Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Staffel 5 – Arztroman - Britta Frey - Страница 9

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Abends, als Christiane und Claudia im Bett lagen, machten Gerhard und Ute Behnsen es sich im Wohnzimmer gemütlich. Ute stickte an einem Wandbehang, für den sie selbst das Muster entworfen hatte. Gerhard las Zeitung und rauchte dabei eine Pfeife.

Plötzlich läutete das Telefon. Gerhard nahm den Hörer ab. »Wer ist da bitte?« hörte seine Frau ihn fragen.

Gleich darauf reichte Gerhard ihr den Hörer. »Es ist für dich«, sagte er. Zwischen seinen Augenbrauen stand auf einmal eine steile Falte.

Ute meldete sich. »Ich bin es. Hans«, erwiderte am anderen Ende der Leitung eine tiefe Männerstimme.

Ute warf einen erschrockenen Blick auf ihren Mann. Der Anrufer war Hans Bäumler, der Vater ihres Sohnes Markus, ihr erster Mann. Seit Jahren hatte er sich nicht gemeldet. Ute wußte sofort, daß sein Anruf nichts Gutes bedeuten konnte.

Hans Bäumler hatte ihr immer nur Unglück gebracht. Die drei Jahre ihrer Ehe mit ihm waren für Ute die Hölle gewesen. Eines Tages hatte Hans Bäumler ihr erklärt, daß er sich von ihr scheiden lassen wolle, um eine andere Frau zu heiraten.

Als er auszog, nahm er den kleinen Markus mit. Ute hatte wie eine Löwin um ihr Kind gekämpft. Letzten Endes war Hans Bäumler Sieger geblieben. Es war ihm gelungen, das Sorgerecht für Markus zu bekommen. Danach hatte er alles getan, um den Kontakt zwischen Mutter und Sohn zu verhindern.

Zwei Jahre nach ihrer Scheidung hatte Ute Gerhard kennengelernt. Sie war ihm in das Heidedorf Ögela gefolgt. Der Pfarrer hatte sie in der alten Dorfkirche getraut. Ein Jahr später war Christiane, und wieder ein Jahr später Claudia geboren worden.

Ute liebte ihren Mann und ihre beiden süßen Töchter über alles. Die Sehnsucht nach ihrem Sohn hatte sie jedoch nie verlassen. Immer wieder fragte sie sich, wie es Markus wohl gehen mochte.

Als sie jetzt die Stimme Hans ­Bäumlers hörte, fragte sie deshalb sofort: »Ist etwas mit Markus? Geht es ihm nicht gut? Ist er vielleicht krank?«

»Krank ist er nicht. Ich rufe dich an, um dir zu sagen, daß ich einfach nicht mehr mit dem Jungen fertig werde. Jahrelang haben wir uns mit Markus rumgeärgert. Jetzt reicht es uns. Du bist schließlich die Mutter, und jetzt kannst du dich mal um ­Markus kümmern«, antwortete Hans Bäum­ler.

»Willst du damit sagen, daß Markus für immer zu uns kommen kann?« stieß Ute hervor.

»Hast du etwas dagegen?«

»Natürlich nicht. Aber das weißt du doch«, rief Ute aus. Sie konnte kaum sprechen vor Aufregung. Ihr Mund fühlte sich ganz trocken an.

Vom anderen Ende der Leitung her war ein Räuspern zu hören. »Also gut«, erklärte Hans Bäumler schließlich. »Ich muß morgen sowieso nach Norddeutschland fahren. Ich habe dort zu tun. Bei der Gelegenheit kann ich bei dir vorbeikommen und den Jungen abliefern. Ich rechne damit, daß ich gegen zwei Uhr von Frankfurt wegfahre und gegen sieben Uhr in Hannover bin. Von dort aus ist es ja dann nicht mehr so weit bis zu dir.«

»Hans…«

»Ja?« unterbrach er sie sofort.

»Hans, darf ich Markus sprechen? Kannst du ihn ans Telefon holen?« bat Ute.

»Das ist im Augenblick nicht möglich. Du siehst ihn ja morgen. Also, bis dann«, sagte Hans Bäumler. In der Leitung war ein Klicken zu hören. Er hatte aufgelegt.

Ute ließ den Hörer auf die Gabel sinken. Auf ihrem Gesicht lag ein ungläubiger, staunender Ausdruck. Sie starrte auf ihren Mann. »Ich kann es noch gar nicht glauben, Gerhard«, brachte sie hervor. Ihre eigene Stimme kam ihr dabei fremd vor.

»Was ist denn, Liebe? Hat Markus etwas angestellt?« wollte Gerhard wissen.

»Nein. Hans will ihn nicht mehr bei sich haben. Er habe sich lange genug mit ihm rumgeärgert. Er will Markus zu uns bringen«, berichtete Ute.

»Für immer?«

Ute nickte.

»Also, das ist ja unglaublich«, stieß Gerhard hervor.

Um Utes Mundwinkel lief ein Zittern. »Willst du denn nicht, daß Markus zu uns kommt, Gerhard?« fragte sie seltsam atemlos.

»Aber natürlich möchte ich das, Ute. Markus ist doch dein Sohn. Ich weiß doch, wie sehr du an ihm hängst und wie sehr du seinetwegen gelitten hast. Ich kann mir nichts Schöneres denken, als daß Markus endlich zu uns kommt. Wenn ich sage, es ist unglaublich, dann meine ich damit die Handlungsweise von Markus’ Vater. Ein Kind ist doch kein Möbelstück, das man einfach abgibt, wenn es einem nicht mehr gefällt«, rief Gerhard aus.

»Ich habe dir doch erzählt, zu was Hans fähig ist«, erwiderte Ute mit leiser Stimme.

»Was er jetzt macht, setzt allerdings allem noch die Krone auf, Ute«, erklärte Gerhard.

Ute senkte die Augenlider.

Gerhard erhob sich von seinem Stuhl. Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen. In ihm loderte noch immer die Empörung. »Ich stelle mir vor, was es für einen elfjährigen Jungen bedeutet, einfach weggeschoben zu werden. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie verloren und einsam sich Markus jetzt fühlen muß«, sagte er.

Er kam zu seiner Frau zurück. Als er sah, daß ihre Augen voller Tränen waren, neigte er sich zu ihr herunter und umarmte sie. »Es hat keinen Sinn, sich aufzuregen, Ute. Wir sollten uns lieber darüber freuen, daß Markus endlich zu uns kommt. Er wird unsere ganze Liebe brauchen.«

Ute lächelte unter Tränen. »Ich finde es so wunderbar, daß du das sagst, Gerhard.«

Gerhard setzte sich neben sie und legte einen Arm um ihre Schultern. »Ein bißchen Egoismus ist natürlich auch dabei«, gestand er mit einem Lächeln. »Du weißt doch, wie sehr ich mir immer einen Sohn gewünscht habe. Jetzt bekomme ich endlich einen.«

Ute lehnte ihre Stirn gegen seine breite Brust. Dabei spürte sie, wie sich in ihr eine tiefe Ruhe ausbreitete.

*

Christiane und Claudia gerieten vor Freude und Aufregung schier aus dem Häuschen, als sie am nächsten Morgen erfuhren, daß ihr großer Bruder für immer bei ihnen wohnen sollte.

Immer wieder betrachteten sie die Fotos, die ihre Mama als ganz junge Frau mit Markus zeigten. Immer wieder wollten sie wissen, wie Markus als kleiner Junge gewesen war. Am liebsten hätten sie tausend Fragen auf einmal gestellt.

Am Nachmittag rief Ute schließlich: »Christiane und Claudia, hört endlich auf mit eurer Fragerei. Ich weiß ja gar nicht mehr, was ich euch antworten soll.«

Christiane und Claudia brachten es tatsächlich fertig, ein paar Minuten lang keine einzige Frage zu stellen. Schließlich meinte Claudia jedoch: »Mama, was ist, wenn Markus vielleicht doch nicht kommt?«

»Aber er kommt ganz bestimmt, Claudia«, antwortete Ute.

»Um wieviel Uhr denn, Mama?«

»Gegen acht, nehme ich an.«

»Warum denn so spät, Mama? Es wäre doch viel schöner gewesen, wenn Markus schon am Nachmittag gekommen wäre. Um acht Uhr müssen wir ja schon im Bett sein«, entgegnete Claudia ganz enttäuscht.

Ute seufzte tief auf. »Auch mir wäre es lieber gewesen, wenn Markus schon nachmittags bei uns eingetroffen wäre«, gestand sie.

Claudia schwieg, dann begann sie wieder: »Mama…«

»Ja, Claudia?«

»Mama, wieviel Uhr ist es jetzt?«

Ute warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Gleich drei Uhr, Claudia.«

»Dann müssen wir ja noch fünf Stunden auf Markus warten, Mama«, meinte Claudia.

»Warum spielt ihr nicht mit eurem Springseil? Oder ihr könntet eure Puppen spazieren fahren«, schlug Ute vor.

»Die Puppen möchten lieber schlafen, Mama. Mama, glaubst du, daß Markus schon schwimmen kann?« erkundigte sich Christiane.

»Das nehme ich doch an.«

»Dann kann er uns ja in diesem Sommer zeigen, wie man schwimmt. Glaubst du, daß er das möchte, Ma­ma?« fuhr Christiane fort.

»Ganz sicher sogar, Christiane. Sagt einmal, wollt ihr nicht auf der Wiese ein paar Blümchen für Markus pflücken? Die stellen wir dann in sein Zimmer und sagen ihm, daß sie von euch sind«, meinte Ute.

»Aber es wachsen doch noch gar keine Blumen auf den Wiesen, Mama«, wandte Claudia ein.

»Doch, Gänseblümchen. Komm, Claudia, wir pflücken für Markus einen Strauß Gänseblumen«, rief Christiane und lief auf die Wiese. Claudia zögerte noch einen Moment, dann lief sie mit schwingendem Röckchen hinter ihrer Schwester her.

Ute sah ihnen lächelnd nach und atmete erst einmal tief auf. Ihre beiden wißbegierigen, lebhaften Mädchen konnten manchmal ziemlich anstrengend sein.

Zehn Minuten später waren Christiane und Claudia wieder da. Sie hielten einen Strauß Gänseblümchen in Händen. »Mama, gibst du uns eine Vase für die Blümchen?« bat Claudia und putzte die winzigen Erdklumpen von einem Gänseblümchen, das sie aus Versehen mit der Wurzel ausgerissen hatte.

