Kay, viel konnte ich ja nicht für ihn tun. Sein Vater wird ihn wohl in den nächsten Tagen zu uns nach Birkenhain bringen. Das scheint mir ein Fall für unseren Dr. Dornbach zu werden. Der Junge ist ein netter und lieber Kerl, und auch der Vater, Herr Berkel, ist ein sehr sympathischer Mann. Er wird dir gefallen.«
Unbewusst leuchteten Hannas Augen auf, und Kay sah es. Da auch in ihren Worten etwas Erwartungsvolles mitklang, dachte er bei sich: Ich glaube gar, meine kleine Schwester hat sich im Schwarzwald verliebt. Er traf mit seinen Gedanken damit genau ins Schwarze. Mit einem Lächeln voller Verständnis sagte er jedoch: »Ich glaube, für heute haben wir genug geredet, Hanna. Ich bin dafür, dass wir jetzt beide schlafen gehen. Du hast eine lange und anstrengende Fahrt hinter dir, und mein Tag war auch nicht gerade leicht heute. Morgen erzählst du mir mehr, denn ich muss gestehen, dass du mich neugierig auf unseren neuen Patienten und seinen Vater gemacht hast.«
Da Hanna nun auch die Müdigkeit spürte, die langsam in ihr hochkroch, war sie sofort einverstanden.
Das Gesicht des heimlich geliebten Mannes tauchte vor ihrem inneren Auge auf, und ein zärtliches Lächeln, von Kay mit heimlichem Staunen wahrgenommen, umspielte dabei ihre Lippen. Auf den Mann, der diese Veränderung in seiner sonst immer so nüchternen Schwester zustande gebracht hatte, war er wirklich neugierig geworden. Trotzdem vermied er es, Fragen in eine bestimmte Richtung zu stellen. Er kannte Hanna so gut, dass er wusste, sie würde von sich aus darauf zu sprechen kommen, wenn es etwas zu sagen gab.
Es blieb Kay auch am nächsten Tag nicht verborgen, dass Hanna voll heimlicher Erwartung war. Ein paar Mal ertappte er sie dabei, wie sie nur still dasaß, ein verträumtes, ja, glückliches Lächeln auf den Lippen. Auch lief sie immer wieder zum Fenster, um hinauszusehen, wenn ein Wagen vorfuhr. Und immer las er in ihrem Gesicht die Enttäuschung, wenn es nicht der war, den Hanna anscheinend erwartete.
Am Abend, es war wieder eine stille Stunde oben in ihrer gemütlichen kleinen Giebelturmwohnung, sagte Kay: »Dieser Herr Berkel hat es sich sicher überlegt und seinen Jungen in eine Klinik in der Nähe seines Wohnortes gebracht.«
»Das hat er nicht, Kay, ich weiß es. Ich muss dir dazu ein wenig mehr erzählen. Weißt du, der Junge, Sven, ist mir sehr ans Herz gewachsen. Seine Mutter hat ihn und seinen Vater vor einiger Zeit verlassen. Der Junge leidet wohl unter dem Verlust und hat mich während der Wochen im Schwarzwald sehr in sein Herz geschlossen. Ich vermisse ihn, dabei habe ich ihn jetzt erst gut eine Woche nicht gesehen.«
»Der Junge oder seinen Vater, Hanna?«
»Ich will dir gegenüber ehrlich sein, Kay. Du bist mein Bruder, du wirst mich verstehen. Ich vermisse beide. Den Jungen und den Vater. Bitte, lach mich jetzt nicht aus, wenn ich dir sage, dass ich mich richtig verliebt habe. Mehr noch, ich liebe Knut Berkel. Dass es mich so trifft, hätte ich vor einigen Wochen für unmöglich gehalten.« Eine dunkle Röte stieg Hanna bei ihren Worten bis in die Stirn hinauf. Etwas unsicher sah sie Kay an.
»Verstehst du nun, dass ich sicher bin, dass Knut Berkel seinen Jungen ganz bestimmt in die Klinik bringen wird?«
»Ich verstehe dich schon, Hanna, aber wie sieht es mit seinen Gefühlen für dich aus? Ich möchte nicht, dass du enttäuscht wirst«, entgegnete Kay mit einem verständnisvollen Lächeln.
»Ich glaube, er erwidert meine Gefühle, Kay.«
»Du glaubst, Hanna. Glauben und Wissen, dazwischen liegen Welten. Verrenne dich nicht in eine Liebe, die sich vielleicht nie realisieren lässt. Sicher kannst du erst sein, wenn er dir sagt, dass er dich liebt. Ich gönne dir von Herzen ein schönes Glück, Hanna, aber sei vorsichtig, schenk dein Herz nur einem Würdigen.«
»Ich werde an deine Worte denken. Aber ich glaube doch, dass ich nicht vergeblich warten werde. Du wirst es schon erleben.« Ein zärtliches Leuchten glänzte in Hannas Augen auf.
»Und was macht dieser Herr Berkel beruflich, Hanna?« Fragend sah Kay seine Schwester an.
»Knut Berkel ist im Bankgewerbe tätig, Kay. Aber welche Position er bekleidet, entzieht sich meiner Kenntnis, darüber haben wir noch nicht gesprochen. Im Augenblick ist es auch nicht wichtig«, gab Hanna zurück. »Morgen kommt er bestimmt und bringt seinen Jungen. Er weiß, wie wichtig die Untersuchungen für Sven sind.«
*
Am nächsten Vormittag, als Hanna und Kay gerade die Visite hinter sich gebracht hatten, wurde Hanna Martens durch Martin Schriewers die Ankunft von Knut Berkel und Sohn gemeldet.
»Bitte, bringen Sie Herrn Berkel mit seinem Sohn zu mir und meinem Bruder ins Sprechzimmer, Martin«, bat Hanna.
Mit klopfendem Herzen wartete sie dann, bis es an der Tür pochte, Martin Schriewers die Tür öffnete und sagte: »Herr Berkel und Sohn, Frau Doktor.«
»Tante Hanna, Tante Hanna, da bin ich«, kam es von den Lippen des Achtjährigen, und er lief auf Hanna zu und warf sich in ihre Arme.
Über den Kopf des Jungen hinweg sahen sich Hanna und Knut an, und Hanna sah, wie es in seinen Augen jäh aufleuchtete.
»Hab ich doch gesagt, dass wir uns in einer Woche wiedersehen, mein Kleiner«, sagte Hanna nun liebevoll zu dem Achtjährigen und fuhr ihm mit einer zarten Geste über das schwarze Haar. Danach reichte sie Kurt ihre Hand und sagte mit verhaltener Freude in der Stimme: »Schön, dass Sie Sven bringen, Knut. Darf ich Ihnen meinen Bruder Kay vorstellen?« Lächelnd wies sie auf Kay, der mit wachen Augen die Begrüßung zwischen Hanna, dem Jungen und dessen Vater beobachtet hatte und Knut nun seine Rechte entgegenstreckte.
»Guten Morgen, Herr Berkel, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Meine Schwester hat mir schon ausführlich von Ihnen und dem Problem Ihres Jungen berichtet.«
»Guten Morgen, Herr Dr. Martens. Ich bin so froh, dass ich meinen Jungen zu Ihnen in die Klinik bringen durfte. Sag dem Herrn Doktor auch schön guten Morgen, Sven«, forderte er mit leise mahnender Stimme seinen Jungen auf.
Mit auf dem Rücken verschränkten Händen stellte sich der Achtjährige einen Moment vor Kay hin und sah ihn ernsthaft an.
Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er streckte Kay seine rechte Hand entgegen und sagte mit treuherzigem Blick: »Guten Morgen, Herr Doktor. Sie sind in Ordnung, ich mag Sie. Ich bin der Sven. Tante Hanna hat gesagt, dass Sie mich wieder gesund machen können?«
»Soso, du bist also der Sven. Du gefällst mir auch. Aber mit dem gesund machen, das geht nicht so rasch. Da musst du schon eine Weile hier bei uns in der Klinik bleiben. Wirst du das auch wollen?«
»Ja, sicher will ich das. Da kann ich doch jeden Tag Tante Hanna sehen. Ich habe die Tante Hanna nämlich ganz doll lieb.«
»Fein, Sven, dann werden wir jetzt Schwester Laurie rufen. Sie wird dich schon einmal nach oben in ein hübsches Krankenzimmer bringen und dir helfen, deine Sachen auszupacken. Tante Hanna und ich müssen noch etwas mit deinem Vati besprechen, danach kommen Tante Hanna und er zu dir hinauf. Du kannst ihnen dann ja sagen, ob es dir hier bei uns auf Birkenhain gefällt … Einverstanden?«
Während seiner Worte hatte Kay schon auf einen Knopf gedrückt, der eine Schwester herbeirief. Es war Schwester Dorte, die kurz darauf das Sprechzimmer betrat.
»Schicken Sie mir bitte Schwester Laurie, Schwester Dorte. Sie möchte einen kleinen Patienten hier unten bei mir abholen. Sie soll Sven schon hinauf in sein Zimmer bringen.«
Es dauerte nur wenige Minuten, und Schwester Laurie betrat nach kurzem Anklopfen das Sprechzimmer.
Mit einem fröhlichen Lachen trat sie auf Sven zu und sagte: »Ich bin Schwester Laurie. Möchtest du mir nicht sagen, wie dein Name ist?«
»Ich bin doch der Sven«, antwortete der Achtjährige freimütig.
»So, du bist der Sven. Was meinst du, wir werden uns doch wohl vertragen, nicht wahr? Ich kann schöne Geschichten erzählen. Jetzt zeige ich dir aber zuerst, wo du in der nächsten Zeit wohnen wirst. Kommst du mit mir?« Lustig blinzelten ihre Augen ihm zu, und vertrauensvoll legte er seine kleine Hand in die ihre und verließ mit ihr das Sprechzimmer.
Einen Moment sahen die Zurückbleibenden den beiden nach, dann stellte Kay dem Vater des Jungen einige Fragen und machte sich Notizen zu den Antworten.
»Wann werden Sie wissen, was genau meinem Jungen fehlt, Herr Dr. Martens?«, fragte Knut, nachdem alles Wichtige besprochen worden war.
»Zwei Tage werden die Untersuchungen schon in Anspruch nehmen, Herr Berkel. Wir wollen Ihren Jungen ja mit den anstehenden Untersuchungen nicht überfordern. Aber so weit es Ihre Zeit erlaubt, können Sie Sven zu jeder Zeit und so lange Sie wollen besuchen.«
»Ich danke Ihnen, Herr Dr. Martens. Ich werde das natürlich ausnutzen, denn ich habe mir noch eine Woche Zeit genommen, in der ich, sooft es geht, bei meinem Jungen sein möchte. Sollte Sven länger hierbleiben müssen, kann ich nur noch einmal während der Wochentage und dann an den Wochenenden kommen. Aber durch Ihre Schwester weiß ich, dass mein Sven hier bei Ihnen beiden auf Birkenhain gut aufgehoben ist, und vor allen Dingen, dass alles für ihn getan wird.«
»Darauf können Sie sich verlassen, Herr Berkel. Wir haben mit unserem Dr. Dornbach auch einen ausgezeichneten Kardiologen als Mitarbeiter. Sie werden Dr. Dornbach in den nächsten Tagen kennenlernen, und er wird Ihnen gefallen. Fürs Erste wäre damit alles besprochen. Meine Schwester wird Sie jetzt zu Ihrem Jungen hinaufbringen. Bist du so lieb, Hanna?«
»Natürlich, Kay«, antwortete Hanna, und zu Knut sagte sie lächelnd: »Kommen Sie, Knut. Sie wollen ja sicher selbst sehen, wo Sven untergebracht worden ist.«
»Natürlich gern, Hanna. Aber können Sie mir vielleicht einen Tipp geben, wo man hier in der Nähe der Klinik übernachten kann?«
Während er nun an Hannas Seite das Sprechzimmer verließ, hörte Kay noch, wie sie antwortete: »Im Heidekrug drüben im Ort werden Sie ein Zimmer finden, Knut.«
Nachdenklich sah Kay auf die Tür, die sich hinter Hanna und Knut Berkel geschlossen hatte. Das also war der Mann, an den seine Schwester ihr Herz verloren hatte. Kay gestand sich ein, dass Knut Berkel ein sehr gut aussehender Mann war und dazu noch eine äußerst sympathische Ausstrahlung besaß.
Er konnte Hanna schon verstehen, dass sie sich in diesen Mann verliebt hatte. Und auch sein Sohn, der achtjährige Sven, war ein netter und für sein Alter sehr aufgeweckter Junge, dem man ansah, dass er sehr an Hanna hing. Aber Kay war auf der anderen Seite realistisch genug, um zu erkennen, dass, wie immer die Geschichte zwischen Hanna und Knut Berkel weitergehen würde, es noch zu Schwierigkeiten kommen konnte. Kay konnte es sich nämlich einfach nicht vorstellen, dass Hanna so einfach auf ihre Arbeit, in der Klinik verzichten würde. Aber wiederum war es wohl ziemlich verfrüht, sich schon zu diesem Zeitpunkt darüber Gedanken zu machen. Man würde abwarten, was daraus wurde. Es war allein Hannas Angelegenheit. Es stand ihm nicht zu, sich da in irgendeiner Weise einzumischen.
*
»Sie leben hier in der Heide sehr schön, Hanna«, sagte Knut, als er neben Hanna die Treppe zur Krankenstation hinaufging. »Einen Augenblick dachte ich sogar, dass ich mich vielleicht verfahren hätte. Birkenhain sieht von außen nicht so aus, als würden sich im Inneren kranke Kinder aufhalten. Auf mich wirkt es eher wie ein verwunschenes Märchenschloss.«
»Märchenschloss ist ein schöner Vergleich, Knut. Fehlt eigentlich nur die Prinzessin darin, oder?« Mit einem schelmischen Lächeln sah Hanna Knut von der Seite an. Ebenso lächelnd erwiderte er darauf: »Sind Sie so sicher, Hanna, dass sich wirklich keine Prinzessin hier im Gebäude befindet?«
Er sah Hanna dabei mit einem Blick an, der ihr eine verlegene Röte ins Gesicht trieb. Da sie jedoch oben an der Tür zu dem Krankenzimmer angekommen waren, flüsterte Knut ihr noch leise zu: »Die Antwort auf meine Frage hole ich mir ein anderes Mal, Hanna.«
In diesem Moment wurde von innen die Tür geöffnet, und Schwester Laurie kam aus dem Zimmer. Ein wenig überrascht sah sie Hanna an, deren Gesicht in dunkle Glut getaucht war. Aber rasch fragte Knut: »Gefällt es meinem Jungen, Schwester Laurie?«
»Ja, aber Sven hat schon gefragt, wann denn endlich sein Vati und seine Tante Hanna kommen. Ich wollte gerade nachfragen.«
Hanna hatte sich etwas gefasst und antwortete: »Wir sind ja jetzt hier, Schwester Laurie. Ich werde Sie rufen, wenn Herr Berkel und ich Sven wieder allein lassen. Vielleicht können Sie in der Zwischenzeit für Herrn Berkel einen Kaffee besorgen?«
»Gern, Frau Doktor, ich bereite gleich frischen zu. Ich hatte es ohnehin vor. Soll ich den Kaffee dann ins Zimmer bringen?«
»Ja, das wäre sehr nett«, antwortete Hanna und betrat nun mit Knut Berkel das Krankenzimmer.
»Na, mein Kleiner, wie gefällt es dir hier bei Tante Hanna in der Klinik?«, wollte Knut von seinem Jungen wissen.
»Prima, Vati, und Schwester Laurie ist auch ganz lieb. Sie hat gesagt, dass ich den ganzen Tag im Bett bleiben darf. Und das Essen, das bekomme ich auch immer ans Bett gebracht.«
Svens Stimme klang trotz der Freude, die man heraushörte, ein wenig erschöpft.
Weich sagte Hanna: »Fein, dass es dir bei uns gefällt, Sven. Aber du solltest jetzt versuchen, ein wenig zu schlafen. Wie ich sehe, bist du auch müde.«
»Ja, ich bin müde, Tante Hanna. Aber ist Vati denn noch hier, wenn ich später wieder wach werde?«
»Bestimmt, mein Kleiner, und ich schaue auch nach dir, wenn ich zwischendurch Zeit habe. Dein Vati muss jetzt gleich nur noch einmal für ein Weilchen fortfahren. Er braucht ein Zimmer, wo er in den nächsten Nächten schlafen kann. Das verstehst du sicher, du bist ja schon ein großer und vernünftiger Junge, nicht wahr?«
»Natürlich ist Sven vernünftig, Hanna, er hat es mir daheim noch ganz fest versprochen. Sven weiß auch, dass man ein gegebenes Versprechen halten muss. Hab ich recht, mein Junge?«
»Ja, Vati«, kam es ein wenig kleinlaut von den Lippen des Jungen, der Augenblicke später ohne Übergang eingeschlafen war.
Leise verließen Hanna und Knut Berkel das Zimmer. Fast wären sie an der Tür mit Schwester Laurie, die für Knut den Kaffee brachte, zusammengestoßen. Es ging gerade noch einmal gut.
Fragend sah Schwester Laurie ihre Chefin an.
»Der Junge ist gerade eingeschlafen, Schwester Laurie. Herr Berkel wird den Kaffee in der Teeküche trinken. Achten Sie nachher ein wenig auf den Jungen, denn Herr Berkel muss noch einmal fort. Er will wegen eines Zimmers zum Heidekrug.«
Schwester Laurie reichte Hanna das Kaffeegedeck und entgegnete freundlich: »Ich werde schon auf den kleinen Kerl aufpassen, und wenn er erwacht, sage ich ihm, dass sein Vati bald zurückkommt.«
Während Hanna und Knut in die kleine Teeküche der Krankenstation gingen, verschwand die junge Schwester schon hinter einer anderen Zimmertür.
Nachdem Knut seine Tasse geleert hatte, sagte er bittend: »Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Abend etwas Zeit für einen Spaziergang hätten, Hanna. Es ist doch schöner, zu zweit durch die abendliche Heide zu spazieren als allein. Was ich während der Herfahrt von der Umgebung gesehen habe, gefiel mir sehr gut. Vielleicht kennen Sie in der näheren Umgebung auch ein hübsches Gasthaus, in das wir für ein Stündchen einkehren können. Bitte, Hanna, sagen Sie nicht nein.«
»Ich sage nicht nein, Knut, ich freue mich auf den Abend. Sagen wir um acht Uhr, dann wird Sven schon schlafen. Aber Sie müssen mich jetzt entschuldigen, ich muss an meine Pflichten denken. So weit es meine Zeit erlaubt, schaue ich aber auf jeden Fall noch einige Male zu Sven ins Zimmer.«
»Ich freue mich auf den Abend, Hanna. Aber jetzt werde ich Sie nicht länger aufhalten, ich muss mich ja auch um eine Unterkunft für die nächste Woche kümmern.«
Einen Moment blieb Hanna noch allein in der Teeküche zurück. Er, an den sie während der vergangenen Woche unablässig gedacht hatte, wollte mit ihr allein sein. Ihr Herz begann unsinnig zu klopfen, und ein nie vorher gekanntes Glücksgefühl war auf einmal in ihr und ließ ihr Gesicht von innen her leuchten.
Schwester Laurie kam in die Teeküche und schreckte sie aus ihren Gedanken auf.
»Die kleine Rita auf Zimmer zwölf klagt über Bauchschmerzen, Frau Doktor.«
»Ich komme, Schwester Laurie.« Sofort war Hanna wieder ganz Ärztin, und die privaten Gedanken traten in den Hintergrund.