Ute holte eine kleine Glasvase aus dem Küchenschrank und gab sie ihren Töchtern. Danach kamen Christiane und Claudia auf die Idee, für Markus einen Kuchen zu backen.

»Aber Kinder, abends wird Markus doch keinen Kuchen essen wollen«, entgegnete Ute.

»Vielleicht doch, Mama. Bitte, liebste Mama, laß uns einen Honigkuchen backen. Den ißt Markus bestimmt ganz schrecklich gerne. Außerdem hält sich Honigkuchen. Was wir heute nicht aufessen, behalten wir für morgen«, meinte Christiane, die von ihrem Vater eine sehr praktische Ader geerbt hatte.

Ute gab sich geschlagen. Sie ging mit ihren Töchtern in die Küche und setzte einen Teig an. Als der Kuchen im Ofen und das ganze Haus von einem süßen Duft durchzogen war, entschlossen sich Christiane und Claudia, für ihren großen Bruder ein Bild zu malen.

Zwei Stunden war Ruhe, dann begannen Christiane und Claudia verschiedene Kleider anzuprobieren. Sie wollten zur Feier des Tages so hübsch wie möglich aussehen.

Ab sieben Uhr stellten sie sich vor den Gartenzaun, der ihr Elternhaus umgab, und sahen mit großen hellen Augen die Straße hinunter. Aber es kam und kam kein Auto. Die Kirchturmuhr schlug halb acht, viertel vor acht. Schließlich erklangen acht tiefe, nachhallende Glockenschläge.

»Jetzt ist es schon acht Uhr, und Markus ist noch immer nicht da«, sagte Claudia ganz traurig.

In diesem Moment trat ihre Mutter aus der Haustür. Sie forderte ihre Töchter auf, gleich ins Haus zu kommen.

Christiane wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sie hatte sich so sehr auf ihren großen Bruder gefreut, und jetzt kam er nicht.

Plötzlich schrie Claudia jedoch auf.

»Da ist er, Mama, er ist da, Markus ist da.«

Es war aber nicht Markus, der in dem Auto saß, das langsam vorbeifuhr, sondern ein anderer Junge. Tief enttäuscht folgten Christiane und Claudia ihrer Mutter ins Haus.

Ute half ihnen beim Ausziehen und sang mit ihnen ein Gute-Nacht-Lied. Dann verließ sie das Kinderzimmer und kehrte zu ihrem Mann ins Wohnzimmer zurück.

»Ich verstehe das nicht«, meinte Gerhard. »Markus’ Vater hat doch gesagt, daß er um sieben Uhr in Hannover sein wird. Jetzt ist es nach halb neun Uhr. Von Hannover bis Ögela braucht man doch im Höchstfall eine Stunde. Er müßte also schon längst hier sein.«

»Vielleicht ist ihnen etwas zugestoßen, Gerhard«, erwiderte Ute ganz erschrocken.

»Das glaube ich nicht, Ute.«

In diesem Moment läutete es an der Tür. »Endlich«, stieß Ute hervor. Sie lief zur Tür und öffnete sie.

Vor ihr standen ein Junge und ein Mann. Der Mann war groß und dunkelhaarig. Er füllte fast den ganzen Türrahmen. Trotzdem sah Ute ihn nicht.

Sie hatte nur Augen für den kleinen, schmalen Jungen. Dunkelblonde Locken umrahmten ein blasses Gesicht mit großen hellen Augen, in denen ein Ausdruck von Angst zu lesen war.

»Markus, mein Markus«, flüsterte Ute und legte ihre Arme um ihren Sohn. Dabei spürte sie, wie das Kind sich ganz steif machte.

»Endlich bist du da, Markus«, sagte Ute und sah ihrem Kind in die Augen.

Markus schluckte und blickte zu Boden. Ute ergriff seine Hand. »Komm, Markus, komm rein«, bat sie mit weicher, liebevoller Stimme.

»Na, nun geh schon, Markus«, ließ sich in diesem Augenblick der dunkelhaarige Mann vernehmen.

Ute hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Hans«, sagte sie nur mit sehr leiser Stimme.

Markus’ Vater räusperte sich umständlich. »Es scheint dir gut zu gehen, Ute«, meinte er.

»Ja, Hans, sehr gut.«

Markus’ Vater fuhr sich mit der rechten Hand über sein dichtes, dunkles Haar. Die Situation war ihm ganz offensichtlich äußerst unangenehm.

»Also, Markus«, forderte er seinen Sohn auf, »geh bitte weiter. Du kannst doch nicht immer hier in der Tür stehen bleiben.«

Endlich trat Markus in die Diele des Imkerhauses. Sein Vater folgte ihm und setzte die Reisetasche, die er in der Hand gehalten hatte, auf den Fußboden.

»Es tut mir leid, daß wir etwas spät dran sind«, sagte er zu Gerhard gewandt, der sich neben seine Frau gestellt hatte.

»Es ist auch eine lange Fahrt von Frankfurt bis zu uns nach Ögela. Dürfen wir Ihnen eine Erfrischung anbieten?« fragte Gerhard auf seine ruhige, freundliche Art.

»Nein, tut mir leid, ich muß gleich weiter. Ich werde in Hamburg erwartet«, erwiderte Markus’ Vater. Er legte seinem Sohn seine schwere, große Hand auf die Schulter. »Also, Markus, du weißt Bescheid. Du kannst mir schreiben oder mich anrufen, wenn du es willst. Ansonsten benimm dich anständig. Hast du gehört?«

Markus nickte.

Sein Vater räusperte sich wieder umständlich. »Also, dann gehe ich jetzt«, verkündete er danach. Er hatte es sehr eilig, aus dem Haus zu kommen und nahm sich nicht einmal Zeit, sich richtig von Markus zu verabschieden. Er klopfte ihm nur kurz auf die Schulter, nickte Ute und Gerhard zu, und weg war er.

Die Tür war kaum hinter ihm ins Schloß gefallen, als vom oberen Treppenabsatz ein zartes Stimmchen zu hören war. »Markus, da bist du ja.«

Markus hob seinen Kopf. Verwundert blickte er auf die beiden kleinen Gestalten in den langen, geblümten Nachthemden.

Christiane und Claudia liefen die Treppe hinunter. Ihre rosigen Gesichter strahlten. »Markus, ich bin Christiane«, rief Christiane. Ihre Schwester rief: »Und ich heiße Claudia. Wir finden es ganz toll, daß wir jetzt einen großen Bruder haben, Markus.«

»Ich bin nicht dein Bruder«, antwortete Markus.

Claudia schluckte. Sie blickte hilfesuchend auf ihren Vater. Gerhard legte Markus einen Arm um die Schulter, mit dem anderen Arm zog er Claudia an sich.

»Ich verstehe, daß es nicht einfach für dich ist, plötzlich zwei Schwestern zu bekommen, Markus. Besonders, wenn es sich um zwei so wilde Hummeln wie Christiane und Claudia handelt. Aber ich bin sicher, daß ihr euch bald gut verstehen werdet. Ach, dabei habe ich dir noch gar nicht gesagt, wer ich bin. Ich bin Gerhard, der Mann von deiner Mama und der Papa von Christiane und Claudia«, erklärte Gerhard.

»Genau. Und du gehörst jetzt zu uns«, versicherte Christiane.

Markus schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er leise.

»Warum denn nicht?« stieß Christiane hervor. »Willst du nicht zu uns gehören?«

Markus schluckte. »Ich…, ich ge­höre zu niemandem«, brachte er dann hervor.

Diese Worte schnitten Ute tiefer ins Herz als alles, was sie jemals in ihrem Leben gehört hatte. Sie erkannte, wie tief verletzt ihr Sohn war, und sie schwor sich, ihn mit Liebe, mit unendlich viel Liebe und Geduld zu heilen. Mit Liebe, davon war sie überzeugt, würde sie ihm helfen, alles Schlimme zu vergessen, was er in seinem jungen Leben erfahren hatte.

»Komm, Markus, wir zeigen dir jetzt dein Zimmer«, schlug Ute vor. Sie wollte einen Arm um Markus legen. Bevor sie ihn jedoch berühren konnte, trat Markus einen Schritt zurück.

Gerhard nahm Markus’ Reisetasche hoch. Sie stiegen zum ersten Stockwerk hinauf, wo die Schlafzimmer lagen. Christiane öffnete eine Tür. »Hier wohnst du jetzt, Markus«, erklärte sie. Ihre Stimme klang schon nicht mehr ganz so heiter wie vorher.

Markus sah sich ohne besonderes Interesse um.

»Den großen Schrank nehme ich in den nächsten Tagen auseinander und bringe ihn in den Keller. Danach richten wir dein Zimmer so ein, wie du es möchtest«, versprach Gerhard. Markus gab keine Antwort.

Claudia lief zu dem Tisch, auf dem die kleine Vase mit den Gänseblümchen stand. »Guck mal, Markus, die Blümchen haben wir für dich gepflückt. Sind die nicht süß?«

Markus antwortete nicht.

»Warum sagst du denn nichts?« fragte Claudia. Ihr Gesicht drückte eine tiefe Enttäuschung aus.

»Markus hat eine lange Autofahrt hinter sich und ist sicher sehr müde«, entgegnete Ute schnell. Sie warf ih­rem Sohn einen liebevollen Blick zu. »Magst du etwas essen, Markus?« erkundigte sie sich.

»Ja, wir haben für dich einen Honigkuchen gebacken«, rief Christiane.

Markus schüttelte den Kopf. »Ich habe überhaupt keinen Hunger«, erwiderte er.

»Probier den Honigkuchen doch wenigstens einmal. Nur ein winziges Stückchen. Er schmeckt ganz toll«, versicherte Claudia.

»Aber wenn ich doch nicht mag«, erwiderte Markus.

Claudia biß sich auf die Unterlippe. »Kannst du schwimmen?« fragte sie

Markus sah sie mit großen Augen an. »Was? Schwimmen?«

»Ja. Du bist doch schon elf Jahre alt und kannst bestimmt schwimmen, nicht wahr?« erkundigte sich Claudia.

Markus schluckte. »Ich mag nicht schwimmen«, erklärte er dann.

»Was magst du denn?« stieß Christiane hervor.

»Also Kinder, jetzt laßt Markus erst einmal zur Ruhe kommen. Geht jetzt zu Bett. Es ist ohnehin schon viel zu spät für euch, Claudia und Christiane«, entschied Gerhard.

»Aber wir sind noch kein bißchen müde, Papa«, widersprach Claudia.

Gerhard hob sie auf den Arm. »Das sagst du immer. Auch wenn dir wie jetzt schon fast die Augen zufallen. Sagt Mama und Markus jetzt gute Nacht, und dann wird geschlafen.« Gerhard stellte seine kleine Tochter wieder auf den Teppich.

Claudia und Christiane umarmten ihre Mutter und gaben ihr mit gespitzten Lippen ein Gute-Nacht-Küß­chen. Danach wollten sie auch Markus ein Küßchen geben. Er sah sie ganz entsetzt an. »Ich mag das nicht«, stieß er hervor.

»Willst du nicht, daß wir dir ein Küßchen geben?« stieß Claudia hervor.

»Nein.«

Claudia schluckte. Christiane machte ein ganz betretenes Gesicht. Sie fand, daß ihr großer Bruder gar nicht so nett war, wie sie und Claudia ihn sich vorgestellt hatten. Eigentlich war er kein bißchen nett, sondern richtig garstig.

Gerhard begleitete seine beiden Töchter ins Kinderzimmer. Ute lächelte Markus zu. »Ich helfe dir, deine Tasche auszupacken, Markus«, sagte sie und öffnete den Reißverschluß von Markus’ Reisetasche. Ganz obenauf lag ein Teddy. Ute erkannte in ihm sofort den Teddy wieder, den sie Markus geschenkt hatte, als er zwei Jahre alt geworden war.

»Du hast ja noch deinen Teddy«, sagte sie ganz gerührt und nahm das Stofftier aus der Tasche. Es war ganz abgegriffen. Das linke Glasauge fehlte, und aus einem seiner Beine drang etwas Holzwolle.

Markus gab keine Antwort.

Ute streichelte den Teddy. »Ich weiß noch genau, wie du dich gefreut hast, als du den Teddy bekamst, Markus. Er mußte jede Nacht neben dir schlafen. Mein Bärlein, hast du immer gesagt«, berichtete sie mit leiser Stimme.

Markus biß sich auf die Lippe. Er stand neben dem Fenster. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von so viel Einsamkeit und Verlorenheit, daß Ute unwillkürlich die Tränen in die Augen stiegen. Mein Gott, dachte sie. Er ist doch noch ein kleiner Junge und schon so allein. Sie wischte sich verstohlen über die Augen.

In diesem Moment kam Gerhard wieder ins Zimmer. »Ah, ihr seid schon beim Auspacken«, sagte er.

Markus trat neben seine Reisetasche. »Ich kann meine Sachen alleine auspacken«, erklärte er.

»Aber ich helfe dir sehr gerne dabei, Markus«, erwiderte Ute.

»Ich kann das schon alleine«, sagte Markus noch einmal.

»Na gut. Dann sehe ich dir dabei zu. Und danach setzen wir drei uns noch ins Wohnzimmer und plaudern ein wenig«, schlug Ute vor.

Markus senkte den Kopf. »Ich möchte aber viel lieber alleine sein«, gestand er mit so leiser Stimme, daß er kaum zu verstehen war.

»Du möchtest schon schlafen, nicht wahr?« fragte Ute liebevoll. Markus nickte.

»Das verstehe ich, Markus. Komm, ich zeige dir jetzt, wo das Badezimmer ist«, erbot sich Ute.

Gerhard wünschte Markus eine gute Nacht und ging ins Wohnzimmer. Ute führte ihren Sohn ins Bad. Danach sah sie zu, wie Markus die wenigen Sachen, die er mitgebracht hatte, in den Schrank räumte.

Plötzlich preßte Markus eine Hand auf seinen Bauch und stieß einen Schmerzenslaut aus.

»Markus, was ist? Tut dir dein Bauch weh?« rief Ute.

Markus schüttelte den Kopf. »Nein, es ist schon vorbei. Ich…, ich möchte jetzt lieber alleine sein«, bat er.

»Markus, Lieber, hast du öfter Bauchschmerzen?« wollte Ute wissen.

»Nein, nie. Es ist ja auch schon vorbei«, versicherte Markus noch einmal.

»Markus, wenn dir etwas weh tut, dann sag es mir. Du kannst auch nachts zu Gerhard und mir kommen. Wir sind immer für dich da«, sagte Ute.

»Ich brauche aber niemanden«, erwiderte Markus.

Ute zögerte einen Moment, dann schloß sie Markus spontan in die Arme. »Oh, Markus. Aber ich brauche dich. Ich habe mich so sehr nach dir gesehnt, Markus. Ich habe immer an dich gedacht, die ganzen Jahre lang. Ich hab dich so lieb, ganz lieb, Markus«, brach es aus ihr hervor.

Dabei spürte sie wieder, wie Markus sich stocksteif machte. Sie ließ ihre Arme sinken. »Du weißt doch, daß ich dich liebhabe, nicht wahr?« flüsterte sie.

Statt einer Antwort senkte Markus wieder den Kopf und sah zu Boden. Nach ein paar Sekunden fragte er: »Darf ich jetzt alleine sein?«

»Markus…«, begann Ute wieder hilflos.

Der Junge schluchzte trocken auf, dann wandte er sich heftig dem Fenster zu und rief mit tränenerstickter Stimme: »Laßt mich doch, laßt mich doch alleine.«

Ute spürte, wie ihr Herz schwerer und schwerer wurde. Schließlich verließ sie das Zimmer. Mit langsamen Schritten stieg sie die Treppe zum Erdgeschoß des Hauses hinunter und trat zu ihrem Mann ins Wohnzimmer.

*

Gerhard nahm sie zärtlich in die Arme. Er spürte, wie verzweifelt sie war. Ute lehnte ihren Kopf gegen seine breite Brust. »Oh, Gerhard, was hat Hans nur aus Markus gemacht. Markus war früher ein so liebevolles, anhängliches Kind, so sanft und so zärtlich«, sagte sie.

Gerhard streichelte ihr Haar. »Es ist ganz offensichtlich, daß Markus seelisch schwer geschädigt ist, Ute. Wenn Markus jedoch merkt, daß wir ihn lieben, wird er Vertrauen zu uns finden. Wir müssen ihm nur viel Zeit geben«, antwortete Gerhard.

Ute sah zu ihrem Mann auf. »Ich habe auf einmal solche Angst, Gerhard«, gestand sie.

»Glaube mir, Liebes, in ein paar Wochen sieht alles ganz anders aus«, versicherte Gerhard und fuhr fort, seine Frau zu streicheln.

»Wie zart und wie schmal er ist, Gerhard. Er sieht gar nicht aus wie ein Elfjähriger«, fuhr Ute fort.

Gerhard lächelte. »Wir werden ihn mit Honig und vielen anderen guten Sachen hochpäppeln«, gab er zur Antwort.

»Ich hatte eben den Eindruck, daß er Magenschmerzen hat, Gerhard«, berichtete Ute.

»Das kommt sicher von der Aufregung, Ute«, entgegnete Gerhard.

»Gerhard, ich beneide dich um deine Sicherheit und Zuversicht! Das Gute ist, daß du mich damit ansteckst«, erwiderte Ute. Um ihren schöngeschwungenen Mund bildete sich ein kleines Lächeln.

Gerhard küßte sie auf die hohe, klare Stirn. »Ich habe dich sehr, sehr lieb«, gestand er.

»Ich dich auch.« Sie schwiegen eine Weile. Plötzlich blitzte es in Utes Augen auf. »Weißt du was? Ich stricke für Markus einen Pullover. Stricken ist für mich wie eine beruhigende Medizin, und außerdem hat Markus so wenige Sachen zum Anziehen mitgebracht.«

Sie lief zu ihrem Korb, in dem sie ihre Wolle aufbewahrte und wählte aus den verschiedenen Strängen rote, blaue und gelbe Wolle aus. Der Pullover, den sie für Markus stricken wollte, sollte sehr farbenfroh werden.

Noch am gleichen Abend begann sie mit der Arbeit. Gerhard steckte sich noch eine Pfeife an und las seine Zeitung zu Ende. Um elf Uhr löschten sie das Licht und stiegen die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinauf.

Vor der Tür, hinter der Markus schlief, blieb Ute stehen. »Ich will noch einmal nach ihm sehen«, sagte sie mit flüsternder Stimme. Vorsichtig, um Markus nicht zu wecken, drückte sie die Türklinke hinunter. Auf Zehenspitzen trat sie neben sein Bett. Gerhard folgte ihr.

Ein Lichtschein, der vom Flur her in Markus Zimmer drang, fiel schräg auf sein Bett. Markus hatte die Bettdecke weggeschoben und die Beine an seinen Körper gezogen. Sein Atem ging stoßweise und unregelmäßig. Seine dunkelblonden Locken klebten schweißnaß an seiner Stirn.

Plötzlich kam aus seinem Mund ein Stöhnen. Seine Hände krallten sich in seinen Bauch. Auf einmal begann er zu wimmern. Noch immer hielt er die Augen geschlossen.

»Er scheint Bauchschmerzen zu haben«, sagte Gerhard flüsternd zu seiner Frau.

»Ja«, hauchte Ute. Sie kniete neben Markus Bett nieder und legte ihre Hände auf seinen Bauch. Daß Hände heilen konnten, war für sie keine Frage. Mit langsamen Bewegungen strich sie über die Bauchdecke ihres Sohnes, hinter der es rumorte.

Markus schien sich tatsächlich zu entspannen. Er streckte die Beine von sich. Auf einmal fuhr er jedoch in die Höhe. Mit weitaufgerissenen Augen starrte er auf seine Mutter und Gerhard. Es war ganz offensichtlich, daß er im ersten Moment gar nicht wußte, wo er war.

Ute legte ihre Arme um ihn. »Ruhig, mein Liebling, sei ganz ruhig. Es ist alles gut. Du bist bei mir und Gerhard«, raunte sie ihm zu.

Markus sprang aus dem Bett. Er begann plötzlich am ganzen Körper zu zittern. Gleich darauf krümmte er sich zusammen und stürzte an Gerhard vorbei aus dem Zimmer ins Bad.

Gerhard und Ute folgten ihm. Sie sahen, wie Markus sich übergab. Ute hielt seine schweißnasse Stirn. Tränen liefen in Bächen über Markus Gesicht. Vor lauter Mitleid traten auch Ute die Tränen in die Augen.

»Ist es jetzt besser?« fragte sie mit sehr leiser Stimme, als Markus alles herausgebrochen zu haben schien.