*
»Was hältst du von dem Jungen, Kay?«, wollte Hanna von ihrem Bruder wissen, als sie gegen siebzehn Uhr mit ihm hinauf in die Wohnung ging.
»Deine erste Diagnose, was die Herzschwäche betrifft, steht auch für mich, Hanna. Ich habe schon mit Dr. Dornbach gesprochen. Wir werden gleich morgen früh die ersten Untersuchungen durchführen, denn da muss auch noch etwas anderes sein. Wir werden sehen, was dabei herauskommt.«
»Und Herr Berkel, Kay?«
Kay musste leicht schmunzeln, denn er hörte die heimliche Spannung aus Hannas kurzer Frage heraus.
»Ein äußerst sympathischer Mensch, Hanna, und ich meine es ehrlich. Und dass er seinen Jungen zärtlich liebt, das steht außer Frage. Halte aber trotz allem dein Herz mit beiden Händen fest. Du bist meine einzige Schwester, und ich möchte nicht, dass du eine Enttäuschung erlebst. Siehst du ihn heute noch?«
»Ja, Kay, Knut Berkel hat mich gebeten, ihn auf einen Spaziergang und zu einem kleinen Umtrunk zu begleiten. Es macht dir doch nichts aus, dass ich dich heute Abend allein lasse?«
»Warum sollte es? Du bist doch frei in deinen Entscheidungen. Und wie es aussieht, ist es wohl das Beste, dass ich mich recht schnell daran gewöhne, zumindest für die kommende Woche.«
»Du bist wie immer ein verständnisvoller Bruder. Das macht unser beider Leben hier in Birkenhain so angenehm. Aber jetzt mache ich uns erst einmal eine kleine warme Mahlzeit. Ich bin heute Mittag nicht dazu gekommen, in die Kantine zu gehen.«
Ein paar Minuten vor acht verließ sie dann die kleine Wohnung oben im Giebelturm.
Knut stand wartend neben seinem Wagen, als Hanna aus dem Gebäude ins Freie trat.
»Fahren wir zuerst ein Stück, Hanna? Sie kennen die Umgebung hier ja wohl am besten. Zeigen Sie mir ein paar Stellen, noch ist es nicht dunkel.«
»Gern, Knut, fahren wir. Ich werde Ihnen sagen, wie Sie fahren müssen.« Hanna wies ihm den Weg zum Heidesee, den sie sehr mochte, aber sie kam viel zu selten dorthin.
Langsam gingen sie am See entlang und er sagte: »Wunderschön ist es hier. Hierher möchte ich noch einmal bei Tag. Wenn man wie ich in einer Großstadt lebt oder zum größten Teil im Inneren eines riesigen Gebäudes, dann ist ein Spaziergang in dieser herrlichen Umgebung etwas Besonderes. Etwas erinnert es mich auch an die schönen Tage im Schwarzwald. Sehen Sie doch, wie dunkel und geheimnisvoll, fast ohne Bewegung die Wasserfläche wirkt. Ein wunderschönes Fleckchen Erde. Ich danke Ihnen, dass Sie mich hierhergeführt haben. Hier kann man die Sorgen ein wenig vergessen.«
»Darum habe ich Ihnen auch den See zeigen wollen. Sie dürfen sich nicht nur um Sven sorgen. Er befindet sich jetzt in der Obhut ausgezeichneter Fachkräfte, und für ihn wird alles getan, was ihm hilft.«
»Sie sind eine bemerkenswerte Frau, Hanna. Sie haben immer das Gefühl für das Richtige. Allein Ihre Gegenwart wirkt ungemein beruhigend. Ich bin sehr gern mit Ihnen zusammen. Mir ist, als würde ich Sie schon eine Ewigkeit kennen.«
Hanna wollte etwas sagen, aber in diesem Augenblick trat sie in ein Loch und wäre fast gestürzt, wenn Knut nicht im letzten Moment fest zugegriffen hätte. Ihr Herz begann heftig zu pochen, als sie seinen Herzschlag spürte. Ehe sie wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, legten sich seine Arme um ihre Gestalt, und in dunkler Stimme sagte er: »Ich bin nicht nur gern mit dir zusammen, Hanna. Ich liebe dich. Sag, darf ich mir Hoffnung machen? Kannst du mir ein wenig gut sein?«
Ein niemals zuvor erlebtes, seliges Glücksgefühl durchströmte Hanna. Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte mit verhaltener Stimme: »Ich hab dich auch lieb, Knut, dich und deinen Jungen.«
»Du, mein Liebes, ich danke dir für diese Worte. Sie bedeuten mir unendlich viel. Ich habe nicht geglaubt, noch einmal in meinem Leben so zu fühlen. Du machst mich sehr glücklich.«
Wie von selbst fanden ihre Lippen sich zu einem ersten zärtlichen Kuss.
Eine Weile gingen sie Hand in Hand weiter, bis Knut das Schweigen brach und leise sagte: »Ich werde versuchen, so rasch wie möglich meine Freiheit auch auf dem Papier zu bekommen. Willst du meine Frau und Sven eine liebevolle Mutter werden, wenn es so weit sein wird?«
»Ja, ich will, Knut, gerade, weil ich dich und Sven lieb habe. Aber jetzt muss Sven erst einmal gesund werden. So lange wollen wir nicht an uns, sondern nur an ihn denken.«
»Wie du es möchtest, Liebes.« Erneut zog Knut Hanna in seine Arme und küsste zärtlich ihre Lippen.
Hanna war es, die sich sanft befreite und leise mahnend sagte: »Es ist schon spät, Knut. Ich möchte noch gern so weiter mit dir gehen, aber ich glaube, wir müssen langsam zurück.«
»Erst werden wir noch auf unser Glück anstoßen, mein Liebes. So viel Zeit bleibt uns ja sicher noch, nicht wahr? Wir sind doch da vorhin kurz vor dem See an einem hübschen Lokal vorbeigekommen. Wenn es dir recht ist, kehren wir dort noch für ein halbes Stündchen ein. Es soll ein schöner Abschluss dieses Abends sein.«
Knut hatte zärtlich den Arm um Hannas Schulter gelegt, führte sie zu seinem Wagen zurück und half ihr zuvorkommend beim Einsteigen.
In wenigen Minuten erreichten sie das kleine Lokal in der Nähe des Heidesees und verbrachten dort noch eine schöne Stunde.
Bei einem guten Glas Wein sahen sie sich tief in die Augen, und Knut fragte zärtlich: »Bist du glücklich, Liebes?«
Einen Augenblick sah sie stumm in seine Augen, in denen sich seine Liebe, seine Zärtlichkeit spiegelten.
»Ja, ich bin glücklich, Knut. Ich glaube, ich habe dich vom ersten Augenblick an gemocht. Es war ein so neues, fremdes Gefühl für mich. So glücklich wie heute war ich noch nie.«
»Ich werde dafür sorgen, dass du es immer bleibst, Hanna, mein Liebes, das verspreche ich dir.«
Es war fast Mitternacht, als Hanna leise und auf Zehenspitzen, um Kay nicht zu wecken, die kleine Giebelturmwohnung betrat.
Sie konnte lange nicht einschlafen in dieser Nacht. Nur langsam ebbte das selige Glücksgefühl in ihr ab. Sie glaubte noch immer den zärtlichen Druck seiner Lippen auf den ihren zu spüren.
»Oh, Knut, wie sehr liebe ich dich«, flüsterte sie leise, bevor sie einschlief.
*
Aufmerksam sah Kay am kommenden Morgen beim Frühstück in Hannas Gesicht, das förmlich von innen heraus leuchtete.
So hatte er seine Schwester noch nie gesehen. Sie war ja wohl schon immer eine kleine Schönheit gewesen, aber die Liebe machte sie noch hinreißender.
»Wie es dir geht, brauche ich wohl nicht erst zu fragen, nicht wahr, Schwesterherz?«, fragte er lächelnd.
»Nein, Kay, du siehst es ja, es geht mir blendend«, antwortete Hanna mit strahlendem Gesicht und goss den Kaffee in die Tassen.
»Ich habe dich überhaupt nicht kommen gehört. Du hast bestimmt einen schönen Abend verlebt.«
»Der schönste, den man sich wünschen kann, Kay. Ich bin so glücklich! Knut hat mir endlich seine Liebe gestanden. Hast du gehört, er liebt mich.«
»Ich habe es gehört, Hanna. Aber ist er denn überhaupt schon frei? Du hast mir zwar gesagt, dass seine Frau ihn und den Jungen vor einiger Zeit verlassen hat. Aber warum …«
»Ich weiß, was du sagen willst, Kay. Knut hat gesagt, dass er dafür sorgen will, nun auch auf dem Papier möglichst rasch seine Freiheit zurückzubekommen. Wir haben noch so viel Zeit, Kay. Jetzt muss erst der Junge gesund werden, alles andere regelt sich dann ganz von selbst. Und du hast ja gestern gesagt, dass er dir auch gefällt, oder stimmt das heute schon nicht mehr?«
»Natürlich, aber trotzdem kommt für mich alles ein wenig zu schnell. Ich gönne dir dein Glück von ganzem Herzen, Hanna, aber ich bitte dich, überstürzte nichts. Das Glück, das vom Schicksal für dich bestimmt ist, es läuft dir nicht davon.«
»Ich bin schon jetzt ganz sicher. Aber wir wollen nicht länger über dieses Thema reden. Ich räume nur rasch den Tisch ab, dann können wir hinuntergehen.«
»In Ordnung, es ist ja auch deine ureigenste Angelegenheit, und ich werde mich ganz gewiss nicht einmischen. Dass mir dein Glück sehr am Herzen liegt, das weißt du ja.«
»Ja, das weiß ich, Kay. Nun zu etwas anderem. Wann werdet ihr mit den Untersuchungen bei dem Jungen beginnen?«
»Er kommt heute Morgen als Erster an die Reihe. Wenn du möchtest, kannst du gern dabei sein.«
»Ich habe morgens früh meine ambulante Sprechstunde. Du kannst mir ja die Ergebnisse der ersten Untersuchungen später mitteilen. Dass sie mich brennend interessieren, muss ich wohl nicht ausdrücklich betonen, nicht wahr?«
»Alles klar, ich werde dich nicht warten lassen. Aber schau mal auf die Uhr. Wir reden hier, und dabei wird es Zeit, dass wir uns unseren Aufgaben zuwenden.«
So ganz konnte Hanna an diesem Morgen die privaten und beruflichen Gedanken nicht trennen, denn da war Sven, der Sohn des geliebten Mannes. Ihr erster Weg, als sie auf der Krankenstation ankam, war der zu Svens Zimmer.
Der Achtjährige war schon wach, und in seinen dunklen Augen leuchtete es auf, als er seine geliebte Tante Hanna das Zimmer betreten sah.
»Guten Morgen, Sven, wie fühlst du dich heute?«, fragte sie liebevoll.
»Mir tut es hier ein wenig weh, Tante Hanna.« Der Junge legte eine Hand auf sein Herz und sah Hanna an.
»Hat Schwester Laurie dir denn heute Morgen noch keine Medizin gegeben?«
»Nein, sie hat gesagt, dass ich die Medizin heute erst bekomme, wenn der Herr Doktor mich untersucht hat. Ich möchte meinen Vati haben, Tante Hanna. Wann kommt er denn heute zu mir? Ich warte doch schon so auf ihn.«
»Er wird gewiss kommen, wenn du nach der Untersuchung wieder in deinem Zimmer bist.«
»Tut es denn auch nicht weh, wenn der Doktor mich untersucht?« Ein ängstlicher Ausdruck war auf einmal in den Blicken des Achtjährigen zu erkennen.
»Aber Sven, ich habe es dir schon erklärt. Es tut überhaupt nicht weh. Ich weiß ja auch, dass du ein tapferer Junge sein wirst. Die Untersuchungen müssen sein, damit du wieder ganz gesund werden kannst. Dein Vati hat dich lieb, er möchte doch auch, dass du bald wieder mit deinen Spielkameraden herumtollen kannst.«
Sven sagte nichts mehr, und Hanna musste in diesem Moment daran denken, dass Sven noch nicht ein einziges Mal nach seiner Mutter gefragt hatte. Was mochte sie wohl für eine Frau sein? War sie dem Jungen keine gute Mutter gewesen, oder hatte die Liebe des Vaters ihm schon darüber hinweggeholfen? Wenn es in ihrer Macht stand, würde sie einmal alles versuchen, dem Jungen eine gute Mutter zu werden.
Aus diesen Gedanken heraus fuhr sie ihm mit einer liebevollen Geste über den dunklen Schopf und sagte weich: »Sollst sehen, Sven, es wird alles wieder in Ordnung kommen.«
In den Augen des Jungen glänzte es plötzlich verdächtig.
Leise sagte er und griff dabei nach Hannas Hand: »Du bist lieb, Tante Hanna. Du bist lieb wie eine Mutti.«
Wie er es sagte und sie dabei ansah, ließ sie jäh erkennen, dass er seine Mutter nicht vergessen hatte. Es lag in den wenigen Worten so viel Sehnsucht, dass Hanna nicht anders konnte. Sie beugte sich zu ihm hinunter, zog ihn in ihre Arme und sagte zärtlich: »Ich habe dich sehr lieb, Sven.«
»Ich habe dich auch lieb, Tante Hanna. Kannst du nicht mit zu uns kommen und meine Mutti sein?«
»Erst musst du einmal gesund werden, danach werden wir weitersehen, mein Junge. Hier in der Klinik bin ich ja jeden Tag bei dir. Genau wie dein Vati. Aber jetzt muss ich auch nach den anderen kranken Kindern schauen. Das verstehst du doch sicher, nicht wahr? Es sind einige dabei, die sehr krank sind und mich brauchen. Du bist jetzt brav, bis der Herr Doktor dich holen lässt. Später kommt dann dein Vati zu dir … Einverstanden?«
»Ja, Tante Hanna. Aber du kommst doch auch ganz bestimmt wieder, nicht wahr?«
»Aber klar doch, versprochen«, erwiderte Hanna liebevoll lächelnd. »Jetzt muss ich dich aber erst ein Weilchen allein lassen. Schwester Laurie magst du doch sicher auch. Sie kommt gleich zu dir.«
»Ja, Tante Hanna. Schwester Laurie ist sehr lieb. Sie ist immer lustig.«
»Na siehst du, Sven. Hier bei uns sind alle lieb.«
Für sie wurde es wirklich Zeit, sich auch um die anderen kleinen Patienten zu kümmern, bevor ihre Sprechstunde begann. Für Sven konnte sie nur hoffen, dass Dr. Dornbach, dessen Fachgebiet die Kardiologie war, und ihr Bruder Kay nichts Schwerwiegendes bei ihren Untersuchungen feststellten.
*
Dr. Malte Dornbach war ein hervorragender Mitarbeiter in der Klinik. Er war siebenunddreißig Jahre alt, hatte weißblondes Haar und lustige Sommersprossen. Selbst Vater von zwei Buben, verstand er es, mit den kleinen Patienten in der Klinik umzugehen. Kay Martens hatte von Anfang an bei den Einstellungen seiner Mitarbeiter auf diesen Aspekt besonders großen Wert gelegt.
An diesem Morgen befand sich Dr. Malte Dornbach bei Kay Martens im Sprechzimmer. Sie hatten beide durchgesprochen, wie Malte Dornbach bei dem Patienten Berkel vorgehen würde.
Kay sagte abschließend: »Da jetzt so weit alles klar ist, werde ich den Jungen holen lassen. Eigentlich wollte ich bei den Untersuchungen zugegen sein, aber ich denke, dass es reicht, wenn Sie mir später Ihre Untersuchungsergebnisse vorlegen. Ich weiß, der kleine Bursche ist bei Ihnen in den besten Händen. Zu wünschen wäre natürlich, dass bei dem Jungen noch kein schwerwiegender Schaden am Herzen besteht und wir mit einer Behandlung ohne Operation der Sache Herr werden. Ich schicke Ihnen den Jungen also gleich mit Schwester Laurie.«
»In Ordnung, Chef, Sie können sich auf mich verlassen«, gab Malte Dornbach mit ernster Stimme zurück.
Er ging zur Tür und sagte im Hinausgehen: »Ich warte dann im Untersuchungszimmer auf den kleinen Burschen.«
Oben auf der Krankenstation betrat Schwester Laurie wenige Minuten später das Zimmer, in dem Sven Berkel untergebracht worden war.
»So, mein Junge, jetzt werden wir dich mitsamt deinem Bett ein wenig spazieren fahren«, kam es mit fröhlicher Stimme von ihren Lippen. Ihre Augen blinzelten ihn lustig an.
»Warum denn mit dem Bett, Schwester Laurie, ich kann doch auch laufen.«
»Du wirst heute Morgen gründlich untersucht, Sven, und der Herr Doktor will es so. Wir machen das immer so. Weißt du, wenn du nach der Untersuchung müde bist, dann kannst du sofort schlafen, wenn du willst.«
»Ehrlich, Schwester Laurie?«
»Ehrlich, Sven, du kannst mir ruhig glauben«, gab die junge Schwester lächelnd zurück.
»Na gut, wenn du es sagst. Aber geht das denn überhaupt mit dem Bett?«
»Natürlich, du wirst es gleich sehen. Dein Bett hat ja vier kleine Räder, die nur festgestellt sind. Wenn ich die Hebel herumschiebe, dann kann ich dich mitsamt dem Bett überallhin fahren. Also, kann es dann losgehen?«
»Ja, Schwester Laurie, du kannst fahren. Sagst du denn auch meinem Vati, wo ich bin?«
»Frau Dr. Martens wird es ihm schon sagen, wenn er in die Klinik kommt.«
Als Schwester Laurie das Bett in den Aufzug bugsierte und der Achtjährige auf einmal ein ängstliches Gesicht machte, sagte sie: »Wir sind gleich unten, Sven, du musst dich nicht fürchten. Es tut nicht weh, wenn du untersucht wirst. Du bist doch schon ein großer Junge.«
»Hat Tante Hanna auch gesagt, aber ein wenig fürchte ich mich doch. Bleibst du denn bei mir?«
»Ich nicht, Sven, ich bringe dich nur hinunter und hole dich später wieder ab. Aber du kennst Schwester Elfi ja auch schon. Sie wird bei den Untersuchungen dabei sein und dem Doktor helfen. Alles klar?«
»Ja, Schwester Laurie.«
Auch Schwester Elfi hatte ein fröhliches Lächeln auf den Lippen, als sie wenig später den Jungen von Schwester Laurie übernahm. Mit ängstlichen Blicken sah Sven auf den großen, breitschultrigen Mann, der mit warmer Stimme zu ihm sagte: »Ich bin der Dr. Dornbach, und du bist also der Sven, nicht wahr?« Unsicher nickte der Junge.
»Du musst nicht so ängstlich schauen, Junge. Weißt du, ich habe daheim, auch zwei Jungen, die sind nicht viel älter als du, Mark und Sebastian heißen sie. Wenn sie mal krank sind, dann helfe ich den beiden so, wie ich dir helfen möchte. Hier auf dem Foto, das sind die zwei.«
Lächelnd zeigte Malte Dornbach Sven sein Foto, auf dem er mit seinen beiden Söhnen abgebildet war. Dr. Malte Dornbach verstand es, auf diese Art und Weise, die Angst des Jungen abzubauen und sein Vertrauen zu erringen.