Er nickte matt und ließ sich wieder ins Bett bringen. Ute breitete die Bettdecke über ihn. Markus war so erschöpft, daß ihm sofort die Augen zufielen. Ute blieb noch eine halbe Stunde neben ihm sitzen. Dann folgte sie ihrem Mann ins Schlafzimmer.

Ruhe fand sie jedoch nicht. Als Gerhard schon lange tief und fest neben ihr schlief, lauschte sie noch immer, ob aus Markus Zimmer nicht ein alarmierendes Geräusch kam.

Gegen drei Uhr schlief sie endlich ein. Sie erwachte von dem Lärm zuschlagender Türen und sprang sofort aus dem Bett. Gerhard drehte sich nur kurz auf die andere Seite und schlief weiter. Ute verließ das Schlafzimmer und trat auf den Flur. Die Tür zu Markus’ Zimmer stand offen. Markus lag nicht in seinem Bett.

»Markus«, sagte Ute und wollte die Klinke der Badezimmertür niederdrücken. Dabei stellte sie fest, daß die Tür verschlossen war. Ute hörte, wie Markus im Bad stöhnte. Die Wasserspülung lief, dann kam wieder ein Stöhnen und Wimmern.

»Markus, mach die Tür auf. Ich möchte dir doch helfen«, bat Ute. Es dauerte jedoch noch mehrere Minuten, bis Markus endlich auf sie hörte.

Mit Erschrecken sah Ute, daß er wie Espenlaub zitterte. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. »Mein Bauch«, wimmerte er.

»Ach, mein armer Schatz«, sagte Ute ganz entsetzt. Sie führte Markus, der gebückt ging, in sein Schlafzimmer. Dort half sie ihm, den schweißnassen Schlafanzug auszuziehen und einen Schlafanzug von Gerhard anzuziehen. Markus war so erschöpft, daß er alles mit sich geschehen ließ.

Als er im Bett lag, lief Ute in die Küche und bereitete ihm einen Fencheltee, in den sie einen Teelöffel Lindenblütenhonig rührte. Markus trank den Tee mit kleinen Schlückchen. Danach schien es ihm wirklich etwas besser zu gehen. Er schlief wieder ein.

Auch Ute ging ins Bett zurück. Die Türen ließ sie jedoch weit offen stehen. Obwohl ihr fast die Augen zufielen, konnte sie nicht wieder einschlafen.

Gegen sieben Uhr morgens, als die Vögel im Garten sangen, vernahm Ute aus Markus’ Zimmer wieder ein Stöhnen. Sie lief sofort zu ihm. Markus saß mit wachsbleichem Gesicht im Bett. Er atmete schwer. »Mein Bauch, mein Bauch«, wimmerte er.

Ute war so verzweifelt, daß sie nicht mehr wußte, was sie machen sollte. Plötzlich hörte sie Schritte auf dem Flur, und gleich darauf erschien Gerhard. Mit wenigen Worten berichtete Ute ihrem Mann, was sich während der Nacht zugetragen hatte.

»Warum hast du mich denn nicht geweckt, Liebes?« sagte Gerhard. Er hob Markus auf den Arm. Markus ließ seinen Kopf auf Gerhards breite Schultern sinken. Er war nur noch ein Häufchen Elend.

Gerhard blickte auf seine Frau. »Das ist mehr als eine Magenverstimmung, Ute. Wir müssen sofort zur Kinderklinik Birkenhain fahren«, entschied er.

In diesem Moment war das Tapsen kleiner nackter Füße zu hören. Sekunden später traten Christiane und Claudia ins Zimmer. »Ist Markus krank? Was hat er denn?« stieß Christiane hervor.

»Das wissen wir auch nicht. Christiane, Claudia, ihr seid doch meine großen, vernünftigen Mädchen. Papa und ich fahren mit Markus in die Kinderklinik Birkenhain. Zieht euch an und spielt etwas Schönes, bis wir zurückkommen«, bat Ute.

»Wann kommt ihr denn zurück, Mama?« wollte Claudia wissen.

»Bald, mein Schatz. Papa und ich können uns doch auf euch verlassen, nicht wahr?«

»Klar, Mama. Wir sind ja schon groß«, erwiderte Christiane. Sie warf einen Blick voller Mitleid auf Markus. »Armer Markus«, murmelte sie.

*

Die Kinderärztin Dr. Hanna Martens hatte nachts wunderbar tief und fest geschlafen. Mit dem ersten Zwitschern der Vögel war sie jedoch aufgewacht.

Hanna warf einen Blick auf den zierlichen Wecker, der neben ihrem Bett auf einem eleganten Tischchen stand. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Trotzdem entschloß sich Hanna aufzustehen. Sie wollte die Zeit bis zum Frühstück nutzen, um eine neue Fachzeitschrift für Kinderheilkunde zu studieren.

Sie duschte sich und zog einen bequemen Jogging-Anzug an. Im Doktorhaus war noch alles still. Sogar Hannas Mutter, die sonst immer sehr früh aufzustehen pflegte, schlief an diesem Sonntagmorgen noch.

Hannas Haushälterin Jolande Rilla, die wegen ihrer roten Haare von allen nur »Füchsin« genannt wurde, war ebenfalls nicht zu hören und nicht zu sehen.

Auch Hannas Bruder, der Chefarzt und Kinderchirurg Dr. Kay Martens, der im Doktorhaus eine eigene Wohnung hatte, schien sich einmal richtig auszuschlafen.

Hanna bereitete sich in der Küche einen Kaffee und machte es sich danach im Wohnzimmer bequem. Während sie den Kaffee trank, las sie in der Fachzeitschrift.

Von Zeit zu Zeit sah sie hoch und warf einen Blick durch die breiten Fenster in den Klinikpark. Zwischen Büschen und Bäumen war das zur Klinik angebaute Birkenschlößchen zu sehen. Das dreistöckige Gebäude mit den zwei Giebeltürmen war so anmutig und harmonisch gebaut, daß es auch nicht im entferntesten an Krankheit und Leid erinnerte.

Auf einmal bemerkte die Kinderärztin einen weißen Kombiwagen, der durch den Park auf die Klinik zufuhr. Hanna erhob sich von ihrem Sessel. Sie fragte sich, was das für ein Auto sein mochte.

Büsche verdeckten ihr für Sekunden die Sicht. Als der Wagen jedoch wieder zum Vorschein kam, sah Hanna, daß der hintere Teil mit einem großen, gelben Bienenkorb bemalt war.

»Das muß das Auto von Imker Behnsen sein«, schoß es Hanna durch den Kopf. Sie beschloß, der Sache nachzugehen und eilte quer durch den Klinikpark vom Doktorhaus zur Kinderklinik.

Im gleichen Moment, als sie dort ankam, hob Gerhard Behnsen einen Jungen, den Hanna auf neun Jahre schätzte, aus dem Wagen. Der Kopf des Kindes lag auf der Schulter des Imkers. Es hielt seine Lippen fest zusammengepreßt. Das Gesicht war wachsbleich.

Ute Behnsen strich dem Jungen verzweifelt über das schweißnasse Haar. »Frau Dr. Martens, wie gut, daß Sie da sind«, stieß sie hervor. »Mein Sohn ist krank. Wie kann so etwas nur passieren? Was kann das nur sein?«

»Das werden wir bald wissen, Frau Behnsen«, erwiderte Hanna. Sie erkannte mit einem Blick, wie schlimm es um den Jungen stand. Trotzdem verlor sie nicht die Ruhe.

»Kommen Sie bitte, Frau und Herr Behnsen«, forderte sie Ute und Gerhard auf.

Martin Schriewers, der von der Aufnahme aus die kurze Szene beobachtet hatte, öffnete ihnen die Eingangstür zum Klinikgebäude. Hanna nickte ihm kurz zu. Danach durchquerte sie mit schnellem Schritt die große Eingangshalle der Kinderklinik, ging am Aufzug und am Treppenaufgang vorbei und hielt vor der Glastür, die zum medizinischen Trakt der Klinik führte, kurz an.

»Bitte«, sagte sie zu Gerhard Behnsen und stieß die Tür auf. In diesem Moment kam Oberschwester Elli Gaus aus einem der Ärztezimmer. Die erfahrene Schwester erfaßte mit einem Blick, daß der kleine schmale Junge sehr krank und daß keine Zeit zu verlieren war.

»Guten Morgen, Schwester Elli«, sagte Hanna knapp, »richten Sie bitte Dr. Olegra aus, daß er sofort in die Notfallaufnahme kommen möchte.«

»Ja, Frau Doktor.« Die Oberschwester eilte davon. Der Neurologe Dr. Camillo Olegra hatte Nachtdienst gehabt. Schwester Elli wußte, daß er auf der Krankenstation war, die in der ersten Etage der Kinderklinik lag.

Dr. Hanna Martens führte Gerhard und Ute Behnsen in die Notaufnahme der Kinderklinik. Dort bat sie den Imker, das Kind auf ein Untersuchungsbett zu legen.

Schnell und routiniert, jedoch ohne Hast begann sie die Herztöne abzuhören. Die Herzfrequenz war erhöht. Das hatte die Ärztin jedoch erwartet.

»Was ist Ihnen an dem Jungen in letzter Zeit aufgefallen?« erkundigte sie sich bei Gerhard und Ute Behnsen.

Utes Lippen zitterten. »Mein Sohn lebt erst seit gestern abend bei uns.« Als sie den erstaunten Blick der Ärztin auffing, brach sie ab und schlug ihre Hände vor ihr Gesicht.

Gerhard Behnsen legte einen Arm um die zuckenden Schultern seiner Frau. »Der Junge mußte sich heute nacht heftig übergeben und hatte nach dem Bericht meiner Frau Durchfall«, erklärte er mit bewundernswert beherrschter Stimme.

»Wissen Sie, was der Junge gestern gegessen hat?« wollte die Ärztin wissen.

»Das können wir Ihnen leider nicht sagen, Frau Doktor. Bei uns hat er gar nichts zu sich genommen.«

In diesem Moment begann Markus zu würgen. Dabei erfaßte ein Schüttelfrost seinen schmalen Körper.

Ute riß ihre Hände vom Gesicht und begann wieder, seinen Kopf zu streicheln. In ihren Augen flackerte die Angst. »Frau Doktor, bitte helfen Sie meinem Kind«, flehte sie.

Bevor Hanna noch eine Antwort geben konnte, trat der Neurologe Dr. Camillo Olegra in den Raum. Er war ein sehr großgewachsener Mann mit dunklen Augen und schwarzen Haaren, dem die italienische Abstammung anzusehen war. Seine Ausstrahlung war jedoch keineswegs südländischspontan, sondern eher abwartend und distanziert.

Hanna und Dr. Olegra wechselten einen raschen Blick. »Guten Morgen, Herr Dr. Olegra. Ich hatte leider noch keine Zeit, eine medizinisch-chemische Untersuchung durchführen zu lassen. Meiner Meinung nach spricht jedoch alles dafür, daß es sich um eine infektiöse Durchfallerkrankung handelt«, erklärte Dr. Hanna Martens ihrem Kollegen mit knappen Worten.

»Demnach haben Sie vor, einen Stuhlausstrich auf Leukozyten zu untersuchen«, meinte der Arzt.

»Ja. Wenn Leukozyten vorhanden sind, ist das ein zusätzlicher Hinweis auf eine bakterielle Entzündung«, bestätigte Hanna.

»Ich bin ganz Ihrer Meinung, Frau Dr. Martens. Wenn es Ihnen recht ist, werde ich inzwischen katheterisieren.«

»Dafür wäre ich Ihnen dankbar, Herr Dr. Olegra.« Hanna ging zum Telefon. Bevor sie den Hörer abnahm, wandte sie sich an Ute und Gerhard Behnsen. »Frau und Herr Behnsen, sind Sie damit einverstanden, wenn wir Ihren Sohn vorerst in der Klinik behalten?« erkundigte sie sich.

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens«, antwortete Ute sofort. Ihr Mann fügte hinzu: »Wir haben vollstes Vertrauen zu Ihnen, Frau Doktor.«

»Vielen Dank.« Um Hannas Mund bildete sich der Anflug eines Lächelns. Gleich darauf wurde sie wieder ernst. Sie wählte eine dreistellige Telefonnummer. Gleich darauf meldete sich am anderen Ende der Leitung Oberschwester Elli. Hanna bat sie, ein Einzelzimmer für Markus herzurichten und die Krankenpfleger Karsten Famula und Jan Sounders in die Notfallaufnahme zu schicken.

Danach ging alles sehr schnell. Hanna nahm Markus Blut ab und ging gleich damit ins Labor. Die beiden Krankenpfleger brachten Markus, der sich auf der Trage zusammenkrümmte, auf die Krankenstation der Klinik. Dr. Olegra begleitete sie. Ute und Gerhard Behnsen wurden von Schwester Tina gebeten, im Besucherraum das Ergebnis der Untersuchungen abzuwarten. »Darf ich denn nicht zu meinem Sohn?« bat Ute die Schwester.

Schwester Tina wurde unsicher. »Da hätte ich erst die Frau Doktor fragen müssen. Jetzt ist die Frau Doktor aber im Labor. Es ist vielleicht wirklich besser, wenn Sie im Besucherzimmer warten«, erwiderte sie.

»Die Schwester hat ganz recht, Ute«, mischte sich Gerhard ein. »Du könntest Markus jetzt doch nicht helfen, sondern würdest dich nur noch mehr aufregen. Setz dich jetzt ruhig in den Besucherraum. Ich fahre schnell nach Hause, um nach Christiane und Claudia zu sehen. In spätestens einer halben Stunde bin ich wieder bei dir«, versprach er.

Ute nickte. Ihr Mann begleitete sie in das Wartezimmer der Kinderklinik, dann fuhr er zu ihren Töchtern.

Für Ute begann eine quälende Warterei. Nie war ihr die Zeit so lang vorgekommen wie an diesem Morgen. Sie fragte sich, warum Gerhard gar nicht wiederkam. Ob zu Hause vielleicht etwas passiert war? Christiane und Claudia waren es nicht gewohnt, alleine zu sein. Was konnten sie nicht alles angestellt haben, überlegte Ute.

Aber das Allerschlimmste…! Was war mit Markus? Infektiöse Durch­fall­erkrankung, was konnte das nicht alles bedeuten?

Ute begann unruhig in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Die Angst um ihre geliebten Kinder nahm ihr schier den Atem.

*

Dr. Hanna Martens kam mit schnellem Schritt aus dem Labor. Im gleichen Augenblick, als sie die große Eingangshalle der Klinik durchquerte, trat Gerhard Behnsen durch die Haupteingangstür.

»Frau Dr. Martens, haben Sie schon das Untersuchungsergebnis?« fragte er.

»Mehr oder weniger, Herr Behnsen.« Hanna öffnete die Tür zum Besucherzimmer. Sie und Gerhard traten ein. Ute sah ihnen mit weitaufgerissenen Augen entgegen.

»Frau Behnsen, Sie dürfen sich nicht so aufregen«, sagte Hanna mit warmer Stimme. »Ihr Sohn wird bald wieder gesund sein. Er leidet tatsächlich an einer infektiösen Durchfallerkrankung, die aber weniger schlimm ist, als ich zuerst vermutet hatte. Die Ursache der Erkrankung ist mit sehr großer Wahrscheinlichkeit eine Nahrungsmittelvergiftung.«

»Dann dürfen wir Markus also mit nach Hause nehmen? Demnach muß Markus nicht in der Klinik bleiben?« stieß Ute hervor.

»Nein, Frau Behnsen, das halte ich nach den Untersuchungsergebnissen nicht mehr für erforderlich«, antwortete Hanna.

»Sie ahnen ja nicht, wie erleichtert ich bin«, erwiderte Ute.

Gerhard legte einen Arm um die Schultern seiner Frau. »Wie vorhin schon gesagt, lebt Markus erst seit gestern abend bei uns, Frau Doktor«, sagte er.

Als Hanna keine Frage stellte, sondern ihn nur ruhig anblickte, fuhr er fort: »Markus ist der Sohn meiner Frau aus erster Ehe. Die Ehe ging auseinander, als Markus drei Jahre alt war. Markus’ Vater wollte gleich danach wieder heiraten. Der Scheidungsrichter meinte damals, es sei für Markus besser, wenn er gleich wieder in eine Familie käme. Deshalb sprach er Markus seinem Vater zu.«

»Und wie ist es dem Jungen bei seinem Vater ergangen?«fragte die Ärztin mit leiser Stimme.

»Genau das wissen wir eben nicht, Frau Doktor«, rief Ute aus. »Ich habe Markus seit acht Jahren nicht gesehen. Mein Mann hat jeden Kontakt zwischen mir und meinem Sohn unterbunden.«

Ute biß sich auf die Unterlippe. In ihrer Stimme schwangen Tränen mit, als sie hinzufügte: »Pakete, die ich Markus schickte, Briefe, Geburtstagsüberraschungen… Alles hat Markus’ Vater zurückgehen lassen. Natürlich stand es mir zu, Markus von Zeit zu Zeit zu sehen. Ich wollte das Kind jedoch nicht in einen Zwiespalt bringen. Deshalb habe ich darauf verzichtet«, berichtete Ute und wischte eine Träne aus ihrem Augenwinkel.

Gerhard zog sie enger an sich. »Gestern morgen rief Markus’ Vater an. Er werde nicht mehr mit dem Jungen fertig, hat er meiner Frau erklärt. Abends um acht Uhr hat er Markus bei uns abgeliefert. Jetzt wissen Sie alles, Frau Doktor«, schloß Gerhard seinen Bericht.

Hanna schwieg einen Moment. Plötzlich glitt ein Lächeln über ihr Gesicht. »Ich bin sicher, daß Markus nirgendwo besser aufgehoben ist als bei Ihnen. Sie werden ihm helfen, sich zu einem seelisch und körperlich gesunden Menschen zu entwickeln. Davon bin ich ganz fest überzeugt«, versicherte sie.

Ute betupfte noch einmal mit einem Taschentuch ihre feuchten Augen. »Sie ahnen nicht, wie wohl es mir tut, daß Sie das gesagt haben, Frau Doktor.«

Hanna reichte ihr ganz spontan die Hand. »Wenn Sie mich brauchen, bin ich immer für Sie da, Frau Behnsen. Kommen Sie zu mir oder rufen Sie mich an, wann immer es nötig ist. Auch nachts.«

»Auf das Angebot werden wir hoffentlich nie zurückkommen müssen, Frau Doktor Martens«, entgegnete Gerhard.

Hanna lachte. »Wenn Sie möchten, bringe ich Sie jetzt zu Markus«, erklärte sie. Sie öffnete die Tür des Besucherzimmers und führte Ute und Gerhard zur Krankenstation.

*

Hanna freute sich auf ein gutes Frühstück, als sie zum Doktorhaus zurückging. Ihr Schritt war schnell und jugendlich. Der Frühjahrswind, der von der Heide her kam, wehte ihre schulterlangen, blonden Haare zurück. Auf ihrem zarten, klaren Gesicht lag ein rosiger Schimmer.

Wer sie nicht kannte, hätte sie in ihrem Jogging-Anzug für eine junge, unbekümmerte Frau gehalten, die gerade von einem Waldlauf zurückkam. Wie eine dreißigjährige Ärztin, die auf ihren schmalen Schultern die Last einer großen Verantwortung trug, sah sie wirklich nicht aus.

Hanna fiel ein, daß die Haushälterin ihres Bruders, die resolute und tüchtige Hella Sanders, ein paar Tage Urlaub genommen hatte. Wenn sie Glück hatte, überlegte Hanna, saßen ihr Bruder und ihre Mutter noch am Frühstückstisch.

Als Hanna ins Doktorhaus trat, atmete sie mit Genuß den Duft von frischgebrühtem Kaffee ein. »Guten Morgen, liebe Füchsin«, rief sie ihrer rothaarigen Haushälterin Jolande Rilla zu, die in der Küche beschäftigt war.

»Guten Tag, Hanna. Du wirst schon vermißt«, erwiderte Jolande Rilla und lächelte der Ärztin zu.

Hanna ging in ihr Wohnzimmer, in dem eine gemütliche Eßecke eingerichtet war. Ihre Mutter und ihr Bruder waren tatsächlich noch beim Frühstücken.

»Hanna, wo kommst du denn jetzt her? Wir haben schon wer weiß wie lange mit dem Frühstück auf dich gewartet, aber schließlich haben wir dann doch angefangen«, berichtete Bea Martens.

Hanna gab ihr einen Kuß auf die Wange. »Das war ganz richtig, Mutti«, erwiderte Hanna und warf ihrem Bruder einen lächelnden Blick zu.