Nacheinander führte er die verschiedensten Untersuchungen durch: EKG, um die Herztätigkeit genau festzustellen, danach die sorgfältig durchgeführten Röntgenaufnahmen. Da das Herz auf der Doralseite, der Rückenseite, schwer erkennbar war, bekam Sven einen Löffel des bariumhaltigen Kontrastbreies zu schlucken, dann war das Bild klarer zu erkennen. Malte Dornbach hatte in Birkenhain Apparate zur Verfügung, die dem neuesten Stand der Medizin entsprachen. Die Durchleuchtung mit der Bildverstärker-Fernseheinheit gestattete nach dem derzeitigen Stand in der Herzmedizin eine genaue Abgrenzung des Herzens von seiner Umgebung und die detaillierte Beobachtung seiner Pulsation. Schäden an den Herzklappen und den Koronararterien konnten so festgestellt werden.
Dass das Gesicht Malte Dornbachs im Verlauf der Untersuchungen – es wurde noch eine Ultraschallkardiografie durchgeführt – immer ernster wurde, fiel nur Schwester Elfie auf, die dem Arzt mit kleinen Handreichungen zur Seite stand und die auch Sven nach seinen Anweisungen in die jeweils gewünschte Untersuchungsposition brachte.
Doch auch diese Zeit ging vorüber, und Malte Dornbach war für diesen Tag mit Sven Berkel fertig. Bevor er nach Schwester Laurie schickte, die den Jungen wieder abholen sollte, sagte er mit seiner warmen Stimme zu Sven: »Nun, kleiner Mann, hat es nun wehgetan?«
»Nein, es hat nicht wehgetan, aber ich bin auf einmal so schrecklich müde.«
»Dann mach die Augen zu, du liegst ja jetzt wieder in deinem eigenen Bett. Schwester Laurie wird gleich kommen und dich in dein Zimmer zurückbringen.«
Zu Schwester Elfi sagte er freundlich: »Geben Sie bitte nach oben zur Station hoch, dass der Junge abgeholt werden kann, Schwester Elfi.«
»Wird sofort erledigt, Herr Dr. Dornbach.«
Als Schwester Laurie wenige Minuten später kam, um Sven zu holen, war dieser fest eingeschlafen. Es war so, wie sie es ihm schon vorher gesagt hatte. Nun, er würde Augen machen, wenn er erwachte und seinen geliebten Vati an seinem Bett sitzen sah. Der Vater des Jungen wartete nämlich schon seit einer Stunde oben im Krankenzimmer.
Als sie die Zimmertür öffnete und den Jungen ins Zimmer schob, erhob sich Knut. Er sah erschrocken auf seinen schlafenden Jungen und dann auf die junge Krankenschwester.
»Was ist mit Sven, Schwester Laurie, warum schläft er? Waren die Untersuchungen so anstrengend für ihn, oder hat sich sein Befinden verschlimmert?«
»Sie dürfen ganz beruhigt sein, Herr Berkel. Es ist für ein Kind in Svens Alter, dazu noch mit einem schwachen Herzen, eine ganz normale Reaktion. Solche Untersuchungen lassen ein Kind immer leicht ermüden. Sven wird jetzt ein Weilchen schlafen, danach aber wieder munter sein. Gehen Sie doch in der Zwischenzeit hinunter in unsere Kantine und stärken Sie sich mit einem Kaffee oder einer leichten Mahlzeit. Frau Dr. Martens hat Ihnen sicher schon gesagt, dass Sie davon Gebrauch machen können. Sie müssen nicht die ganze Zeit hier im Zimmer auf das Erwachen Ihres Sohnes warten.«
»Ich hab Zeit, Schwester Laurie. Sven soll sehen, dass ich bei ihm bin, wenn er erwacht.«
Schwester Laurie hatte inzwischen die Räder des Bettes wieder festgestellt und ging zur Tür, um das Zimmer zu verlassen. Im Hinausgehen sagte sie noch freundlich: »Wenn Sie einen Wunsch haben, finden Sie mich oder meine Kollegin vorn im Schwesternzimmer oder in der Teeküche.«
Knut nickte zustimmend, dann klappte die Tür leise hinter der Schwester zu, und er war mit seinem schlafenden Jungen allein.
*
Die Schwestern auf der Krankenstation hatten damit begonnen, das Mittagessen für die kleinen Patienten auszuteilen, als Hanna mit Kay unten in der Halle zusammentraf.
»Weißt du inzwischen schon die Untersuchungsergebnisse von dem Jungen, Kay?«, wollte Hanna als Erstes wissen.
»Nein, noch nicht, aber ich denke, dass Dornbach nach der Mittagszeit zu mir ins Ärztezimmer kommen wird.«
»Gut, ich bin dann auch da. Gehst du jetzt in die Kantine zum Essen?«
»Was denn sonst, aber du kommst doch wohl mit, oder?«
»Nein, heute nicht. Ich habe heute Vormittag kaum Zeit gehabt, mich ein wenig länger um den Jungen zu kümmern. Ich werde die Mittagsstunde nutzen, um das nachzuholen. Außerdem wird Knut jetzt wohl auch bei Sven sein. Ich hatte noch nicht einmal Gelegenheit, ihn zu begrüßen. Also, bis später dann.«
Lächelnd wandte sich Hanna ab und eilte leichtfüßig dem Treppenaufgang zu und dann die Stufen hinauf. Ein weiches Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie die Tür öffnete, hinter der Knut und der Junge schon sehnsüchtig auf sie warteten.
Kay, der seiner Schwester mit leichtem Kopfschütteln nachgesehen hatte, ging mit nachdenklichem Gesicht hinüber in den Anbau, in die Kantine. Er konnte Hanna verstehen, dass sie sich in diesen blendend aussehenden Knut Berkel verliebt hatte. Aber so ganz wohl war ihm trotzdem nicht bei dem Gedanken. Er kannte seine jüngere Schwester viel zu gut, um nicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt gewisse Schwierigkeiten zu erkennen. Knut Berkel schien in der Bank, in der er arbeitete, eine höhere Position einzunehmen. Er würde also Hannas wegen kaum seinen Wohnsitz verlegen, um in ihre Nähe zu ziehen. Hanna dagegen war Kinderärztin mit Leib und Seele. Auch sie würde nicht ohne Weiteres alles aufgeben, was immer ihr Traum gewesen war, um nach Hannover überzusiedeln. Hanna war immer eine sehr selbstbewusste und emanzipierte Person gewesen. Würde ihre Liebe zu diesem Mann so stark sein, würde sie ausreichen, um ihr jetziges Leben hinter sich zu lassen? Konnte eine Frau von der Art Hannas ihr ganzes Wesen so schnell umstellen? Kay konnte es nicht so recht glauben. Hanna nur noch als Hausfrau und Mutter eines achtjährigen Jungen, nein, dazu war sie seiner Meinung nach nicht die geeignete Person. Aber Kay wusste auch, dass er sich auf keinen Fall in Hannas Angelegenheiten einmischen würde. Er war sicher, dass sie zum rechten Zeitpunkt auch das Richtige tun würde.
Während Kay sich Gedanken um das Glück seiner Schwester machte, war Hanna von Sven stürmisch begrüßt worden. Liebevoll und gerührt nahm sie ihn in die Arme. Erst danach begrüßte sie Knut, der einen sanften Kuss auf ihre Hand hauchte und leise, mit zärtlicher Stimme sagte: »Wie schön, dich endlich zu sehen, Hanna. Wenn ich jetzt doch nur dürfte, was ich gern möchte.«
Hanna, die ihn sofort verstand, wandte sich verlegen errötend ab. Auch sie hätte sich gern in die Arme nehmen lassen, aber aus Rücksicht auf den achtjährigen Sven, der ja noch nichts wusste, mussten sie beide in seiner Gegenwart vernünftig sein.
Mit gewollter Fröhlichkeit sagte sie zu Sven: »Na, mein Kleiner, wie war die Untersuchung heute? War der Doktor so lieb und nett, wie ich es dir versprochen hatte?«
»Ja, Tante Hanna, er hat mir sogar ein Foto gezeigt, auf dem seine beiden Jungen mit ihm drauf waren. Die Untersuchungen haben auch überhaupt nicht wehgetan. Ich war hinterher nur schrecklich müde. Du bist ganz prima, Tante Hanna. Muss ich noch lange im Bett liegen bleiben, oder darf ich wieder aufstehen?«
»Du darfst natürlich zwischendurch auch aufstehen, mein Kleiner. Dein Vati geht bestimmt heute Nachmittag mit dir ein wenig nach draußen in unseren schönen Klinikpark. Dort stehen auch überall Bänke, auf denen man sich ausruhen kann.«
»Hast du gehört, Vati, ich muss nicht den ganzen Tag nur im Bett bleiben.«
»Schon gut, mein Junge, ich habe gehört, was Tante Hanna dir gesagt hat. Natürlich gehen wir heute Nachmittag ein wenig in den Klinikpark hinunter. Aber zuerst musst du dein Mittagessen ganz aufessen und danach deinen Mittagsschlaf halten.«
»Och, Vati, ich habe doch erst vorhin geschlafen«, maulte Sven.
In diesem Augenblick wurde die Tür nach kurzem Anklopfen geöffnet, und Schwester Laurie brachte das Tablett mit dem Mittagessen für Sven ins Zimmer. Sie zwinkerte Sven zu und sagte: »Heute machst du deinen Teller bestimmt leer, kleiner Mann. Es gibt nämlich Hähnchen mit Kartoffelpüree und Rotkohl, und zum Nachtisch einen Vanillepudding mit Himbeersaft.«
Die Augen des Achtjährigen leuchteten auf, und heftig nickte er zu Schwester Lauries Worten, die das Tablett auf seinem Nachtschränkchen abstellte.
»Lass es dir gut schmecken, Sven«, sagte sie, bevor sie das Zimmer wieder verließ.
Während Knut und Hanna sich leise unterhielten und dafür sorgten, dass Sven seinen Teller leerte, ging Schwester Laurie zu ihrer Kollegin in die Teeküche und sagte erleichtert: »So, das war es wieder einmal, Jenny, jetzt haben wir uns eine kleine Verschnaufpause verdient und Zeit für einen Kaffee.«
»Ich weiß, und ich habe dir schon eine Tasse eingegossen. Ich bin auch immer froh, wenn wir mit dem Essenverteilen fertig sind.«
Laurie setzte sich, die Beine lang von sich gestreckt, Jenny gegenüber und trank mit sichtlichem Genuss ihren Kaffee.
»Das tut gut, wenn man zwischendurch mal für ein paar Minuten die Beine ausstrecken kann. Weißt du, wer gerade bei Sven und seinem Vater im Zimmer war?«
»Nein, wer denn? Ich habe niemanden hineingehen sehen. Sag schon endlich und tu nicht so geheimnisvoll.«
»Unsere Chefin, Frau Dr. Martens. Wenn du mich fragst, ich glaube, zwischen dem Vater des Jungen und unserer Chefin bahnt sich etwas an.«
»Geh, Laurie, du spinnst ja. Unsere eiserne Jungfrau und ein Mann, nein, da hast du aber verkehrt gesehen.«
»Aber Jenny, sag doch nicht immer eiserne Jungfrau. Wenn dich jemand hört.«
»Mich hört schon niemand. Schwester Elli ist in der Mittagspause, und wir zwei sind, bis sie zurückkommt, allein. Wenn die Chefin da im Krankenzimmer ist, so muss es noch lange nichts bedeuten. Sie unterhält sich sicher nur mit dem Vater des Jungen über seine Krankheit, mehr nicht.«
»Was ich gesehen habe, das habe ich gesehen, Jenny. Aber wenn du mir nicht glaubst, reden wir nicht weiter darüber. Du wirst es schon auch noch merken. Was machst du am Wochenende, am Samstagabend? Hast du nicht Lust, mit nach Wintorf in die Disco zu gehen? Du hast doch auch am Sonntag frei. Eine gute Gelegenheit, mal wieder auszugehen, da wir ja beide am Sonntag ausschlafen können. Nun sag schon ja und überleg nicht erst lange.«
»Ich kann es dir heute noch nicht sagen. Aber ich sag dir schon noch rechtzeitig Bescheid … Einverstanden?«
»Einverstanden. Aber ich glaube, es ist wieder so weit. Ich werde anfangen, das Geschirr in den Zimmern einzusammeln, damit wir fertig sind, wenn unser Dragoner aus der Mittagspause zurückkommt. Ich hab inzwischen schon ordentlichen Hunger bekommen. Du nicht auch?«
»Na klar doch, also fangen wir an. Ich möchte nachher wenigstens noch ein Viertelstündchen hinaus in den Park.«
Beide Schwestern verließen die Teeküche und holten die Tabletts mit dem benutzten Geschirr aus den Zimmern der kleinen Patienten. Ausnahmsweise war seit ein paar Tagen kein Kind dabei, das von den Schwestern gefüttert werden musste. Aber zur Verwunderung Schwester Lauries war die Chefin noch immer in Svens Krankenzimmer anwesend.
Während Schwester Laurie anschließend den Essenwagen hinunter in die Küchenregion brachte, brühte ihre Kollegin Jenny in der Teeküche noch ein paar Kannen Tee für die kleinen Patienten auf. Gerade war sie damit fertig, als die Oberschwester kam und sie und Laurie in die Mittagspause schickte.
*
Obwohl der Achtjährige sich vor der Mahlzeit noch gegen seinen Mittagsschlaf gewehrt hatte, schlief er kurz nach dem Essen ein.
»Gehen wir ein wenig hinunter in den Klinikpark, Hanna? Ich möchte mich ungestört mit dir unterhalten. Oder lässt dein Dienstplan dir keine Zeit mehr dazu?«
Hanna sah auf ihre Uhr und entgegnete lächelnd: »Ein halbes Stündchen bleibt mir noch Zeit. Ein wenig frische Luft wird uns beiden guttun, und wir stören Svens Schlaf nicht.«
»Dann komm, gehen wir, bevor der kleine Quälgeist wieder wach wird. Er kann einen schon ganz schön in Atem halten.«
Mit einem Blick auf den schlafenden Jungen verließen Knut und Hanna leise das Zimmer. Im Klinikpark angekommen, zog Knut Hanna zu einer etwas abseits gelegenen Bank.
»Nicht böse sein, Hanna, aber ich muss einfach ein Weilchen mit dir allein sein. Du fehlst mir in jeder Minute des Tages, mein Liebes, und wir haben heute noch nicht ein einziges persönliches Wort miteinander reden können. Hast du heute Abend wieder Zeit für mich?«
»Wenn in der Klinik nichts dazwischenkommt, ja. Dann kannst du mich gegen zwanzig Uhr vor der Klinik erwarten. Ich freue mich auf die Stunden mit dir.«
»Ich auch, Hanna, mein Liebes. Ich habe heute Morgen übrigens schon mit meinem Anwalt telefoniert, er hat sich inzwischen mit Cornelia in Verbindung gesetzt. Er wird wegen der Scheidung alles in die Wege leiten. Ich glaube nach Lage der Dinge nicht, dass Cornelia Schwierigkeiten machen wird. Sie ist ja diejenige gewesen, die mich und ihr Kind verlassen hat. Es wird also wohl eine glatte Angelegenheit werden. Das Warten auf die Zeit, in der wir für immer zusammen sein können, fällt mir mit jedem Tag schwerer. Und wenn ich erst wegen Sven genau Bescheid weiß, werde ich ihn in einer ruhigen Stunde auf die schöne Veränderung in unserem Leben vorbereiten. Sven hat dich sehr lieb. Man hört es aus jedem seiner Worte heraus. Er wird also ganz gewiss keine Schwierigkeiten machen. Sven braucht eine Mutti, Liebes, und ich brauche dich.«
»Ich habe deinen Jungen schon vom ersten Tag an in mein Herz geschlossen. Ich habe ihn sehr lieb. Ich weiß, ich werde ihm eine gute Mutter werden.«
»Mein Liebes, du, für diese Worte möchte ich dich jetzt am liebsten in die Arme nehmen und dich küssen. Aber ich werde deinem guten Ruf nicht schaden, mich beherrschen und mich bis zum Abend gedulden. Wir haben ja den ganzen Abend für uns Zeit.«
Beide waren so in ihrer Unterhaltung vertieft, dass sie nicht bemerkten, dass schon zum zweiten Mal zwei junge Krankenschwestern unweit der Bank, auf der sie saßen, vorübergingen und neugierige Blicke zu ihnen herüberwarfen. Es waren Schwester Laurie und ihre Kollegin, Schwester Jenny.
»Nun, glaubst du immer noch, dass unsere Chefin mit Herrn Berkel nur über seinen Sohn spricht?«
»Nein, Laurie, du hast recht. Zwischen den beiden scheint doch mehr zu sein. Er sieht aber auch blendend aus. Ich könnte mich auch glatt in ihn verlieben, wenn ich nicht schon meinen Rolf hätte. Aber vielleicht ist es auch nur Freundschaft, die die beiden verbindet. Herr Berkel kommt doch aus Hannover, wie man aus den Krankenpapieren des Jungen sehen kann. Nun, ist ja auch völlig egal. Wie auch immer, ich gönne es ihr von ganzem Herzen.«
»Ich doch auch, Jenny. Sven hat mir übrigens erzählt, dass er und sein Vati die Tante Hanna, wie er unsere Chefin immer nennt, schon im Schwarzwald kennengelernt haben, als er einen schlimmen Herzanfall hatte. Nun, die Hauptsache ist, wir verlieren sie nicht als Chefin. Eine bessere als sie gibt es nicht. Damit will ich natürlich nicht sagen, dass ich unseren Chef nicht in Ordnung finde. Ist schon toll, was die beiden Geschwister hier mit der Kinderklinik Birkenhain auf die Beine gestellt haben. Ich habe sogar etwas läuten gehört, dass im Frühjahr hinter dem Park gebaut werden soll. Hast du auch schon davon gehört, Jenny?«
»Sicher, Laurie, das hat inzwischen schon die Runde gemacht. Aber schau auf die Uhr. Wir müssen auf die Station zurück, sonst tritt uns unser Dragoner auf die Füße.«
Schwester Laurie sah auf die Uhr und sagte erschrocken: »Du hast recht! Komm, beeilen wir uns.«
Mit eiligen Schritten gingen beide nun zum Klinikgebäude zurück. Wenig später erhoben sich auch Hanna und Knut und gingen langsam ins Haus zurück. Während Hanna sich wieder um ihre Pflichten und Aufgaben kümmern musste, ging Knut zurück auf die Station zu Sven. Bevor sie sich in der Halle trennten, sagte Hanna noch zu Knut: »Sobald Kay die Ergebnisse der Untersuchungen vorliegen hat, wird er dich zu sich bitten. Ich werde dann auch anwesend sein.«
»Das wäre für mich sehr beruhigend, Hanna. Ich muss dir gestehen, dass ich mich ein wenig vor diesem Augenblick fürchte. Nicht auszudenken, wenn sich herausstellen würde, dass Sven einen ernsthaften Herzschaden hat.«
»Man soll nicht gleich das Schlimmste befürchten. Warten wir es erst einmal ab. Aber jetzt gleich musst du mich entschuldigen. Wir können uns ja heute Abend noch über diese Angelegenheit unterhalten.«
Obwohl Knut Hanna am liebsten in seine Arme gezogen hätte, hielt er nur ihre Hand ein wenig länger fest und sah sie voller Zärtlichkeit an.