Dr. Kay Martens war sechs Jahre älter als seine Schwester. Schwarzes, welliges Haar umrahmte ein markantes Gesicht. »Hast du schon einen Waldlauf gemacht, Hanna?« erkundigte er sich.

»Nein, Kay, aber du bringst mich auf eine Idee. Ich sollte wieder mit dem Joggen anfangen«, erwiderte Hanna.

»Da komme ich mit«, sagte Kay ganz spontan.

»Abgemacht. Morgen früh um sechs Uhr«, meinte Hanna.

»So früh?«

»Um sechs Uhr ist die beste Zeit. Dann sieht uns wenigstens niemand, wenn wir über die weißen Heidewege keuchen«, erklärte die Ärztin.

»So unsportlich bin ich ja nun nicht, Hanna«, protestierte der Arzt.

»Ich wollte dich auch nur provozieren, Kay. Bleibt es also dabei? Morgen früh um sechs Uhr?« fragte Hanna.

»Punkt sechs Uhr bin ich morgen früh bereit«, versprach Kay.

Jolande Rilla goß Hanna frischgebrühten Kaffee in die dickbauchige Tasse. Hanna trank einen Schluck und bestrich dann ein Stück Vollkornbrot mit Butter und goldfarbenem Lindenblütenhonig.

»Der Honig ist wirklich ganz köstlich«, sagte sie.

»Und außerdem sehr gesund«, fügte Bea Martens lächelnd hinzu. »Wie hat Imker Behnsen doch gesagt? Ein Mensch, der regelmäßig Honig ißt, kann gar nicht krank werden, denn Honig enthält alles, was der Mensch braucht.«

Hanna wurde plötzlich ernst. »Ich habe heute morgen den Sohn von Ute Behnsen behandelt. Deshalb war ich auch nicht rechtzeitig zum Frühstück da«, berichtete sie.

»Den Sohn von Ute Behnsen? Aber ich dachte, Ute und Gerhard Behnsen haben nur zwei Töchter, Christiane und Claudia«, entgegnete Bea ganz erstaunt.

»Der Junge ist aus der ersten Ehe von Frau Behnsen, Mutti.« Hanna nahm einen Schluck Kaffee. Danach berichtete sie ihrer Mutter und ihrem Bruder, was sie gerade von Ute und Gerhard Behnsen erfahren hatte.

Bea Martens war die Güte und Sanftheit in Person. Als sie jedoch den Bericht ihrer Tochter gehört hatte, war sie voller Empörung und Zorn. »Das arme Kind«, rief sie aus, »acht Jahre lang war es diesem Rabenvater ausgesetzt.«

»Aber Mutter, vielleicht war der Mann gar nicht so rabenväterlich«, wandte Kay ein.

»O doch, das war er, Kay«, entgegnete seine Mutter mit Bestimmtheit. »Nur ein Rabenvater handelt, wie dieser Mann es getan hat. Er hat seinem Kind die Mutter genommen. Stell dir doch vor, was es für einen kleinen Jungen bedeutet, nach ein paar Jahren der Nestwärme von der Mutter weggerissen zu werden.«

»Ja, das ist furchtbar, Mutter. Ich möchte Markus’ Vater ja auch keineswegs entschuldigen. Ich wollte nur sagen, daß er doch auch an seinem Sohn gehangen haben muß. Sonst hätte er Markus doch gleich seiner Mutter überlassen.«

»Ich glaube allerdings, daß er dabei mehr an sich als an das Kind gedacht hat, Kay«, entgegnete Hanna.

»Der Meinung bin ich auch, Hanna. Ich kann nur noch einmal sagen, daß mir der kleine Markus ganz entsetzlich leid tut«, erklärte Bea mit Nachdruck.

Kay blickte auf seine Schwester. »Was war denn nun heute morgen mit Markus? Weshalb haben der Imker und seine Frau ihn in die Klinik gebracht, Hanna?« wollte Kay wissen.

»Markus hat eine Nahrungsmittelvergiftung. Wo die genau herrührt, kann ich nicht sagen, Kay. Ute und Gerhard Behnsen wissen nicht, was Markus gestern zu sich genommen hat«, antwortete Hanna.

»Eine Nahrungsmittelvergiftung, das hört sich ja schlimm an«, meinte Bea.

»Zuerst sah es auch wirklich ganz schlimm aus, Mutter«, bestätigte Hanna. »Ich dachte natürlich sofort an Salmonellose. Dr. Olegra und ich haben sofort die notwendigen Un­tersuchungen durchgeführt. Zum Glück konnten wir nachweisen, daß die Nahrungsmittelvergiftung nicht durch Salmonellen verursacht wurde.«

»Wie war denn der allgemeine Zustand des Kindes, Hanna?« erkundigte sich Kay.

»Gar nicht gut, Kay. Im ersten Moment dachte ich sogar, der Kleine sei im Koma. Ja, ich hielt ihn tatsächlich für bewußtlos, so matt lag sein Köpfchen auf der Schulter von Gerhard Behnsen«, erwiderte Hanna.

»Wie alt ist Markus eigentlich, Hanna?« fragte Bea. Ihr Gesicht drückte tiefes Mitleid aus.

»Elf Jahre, Mutter. Aber er sieht wesentlich jünger aus«, berichtete Hanna.

Bea schüttelte den Kopf und seufzte tief auf. »Wenn ich an die kleinen Pummelchen Christiane und Claudia denke, kann ich das alles gar nicht fassen«, sagte sie. »Die beiden Mädchen strotzen doch vor Gesundheit.«

»Meiner Meinung nach sollten wir den Jungen ganz unabhängig von der Nahrungsmittelvergiftung einmal gründlich untersuchen Hanna«, schlug Kay vor.

»Daran habe ich auch schon gedacht, Kay«, stimmte die Kinderärztin zu.

In diesem Moment erschien die Haushälterin Jolande Rilla. »Aber Hanna, du hast ja deinen Kaffee kalt werden lassen. Und gegessen hast du auch kaum etwas. Dabei ist der Honig so köstlich. Und so gesund«, fügte sie hinzu.

Hanna betrachtete sie lächelnd. »Da hast du ganz recht, Füchsin. Ist denn noch etwas heißer Kaffee in der Kanne?«

»Ja. Ich gebe dir eine neue Tasse.«

»Das ist nicht nötig, Füchsin«, erwiderte Hanna.

»Doch, Hanna, Kaffee muß richtig heiß sein«, entgegnete Jolande Rilla. Sie nahm Hannas Kaffeetasse, brachte sie in die Küche und kam gleich darauf mit einer neuen Tasse zurück, in die sie frischgebrühten Kaffee goß.

Kay faltete seine Serviette zusammen. »Hanna, was ich dich noch fragen wollte«, begann er.

Seine Mutter legte ihm jedoch schnell eine Hand auf den Arm. »Nun laß Hanna erst einmal ganz in Ruhe frühstücken, Kay. Sonst wird ihr Kaffee wieder kalt, und dann bekommt sie es mit der Füchsin zu tun.«

*

Markus hatte bis nachmittags geschlafen. Als er gegen vier Uhr die Augen aufschlug, standen seine Mutter, Gerhard, Dr. Hanna Martens und Bea Martens um sein Bett herum.

»Bin ich noch immer im Krankenhaus?« stieß Markus hervor und starrte dabei auf Hanna.

»Nein, Markus, du bist zu Hause«, antwortete Ute. Sie legte ihrem Sohn ganz leicht eine Hand auf die Stirn.

Hanna lächelte Markus zu. »Ich habe mit meiner Mutter einen Spaziergang zum Forsthaus gemacht. Auf dem Rückweg kam ich plötzlich auf die Idee, nach dir zu sehen. Ich finde, du siehst schon viel besser aus als heute morgen«, erklärte sie.

Markus schluckte. Auf einmal entdeckte er seinen abgegriffenen Teddy neben seinem Kopfkissen. In seine Wangen stieg heiße Röte. Er schämte sich ganz offensichtlich, weil alle sahen, daß er mit seinem Teddy schlief.

Ute strich im zärtlich über das Haar. »Du bist bestimmt durstig, Markus. Soll ich dir einen Fencheltee kochen? Möchtest du vielleicht einen Zwieback essen?«

Markus schüttelte den Kopf. »Ich habe keinen Durst und auch keinen Hunger.« Er blickte in die Runde und fügte etwas leiser hinzu: »Ich…, ich mag das nicht.«

»Was magst du nicht, Markus?« erkundigte sich Gerhard.

»Daß…, daß so viele Leute hier sind. Ich…, ich möchte lieber alleine sein«, antwortete Markus.

»Das kann ich gut verstehen, Markus. Ich habe auch nicht gerne so viel Besuch, wenn ich mich nicht gut fühle«, erwiderte Bea mit ihrer warmen Stimme.

Hanna lächelte Markus zu. »Ich freue mich auf jeden Fall, daß du auf – dem Weg der Besserung bist, Markus. Bevor du wieder einschläfst, solltest du aber wirklich etwas trinken. Wenn du nichts essen magst, ist das nicht so schlimm. Durch deine Erkrankung hast du aber sehr viel Flüssigkeit verloren, und die möchte dein Körper ganz schnell wiederhaben.«

Markus sah mit großen Augen zu Hanna auf. Er sagte jedoch nichts.

Hanna lächelte ihm noch einmal zu. Ihre Mutter strich Markus mit liebevoller Geste über die Wangen und reichte Ute dann die Hand. »Auf Wiedersehen, Frau Behnsen. Und alles Gute für Sie und Ihren Jungen.«

»Auf Wiedersehen, Frau Martens. Es war sehr nett von Ihnen, daß Sie und Ihre Tochter vorbeigekommen sind«, antwortete Ute mit großer Herzlichkeit.

Gerhard begleitete die Gäste zur Tür. Ute setzte sich neben Markus auf den Bettrand und zog seine Bettdecke etwas höher. »Jetzt mußt du ganz schnell wieder gesund werden, Markus. Wir wollen dir doch zeigen, wie schön es bei uns in Ögela ist«, sagte sie.

Markus gab keine Antwort.

Ute strich ihm das Haar zurück. »Wie ist es, mein Kleiner, magst du nicht doch einen Fencheltee trinken?« wollte sie wissen.

Markus schüttelte den Kopf.

»Soll ich dir ein schönes Buch bringen? Ich lese dir auch gern etwas vor. Soll ich das?« fuhr Ute fort.

»Nein.«

»Womit kann ich dir denn eine Freude machen, mein Schatz?«

Markus schluckte. »Ich möchte alleine sein«, flüsterte er.