Hanna gab den Blick ebenso zurück und sagte verhalten: »Bis später, Knut. Sag Sven, dass ich nachher noch zu ihm komme.«
Knut sah ihr nach, bis sie hinter der Glastür, die zu den Behandlungs- und Ärztezimmern führte, verschwunden war. Erst dann ging er dem Treppenaufgang zu und hinauf zur Krankenabteilung in Svens Zimmer.
Sven schlief noch, und so zog Knut sich einen Stuhl neben das Bett des Jungen und wartete auf dessen Erwachen. Mit seinen Gedanken war er jedoch bei der Frau, mit der er noch vor wenigen Minuten draußen im Klinikpark gewesen war. Er war dem Schicksal dankbar, dass es sie beide am Titisee hatte zusammentreffen lassen. Sven brauchte eine Mutter, und dass Sven Hanna in sein kleines Herz geschlossen hatte, war wunderbar. Die Zukunft, die noch vor wenigen Wochen ohne einen Lichtblick vor ihm gelegen hatte, würde mit der geliebten Frau und dem Jungen wunderschön werden. Wenn es nur schon bald so weit wäre, dass er sie für immer zu sich in sein Haus nach Hannover holen konnte.
Svens klare Stimme ließ ihn aus seinen Zukunftsträumen hochschrecken.
»Vati, ich habe ausgeschlafen. Gehen wir jetzt in den Park hinunter? Tante Hanna hat es doch erlaubt.«
»Natürlich, mein Junge. Ich helfe dir beim Ankleiden, danach gehen wir für ein halbes Stündchen.«
Als sie dann später über die gepflegten Parkwege schlenderten, blieb der Achtjährige plötzlich stehen. Mit kindlichem Ernst sah er zu Knut hoch und sagte: »Du hast doch gesagt, dass unsere Mutti nicht mehr zurückkommt, weil sie uns nicht mehr lieb hat, Vati, nicht wahr?«
»Ja, Sven, das weißt du doch. Ich habe es dir doch erklärt«, gab Knut zurück. »Warum fragst du danach. Du hast doch noch mich, und ich werde immer bei dir sein.«
»Kannst …, kannst du nicht Tante Hanna fragen, ob sie mit uns nach Hause kommt, Vati? Ich habe Tante Hanna sehr gern. Sie ist lieb wie eine Mutti. Oder magst du sie nicht?«
»Natürlich mag ich die Tante Hanna, mein Kleiner. Du möchtest wirklich, dass ich sie frage?«
»Ja, Vati, bitte, frag Tante Hanna, ob sie nicht meine Mutti werden will.«
»Ich werde sie fragen, aber erst musst du gesund werden, und ich muss noch etwas erledigen. Ein bisschen wird es also noch dauern. Du musst deswegen aber nicht traurig sein. Noch bist du ja in der Klinik und kannst sie jeden Tag sehen. Oder gefällt es dir hier nicht?«
»Doch, Vati, nur Tante Hanna hat nicht viel Zeit, sie muss ja immer zu den anderen kranken Kindern gehen.«
»Das ist nun mal so, mein Junge. Die Arbeit hier in der Klinik ist Tante Hannas Beruf. Du weißt doch, wie das ist, wenn ich in die Bank muss. Ich muss dich dann auch den ganzen Vormittag allein lassen. Aber ich werde Tante Hanna fragen, ob sie nicht noch einen Jungen in deinem Alter hier in der Klinik haben, den man in dein Zimmer bringen kann. Das andere Bett ist ja noch frei. Du könntest dann Spiele machen und wärst nicht allein, wenn Vati zwischendurch einmal fort muss und keine Zeit für dich hat. Na, was hältst du von meinem Vorschlag? Nach einer halben Stunde brachte Knut den Jungen zurück in sein Zimmer. Knut wurde dort schon von Schwester Laurie erwartet, die ihm sagte, dass er unten im Ärztezimmer verlangt würde.
*
Nachdem sich Hanna von Knut getrennt hatte, führte sie ihr erster Weg in Kays Sprechzimmer. Kay war nicht allein, sondern Dr. Malte Dornbach war bei ihm, und beide führten ein angeregtes ernstes Gespräch.
Ein ungutes Gefühl stieg in Hanna hoch, als Kay mit ernster Miene sagte: »Schön, dass du kommst, Hanna. Dr. Dornbach hat mir gerade die Ergebnisse der Untersuchungen, die er bei dem kleinen Sven Berkel durchgeführt hat, gebracht.«
»Und, wie schaut es aus? Wenn ich dich und Dr. Dornbach ansehe, sagt mir mein Gefühl, dass Anlass zur Sorge besteht, nicht wahr?«
»Es ist in der Tat so, Frau Dr. Martens. Leider, muss ich sagen, denn wir können den Schaden, den ich festgestellt habe, hier in der Klinik nicht beheben. Uns bleibt eigentlich nur, den Jungen mit Medikamenten ein wenig aufzubauen und zu stärken.«
»Was wollen Sie damit sagen, Dr. Dornbach? Doch wohl nicht, dass es für den Jungen keine Hilfe gibt, oder?« Dumpf pochte Hannas Herz in ihrer Brust.
»Nein, das wollte ich damit gewiss nicht sagen. Theoretisch könnte ich hier sogar etwas tun, wenn wir eine Herz-Lungenmaschine zur Verfügung hätten. Aber da das nicht der Fall ist, muss Herr Berkel seinen Jungen auf jeden Fall in eine Spezialklinik bringen. Nicht gleich heute oder morgen, aber in absehbarer Zeit. Meine Diagnose bei dem Jungen ist eindeutig beweisbar. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass der Junge an einer Mitralinsuffizienz leidet.«
»Das bedeutet demnach, Schlussunfähigkeit der Mitralklappe, sodass Blut in der Systole vom linken Ventrikel in den linken Vorhof zurückfließen kann?«, entfuhr es Hanna bestürzt.
»Ja, dadurch zieht sich der Herzmuskel zusammen, und es entsteht eine Volumendruckerhöhung im kleinen Kreislauf. Daher auch die verminderte körperliche Belastbarkeit des Jungen. Schwäche und sogar kurze Anfälle von Bewusstlosigkeit können folgen. Sie kennen ja alles, was noch im Gefolge dieser Erkrankung auftreten kann. Die einzig wirksame Therapie ist auf Dauer gesehen ein operativer Klappenersatz unter Einsatz der Herz-Lungenmaschine. Schauen Sie sich die Ergebnisse der Untersuchungen und auch die Aufnahmen an, und Sie werden wie Ihr Bruder zu der gleichen Diagnose kommen. Sie haben ja schon ohne die vielseitigen Untersuchungen eine Insuffizienz bei dem Jungen diagnostizieren können.«
Während Hanna betroffen schwieg, sagte Kay ernst: »Solange der Junge bei uns in der Klinik bleibt, wird Dr. Dornbach die Behandlung übernehmen, Hanna. Es liegt jetzt an Herrn Berkel, wie er sich entscheidet. Es besteht zwar keine unmittelbare Lebensgefahr, aber wie wir alle wissen, sind alle Herzerkrankungen immer besonders tückisch. Man muss da sehr vorsichtig sein. Sag bitte oben Bescheid, dass wir Herrn Berkel zu einem Gespräch erwarten.«
Hanna wählte die Nummer der Station und hatte sofort Schwester Laurie am Apparat.
»Hier Dr. Martens, Schwester Laurie. Würden Sie bitte in das Zimmer von Sven Berkel gehen und Herrn Berkel Bescheid geben, er möchte doch bitte in das Sprechzimmer meines Bruders hinunterkommen?«
»Herr Berkel ist mit dem Jungen vor gut zwanzig Minuten in den Klinikpark hinuntergegangen, Frau Doktor. Soll ich ihn holen lassen?«
»Das ist nicht unbedingt notwendig, Schwester Laurie, es reicht, wenn er gleich mit dem Jungen zurückkommt. Die halbe Stunde, die ich für heute erlaubt habe, ist ohnehin gleich vorbei.«
»In Ordnung, Frau Doktor, ich sage dann Herrn Berkel sofort Bescheid, wenn er zurückkommt.«
Während Hanna den Hörer auf die Gabel zurücklegte, fragte Malte Dornbach: »Mich brauchen Sie dann im Moment wohl nicht mehr, nicht wahr?«
»Wir haben ja alles durchgesprochen, Dr. Dornbach, und was die Behandlung des Jungen betrifft, haben Sie völlig freie Hand. Es reicht, wenn Sie mich über das Gesamtbefinden und darüber, wie die Medikamente anschlagen, auf dem Laufenden halten. Aber lassen Sie mir die Unterlagen über den Befund noch hier, ich bringe sie Ihnen später hinüber.«
Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete Malte Dornbach sich und ließ den Chefarzt und seine Schwester allein.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass es so ernst mit dem Jungen sein könnte«, sagte Hanna mit belegter Stimme, nachdem sich hinter Malte Dornbach die Tür geschlossen hatte. »Es wird Knut sehr hart treffen, wenn er kommt und von dir die Wahrheit erfährt.«
»Denk daran, dass der Junge noch alle Chancen hat. Wenn wir hier bei uns in der Klinik auch nicht allzu viel für ihn tun können, gibt es doch sehr gute Spezialisten, gerade für herzkranke Patienten. Ein, zwei Jahre weiter, und wir werden uns auch eine der nach dem neuesten Stand hergestellten Herz-Lungenmaschinen anschaffen. Aber du weißt, da müssen generell noch andere Voraussetzungen geschaffen werden. Nur die Anschaffung der Maschine reicht allein nicht aus. Malte Dornbach ist zwar schon jetzt ein ganz hervorragender Facharzt auf seinem Gebiet, ein ausgezeichneter Chirurg, aber das allein reicht für die schwersten Operationen noch nicht aus. Es fehlt uns für solche Fälle noch weiteres geschultes Fachpersonal. Aber du kennst auch den Spruch: Gut Ding will Weile haben. Alles auf einmal ist eben für niemanden zu schaffen. Knut Berkel scheint mir zudem ein sehr vernünftiger und aufgeschlossener Mensch zu sein. Er wird tun, was für seinen Jungen notwendig wird. Er wird die gegebene Sachlage akzeptieren.«
Hanna war gerade im Begriff, etwas auf die Worte Kays zu erwidern, als an die Tür geklopft wurde. Kay forderte zum Eintreten auf, und mit angespanntem Gesichtsausdruck betrat Knut Berkel den Raum.
»Sie haben mich zu sich bitten lassen, Herr Dr. Martens. Kennen Sie inzwischen die Untersuchungsergebnisse?«
»Ja, darüber möchten wir uns mit Ihnen unterhalten, Herr Berkel. Aber bitte, nehmen Sie doch zuerst Platz. Was wir Ihnen zu sagen haben, ist nicht mit ein paar Worten abgetan.«
Schon als Knut in die Gesichter der geliebten Frau und ihres Bruders sah, fühlte er, dass das ungute Gefühl in ihm wohl zu Recht bestand. Obwohl Hanna ihm beruhigend zulächelte, fühlte er plötzlich, wie die Angst um seinen Jungen sein Herz umkrallte.
»Bitte, Herr Dr. Martens, was fehlt meinem Jungen? Ich sehe es doch Ihrem Gesicht an, dass Sie keine gute Nachricht für mich haben. Hanna, bitte, was ist denn mit Sven?«
Ausführlich und verständlich erklärte Kay Martens Knut Berkel, woran sein Sohn litt, und was er tun konnte, damit seinem Jungen geholfen werden konnte. Als Kay mit seinen Erläuterungen am Ende war und schwieg, entfuhr es Knut fassungslos: »Das kann doch nicht sein, es muss sich da um einen Irrtum handeln. Es hätte sich dann doch schon viel früher bemerkbar machen müssen. Sven war doch, abgesehen von normalen Erkältungen und einer Rippenfellentzündung, niemals ernsthaft krank gewesen. Ich begreife es einfach nicht.«
»Es ist Ihnen jetzt vielleicht unbegreiflich, aber anhand der Untersuchungsergebnisse ist ein Irrtum ausgeschlossen. Es gibt für die Entstehung eines Herzschadens dieser Art verschiedene Möglichkeiten. Aber in dem Fall Ihres Jungen ist der Schaden vorhanden, und Sie müssen alle Möglichkeiten zur Behebung ausschöpfen. Wie ich Ihnen ja schon erklärte, möchten wir das Befinden Ihres Jungen hier bei uns etwas stabilisieren, damit er mehr Widerstandskraft hat. Ich kann Ihnen ausgezeichnete Spezialkliniken empfehlen, in der Eingriffe dieser Art durchgeführt werden. Es kommt nun nicht auf einen Tag an, aber Sie sollten sich mit dem Gedanken an eine Operation vertraut machen.«
»Was mein Bruder sagt, stimmt, Knut«, sagte Hanna. Sie trat an seine Seite und legte mit einer beruhigenden Geste eine Hand auf seinen Arm.
»Ich glaube deinem Bruder, Hanna, ich kann es nur nicht begreifen. Auf keinen Fall kann ich Sven jetzt unbefangen gegenübertreten. Ich muss hinaus, muss erst einmal wieder zu mir zurückfinden und klare Gedanken fassen. Bitte, kannst du dich um Sven kümmern und ihm irgendetwas erzählen? Sag ihm, dass ich etwas zu erledigen hätte.«
»Sei unbesorgt, Knut, ich werde mich um ihn kümmern. Wenn es dir hilft, fahre du ruhig ein wenig durch die Gegend. Und nimm es nicht so schwer. Es wird sich ganz bestimmt ein Weg finden lassen, damit Sven geholfen werden kann. Du kannst dabei auf mich und meinen Bruder zählen.«
»Danke für deine lieben Worte. Aber bitte, wenn du mich jetzt entschuldigen würdest. Ich muss das alles erst einmal innerlich verarbeiten.«
Schon an der Tür drehte Knut sich noch einmal um und sagte zu Kay: »Ich danke auch Ihnen für die offenen Worte, Herr Dr. Martens.«
Ehe Kay etwas darauf erwidern konnte, fiel schon die Tür hinter Knut zu, und Kay und Hanna waren erneut allein.
»Was soll man noch sagen? Er ist ein erwachsener Mann, er wird sich wieder fangen.«
»Ich werde ihm dabei helfen, Kay. Aber zuerst möchte ich mich ein wenig um den Jungen kümmern. Wenn es für den Rest des Nachmittages weiterhin so ruhig im Haus bleibt, ist ja wohl nichts dagegen einzuwenden, nicht wahr?«
»Geh nur, Hanna, der Junge wird sicher auf seinen Vati warten. Und was deinen Knut betrifft, wirst du ihm schon dabei helfen, damit fertig zu werden.«
*
Nachdem Knut das Sprechzimmer Kays verlassen hatte, war er so eilig an Martin Schriewers vorbeigelaufen, dass dieser ihm kopfschüttelnd nachsah und leise murmelte: »Der hat es ja so eilig, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her.«
Er sah noch, wie Knut Berkel mit seinem Wagen in rasender Fahrt davonfuhr. Da musste wohl etwas Ernstes vorgefallen sein.
Knut aber fuhr eine Weile ziellos durch die Gegend und achtete nicht auf die Zeit. In ihm war nur der quälende Gedanke an seinen kleinen Sohn. So wie er die Ausführungen von Hannas Bruder verstanden hatte, war auf die Dauer gesehen eine Herzoperation die einzige Chance für seinen Jungen. Als Knut endlich wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stellte er erschrocken fest, dass er fast zwei Stunden ohne Ziel umhergefahren war. Er hatte dabei nicht mehr daran gedacht, dass Sven ja oben in seinem Zimmer auf ihn wartete. Sein Gewissen meldete sich, und er beeilte sich, zur Klinik zurückzukommen.
Hanna aber war, wie sie Knut versprochen hatte, zu Sven gegangen, um sich eine Weile mit ihm zu beschäftigen. Mit leuchtenden Augen begrüßte Sven Hanna. Aber dann wollte er doch von ihr wissen: »Wo ist denn Vati, Tante Hanna? Vati wollte doch nur für ein paar Minuten fortgehen.«
»Dein Vati hat noch etwas Wichtiges zu erledigen, mein Junge«, sagte Hanna mit einem beruhigenden Lächeln. »Er wird bestimmt bald zurückkommen.«
»Hat Vati dich denn schon gefragt, ob ihr hier in der Klinik noch einen Jungen habt, der genauso alt ist wie ich?«
»Warum wollte dein Vati mich danach fragen, Sven?« Hanna sah überrascht auf den Jungen.
»Damit ich hier im Zimmer mit jemandem spielen kann und nicht immer allein bin, wenn Vati einmal keine Zeit für mich hat. Hier ist doch noch ein Bett frei.«
»Möchtest du denn auch gern einen Zimmerkameraden haben, Sven?«
»Ja, Tante Hanna, ich möchte es.«
»Gut, dann kann ich dir deinen Wunsch auch erfüllen. Ein paar Zimmer weiter liegen zwei Jungen in deinem Alter auf einem Zimmer, der Karli und der Tim. Der Karli darf morgen wieder nach Hause, dann ist der Tim allein. Ich werde Schwester Laurie Bescheid sagen, dass sie den Tim morgen früh nach der Visite hierher zu dir ins Zimmer bringt. Tim ist ein netter Junge, und du wirst dich bestimmt gut mit ihm vertragen. Ich weiß ja, dass auch du ein lieber und vernünftiger Junge bist.«
»Wo bleibt der Vati denn, Tante Hanna?«
»Du musst nicht ungeduldig werden, mein Junge, er wird schon kommen. Noch habe ich ja Zeit für dich.«
»Du sagst auch nur immer, dass du Zeit für mich hast, lässt mich aber immer allein. Genau wie meine Mutti, die will mich auch nicht mehr haben. Sie hat mich auch nicht mehr lieb. Sonst hätte sie Vati und mich nicht allein gelassen. Niemand hat mich mehr richtig lieb.«
Es lag auf einmal so viel kindliche Bitterkeit in seinen Worten, dass Hanna ihn spontan in ihre Arme zog und mit weicher Stimme sagte: »Aber, Sven, Junge, dass ist doch nicht wahr. Dein Vati hat dich sehr lieb, und ich auch. Und deine Mutti hat dich bestimmt auch lieb, sie kann es dir nur nicht sagen. Bei erwachsenen Menschen ist es manchmal so, dass sie sich nicht mehr einig sind und auseinandergehen. Wenn du erst einmal ein paar Jahre älter bist, wirst du es besser verstehen. Soll ich dir etwas aus deinem Buch vorlesen?«
»Ich mag nicht, Tante Hanna, aber ich habe Durst. Habt ihr auch Limo? Ich mag nicht immer nur Tee.«
»Ich lauf rasch hinunter in die Kantine und hole dir eine kleine Flasche Fanta. Einverstanden?«
Der Achtjährige nickte zustimmend, und Hanna verließ das Zimmer, um für Sven das Getränk zu holen: Als sie das Zimmer nach wenigen Minuten erneut betrat, war Sven eingeschlafen.
Mitfühlend sah sie in sein Gesicht, das an diesem Tag besonders blass wirkte, und dachte: »Nein, mein Kleiner, ich weiß jetzt, dass du den Verlust deiner Mutter noch lange nicht überwunden hast.« Sanft streichelte sie seine Wange und schlich leise aus dem Zimmer. Dabei hoffte sie, dass Sven bei seinem nächsten Erwachen seinen Vater vorfinden würde. Sie selbst musste sich noch um ein paar andere Dinge kümmern. Es war nur gut, dass Knut seinen Jungen darauf gebracht hatte, dass man das andere Bett mit einem Zimmerkameraden belegen konnte. Tim war ein netter, lebhafter Junge und vor einer Woche neun Jahre alt geworden. Die Gegenwart von Tim würde Sven ablenken und dazu führen, dass Sven nicht nur auf den Besuch seines Vaters wartete.