»Magst du es nicht, wenn ich bei dir bin?«

Markus schüttelte wieder den Kopf.

»Soll ich denn weggehen?«

Markus nickte und steckte seinen Teddy unter die Bettdecke.

Ute legte eine Hand auf Markus’ Arm. Sie suchte nach einem Wort, daß Markus zeigen sollte, wie sehr sie ihn liebte. Bevor sie es jedoch fand, schlüpfte Markus zu seinem Teddy unter die Bettdecke.

Sekunden später trat Gerhard ins Zimmer. »Was ist denn hier los?« fragte er.

Ute erhob sich von der Bettkante. »Markus möchte alleine sein«, erklärte sie ihrem Mann mit traurigem Gesicht.

Gerhard ging neben Markus’ Bett und legte seine rechte Hand auf die Stelle, unter der sich die Bettdecke am höchsten wölbte. »Markus, willst du dich verstecken?«

»Ich möchte alleine sein«, rief Markus.

»Also gut, dann gehen deine Mama und ich jetzt aus dem Zimmer«, antwortete Gerhard mit lauter Stimme.

Markus gab keine Antwort. Gerhard ergriff den Arm seiner Frau. »Komm, Ute. Er wird es sich bald anders überlegen«, versicherte er.

Ute und Gerhard stiegen die Treppe hinunter. Als sie in die Diele kamen, blieb Ute stehen und blickte zum ersten Stockwerk hinauf. Ihr Gesicht drückte tiefe Traurigkeit aus.

»Was hat Hans nur aus meinem Jungen gemacht. Markus war früher das liebevollste, anhänglichste Kind, das es gibt«, sagte sie mit leiser Stimme.

»Das wird er auch wieder sein, Ute. Aber das geht nicht von heute auf morgen. Wir werden sehr viel Geduld haben müssen«, antwortete Gerhard.

In diesem Moment stürmten Christiane und Claudia zur Tür herein. Ihre blonden Haare waren zerzaust, ihre Augen strahlten. Ihre Gesichter waren wie rosige Pfirsiche.

»Mama, Papa, wir haben einen Igel gesehen«, rief Christiane, und Claudia fügte hinzu: »Es war ein Igelpapa.«

Gerhard lachte und hob sie auf seine Arme. »Woher weißt du denn, daß es ein Igelmann war, Claudia?«

»Weil er so hübsch war, Papa«, antwortete Claudia und bedeckte das Gesicht ihres Vaters mit Küssen.

»Hör dir das an, Ute. Weil er so hübsch war, sagt Claudia«, meinte Gerhard und strich seiner kleinen Tochter das Haar aus der Stirn.

Claudia nickte. »Bei Tieren sind die Männer immer hübscher als die Frauen, Papa.«

»Und bei den Menschen ist es umgekehrt«, versicherte Christiane.

Ute legte lächelnd einen Finger über die Lippen. »Nicht so laut, ihr beiden. Markus ist doch noch krank«, sagte sie.

»Dürfen wir zu ihm gehen und ihm von dem Igel erzählen, Mama?« bat Christiane.

»Lieber nicht, Christiane. Markus braucht heute noch sehr viel Ruhe«, erwiderte Ute.

»Aber morgen dürfen wir ihn ganz bestimmt besuchen, nicht wahr, Mama?« bettelte Claudia.

Gerhard stellte sie wieder auf den Fußboden zurück. »Das werden wir morgen sehen, Claudia. Jetzt essen wir erst einmal ein Stück von dem guten Honigkuchen, den ihr mit Mama gebacken habt«, bestimmte er.

»Der sollte doch für Markus sein, Papa… Wie schade, daß Markus’ Bauch krank ist und er gar nichts davon essen kann«, erwiderte Christi­ane. Sie nahm sich vor, gleich nach Markus’ Genesung einen neuen Kuchen zu backen.

*

Zwei Tage später konnte Markus wieder aufstehen. Christiane machte sich sofort ans Werk. Mit Hilfe ihrer Mutter backte sie einen wunderschönen, goldgelben, duftigen Honigkuchen.

Als der Kuchen aus dem Ofen gezogen wurde, lief Christiane in die Diele und rief: »Markus!«

Markus trat aus seinem Zimmer und blickte vom ersten Stockwerk zu ihr hinunter. »Was ist denn?« wollte er wissen.

»Wir haben für dich einen Kuchen gebacken, Markus. Er sieht ganz toll aus. Komm schnell, dann kannst du ihn sehen«, rief Christiane.

»Ich mag aber keinen Honigkuchen«, antwortete Markus. Bevor Christiane noch ein Wort sagen konnte, war er wieder in sein Zimmer gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen.

Christiane war sekundenlang wie erstarrt, dann lief sie zu ihrer Mutter in die Küche und rief: »Ich backe nie, nie wieder für Markus einen Kuchen, Mama. Ich habe Markus gar nicht lieb. Er ist gar nicht nett zu uns.«

Ute nahm ihre kleine Tochter in die Arme. »Markus meint es nicht so«, versuchte sie Christiane zu beruhigen.

»Warum ist er denn nicht lieb zu uns, Mama? Claudia und ich sind doch auch lieb zu ihm«, beschwerte sich Christiane.

»Markus muß sich erst bei uns eingewöhnen, Christiane«, erklärte Ute.

»Wie lange dauert das denn noch, Mama?« erkundigte sich Christiane und schniefte durch die Nase.

»Nicht mehr lange, Christiane.«

»Eine ganze Woche noch, Mama?« Christiane sah mit blanken Augen zu ihrer Mutter auf.

»Vielleicht auch weniger, Christiane.«

Über Christianes rosiges Gesichtchen glitt ein Lächeln. »Ich sehe einmal nach, wo Claudia ist.«

»Claudia wollte doch mit ihrem Puppenwagen zu Irene fahren«, erinnerte Ute.

»Ach ja! Daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht, Mama. Tschüß, ich laufe schnell zu Claudia und Irene«, rief Christiane, und schon war sie zur Tür hinaus.

Kurz darauf hörte Ute die Schritte ihres Sohnes auf der Treppe. Sie trat aus der Küche in die Diele. »Markus, setz dich einen Augenblick zu mir in die Küche«, bat sie und lächelte Markus zu.

»Ich wollte aber gerade in den Wald gehen«, erwiderte Markus.

»In den Wald? Was willst du denn dort so ganz alleine?« fragte Ute erstaunt.

»Ich finde es schön im Wald«, gab Markus zur Antwort.

»Das ist es wirklich, Markus. Möchtest du, daß ich mitkomme? Ich tue es gern«, setzte sie rasch hinzu.

Markus biß sich auf die Unterlippe. »Eigentlich würde ich lieber alleine sein«, gestand er.

Ute schloß ihn spontan in die Arme.

»Markus, warum denn? Warum willst du immer alleine sein?« rief sie.

Er gab keine Antwort und entzog sich den Armen seiner Mutter. »Ich gehe jetzt«, stieß er hervor und lief aus dem Haus.

Ute ließ ihre Schultern sinken. Sie seufzte tief auf. Durch das Küchenfenster sah sie, wie Markus quer über die Wiese zum Wald lief. Gleich darauf wurde er von den wilden Brombeerhecken verdeckt.

Ute dachte, daß sie wer weiß was darum geben würde, wenn sie nur wüßte, was in ihrem Sohn vorging. Sie nahm sich wieder vor, Geduld zu haben. Irgendwann, dessen war sie sich ganz sicher, würde Markus spüren, wie sehr sie ihn liebte. Irgendwann würde er wissen, daß er zur Familie gehörte.

Während der nächsten Zeit mußte Ute jedoch erkennen, daß sie sich geirrt hatte. Markus änderte sich nicht.

Er verschloß sich und schwieg. Am Familienleben nahm er nur teil, wenn es sich gar nicht umgehen ließ. Sobald die gemeinsamen Mahlzeiten beendet waren, lief er in sein Zimmer oder in den Wald. Es kam vor, daß er nachmittags stundenlang im Wald umherstreifte. Was er dort erlebte, erzählte er jedoch nicht.

Mit am meisten beunruhigte Ute und Gerhard jedoch sein schlechter Gesundheitszustand. Sein Magen war zwar wieder in Ordnung. Dafür löste jedoch ein Infekt den anderen ab. Ständig war er erkältet. Nachts wurde er häufig von Hustenanfällen gequält.

Eine ganze Weile vertrauten Ute und Gerhard auf die Heilkraft ihres Honigs.

Als jedoch auch aller Honig nicht half, beschlossen der Imker und seine Frau, Markus gründlich untersuchen zu lassen.

Eines Morgens rief Gerhard in der Kinderklinik Birkenhain an, um einen Untersuchungstermin zu vereinbaren. Als sich Oberschwester Elli Gaus meldete, trug er sein Anliegen vor.

»Wie wäre es mit morgen früh, Herr Behnsen?« schlug Schwester Elli vor.

Bevor Gerhard jedoch eine Antwort geben konnte, fügte sie schnell hinzu: »Herr Behnsen, Dr. Martens steht hier neben mir und gibt mir ein Zeichen. Er würde Sie gern selbst sprechen.«

Gleich darauf hörte Gerhard die Stimme von Dr. Kay Martens. »Herr Behnsen, wie geht es dem Jungen? Ist mit dem Magen wieder alles in Ordnung?« erkundigte sich Kay.

»Mit dem Magen schon, Herr Doktor. Aber ansonsten gefällt uns Markus gar nicht. Er ist ständig erkältet und hört gar nicht auf zu husten. Nachts sind die Hustenanfälle besonders schlimm«, berichtete Gerhard.

»Das dürfen wir auf keinen Fall anstehen lassen, Herr Behnsen. Wir sollten den Jungen so schnell wie möglich untersuchen. Könnten Sie gleich heute morgen mit dem Jungen in die Klinik kommen?« fragte Kay.

»Ja, natürlich, das ist möglich, Herr Doktor.«

»Also gut. Ich erwarte Sie, Herr Behnsen«, erwiderte Kay und legte den Hörer auf die Gabel zurück.

*

»Hallo, Frau Doktor«, rief der neunjährige John, als Hanna über den langen Flur der Krankenhausabteilung ging. John hielt dabei seinen eingegipsten Arm hoch, damit Hanna ihn bewundern konnte.

Hanna lachte. »Hallo, John«, antwortete sie und ging weiter.