Da Schwester Elli, die Oberschwester, noch im Haus weilte, gab Hanna sofort die nötigen Anweisungen für Tims Verlegung in Svens Zimmer an sie weiter. Danach machte sie noch eine letzte Runde durch die anderen Krankenzimmer, und sie konnte sich nach oben in die Privaträume zurückziehen, wo Kay sie schon erwartete.
Vom Fenster aus sah Hanna Knuts Wagen zurückkommen und atmete erleichtert auf.
Kay hatte schon Kaffee gekocht und dazu ein paar Stücke Kuchen aus der Kantine besorgt. Lächelnd sagte er zu Hanna: »Da du den Abend bestimmt wieder mit Knut Berkel verbringen wirst, habe ich mir gedacht, dass du vorher sicher eine Kleinigkeit essen möchtest. Marike hat heute für den leckeren Apfelkuchen gesorgt, da habe ich rasch ein paar Stücke für uns organisiert. Also, greif zu, Hanna, und lass es dir schmecken.«
Hanna nahm dem Bruder gegenüber Platz und trank ihren Kaffee. Mit sichtlichem Genuss verzehrte sie ein Stück Apfelkuchen.
Kay sah ihr schweigend zu, bis sie den Teller zurückschob.
»Danke. Das hat gutgetan.«
»Will ich auch hoffen. Aber etwas anderes. Warum bringst du Herrn Berkel nicht einmal mit zu uns in die Wohnung? Ich will mich ja nicht aufdrängen, aber gegen ein Gespräch, einmal nicht nur über medizinische Belange, hätte ich nichts einzuwenden.«
»Ich werde ihn bestimmt einmal mit heraufbringen, Kay. Du wirst noch Gelegenheit genug bekommen, Knut auch privat ein wenig näher kennenzulernen. Solange Knut seine Scheidung noch nicht durchgesetzt hat, haben wir es nicht eilig.«
»Hast du überhaupt schon einmal daran gedacht, wie es mit dir und Knut Berkel weitergehen soll?«
»Wie meinst du das? Wie soll ich deine Frage verstehen?«
»Ganz einfach, so, wie ich es gefragt habe. Hannover und Ögela, die Entfernung ist nicht gerade ein Katzensprung. Hast du vor, hier alles aufzugeben, auch deinen Beruf?«
»Wie kommst du denn auf den Unsinn, dass ich meinen Beruf aufgeben könnte? Nein, darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich will ja auch nicht gleich heute oder morgen heiraten. Ich möchte erst noch diese Liebe zu Knut, die für mich etwas ganz Wunderschönes ist, erleben, ihn nur fühlen. An die Zukunft habe ich dabei noch nicht gedacht. Es wird sich alles noch finden. Reden wir von etwas anderem, bis ich dich für heute wieder allein lasse.«
Hanna erzählte Kay noch, dass sie den neunjährigen Tim in Svens Zimmer verlegen ließ, dann wurde es für sie auch langsam Zeit, sich für das Treffen mit Knut umzukleiden.
*
Kurz nach zwanzig Uhr verließ Hanna das Klinikgebäude und trat zu Knut, der schon auf sie wartete.
»Sollen wir wieder ein Stück hinausfahren, Liebes? Ich möchte erst mit dir zum Essen fahren, bevor wir noch ein wenig durch die Heide spazieren.«
»Wie du es möchtest, Knut, mir soll es recht sein. Aber was das Essen betrifft, kannst du jeden Tag deine Mittagsmahlzeit bei uns in der Kantine zu dir nehmen. Unsere Marike Schriewers ist eine ausgezeichnete Köchin und sorgt dafür, dass jeden Tag zwei oder drei verschiedene Gerichte auf dem Plan stehen, davon abgesehen noch die verschiedenen Diäten für einige unserer Patienten. Es ist also nicht nötig, dass du auf das Mittagessen ganz verzichtest oder zu den Hauptmahlzeiten in den Heidekrug fährst. Ich habe dir dieses Angebot ja auch gestern schon unterbreitet. Es liegt ganz bei dir.«
»Ich danke dir, Liebes, ich werde es morgen tun. Für heute ist es schon zu spät, und ich fahre mit dir in das Gasthaus von gestern. Es ist dir doch recht, nicht wahr?« Zärtlich sah er sie an.
So fuhren sie zuerst zu dem Gasthaus in der Nähe des Heidesees, und während Hanna nur ein Glas Wein trank, aber nichts essen wollte, verzehrte Knut eine leichte warme Mahlzeit.
Anschließend fuhren sie zur Klinik zurück und stellten den Wagen ab, um noch ein wenig durch die abendliche Heide zu spazieren.
Ein Weilchen sprachen sie über Sven und darüber, was Malte Dornbach bei seinen Untersuchungen festgestellt hatte. Doch plötzlich blieb Knut stehen und zog Hanna in seine Arme.
»Ich bin so glücklich, dich jetzt an meiner Seite zu wissen, du mein Liebes. Ohne dich wäre für mich alles noch viel schwerer zu ertragen. Ich liebe dich, ich brauche dich, mein Liebes.« Zärtlich fuhren seine Lippen über ihre Stirn, ihre Augen und legten sich voller Leidenschaft auf ihren lockenden Mund.
Hanna schmiegte sich gegen ihn, und voller Hingabe erwiderte sie seinen Kuss. Erst nach einer kleinen Ewigkeit lösten sich die beiden Lippenpaare voneinander, und Knut raunte leise in ihr Ohr: »Oh, Hanna, wie sehr liebe ich dich. Ich kann es kaum noch erwarten, für immer mit dir zusammen zu sein. Sag, fühlst du das Gleiche? Sag, dass auch du mich liebst.«
»Du dummer Mann, du. Fühlst du es denn nicht, dass ich dich liebe?«, gab Hanna mit leiser Stimme zurück und schmiegte sich noch enger in seine Arme.
»Ist das wirklich wahr, meine kleine Geliebte? Du machst mich damit zum glücklichsten Mann. Ich freue mich schon auf den Tag, an dem ich dich für immer mit zu mir nehmen kann. Nur noch für Sven und mich wirst du dann da sein. Es wird eine herrliche Zeit. Wenn der Herr im Himmel meine Gebete erhört und Sven durch eine Operation wieder gesund wird, wird unserem neuen Glück nichts mehr im Wege stehen. Ich halte dich fest und lass dich niemals wieder von mir fort.« Erneut legten sich seine Lippen zu einem leidenschaftlichen Kuss auf ihren Mund.
In Hanna war plötzlich eine unbewusste Sperre. Sanft befreite sie sich aus seinen Armen und fragte leise: »Nur noch für dich und Sven, Knut? Du vergisst dabei, dass ich einen Beruf habe, den ich liebe. Wenn wir für immer zusammenbleiben wollen, müssen wir auch da eine gute Lösung finden.«
»Als meine Frau brauchst du selbstverständlich deinem Beruf nicht mehr nachzugehen, Liebes. Ich besitze eine eigene kleine Villa, und ich kann so für dich sorgen, dass es dir niemals an etwas fehlen wird.«
»Meinen Beruf aufgeben, Knut? Nein, das werde ich nicht, das kann ich nicht. Ich liebe diese Arbeit, bei der ich kranken Kindern helfen kann.«
»Du hast dann unseren Jungen, dem du zu jeder Zeit helfen kannst, Hanna.«
»Das reicht mir nicht, Knut.«
»Wenn du mich wirklich liebst, Hanna, dann musst du dich entscheiden. Du hier und ich mit dem Jungen in Hannover, das würde nicht gut gehen, ich wäre auch nicht damit einverstanden. Du musst also wählen. Entweder Sven und ich oder dein Beruf.«
In Hanna war auf einmal eine tiefe Traurigkeit. Wie hart und kalt Knuts letzte Worte geklungen hatten! War das noch derselbe, der sie Augenblicke zuvor voller Leidenschaft geküsst hatte? Er gab vor, sie zu lieben, und stellte sie zugleich vor eine so schwere Entscheidung.
Mit unendlich trauriger Stimme sagte sie leise: »Ich möchte heim, Knut. Ich brauche Zeit, um über das nachzudenken, was du gerade gefordert hast. Ich liebe dich von ganzem Herzen, und ich habe auch deinen Jungen schon sehr in mein Herz geschlossen. Aber meinen Beruf liebe ich auch. Es ist etwas viel auf einmal, was du da von mir verlangst.«
»Hanna, Liebes, ist es wirklich zu viel, wenn ich dich mit niemandem teilen möchte, dich ganz für mich allein will?«
»Bring mich heim, ich möchte heute nicht mehr darüber reden, Knut. Lass mir Zeit, ich werde dich wissen lassen, wie ich mich entscheide.«
»Bitte, Hanna, wir können doch jetzt nicht so auseinandergehen. Wir lieben uns doch.«
Hanna hätte am liebsten hinausgeschrien, dass sie ihn liebte. Und doch waren ihre Lippen verschlossen. Die tiefe Enttäuschung, die seine egoistischen Worte in ihr ausgelöst hatten, war größer. Nur mit Mühe konnte sie die Tränen zurückhalten, die ihr plötzlich in die Augen steigen wollten.
Es war nur gut, dass es schon so dunkel war.
Sie ließ es zu, dass Knut einen Arm um sie legte und sie sicher durch die Dunkelheit zur Klinik zurückbrachte.
»Hanna, bitte, lass uns doch nicht so auseinandergehen«, bat er mit rauer Stimme und wollte sie vor dem Klinikgebäude noch einmal in seine Arme ziehen.
Doch Hanna sagte mit tonloser Stimme: »Lass mir Zeit, Knut, du hast mir mit deinen Worten sehr weggetan. Ich muss jetzt allein sein.«
Hastig wandte sie sich von ihm ab und eilte, ohne sich noch einmal umzudrehen, ins Innere der Klinik.
Schwester Dorte, die noch eine Viertelstunde Dienst in der Aufnahme vor sich hatte, sah verwundert hinter ihrer jungen Chefin her, die sie überhaupt nicht wahrgenommen zu haben schien. So etwas war vorher noch nie vorgekommen.
*
Kay saß noch im Wohnzimmer vor dem Fernsehapparat und sah sich eine wissenschaftliche Sendung an, als Hanna eintrat.
»Nanu, Hanna, schon so früh zurück? Mit dir habe ich um diese Zeit noch nicht gerechnet.«
Als er nicht sofort eine Antwort von Hanna bekam, sah er ihr etwas genauer ins Gesicht.
»Was ist geschehen, Schwesterherz? Überglücklich schaust du ja nicht gerade aus.«
»Bitte, Kay, ich kann heute noch nicht darüber reden. Ich muss erst selbst mit mir ins Reine kommen. Entschuldige, aber ich möchte mich gleich zurückziehen. Gute Nacht.«
Verdutzt sah Kay auf die Tür, die Hanna in diesem Moment hinter sich zuzog. Es sah ganz so aus, als hätte sie sich mit ihrem Knut gestritten. Er konnte sich nicht erinnern, Hanna schon einmal in einer derartigen Verfassung gesehen zu haben. Das fing mit den beiden ja gut an. Aber Kay konnte sich denken, wo das eigentliche Problem lag. Knut Berkel war ein Bankmensch, und Hanna war mit Leib und Seele Ärztin. Da er sich nicht vorstellen konnte, dass Hanna ihren Beruf aufgeben wollte, musste es über kurz oder lang zu Komplikationen kommen. Aber vielleicht lag er mit seiner Vermutung völlig falsch. Wie auch immer, er war nur ihr Bruder, er würde sich auf keinen Fall in ihre Angelegenheiten einmischen. Er wünschte seiner Schwester, dass es sich nur um eine vorübergehende Missstimmung handelte. Hanna war doch noch gestern so glücklich.
Da Kay sich nicht mehr auf die laufende Sendung konzentrieren konnte, schaltete er den Fernseher aus und ging zu Bett.
Für Hanna war an diesem Abend und in der folgenden Nacht nicht an Schlaf zu denken. Immer und immer wieder hörte sie Knuts Worte in ihren Ohren, als er sagte: Du musst also wählen. Entweder ich und Sven oder dein Beruf. Sie konnte und wollte es nicht begreifen. Wollte er seine Liebe von ihrem Beruf abhängig machen? Konnten sie denn eine Ehe und ihren Beruf nicht aufeinander einstellen? Es gab so viele Menschen, so viele Ehen, in denen beide Partner einem Beruf nachgingen und trotzdem sehr glücklich miteinander waren. Hannover war kein Katzensprung, aber doch nicht aus der Welt.
Entweder ich und Sven oder dein Beruf. Wie konnte er nur eine solche Forderung stellen? War das seine Liebe?
Ruhelos wälzte sich Hanna in den Kissen und kämpfte mit sich. Sie liebte Knut von ganzem Herzen und konnte sich eine Zukunft, ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Aber ihr Glaube an seine Liebe war nicht mehr so vorbehaltlos wie noch vor wenigen Stunden. Da war auf der anderen Seite ihr Beruf als Ärztin. Es war doch ihre Pflicht, kranken Kindern zu helfen. Nun verlangte Knut, dass sie sich zwischen Pflicht und Liebe entscheiden sollte. Was sollte sie nur tun?
Am ganzen Körper wie gerädert und müde erhob sie sich am frühen Morgen, noch bevor Kay wach wurde.
Ich muss mich zusammennehmen, sagte sich Hanna und stellte die Kaffeemaschine an. Ein starker Kaffee würde ihr guttun, würde sie ein wenig munter machen. Sie musste an die Kinder denken, die sie brauchten. Sie konnte sich nicht einfach gehen lassen.
Hanna trank gerade die zweite Tasse Kaffee, als Kay hinter ihrem Rücken mit verschlafener Stimme sagte: »Guten Morgen, Hanna, du bist heute aber schon früh auf den Beinen. Hast du für mich auch eine Tasse Kaffee?«
»Guten Morgen, Kay. Natürlich ist noch Kaffee für dich da. Aber ich muss dich vorwarnen, er ist ziemlich stark«, erwiderte Hanna.
»Ich werde es überleben. Aber du schaust müde aus. Du hast wohl keine gute Nacht hinter dir, oder? Kann ich dir vielleicht helfen? Brauchst du einen brüderlichen Rat?«
Forschend sah Kay in Hannas blasses Gesicht. Doch sie entgegnete abwehrend: »Es ist lieb von dir, Kay. Ich habe heute Nacht auch kein Auge zugetan. Aber helfen kannst du mir nicht. Da ist etwas, womit ich mich ganz allein auseinandersetzen muss. Ich kann auch noch nicht darüber reden. Frag mich bitte nicht mehr.«
»Wie du willst. Ich werde dich nicht mit Fragen bedrängen. Aber wenn du nicht geschlafen hast, dann solltest du dich vielleicht jetzt noch ein Stündchen hinlegen.«
»Nein, es wird schon gehen. Eine Nacht ohne ausreichenden Schlaf, was macht das schon. Das haben wir ja beide bei schwierigen Fällen schon mehr als einmal durchgestanden. Ich geh gleich noch unter die kalte Dusche, danach bin ich wieder wie neu. Möchtest du heute zum Frühstück ein Ei? Ich selbst habe keinen Hunger, mir reicht Kaffee.«
»Geh du nur unter die Dusche. Ich mache mir schon selbst eine Schnitte«, sagte Kay, der merkte, dass Hanna ihn nur von sich ablenken wollte.
»Gut, dann bis gleich«, entgegnete Hanna und verschwand im Bad.
Später gingen sie gemeinsam hinunter in den Klinikbereich. Hanna war wohl etwas blasser als sonst, ließ sich aber nichts anmerken, dass nicht alles so in Ordnung war, wie es sein sollte.
Zum Grübeln kam sie dann auch nicht mehr, denn noch vor der Visite wurde sie in die Notaufnahme gerufen.
Schwester Dorte kam ihr schon aufgeregt entgegen.
»Was ist passiert, Schwester Dorte?«, fragte Hanna kurz.
»Ein Unfall im Ort, Frau Doktor. Ein Motorradfahrer hat die Gewalt über sein Fahrzeug verloren und ist in eine Gruppe von Kindern geschleudert, die gerade zur Schule wollten. Es sind zwei Kinder schwerer verletzt worden. Es muss wohl operiert werden.«
»Danke, Schwester Dorte.« Schon eilte Hanna weiter und betrat Augenblicke später das Untersuchungszimmer, in dem sie außer Kay noch den jungen Assistenzarzt Hartmut Frerichs und den Neurologen Dr. Klaus Mettner vorfand, die sich um zwei Kinder bemühten, die auf den Untersuchungstischen lagen.
»Gut, dass du da bist, Hanna. Drüben im Verbandzimmer sind noch zwei kleine Mädchen mit leichteren Verletzungen. Bitte, kümmere du dich darum, dass sie versorgt werden. Anschließend brauche ich dich dann im O.P.«
»Sofort. Aber wie sieht es bei den beiden aus? Ist es sehr schlimm? Sind das nicht die Bruhns-Zwillinge, Markus und Hansi?«
»Ja, Hanna. Die Hansi hat eine Kopfverletzung, wie schwer, ist noch nicht klar. Aber der Markus hat innere Verletzungen. Ich muss das nur noch abklären, dann bringen wir ihn sofort in den Operationssaal. Es wird schon alles vorbereitet.«
Kay untersuchte den Jungen weiter, und Hanna eilte einen Raum weiter, wo Schwester Elfie zwei weinende Mädchen, deren Alter Hanna auf sieben oder acht Jahre schätzte, tröstete und dabei begann, blutende Schürfwunden zu reinigen.
Die Verletzungen waren zum Glück ungefährlich und deshalb rasch versorgt. Da aber beide noch unter dem Schock des Unfalls standen, sagte Hanna zu Schwester Elfi: »Ich schicke Ihnen noch Hilfe, und dann mit beiden hinauf auf die Station. Wir behalten sie vorsichtshalber für zwei Tage bei uns in der Klinik. Sollten die Eltern kommen, bitten Sie sie, zu warten, bis ich oder mein Bruder Zeit haben, um mit ihnen zu sprechen.«
»Geht in Ordnung, Frau Doktor«, entgegnete Schwester Elfi, und Hanna strich den beiden zitternden Mädchen über die Wangen und sagte weich: »Nicht mehr weinen, es ist doch alles vorbei. Schwester Elfi bringt euch gleich in ein hübsches Zimmer, und da dürft ihr euch beide richtig ausschlafen. Ich komme später noch zu euch, wenn euer Vati oder eure Mutti kommen.«
Und diesen armen Würmchen soll ich nicht mehr helfen können, schoss es Hanna durch den Sinn, als sie Augenblicke später mit eiligen Schritten die Operationsabteilung betrat.
*
Nach den bei jeder Operation üblichen Vorbereitungen betrat Hanna als Letzte den Operationssaal. Schwester Trude band ihr den Mundschutz vor und hielt ihr die hauchdünnen Operationshandschuhe, in die sie mit beiden Händen hineinfuhr.
Sie trat neben Kay, der einen letzten prüfenden Blick auf die Anästhesistin, Martina Dirksen-Andergast warf, und fragte knapp: »Was liegt an, Kay?«
»Milzriss. Können wir beginnen?«
Hanna nickte zustimmend, und mit einem kurzen Blick zu seinem Assistenzarzt und zu den Operationsschwestern Barbara und Christine, die bereitstanden, forderte er mit klarer Stimme: »Skalpell, bitte.«
Von da an ging es Hand in Hand, wie das Räderwerk einer Uhr. Niemand stellte unnötige Fragen. Jeder wusste genau, was er zu tun hatte. Die Stille unter dem gleißenden Licht der Operationslampe wurde nur hin und wieder durch die klaren Forderungen Kay Martens und durch leises Klären eines der Instrumente unterbrochen.
Nach einer endlos scheinenden Zeit war das Schlimmste vorüber, und Kay konnte damit beginnen, Schicht für Schicht die Operationswunde wieder zu schließen.
»Blutdruck, Kreislauf?« Eine knappe Frage an die Anästhesistin.
»Noch alles normal«, war die Antwort, und schweigend arbeitete Kay weiter. Zwischendurch tupfte Schwester Dorte ein paar Schweißperlen von seiner Stirn, dann trat er vom Operationstisch zurück und sagte: »Bitte, übernimm du den Rest, Hanna, ich kümmere mich darum, dass wir sofort mit dem verletzten Mädchen weitermachen können. Den Jungen lass sofort zu Dr. Mettner auf die Intensivstation bringen.«
Hanna schloss die letzte Naht, legte eine dicke Mullkompresse auf die geschlossene Wunde und befestigte sie mit einigen Heftpflasterstreifen, während Hartmut Frerichs die Tropffusion anlegte. Der schmale Jungenkörper wurde anschließend vom Operationstisch auf eine fahrbare Trage hinübergehoben und von Schwester Trude aus dem Operationssaal zur Intensivabteilung gefahren.
Keine zehn Minuten später stand das Team um Kay und Hanna wieder für die nächste Aufgabe bereit.
Hansi Bruns hatte es am Kopf und der rechten Gesichtshälfte erwischt. Zu Kays großer Erleichterung stellte sich während der Operation heraus, dass die Verletzung am Kopf nicht ganz so schlimm war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Wenn keine zusätzlichen Komplikationen auftreten würden, und das hofften alle von ganzem Herzen, würde auch Hansi wieder völlig gesund werden, würde keinen Schaden zurückbehalten. Nur eine Narbe im Gesicht, von der Schläfe, am Ohr vorbei bis zum Kinn, würde das Mädchen wohl noch eine lange Zeit an diesen Unfall erinnern. Aber auch da würde sich später durch eine kosmetische Korrektur etwas ausgleichen lassen.
»Weißt du schon Genaueres, wie es zu diesem schrecklichen Unfall hatte kommen können, Kay?«, wollte Hanna wissen, als sie nach der zweiten Operation neben ihrem Bruder am Waschbecken stand, um sich zu reinigen.
»Ich weiß nur, dass ein Motorradfahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hat, Hanna. Wahrscheinlich überhöhte Geschwindigkeit. Es ist manchmal schon ein Kreuz, wie diese jungen Burschen ohne Rücksicht auf ihre Mitmenschen durch die Gegend rasen. Es ist schlimm, dass noch nicht einmal in geschlossenen Ortschaften besser aufgepasst wird. Der junge Mann soll mit dem Schrecken davongekommen sein.«
»Ich habe angewiesen, dass die beiden leicht verletzten Mädchen für zwei Tage hier bei uns in der Klinik bleiben. Sie standen mir noch zu sehr unter einem Unfallschock.«
»Gut, Hanna, ich hätte auch nicht anders entschieden. Es war für dich heute nach deiner schlaflosen Nacht ein wenig viel, nicht wahr?«
»Das wohl, aber es hat mir in einer wichtigen Sache sehr geholfen. Ich kann mir denken, dass die Eltern der Zwillinge schon voller Sorge und Ungeduld warten. Wirst du selbst mit ihnen reden und ihnen ihre Angst nehmen? Ich kümmere mich unterdessen um die Angehörigen der anderen beiden Mädchen. Anschließend werde ich nach Sven sehen, denn wie mir Schwester Laurie sagte, hat der Junge keine gute Nacht gehabt.«
»Tu das. Ich rede mit den Eltern von Markus und Hansi Bruhns. Schau mal auf die Uhr, es ist inzwischen schon Mittag. Du solltest die Mittagszeit ein wenig verlängern und dich für ein Stündchen hinlegen.«
»Ich gehe heute Abend früher schlafen. Ich fühle mich zwar etwas zerschlagen, aber meine Müdigkeit ist durch die Ereignisse wie weggeblasen. Also, ich werde mich dann um die beiden Mädchen und um Sven kümmern. Wir sehen uns später.«
Kay nickte zustimmend. Er wunderte sich jedoch über Hanna. Sie wirkte nach außen hin wieder so selbstbewusst und selbstsicher wie immer. Sie hatte sich gut in der Gewalt. Er streifte sich nun einen frischen weißen Kittel über und verließ hinter Hanna die Operationsabteilung, um mit den Eltern der schwer verletzten Zwillinge zu reden, die, wie Hanna schon sagte, sicher voller Angst und Ungeduld auf ihn warteten und vor allen Dingen eine beruhigende Auskunft erhofften.
Auf dem Gang kam ihm das Ehepaar Bruhns in höchster Aufregung entgegen.
»Was ist mit unseren Kindern, Herr Dr. Martens? Wir warten doch schon eine endlos lange Zeit. Bitte, sagen Sie uns die Wahrheit. Ist es sehr schlimm?«
Frau Bruhns brach in Tränen aus und stieß weinend hervor: »Warum, Herr Doktor, warum gerade unsere Kinder, und dazu noch alle beide? Markus und Hansi sind so liebe Kinder. Ich überlebe es nicht, wenn ich sie nicht behalten darf.«
»Bitte, so beruhigen Sie sich, Frau Bruhns«, sagte Kay beschwichtigend. »Sie dürfen doch nicht gleich das Schlimmste annehmen. Wir haben getan, was in unseren Kräften stand, und bei beiden ist die Operation gut verlaufen. Sie werden beide leben und wieder gesund werden, und das ist ja wohl das Allerwichtigste. Bitte, wenn Sie mir beide in mein Sprechzimmer folgen würden, dann erkläre ich Ihnen genau, welcher Art die Verletzungen sind und was wir tun mussten.«
»Wenn ich diesen Kerl erwische, der das alles zu verantworten hat«, murmelte der Vater der Zwillinge mit heiserer Stimme.
»Gewollt hat der junge Fahrer des Motorrades diesen Unfall sicherlich nicht, Herr Bruhns. Sie sollten jetzt auch keine Rachegefühle hegen. In erster Linie sollten Sie jetzt an Ihre Kinder denken«, mahnte Kay und ging beiden voran in sein Sprechzimmer. Nachdem er ihnen einen Platz angeboten hatte, erklärte er ihnen in verständlichen Worten die Operationen, die er durchgeführt hatte.
»Ich will meine Kinder sehen, ich will zu ihnen, Herr Dr. Martens«, bat die Mutter der Zwillinge mit feuchten Augen und sah Kay flehend an.
»Kommen Sie, die Kinder befinden sich beide in der Intensivabteilung. Ich möchte Sie jedoch darum bitten, nur für ein paar Minuten zu bleiben. Die Operation liegt erst kurze Zeit hinter ihnen, und sie brauchen jetzt absolute Ruhe. Markus und Hansi können Sie beide auch noch nicht wahrnehmen.«
Erneut folgten die noch immer fassungslosen Eltern dem Arzt, der sie in die Intensivabteilung brachte.
*
Als Hanna die Krankenstation betrat, fragte sie die Oberschwester, die gerade aus dem Schwesternzimmer kam: »Wo hat man die beiden kleinen Mädchen von dem Unfall im Ort untergebracht, Schwester Elli? Sind schon Angehörige von ihnen im Haus?«
»Zimmer sechs, Frau Dr. Martens, und die Mütter der beiden sind schon seit Stunden bei ihnen im Zimmer.«
»Danke, Schwester Elli, dann werde ich mich sofort darum kümmern. Noch etwas wollte ich gern wissen. Ist inzwischen schon veranlasst worden, dass man den Tim zu Sven Berkel ins Zimmer verlegt?«
»Ja, das ist selbstverständlich durchgeführt worden, Frau Doktor, und ich kann Ihnen sogar mitteilen, dass sich die beiden Buben auf Anhieb gut verstehen. Aber Sven fragte schon andauernd, wann denn endlich seine Tante Hanna zu ihm kommt. Im Augenblick ist auch der Vater des Jungen da.«
»Es ist gut, Schwester Elli, vielen Dank. Ich kümmere mich jetzt jedoch zunächst um die beiden Mädchen, damit die Mütter beruhigt sein können. Falls Sven oder sein Vater noch einmal nach mir fragen sollten, sagen Sie bitte, dass ich gleich komme.«
»Ich werde es ausrichten, Frau Doktor«, antwortete Schwester Elli lächelnd und ging weiter. Hanna aber betrat nach kurzem Anklopfen das Zimmer mit der Nummer sechs an der Tür.
Zwei aufgeregte Frauen erhoben sich von ihren Stühlen und sahen Hanna mit angespannten Gesichtern entgegen.
»Ich bin Dr. Martens und möchte Ihnen sagen, dass Sie sich keine Sorgen machen müssen«, sagte Hanna mit einem beruhigenden Lächeln.
»Mein Name ist Inge Hausmann, und die Kleine da rechts im Bett ist meine Bärbel. Warum muss sie dann hier in der Klinik bleiben, wenn ich mir keine Sorgen machen muss?«
»Und meine Susanne! Ich bin Frau Heberlein«, sagte die andere Mutter genauso aufgeregt.
»Frau Hausmann, Frau Heberlein. Dass wir Ihre Mädchen für zwei Tage hier in der Klinik festhalten, das ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil sie nach dem Unfall noch unter einem Unfallschock standen. Sollten nachträglich noch Schwierigkeiten auftreten, sind wir sofort zur Stelle. Die Verletzungen, die sich die beiden Mädchen bei dem Unfall zugezogen haben, sind wohl schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Sie haben die kleinen Schnitte und Hautabschürfungen bald überwunden. Wenn morgen alles in Ordnung ist, können beide unbedenklich wieder nach Hause zurück. Die beiden Bruhnskinder hatten da weniger Glück.«
»Ja, es ist schlimm, was da heute im Ort geschehen ist, Frau Dr. Martens. Hoffentlich bekommt dieser unvernünftige Raser eine empfindliche Strafe aufgebrummt. Ich bin ja so froh und glücklich, dass meiner Bärbel nichts Schlimmes passiert ist«, kam es erleichtert von Inge Hausmanns Lippen, und die Mutter der kleinen Susanne nickte bekräftigend Zustimmung.
»Ich muss Sie nun wieder allein lassen. Sollte jedoch eine von Ihnen noch Fragen haben, so wenden Sie sich bitte an Schwester Laurie. Man wird es mir dann mitteilen.«
Hanna lächelte den beiden Müttern noch einmal beruhigend zu und verließ dann mit raschen Schritten das Zimmer.
Draußen auf dem Gang wurden Hannas Schritte langsamer. Nur wenige Meter und sie stand vor der Zimmertür, hinter der sich im Augenblick außer Sven auch Knut befand.
Das Herz pochte schmerzhaft in Hannas Brust. Sie liebte Knut, wie sie wohl nie wieder einen Mann lieben würde. Aber in ihrem Herzen hatte sie ihre Entscheidung schon getroffen. Nein, leicht hatte sie es sich nicht gemacht. Es war in der vergangenen Nacht ein harter und schmerzlicher innerer Kampf gewesen. Aber erst der Vormittag hatte den letzten Anstoß gegeben. Mit seiner Forderung, mit seinem Entweder-Oder hatte Knut etwas zerstört, was gerade erst aufgeblüht war. Im Augenblick durfte Hanna jedoch nicht daran denken, denn da war noch Sven, dem sie eine gute Mutter hätte werden können.
Dass es nach dem vergangenen Abend noch möglich werden könnte, bezweifelte Hanna. Sie gab sich einen kleinen innerlichen Ruck und betrat nach kurzem Anklopfen das Zimmer.
»Tante Hanna, Tante Hanna, da bist du ja endlich. Wo warst du nur so lange?«, wurde Hanna sofort von Sven empfangen. Knut aber versuchte ihre Blicke einzufangen.
Es blieb Hanna jedoch nichts anderes übrig, als zuerst den ungeduldigen Jungen zu begrüßen und ihm zu antworten.
Sie trat ans Bett und fuhr dem Jungen liebevoll über das schwarze Haar. Lächelnd sagte sie dann: »Ich konnte nicht eher kommen, Sven. Weißt du, es hat heute im Ort einen bösen Unfall gegeben, bei dem ein paar Kinder sehr schwer verletzt worden sind und operiert werden mussten. Ich wurde dabei gebraucht. Wie fühlst du dich denn heute? Nimmst du auch brav deine Medikamente?«
»Natürlich, Tante Hanna, ich will doch wieder gesund werden.«
»Und du, Tim?«, wandte sich Hanna lächelnd an Svens neuen Zimmerkameraden. »Gefällt es dir hier zusammen mit dem Sven?«
»Prima, Frau Doktor. Der Sven ist schon in Ordnung. Meine Mutti bringt mir nachher noch ein paar Brettspiele in die Klinik.«
»Fein, Tim, dann ist ja alles in Ordnung. Es ist schön, dass ihr zwei euch so gut vertragt.«
Erst jetzt begrüßte Hanna Knut, der sie nicht aus den Augen gelassen hatte, und dessen Gesicht auf einmal seltsam angespannt wirkte.
»Grüß dich, Knut. Du siehst ja selbst, wie Sven mich immer sofort mit Beschlag belegt.« Hannas Mund lächelte, aber ihre Augen blieben dabei ernst.
»Ich habe mich nach dir gesehnt, Hanna«, flüsterte Knut ihr so leise zu, dass Sven und Tim es nicht hören konnten. »Ich warte auf deine Antwort, also auf deine Entscheidung.«
»Bitte, Knut, nicht hier und nicht jetzt. Wir reden heute Abend darüber, dann sollst du hören, wie ich mich entschieden habe. Ich habe jetzt auch nur ein paar Minuten Zeit. Ich habe eine schlaflose Nacht und einen sehr anstrengenden Vormittag hinter mir. Ich muss mich gleich um die schwer verletzten, frisch operierten Kinder auf der Intensivabteilung kümmern.«
»Kann das nicht einmal ein anderer Arzt übernehmen, Hanna? Ist die Sache zwischen uns nicht für unsere Zukunft wichtig?«
»Ich verstehe dich nicht, Knut. Wie kannst du annehmen, dass ich meine Pflichten deshalb so einfach vernachlässigen würde? Wenn es dir auch schwerfällt, so musst du dich bis heute Abend gedulden. Wenn es zwischen uns Probleme gibt, so denke bitte daran, dass du sie erst heraufbeschworen hast. Die Entscheidung, die du gestern von mir gefordert hast, kann ich nicht in fünf Minuten treffen.«
»Hanna, ich verstehe dich nicht mehr. Du bist heute so anders, so fremd.«
»Nicht jetzt, Knut, ich muss wieder gehen.« Fast überhastet wandte Hanna sich ab und eilte ohne ein weiteres Wort aus dem Zimmer.
Sie hörte Sven noch rufen: »Tante Hanna, Tante Hanna, so lauf doch nicht fort, so bleib doch noch ein wenig.« Aber da hatte sie die Zimmertür schon von außen zugezogen.
Hanna eilte sofort ins Erdgeschoss hinunter und in ihr Sprechzimmer. Sie musste einige Minuten allein sein, so aufgewühlt war sie innerlich. Nicht eine Minute länger hätte sie in Knuts unmittelbarer Nähe bleiben können. Sie sank in ihren Schreibtischsessel und presste beide Hände vor ihr Gesicht, und auf einmal löste sich die innere Anspannung, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine ganze Weile saß sie stumm an ihrem Schreibtisch und starrte mit schwimmenden Augen vor sich hin.
»Du bist eine dumme Pute, Hanna Martens«, sagte eine innere Stimme zu ihr. »Was willst du jetzt eigentlich? Willst du ihn oder deinen Beruf? Wenn du ihn wählst, dann wirst du deinen Beruf als Ärztin vermissen und vielleicht später dich und auch ihn dafür hassen. Wenn er der richtige Mann für dich wäre, hätte er dich nicht vor eine solche Entscheidung gestellt. Es ist noch früh genug, alles zu korrigieren. Du musst es nur wollen.«
Hanna horchte weiter in sich hinein, aber die mahnende Stimme in ihr schwieg. Sie war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie überhörte, wie die Tür zu ihrem Sprechzimmer geöffnet wurde und jemand ins Zimmer trat.
*
Kay Martens hatte eine Weile mit den Eltern der schwerverletzten Zwillinge gesprochen, die über das furchtbare Geschehen völlig außer sich waren. Nachdem er alles erklärt hatte, führte er sie in die Intensivabteilung, damit sie sich davon überzeugen konnten, dass man für ihre Kinder alles getan hatte. Es war für ihn, der doch schon so viel Leid miterleben musste, erschütternd, die Verzweiflung der Zwillingsmutter mit ansehen zu müssen. Aber schließlich gelang es ihm und dem Vater der beiden Kinder, die Mutter einigermaßen zu beruhigen.
»Wann darf ich wiederkommen, Herr Dr. Martens? Ich möchte doch so gern bei meinen Kindern sein.« Bittend sah die junge Frau Kay an, nachdem sie die Intensivabteilung wieder verlassen hatten.
»Ich habe an und für sich nie etwas dagegen, wenn Eltern bei ihren kranken Kindern sein wollen. Sogar auf der Intensivabteilung, Frau Bruns. Aber Ihre beiden Kinder werden hier gut versorgt und jede Minute überwacht. Beide werden heute Ihre Anwesenheit nicht wahrnehmen. Ruhen Sie sich daheim aus, Sie werden Ihre Kräfte noch für beide brauchen. Es war vor allen Dingen bei Ihrem Markus keine leichte Operation.«
»Komm, Liebes, wir sollten den Rat von Dr. Martens annehmen.« Besorgt und schützend legte Herr Bruhns einen Arm um seine Frau.
»Komm, fahren wir nach Hause, wir können hier im Augenblick nichts für Markus und Hansi tun.«
»Ihr Mann hat recht, Frau Bruhns. Sie können sich darauf verlassen, dass wir Sie sofort benachrichtigen, sollten wider Erwarten Komplikationen eintreten. Wir wissen ja, wo wir Sie erreichen können.«
»Gut, Herr Doktor, ich vertraue Ihnen. Es ist sicher besser, wenn ich jetzt mit meinem Mann heimfahre. Die Aufregungen seit heute Morgen waren auch ein wenig viel für mich. Achten Sie gut auf unsere Kinder. Sie sind das Liebste, was wir besitzen.«
Mit einem traurigen Lächeln verabschiedete sie sich mit ihrem Mann von Kay.
Kay sah auf die Uhr. Wieder einmal war durch die Ereignisse die Mittagszeit fast vorüber, und er war noch nicht dazu gekommen, eine warme Mahlzeit zu sich zu nehmen. Vielleicht war Hanna auch noch nicht dazu gekommen. Er würde einmal nachsehen, wo sie steckte. Sie konnten dann ja gemeinsam nachsehen, ob Marike Schriewers noch etwas für sie beide in der Küche hatte.
In der Halle fragte Kay Martin Schriewers: »Haben Sie Hanna gesehen, Martin?«
»Ich glaube, sie ist vorhin in ihr Sprechzimmer gegangen«, antwortete Martin Schriewers lächelnd.
»Danke, Martin, dann will ich einmal hinüber. Ich wollte mit ihr zu Marike in die Küche. Mal sehen, ob Marike noch eine warme Mahlzeit für uns hat.«
»Hat sie um diese Zeit bestimmt noch. Ich kenne doch meine Marike.«
»Eben, Martin, dann bis später.«
Als Kay vor der Tür zu Hannas Sprechzimmer stand und gerade anklopfen wollte, glaubte er, unterdrücktes Schluchzen zu hören. Einen Moment horchte er bestürzt, dann öffnete er die Tür und betrat den Raum.
»Hanna, um Gottes willen, was ist denn mit dir passiert? Du weinst ja. Kann ich etwas für dich tun?«
Mit einer unwilligen Bewegung wischte Hanna sich über die Augen. Mit einem erzwungenen Lächeln sah sie zu ihm hoch und sagte leichthin: »Es war nichts und ist auch schon wieder vorbei, Kay. Es gibt da nichts, was du für mich tun kannst. Entschuldige, dass ich mich habe gehen lassen. Aber auch mir gehen schon einmal die Nerven durch.«
»Hanna, bitte, seit wann müssen wir einander etwas vormachen? Wozu bin ich denn dein Bruder, wenn du mir nicht erlaubst, dir zu helfen?«
»Es ist eine ganz private Angelegenheit, Kay. Ich muss allein damit fertig werden. Ich möchte dich damit nicht behelligen. Du wirst mich verstehen, wenn ich dir sage, dass es mit Knut zusammenhängt. Reden wir nicht mehr davon, sag mir lieber, warum du mich aufsuchst.« Hanna hatte inzwischen ihre Fassung endgültig wieder zurückerlangt.
»Nun, Hanna, ich bin wieder einmal nicht dazu gekommen, zum Essen zu gehen. Ich habe Hunger und dachte, dass es dir vielleicht ebenso gegangen ist. Wir haben immerhin schon vierzehn Uhr vorbei.«
»Ich habe keinen Appetit, geh du allein. Ich werde für heute Feierabend machen und mich doch noch etwas hinlegen. Heute Abend treffe ich mich noch für ein Stündchen mit Knut. Bis dahin frage mich bitte nicht.«
»Natürlich, Hanna, du bist etwas überreizt. Ein paar Stunden Schlaf, und du wirst dich wieder wohlfühlen. Ich für meinen Teil werde jetzt erst einmal sehen, dass ich etwas Warmes in den Magen bekomme, bevor ich noch einmal unsere Sorgenkinder auf der Intensivabteilung aufsuche. Ich bin wirklich froh, dass wir die beiden Kinder über den Berg bekommen. Aber genug geredet. Sag mir nur noch, soll ich dich zu einer bestimmten Uhrzeit wecken?«
»Wenn ich bis um neunzehn Uhr nicht wach bin, dann ja«, antwortete Hanna. Sie verließen beide Hannas Sprechzimmer, und während Kay die Küchenregion aufsuchte, ging Hanna hinauf in die kleine Privatwohnung, wo sie sich auch gleich hinlegte und Minuten später fest eingeschlafen war.
Während Kay in die Küche ging, in der er von Marike Schriewers wirklich noch eine warme Mahlzeit bekam, gingen seine Gedanken noch einmal zu Hanna. Wo war ihre Selbstsicherheit geblieben, seit sie diesen Knut Berkel kannte? Wie war es nur möglich, dass die Liebe einen Menschen in kurzer Zeit so veränderte? Was mochte sie wohl damit gemeint haben, als sie sagte, dass sie sich am Abend noch einmal mit Knut Berkel treffen würde? Es schien zwischen Hanna und Knut wohl doch nicht alles in Ordnung zu sein.
Als Kay nach achtzehn Uhr hinauf in die Wohnung kam und einen kurzen Blick in Hannas Schlafzimmer warf, fand er sie noch immer schlafend vor. Leise zog er die Tür wieder zu und machte alles so weit zurecht, dass er, wenn Hanna wach wurde, nur noch die Kaffeemaschine einschalten und die von ihm schon zubereiteten Pizzabaguettes in den Backofen schieben musste.
Hanna wachte jedoch nicht von allein auf, und so weckte er sie um die gewünschte Zeit, obwohl er es nicht gern tat. Vorher hatte er noch rasch die Kaffeemaschine eingestellt und die Baguettes in den vorgeheizten Backofen geschoben.
Einige Minuten später hörte er das Wasser im Bad plätschern, und dann kam Hanna frisch und munter zu ihm in die Wohnstube.
»Lieb von dir, Kay, dass du für Kaffee und eine Kleinigkeit zu Essen gesorgt hast. Ich habe richtig Appetit bekommen«, sagte sie lächelnd und setzte sich ihm gegenüber.
»Hab ich mir gedacht, dass du etwas essen möchtest, wenn du wieder munter bist«, erwiderte Kay und betrachtete sie verstohlen.
Obwohl sie sich gab wie immer, ließ er sich nicht täuschen. Sie wirkte auf ihn eigenartig angespannt, und ihre Augen lächelten nicht mit. Als sie dann gegen zwanzig Uhr die Wohnung verließ, war die leichte Röte, die vorher auf ihren Wangen gelegen hatte, schon wieder gewichen. Das blasse Gesicht verstärkte den angespannten Eindruck nur noch mehr, und Kay begann, sich erneut um sie zu sorgen.
*
Wie an den Abenden zuvor stand Knut wieder wartend neben seinem Wagen, als Hanna aus der Klinik ins Freie trat.
Für ein paar Sekunden stockte Hannas Schritt, als sie Knut da wartend stehen sah, und wieder fühlte sie ihr Herz schmerzhaft pochen.
Ihr wurde bewusst, wie sehr sie ihn doch liebte. Nur mit Mühe gelang es ihr, nicht einfach auf ihn zuzulaufen und sich in seine Arme zu stürzen. Alles hätte so wunderschön sein können, wenn er nicht Unmögliches von ihr gefordert hätte. Langsam ging sie weiter und trat zu ihm an den Wagen.
»Fahren wir ein Stück, Knut?«
»Natürlich, Liebes, komm, steig ein«, kam es mit zärtlicher Stimme von seinen Lippen, und fürsorglich hielt er ihr die Wagentür auf.
Hannas Herz begann wie rasend zu klopfen, als sie dann neben ihm im Wagen saß und sie das Klinikgelände verließen.
Eine Weile fuhren sie schweigend durch den beginnenden Abend.
Ist es das letzte Mal, ging es Hanna durch den Sinn, und sie musste sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.
Plötzlich fuhr er an den Straßenrand und brachte den Wagen zum Halten.
Ehe Hanna reagieren konnte, zog Knut sie in seine Arme und sagte mit verhaltener Stimme: »Warum sagst du nichts, Liebes? Fühlst du denn nicht, wie sehr ich auf deine Antwort warte? Meine geliebte Hanna, ich liebe dich, ich brauche dich. Ich kann doch ohne dich nicht mehr sein.« Seine Lippen legten sich zu einem fordernden Kuss auf ihren Mund.
Für einen kurzen Moment ließ Hanna es geschehen, doch dann befreite sie sich aus seiner Umarmung und wich ihm aus, als er sie erneut an sich ziehen wollte. Mit leiser Stimme sagte sie: »Ich liebe dich auch, Knut, und unser gemeinsames Leben hätte wunderschön werden können. Aber du hast unsere Zukunft, kaum hatte sie begonnen, schon zerstört.«
»Hanna, Liebes, was sagst du da?« Fassungslos sah er sie an.
»Du wolltest meine Antwort haben, und du sollst sie bekommen, Knut. Du hast von mir verlangt, mich zu entscheiden, entweder du und Sven oder mein Beruf. Da für dich beides nicht möglich zu sein scheint, ich aber meinen Beruf, kranken Kindern zu helfen, nicht aufgeben will und kann, muss es also sein. Es gibt für uns keine gemeinsame Zukunft, denn ich stelle meine Pflicht gegenüber all den armen kleinen Wesen, die meine Hilfe brauchen, über meine Liebe. Du hast diese Entscheidung gewollt.«
»So einfach ist das also für dich, Hanna? Dann war alles, was ich und Sven von dir erwartet haben, nichts? Ich kann es einfach nicht glauben. Ich dachte, dass du mich genauso liebst wie ich dich, dass du mit Freude zu mir und Sven kommst, dass wir ein schönes und glückliches Leben führen können. Was war ich doch für ein Narr.«
»So einfach war es nicht, Knut. Nur ich allein weiß, wie schwer es mir gefallen ist, mich so zu entscheiden. Du kanntest von Beginn an meinen Beruf. Es hätte sich beides miteinander verbinden lassen. Du hast es nicht gewollt.«
»Und wenn ich meine Forderung zurückziehe, Hanna? Ich liebe dich doch. Und Sven, du weißt doch, wie sehr er dich mag und an dir hängt. Können wir nicht noch einmal von vorn beginnen? Bitte, Hanna, mein Liebes.«
»Es ist dafür zu spät, Knut, du würdest immer wieder darauf zurückkommen, und es würde unser gemeinsames Leben vergiften. Bitte, bring mich jetzt wieder zur Klinik zurück.«
»Kann ich dich wirklich nicht mehr umstimmen, Hanna?« Unbeherrscht riss er sie erneut in seine Arme und suchte ihre Lippen.
»Bitte, Knut, nein, ich will nicht. Zerstöre jetzt nicht noch das Letzte zwischen uns. Lass uns wenigstens Freunde bleiben.«
Knuts Arme sanken herab, und ohne etwas auf ihre letzten Worte zu erwidern, startete er den Wagen und fuhr mit Hanna zur Klinik zurück.
Hanna fühlte, wie es in ihm aussehen musste, sie sah es ja auch an seinem Gesicht, und auch ihr Herz weinte. Aber es gab für sie kein Zurück.
Als sie vor der Klinik aus dem Wagen stieg und Knut ihr seine Hand zum Abschied entgegenstreckte, hob sie sich auf Zehenspitzen und sagte leise: »Verzeih mir, Knut, aber ich kann nicht anders. Du wirst mich vergessen und eine andere finden, die dir all das gibt, was du dir von deiner zukünftigen Frau erhoffst.«
Sie hauchte einen sanften Kuss auf seine Lippen. Bevor er nach ihr greifen, sie festhalten konnte, wandte sie sich rasch ab, eilte auf den Eingang der Klinik zu und ging hinein, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
Ihre mühsam aufrechterhaltene Fassung fiel von ihr ab, als sie leise die Tür ihres Schlafzimmers hinter sich zuzog und aufweinend auf ihr Bett sank.
Doch so leise sie auch die Wohnung und ihr Schlafzimmer betreten hatte, Kay hatte es gehört. Er war verwundert darüber, dass seine Schwester nicht noch zu ihm ins Wohnzimmer kam, und trat an die Schlafzimmertür, klopfte leise an und fragte: »Darf ich eintreten, Hanna?«
Kay bekam keine Antwort, aber er hörte Hanna weinen und trat betroffen in ihr Zimmer.
»Hanna, was ist los? Ich will jetzt endlich wissen, was dich so verändert hat. Habe ich als dein Bruder nicht das Recht, dir zu helfen, wenn dir jemand wehgetan hast? Wenn du mir nichts sagen willst, so werde ich zu Knut Berkel gehen und Aufklärung verlangen. Denn deine Veränderung hängt doch mit diesem Mann zusammen. Besinn dich endlich wieder, wer du bist.«
Hanna richtete sich plötzlich auf. Noch immer Tränen in den Augen, lächelte sie, doch es war ein schmerzliches Lächeln. Mit wehmütiger Stimme sagte sie: »So energisch bist du doch sonst nicht mir gegenüber, großer Bruder. Aber du hast ja so recht. Ich muss mich endlich wieder auf mich selbst besinnen. Man soll einem verlorenen Glück nicht nachtrauern. Komm, gehen wir ins Wohnzimmer hinüber. Du lässt mir ja ohnehin nicht eher Ruhe, bis du Bescheid weißt.«
Als sie sich einen Augenblick später im kleinen gemütlichen Wohnzimmer gegenübersaßen, sagte Hanna leise: »Es ist alles aus zwischen mir und Knut, Kay.«
»Alles aus? Warum?«
»Knut hat von mir verlangt, dass ich meinen Beruf aufgebe, um nur noch für ihn und Sven da zu sein. Er hat mich vor die Entscheidung gestellt, entweder er und Sven oder mein Beruf. Ich konnte nicht anders, ich habe mich für meine Pflichten den kranken Kindern gegenüber entschieden. Es fällt mir nicht leicht, auf mein persönliches Glück zu verzichten, aber ich weiß, dass ich nicht alles aufgeben kann, was einmal mein Traum gewesen ist. Kannst du mich wenigstens verstehen?«
»Das war es also, was dich so verändert hat, Hanna? Ich kann dich verstehen, und wenn ich ehrlich dir gegenüber sein darf, hatte ich es befürchtet. Dazu kenne ich dich nämlich zu gut. Es kann eben kein Mensch aus seiner Haut heraus. Wenn Knut Berkel eine solche Forderung stellen konnte, ist seine Liebe eine egoistische Liebe, und er hat dich nicht verdient. Nur zu fordern, ist keine gute Basis für eine glückliche Ehe. Du wirst ihn vergessen, Hanna, und deine Arbeit in unserer Klinik wird dir dabei helfen. Der Schmerz um deine verlorene Liebe wird eines Tages vergangen sein.«
»Es ist lieb von dir, Kay, dass du mich trösten willst. Aber mit dem Vergessen geht das nicht so schnell, denn da ist auch noch der Junge, den ich sehr lieb gewonnen habe und von dem ich mich jetzt nicht einfach fernhalten kann. Es wäre eine zu schmerzhafte Enttäuschung für ihn. Ich weiß auch nicht, ob ich es schaffe, Knut in den nächsten Tagen einigermaßen unbefangen gegenüberzutreten. Ihn vielleicht jeden Tag sehen zu müssen mit dem Wissen, dass alles vorbei ist, ist für mich nicht so einfach. Allein der Gedanke daran tut mir sehr weh.«
»Ich kann dich gut verstehen. Ich kenne dich viel zu gut, ich weiß aber auch, dass du es schaffen wirst, Hanna. Warum gehst du jetzt nicht schlafen? Morgen früh schaut auch für dich die Welt wieder viel freundlicher aus.«
»Ja, vielleicht hast du sogar recht, Kay. Schlaf wird mir guttun. Es muss ja weitergehen.«
*
Zwei Tage vergingen, in denen es Hanna gelang, Sven immer nur dann aufzusuchen und sich um ihn zu kümmern, wenn Knut nicht da war. Es war für die Schwestern auf der Station jedoch offensichtlich, dass sie dem Vater des Jungen aus dem Weg ging.
Dann begann der dritte Tag. Es war noch sehr früh am Morgen, und Hanna befand sich noch mit ihrem Bruder Kay in der gemeinsamen kleinen Giebelturmwohnung. Sie hatte das Fenster geöffnet und sah ein paar Minuten schweigend in den beginnenden Morgen. Tief atmete sie die frische Luft ein und sah zum Himmel hoch, der sich klar und ohne ein Wölkchen über der Landschaft wölbte.
Plötzlich wurden Hannas Blicke von einem Wagen angezogen, der sich in rascher Fahrt der Klinik näherte. Es handelte sich um einen schnittigen roten Sportwagen. Neugierig geworden, beugte Hanna sich vor, um zu sehen, wer da schon zu dieser frühen Stunde in die Kinderklinik Birkenhain wollte. Ein Neuzugang war für diese Zeit nicht angemeldet. Es war gerade erst ein paar Minuten vor sieben, und Kay und sie hatten erst vor wenigen Minuten gefrühstückt.
»Gibt es da unten etwas Interessantes zu sehen, Hanna?«, wollte Kay wissen und stellte sich neben sie ans Fenster.
In diesem Moment stieg eine schlanke, sehr elegante Frau mit weißblondem Lockenkopf aus dem Wagen und sah sich aufmerksam um.
»Kennst du diese Frau vielleicht, Kay? Was mag sie schon so früh am Morgen hier bei uns in Birkenhain wollen?«
»Mir ist sie völlig unbekannt. Ich habe sie vorher noch nie gesehen. Wir werden ja nachher hören, wen sie schon so früh besuchen möchte. Es wird sowieso für uns langsam Zeit, hinunterzugehen. Du bist doch so weit, oder?«
»Natürlich, Kay, ich schließe nur noch das Fenster.«
Als sie nebeneinander hinunter in den Klinikbereich gingen, fragte Hanna: »Hat Knut Berkel schon mit dir darüber gesprochen, in welche Spezialklinik er den Jungen bringen will, Kay?«
Es war das erste Mal seit dem Abend nach ihrer letzten Aussprache mit Knut, dass sie seinen Namen Kay gegenüber erwähnte.
»Nein, obwohl ich gestern eine kurze Unterredung mit ihm geführt habe, in deren Verlauf ich ihm die Namen einiger Kliniken genannt habe, die ich ihm empfehlen kann. Er wirkte auf mich ein wenig niedergeschlagen und abwesend. Wenn nichts Außergewöhnliches dazwischenkommt, wird er die Behandlung des Jungen durch Dr. Dornbach zum Wochenende abbrechen und Sven abholen. Ich habe ihm nicht zugeredet, ihm aber auch nicht abgeraten, Hanna. Er weiß, wie es um den Jungen steht, und er weiß, was für den Jungen zu tun bleibt. Er muss wissen, wie er sich entscheidet. Er weiß ja auch von uns, dass es gut wäre, nicht allzu lange mit einer Operation zu warten. Hast du noch nicht wieder mit ihm gesprochen?«
»Nein, Kay, ich bin in den vergangenen zwei Tagen nicht mit ihm zusammengetroffen. Dabei kümmere ich mich doch genauso intensiv um Sven wie vor diesen Tagen. Nur eben zu anderen Zeiten. Ich gehe Knut nach Möglichkeit aus dem Weg.«
»Warum gehst du ihm so offensichtlich aus dem Weg, Hanna?«
»Ich bin innerlich noch nicht so weit, Kay. Aber das ist im Augenblick nicht so wichtig. Sag mir lieber, was für heute anliegt. Ich habe ja um halb neun meine ambulante Sprechstunde.«
»Wie ich dir schon sagte, keine Operation. Nach Möglichkeit will ich den Mittwoch auch weiterhin als operationsfreien Tag beibehalten, abgesehen, von Notfällen. Du bleibst ja erst einmal hier auf der Krankenstation, nicht wahr? Ich habe zuerst etwas unten im Labor zu erledigen. Wir sehen uns dann nach deiner Sprechstunde zur Visite.«
»Ich schaue zuerst nach Sven, danach werde ich Markus und Hansi Bruhns aufsuchen. Ich bin so froh, dass beide die Operation so gut überwunden haben. Heute ist doch erst der dritte Tag nach dem Unfall.«
»Ist doch kein Wunder, Hanna. Die liebevolle Fürsorge der Mutter, die so viele Stunden am Tag bei den beiden im Krankenzimmer verbringt, muss ja Wunder wirken. Also, bis später.«
Mit langen Schritten ging Kay weiter und die Stufen der Treppe hinunter in das Erdgeschoss der Klinik, während Hanna Svens Zimmer betrat. Sven war schon wach und sah Hanna mit sehnsüchtigen Blicken entgegen.
»Du hast mir gestern überhaupt nicht gute Nacht gesagt, Tante Hanna. Ich habe gar nicht einschlafen können. Auch Vati hat gewartet, dass du kommst«, kam es klagend von seinen Lippen.
»Ich habe im Augenblick sehr viel Arbeit, mein Junge. Ich war noch spät in deinem Zimmer, aber da warst du schon eingeschlafen. Vielleicht habe ich heute Abend eher Zeit für dich.«
»Versprochen, Tante Hanna?«
»Versprochen, Sven. Aber ich muss dich jetzt schon wieder allein lassen. Ich wollte dir nur Guten Morgen wünschen. Es dauert ja nicht mehr lange, und dein Vati kommt wieder zu dir. Ich habe es dir doch schon ein paar Mal erklärt, dass hier noch andere kranke Kinder in den Zimmern liegen und auf mich warten. Du bist ja auch nicht allein, du hast doch jetzt den Tim. Wo steckt er überhaupt?« Suchend sah Hanna sich um.
»Tim musste mal, Tante Hanna. Aber seine Mutter hat gestern gesagt, dass er nächste Woche wieder nach Hause darf. Ich bin dann wieder allein.«
Hanna wollte etwas Tröstendes sagen, aber in diesem Moment öffnete Schwester Laurie die Zimmertür und rief ihr leise zu: »Können Sie bitte einen Augenblick kommen, Frau Dr. Martens?«
»Ich komme«, entgegnete Hanna. Zu Sven sagte sie: »Da hörst du es, dass andere Kinder auf mich warten. Ich komme später wieder zu dir, einverstanden?«
Sven nickte, und mit einem aufmunternden Lächeln verließ Hanna das Zimmer.
Auf dem Gang wartete Schwester Laurie auf Hanna.
»Was liegt an, Schwester Laurie? Warum haben Sie mich aus dem Zimmer gerufen?«
»Der Herr Doktor hat gerade angerufen, Sie möchten bitte gleich zu ihm hinunterkommen.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein, Frau Doktor, nur, dass er auf Sie wartet und Sie gleich kommen sollen.«
»Danke, Schwester Laurie, dann will ich ihn nicht warten lassen. Ich bin sicher in wenigen Minuten zurück.«
Mit leichten Schritten eilte Hanna hinüber und stand kurz darauf vor Kays Sprechzimmer.
*
Als Kay die letzten Treppenstufen erreicht hatte, sah er, dass in der Besucherecke eine junge Frau hastig aufsprang und mit eiligen Schritten auf ihn zukam. Es war die junge Frau, die er und Hanna kurz vorher von der Wohnung aus einen Augenblick beobachten konnten.
»Ja, bitte, zu wem möchten Sie?« Fragend sah Kay die junge Frau an, deren hübsches Gesicht sehr erregt wirkte.
»Sind Sie der Chefarzt, Herr Dr. Martens?«, stellte sie eine Gegenfrage.
»Ja, der bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Mein Name ist Berkel, Cornelia Berkel. Ich möchte zu meinem Sohn Sven, der hier in der Kinderklinik Birkenhain liegen soll. Ich habe erst gestern Nachmittag erfahren, dass mein Sohn krank ist und sich hier in der Kinderklinik Birkenhain befindet.«
»Sie sind Frau Berkel, die Mutter von Sven? Bitte, kommen Sie doch einen Augenblick mit mir in mein Sprechzimmer, Frau Berkel. Ich möchte erst noch ein paar Worte mit Ihnen sprechen.«
»Wenn es unbedingt sein muss, bitte«, antwortete die junge Frau mit abweisend klingender Stimme.
Kay ging nicht weiter darauf ein. Er ging ihr voran in sein Sprechzimmer und hielt ihr höflich die Tür auf.
»Bitte, nehmen Sie doch Platz, Frau Berkel.«
Nur widerstrebend setzte sich die junge Frau hin, und Kay nahm gleichfalls ihr gegenüber Platz.
»Was wollen Sie mir sagen, Herr Dr. Martens? Verstehen Sie nicht, dass ich zu meinem Jungen möchte?«
»Ich möchte von Ihnen wissen, ob Ihr Mann damit einverstanden ist, dass Sie den Jungen so unverhofft besuchen wollen, Frau Berkel. So viel mir bekannt ist, leben Sie von Ihrem Mann getrennt. Seit mehreren Monaten schon.«
»Ja, das stimmt. Aber was hat das mit meinem Jungen zu tun? Ich bin doch die Mutter.«
»Nun, Sven ist krank, er hat einen Herzschaden. Ihr plötzliches Auftauchen könnte ihm schaden, denn jede Aufregung muss von ihm ferngehalten werden. Aber warten Sie bitte einen Augenblick, ich lasse meine Schwester herunterbitten. Sie ist gleich mir Chefärztin und mit dem Jungen vertraut.«
Bevor Cornelia Berkel noch etwas erwidern konnte, setzte er sich mit dem Schwesternzimmer auf der Krankenstation in Verbindung und bat Schwester Laurie, Hanna doch auszurichten, dass er sie unten in seinem Sprechzimmer erwarten würde.
Nachdem Kay den Hörer wieder aufgelegt hatte, sagte er, sich seiner Besucherin wieder zuwendend: »Sie haben mir meine Frage, ob Ihr Mann von Ihrem Kommen weiß, noch nicht beantwortet, Frau Berkel.«
»Nein, natürlich nicht, Herr Doktor. Aber ist das nicht meine private Angelegenheit?«
»An und für sich schon, Frau Berkel. Aber da es hier um das Wohl des Kindes geht, nehme ich mir das Recht zu dieser Frage heraus. Ich weiß ja nicht, ob Ihr Mann nach Lage der Dinge damit einverstanden ist, dass Sie den Jungen besuchen.«
»Er ist immer noch mein Sohn. Und wenn er krank ist, wird mir wohl niemand verwehren können, bei ihm zu sein.«
»Das fällt Ihnen spät ein«, entgegnete Kay mit ernster Stimme.
In diesem Moment klopfte es kurz an die Tür und Hanna trat ein.
»Du hast mich zu dir bitten lassen Kay?«
»Schön, dass du so rasch kommen konntest, Hanna. Meine Schwester Dr. Hanna Martens«, stellte er Hanna vor und an Hanna gewandt sagte er: »Darf ich vorstellen, Hanna? Frau Cornelia Berkel, die Mutter von Sven.«
Das ist sie also, die Frau, die Mann und Kind einfach im Stich gelassen hat, fuhr es in Bruchteilen von Sekunden durch Hannas Kopf. Aber mit einem höflichen Lächeln streckte sie der Besucherin ihre Rechte entgegen und sagte mit kühler Stimme: »Guten Morgen, Frau Berkel. Ist es nicht etwas früh am Morgen für einen Klinikbesuch?«
»Ich habe es doch nicht früher gewusst«, kam es nun etwas bedrückt von Cornelias Lippen. »Ich habe es erst gestern durch meinen Anwalt erfahren. Sie sind doch auch eine Frau. Können Sie nicht verstehen, dass ich bei meinem Jungen sein möchte, jetzt, da er krank ist? Wenn ich auch von meinem Mann getrennt lebe und er es nicht für notwendig gehalten hat, mich über Svens Erkrankung zu informieren, so ist mein Platz doch jetzt an der Seite meines Jungen. Er braucht mich. Vor unserer Trennung war Sven nicht krank. Bitte, lassen Sie mich zu ihm. Ich passe ganz bestimmt auf, dass er sich nicht aufregt. Es mag Ihnen beiden seltsam vorkommen. Aber was immer meinen Mann und mich getrennt hat, ich liebe meinen Jungen.«
»Wollen Sie sich denn nicht zuerst mit Ihrem Mann in Verbindung setzen, Frau Berkel? Er hat hier ganz in der Nähe, im Heidekrug in Ögela, ein Zimmer genommen. Er kommt jeden Tag gegen zehn Uhr zu Sven in die Klinik.«
»Nein, ich möchte zu Sven, ich muss wissen, wie es ihm geht. Bitte, sagen Sie mir, wie es um ihn steht, was genau ihm fehlt. Ihr Bruder sagte eben, dass Sven einen Herzschaden hat.«
»Ja, und er muss in absehbarer Zeit in einer Spezialklinik operiert werden. Im Augenblick wird er mit Medikamenten behandelt, damit sich sein Gesamtbefinden etwas stabilisiert.«
»O nein, so schlimm ist es?« Die Augen der jungen, sehr hübschen Frau, die Hanna auf höchstens zweiunddreißig Jahre schätzte, füllten sich mit Tränen. Wie ein Häufchen Elend saß sie vor Kay und Hanna.
Hanna war nur nach außen hin kühl und beherrscht, in ihrem Innern tobte ein Sturm von Gefühlen. Diese Frau, die Knut und den Jungen verlassen hatte und die nun voller Angst vor ihr saß, stand es ihr zu, diese Frau wegen ihres Handelns zu verurteilen?
Nein, sie hatte dazu kein Recht. Hatte nicht sie auch den geliebten Mann aufgegeben, weil ihr etwas anderes lieber war als persönliches Glück? Spielte es da wirklich eine so große Rolle, dass sie die Entscheidung erst getroffen hatte, als sie vor die Wahl gestellt worden war?
Durften sie und Kay sich als Richter aufspielen und dieser Mutter den Zutritt zu ihrem Kind verwehren?
»Bitte, Frau Doktor, lassen Sie mich zu meinem Kind«, flehte Cornelia Berkel mit tränennassen Augen.
Hanna sah Kay an, und nur ihm verständlich nickte sie und sagte zu Cornelia Berkel: »Ich bin einverstanden, Frau Berkel, aber ich möchte Sie begleiten und den Jungen auf Ihren Besuch vorbereiten. Auch ein freudiger Schreck könnte ihm schaden. Wenn Sie damit einverstanden sind, dann folgen Sie mir bitte.«
Hanna wagte nicht, daran zu denken, dass Knut gegen den Besuch seiner Frau bei Sven sein könnte. Sie musste Cornelia Berkel einfach helfen. Sie war die Mutter des Jungen, und dieser kleine Junge sehnte sich nach der Liebe und Zärtlichkeit seiner Mutter.
»Und ob ich einverstanden bin, Frau Doktor. Mir ist alles recht, wenn Sie mich nur zu meinem Jungen lassen.«
Hastig wischte sich Cornelia Berkel über die Augen, in denen es jetzt aufleuchtete.
Hanna öffnete die Tür und ließ Svens Mutter an sich vorbei auf den Gang treten. Sie selbst drehte sich noch einmal um und sah Kay an.
An seinen Blicken sah sie, dass er mit ihrer Entscheidung nicht recht einverstanden war, aber er ließ sie schweigend und mit einem ernsten Lächeln gehen.
*
Schwester Laurie sah erstaunt auf Hanna und ihre Begleiterin, als diese auf sie zukamen.
»Das ist Frau Berkel, die Mutter von Sven«, sagte Hanna zu der jungen Schwester, die Hanna daraufhin einen Moment erschrocken anstarrte, dann aber rasch sagte: »Da wird Sven sich aber bestimmt sehr freuen.«
»Wir werden sehen«, gab Hanna zurück und sagte zu Cornelia Berkel: »Ich gehe zuerst allein hinein, Frau Berkel. Ich werde den Jungen etwas vorbereiten. Sie werden den richtigen Moment für Ihr Eintreten schon erkennen.«
Mit angestrengtem Gesicht nickte die junge Frau, und Hanna betrat zum zweiten Mal an diesem Morgen das Zimmer. Die Tür ließ sie einen Spalt offen stehen.
Mit wild pochendem Herzen, beide Hände gegen die Brust gepresst, blieb Cornelia Berkel hinter der Tür stehen. Sie hörte die helle Stimme ihres Jungen ausrufen: »Tante Hanna, Tante Hanna, du hast doch noch etwas Zeit für mich?«
»Ja, Sven, mein Junge, ich möchte dich gern etwas fragen.«
»Ja, Tante Hanna, was denn?«
»Würdest du dich eigentlich sehr freuen, wenn dich deine Mutti hier bei uns in der Klinik besuchen würde?«
»Meine Mutti, die kommt nicht, sie hat den Vati und mich nicht mehr lieb«, hörte Cornelia ihren Jungen antworten, und es trieb ihr heiße Röte ins Gesicht. Aber sie lauschte noch angestrengter, und hörte zuerst Hannas Stimme fragen: »Und wenn sie dich doch noch lieb hätte und käme, Sven?«
»Das wäre wunderschön, Tante Hanna«, antwortete der Junge mit sehnsüchtiger Stimme.
Da hielt es die junge Frau hinter der Tür nicht mehr auf ihrem Platz. Sie schob langsam die Tür weiter auf und betrat das Zimmer. Schritt für Schritt ging sie auf Svens Bett zu, der sie noch nicht entdeckt hatte.
Tim, in dem anderen Bett, sah sie mit großen Augen an und rief plötzlich aus: »Sven, Sven, sieh doch mal«, und er zeigte mit ausgestrecktem Finger in Cornelias Richtung.
»Mutti, du«, kam es leise, etwas verwundert von Svens Lippen, dann aber hatte er begriffen. »Mutti, meine liebe, liebe Mutti«, rief er und streckte Cornelia sehnsüchtig seine Arme entgegen.
»Sven, mein Junge, mein Liebling, habe ich dich endlich wieder.« Ein letzter Schritt, und Cornelia Berkel war bei Sven und nahm ihn in die Arme.
Vor Rührung über das selige Glück in Svens Blicken, bekam auch Hanna feuchte Augen. Sie wusste, sie hatte das Richtige getan, was immer auch daraus für Knut entstehen würde. Da war eine Mutter, die erkannt hatte, dass ihr Platz an der Seite ihres Kindes war. Leise verließ sie das Krankenzimmer und zog die Tür von außen zu.
»War das wirklich die Mutter von Sven, Frau Dr. Martens?«
Hanna sah auf und genau in die fragenden Augen von Schwester Laurie hinein.
»Ja, das ist Svens Mutter, Schwester Laurie. Ich muss jetzt hinunter und meine Sprechstunde abhalten. Sollte Herr Berkel in die Klinik kommen, dann möchte ich gern mit ihm reden, bevor er zu dem Jungen ins Zimmer geht. Bitte, achten Sie ein wenig darauf.«
»Sie können sich da ganz auf mich verlassen, Frau Dr. Martens, das tu ich doch gern.«
Trotzdem sah die junge Schwester ein wenig ratlos und betroffen hinter ihrer Vorgesetzten her, die mit eiligen Schritten dem Treppenabgang zustrebte. Da sollte sich noch ein Mensch auskennen. Erst sah es so aus, als wären Svens Vater und die Chefin ein Herz und eine Seele, dann lief die Chefin seit zwei Tagen mit einem Gesicht wie sieben Tage Regenwetter herum, und nun war auf einmal sogar eine Mutti für Sven da. Wenn sie das Jenny erzählte, würde diese sicher wieder sagen, sie spinne wohl.
Hanna aber suchte, bevor sie in ihr eigenes Sprechzimmer ging, noch kurz Kay auf, um mit ihm über das Zusammentreffen von Sven und seiner Mutter zu reden.
»Schön und gut, aber was wird Knut Berkel dazu sagen? Du hast dich für das Zusammentreffen von Sven und seiner Mutter entschieden, nun musst du auch einen Weg finden, es dem Vater des Jungen beizubringen.«
»Das werde ich auch noch schaffen. Und wenn ich ehrlich sein soll, so wäre es für Sven noch immer das Beste, wenn sich sein Vater wieder mit Cornelia Berkel aussöhnen würde. Noch sind sie ja nicht geschieden worden, noch gibt es für beide den Weg zurück zueinander.«
»Und du, Hanna?«
»Es kommt doch auf mich nicht mehr an, Kay. Heißt es nicht so schön: Immer nur lächeln, wenn auch das Herz … Ach, Unsinn, vergiss es einfach.«
*
Hanna hatte gerade ihren letzten Patienten für diesen Tag, einen fünfjährigen Jungen mit einem gequetschten Daumen, verarztet, da klopfte es an der Tür. In dem Glauben, es würde sich nur um einen verspäteten Patienten handeln, forderte sie: »Nur immer herein, die Tür ist offen.«
Erschrocken fuhr sie zusammen, als sie hinter ihrem Rücken plötzlich eine Stimme sagen hörte: »Du wolltest mich sprechen, bevor ich zu Sven ins Zimmer gehe, Hanna?«
Langsam drehte sie sich um und entgegnete mit belegter Stimme: »Ja, Knut, bitte nimm doch einen Augenblick Platz. Es geht um deinen Jungen und um …«
»Was ist mit Sven, Hanna? Ist es mit ihm wieder schlimmer geworden?«, unterbrach er sie.
»Nein, du kannst ganz beruhigt sein. Eher das Gegenteil ist der Fall. Ich habe deinen Jungen noch nie so glücklich gesehen wie heute. Dein Junge hat heute, schon sehr früh, ganz besonderen Besuch bekommen. Es wird dir vielleicht nicht recht sein, dass ich diesen Besuch zugelassen habe, aber dem Jungen bedeutet er unendlich viel. Sie ist noch bei ihm, darum wollte ich dich vorher gern sprechen, um dich darauf vorzubereiten.«
»Du willst doch wohl nicht damit sagen, dass … Nein, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, Hanna.«
»Doch, Knut, deine Frau ist bei Sven. Noch ist sie ja deine Frau. Um des Jungen willen bitte ich dich, handle jetzt nicht unüberlegt. Sie war so voller Angst, nachdem sie von eurem Rechtsanwalt erfahren musste, dass der Junge krank ist. Sie hat mir leidgetan.«
»Ich will aber nicht, dass sie dem Jungen noch einmal wehtut. Ich will es nicht.«
»Sie wird ihm nicht wehtun, sie liebt den Jungen. Du wirst es an ihm erkennen, wenn du die beiden zusammen siehst. Ich bin sicher, dass ihr eine für alle Teile befriedigende Lösung finden werdet. Denk an deinen Jungen, er braucht seine Mutter, und ich kann es nun mal nicht werden. Er braucht sie noch eine lange Zeit, bei seiner Krankheit.«
Fast abrupt wandte sich Knut ab und verließ ohne eine Antwort auf Hannas letzte Worte den Raum. Mit einem traurigen Lächeln sah Hanna ihm nach.
Was zwischen dem Ehepaar Berkel gesprochen wurde, wurde weder Hanna noch Kay bekannt. Aber Hanna wusste noch am selben Tag, dass ihre Entscheidung, auf ihr persönliches Glück zu verzichten, die richtige Entscheidung gewesen war, denn um des Jungen willen versöhnte Knut sich mit seiner Frau.
*
Beschützend und zugleich tröstend legte Kay ein paar Tage später einen Arm um die Schultern seiner Schwester, während sie Knut, Sven und Cornelia Berkel nachblickten, als sie die Klinik verließen.
»Sei nicht traurig, Hanna, er war dir nicht vom Schicksal bestimmt. Eines Tages wird auch zu dir der Richtige und das Glück kommen, das du verdienst.«
»Es ist schon vorbei, Kay. Ich habe ja all die Kinder, die mich brauchen. Markus, Hansi, Tim und all die anderen. Mein Platz ist hier in unserer Klinik, in der Klinik Birkenhain.«