Vor dem letzten Zimmer, dessen Tür weit geöffnet war, hielt sie an. Mitten im Raum stand eine junge, schöne Frau, die ihr einjähriges Baby auf dem Arm hielt.

Es war der kleine Mathias, der wenige Tage vorher mit einem Leistenbruch in die Kinderklinik eingeliefert worden war. Seine Mutter hatte darum gebeten, tags- und nachtsüber bei ihrem Kind bleiben zu dürfen.

Hanna und Kay waren damit sofort einverstanden gewesen. Ihrer Erfahrung nach gab es für das seelische und körperliche Wohlergehen eines kranken Kindes nichts Besseres als die Anwesenheit der Mutter am Krankenbett.

»Na, Mathias, dir geht es gut, nicht wahr?« fragte Hanna und lächelte dem Baby zu.

»O ja, es ist ganz erstaunlich, wie ruhig und lieb er alles hinnimmt«, antwortete Mathias’ Mama. Sie hielt ihr Kind fest an sich gedrückt. Von dieser sicheren Position aus betrachtete der Kleine gelassen die Ärztin in ihrem weißen Kittel.

»Selbst die Untersuchungen und das Blutabnehmen hat er tapfer über sich ergehen lassen«, bestätigte Hanna.

Die Mutter nickte glücklich. »Er ist eben ein Schatz. Ja, mein Kleiner, du bist das süßeste Baby der Welt«, versicherte sie ihrem Söhnchen.

Mathias lachte, wobei ein Stück seines schneeweißen Zahnes sichtbar wurde.

Hanna mußte plötzlich an Markus denken. Vielleicht war Markus auch einmal so sicher und geborgen gewesen. Wie schlimm mußte es für ihn gewesen sein, als seine Mutter eines Tages für immer weggegangen war. Wie verloren mußte er sich gefühlt haben.

Ihr fiel ein, was ihre Mutter gesagt hatte, als sie die Azaleen und das Oleanderbäumchen aus der Gärtnerei geholt hatten. »Um zu gedeihen, brauchen Pflanzen wie Kinder einen Menschen, der sie pflegt und liebt«, hatte Bea erklärt.

Hanna dachte, wie recht ihre Mutter doch hatte. Sie strich dem kleinen Mathias noch einmal über das Köpfchen und meinte zu seiner Mutter: »Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie bitte Bescheid.«

»Vielen Dank, Frau Doktor. Aber mir fehlt wirklich gar nichts«, erwiderte die junge Frau.

»Um so besser. Wir sehen uns heute bestimmt noch ein paarmal. Auf Wiedersehen bis dahin«, sagte Hanna und verließ das Krankenzimmer.

Sie stieg die Treppe hinunter und trat in das Arztzimmer ihres Bruders. Dr. Kay Martens schrieb gerade etwas auf einen Notizblock. Als seine Schwester die Tür hinter sich schloß, richtete er sich auf.

»Störe ich?« fragte Hanna.

»Überhaupt nicht. Komm nur rein«, forderte Kay sie auf.

»Wie ist dir denn der Waldlauf heute morgen bekommen?« erkundigte sich Hanna.

»Großartig. Wir sollten tatsächlich jeden Tag vor dem Frühstück ein paar Kilometer laufen, Hanna«, antwortete der Arzt.

»An mir soll es nicht liegen, Kay.«

»Also, dann morgen früh in alter Frische«, meinte Kay. Er nahm seinen Notizblock und steckte ihn in die Tasche seines weißen Arztkittels.

»Ich bin gerade auf dem Weg in die Röntgenabteilung«, berichtete er. »Dr. Dornbach hat Aufnahmen von dem kleinen Markus Behnsen gemacht.«

»Markus war in der Klinik?« wunderte sich Hanna.

»Er ist immer noch da, Hanna. Ich habe Herrn Dr. Dornbach gebeten, den Jungen nach dem Röntgen in die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung zu Dr. Herbst zu schicken«, erwiderte Kay.

»Besteht ein besonderer Anlaß für diese Untersuchungen, Kay?« wollte Hanna wissen.

»Gerhard Behnsen hat heute morgen angerufen. Der Junge scheint einen Infekt nach dem anderen zu haben. Wir versuchen jetzt herauszufinden, woran das liegen könnte«, war die Antwort des Arztes.

»Demnach hast du auch Markus’ Blut noch einmal untersuchen lassen, nicht wahr?« fragte Hanna.

»Ja, die Laborbefunde müßten bald da sein.« Kay ging zur Tür.

»Warte, Kay, ich komme mit dir. Die Röntgenaufnahmen möchte ich mir unbedingt ansehen.«

»Gut.« Kay und Hanna verließen das Arztzimmer.

»Was ich dir noch sagen wollte, Kay«, begann Hanna, als sie auf dem Weg zur Röntgenabteilung waren. »Gerhard Behnsen ist nicht der Vater von Markus. Markus heißt auch nicht Behnsen, sondern Bäumler.«

»Das vergesse ich immer wieder, Hanna. In meinen Augen ist der Imker Gerhard Behnsen der Vater des Jungen. Wahrscheinlich weil er sich um Markus wie um seinen leiblichen Sohn kümmert.«

Sie traten in die Röntgenabteilung. Dr. Malte Dornbach, der semmelblonde, sommersprossige Kardiologe der Kinderklinik Birkenhain, hatte gerade die Aufnahmen von Markus’ Skelett an einer Leuchtscheibe befestigt.

»Na, wie sieht es aus, Dr. Dornbach?« erkundigte sich Kay.

»Am Skelett ist kein Befund ersichtlich, Chef«, antwortete der Kardiologe. »Ich kann auch keine Auftreibung der Knorpel-Knochen-Grenze an den Rippen feststellen.«

»Das hätte in Zusammenhang mit dem schlechten Gedeihen des Jungen und seiner starken Infektanfälligkeit für eine Rachitis gesprochen. Um so besser, daß es nicht der Fall ist«, erklärte Kay.

»Offensichtlich ist allerdings eine konstitutionelle Entwicklungsverzögerung, Dr. Martens«, entgegnete der Kardiologe.

»Das Längenwachstum und die Skelettreifung sind zwar bei Markus verzögert. Das geht klar aus den Aufnahmen hervor. Aber ich halte den Befund keineswegs für alarmierend«, wandte Hanna ein.

»Es ist sogar eine sehr häufige Erscheinung«, stimmte Dr. Dornbach der Kinderärztin zu. »Die Längenprognose ist gut. Die Endgröße wird nur später erreicht.«

»Da bin ich ja erleichtert«, gestand Hanna. Sie ging mit ihrem Bruder in das Untersuchungszimmer des Hals-Nasen-Ohrenarztes Dr. Herbst. Der kleine, untersetzte Dr. Alex Herbst rückte an seiner Brille, als sie eintraten.

»Sie kommen bestimmt wegen Markus Behnsen«, meinte er.

»Ja, was haben Sie herausgefunden? Was ist mit Markus?« fragte Hanna.

»Der Junge leidet an einem Infekt der oberen Luftwege. Man könnte es, banal ausgedrückt, als Erkältung bezeichnen. Die Erkrankung ist jedoch nicht so schwerwiegend, daß ich ihr mit Antibiotika zu Leibe rücken würde«, erklärte der Arzt.

»Anscheinend löst bei dem Jungen jedoch ein Infekt den anderen ab«, meinte Kay.

Dr. Herbst rückte wieder an seiner Brille. »Ich bin kein Psychologe. Aber es kommt ja bei Kindern recht häufig vor, daß eine erhöhte Infektanfälligkeit durch seelische Schwierigkeiten verursacht wird.«

»Das ist bei Markus sicherlich der Fall«, erwiderte Hanna ganz spontan.

Dr. Kay Martens ging zum Telefon. Er wählte die Nummer des Labors und ließ sich das Ergebnis von Markus’ Blutuntersuchung geben. »Also, es ist so weit alles in Ordnung«, ­berichtete er gleich darauf seiner Schwester und seinem Kollegen.

»Ich bin ja so froh, Markus und seinen Eltern das sagen zu können. Wo ist der Junge übrigens?« erkundigte sich Hanna bei Dr. Herbst.

»Die Eltern haben gesagt, daß sie mit dem Jungen im Besucherzimmer warten wollen. Ich nehme an, daß sie Sie noch sprechen wollten, Herr Dr. Martens«, sagte der Arzt zu Kay.

Bevor Kay noch eine Antwort geben konnte, trat Schwester Trude zur Tür herein. »Hier sind Sie, Herr Doktor«, sagte sie. »Frau und Herr Behnsen würden Sie gerne sprechen.«

»Ich weiß, Schwester Trude. Bitten Sie sie bitte mit dem Jungen in mein Zimmer«, forderte Kay die Krankenschwester auf. Zu Hanna gewandt fügte er hinzu: »Kommst du mit?«

»Natürlich, Kay.«

Kay und Hanna begaben sich in Kays Arztzimmer. Kurz darauf erschienen Ute und Gerhard Behnsen mit Markus.

»Was hat die Untersuchung ergeben, Herr Doktor?« fragte Ute sogleich. In ihren Augen lag ein Ausdruck von Angst.

Kay lächelte ihr zu und legte dabei eine Hand auf Markus’ schmale Schultern. »Nichts, was Anlaß zur Sorge sein könnte, Frau Behnsen«, versicherte er.

»Aber die ständigen Erkältungen, Herr Doktor. Und der Husten nachts«, entgegnete die Frau des Imkers. Sie biß sich auf die Lippe und fügte dann schnell hinzu: »Sind Sie ganz sicher, daß Markus’ Lunge nicht angegriffen ist, Herr Doktor?«

»Da kann ich Sie beruhigen, Frau Behnsen. Markus’ Lunge ist völlig in Ordnung. Und was die ständigen Erkältungen betrifft, so bitte ich Sie, Markus’ Brust vor dem Zubettgehen mit einem homöopathischen Mittel einzureiben. Zusätzlich schreibe ich Ihnen noch ein anderes Medikament auf, das jedoch keine Antibiotika enthält.«

Kay legte seine Hand von Markus’ Schulter auf die Locken des Kindes. »Und was die Röntgenaufnahme betrifft, so ist zu vermuten, daß Markus später einmal ein großer, starker Mann sein wird«, erklärte er.

Markus’ Kopf fuhr in die Höhe. Er starrte den Arzt an. »Wirklich?« stieß er hervor.

Kay nickte. »Ja, wirklich, Markus. Weißt du, es gibt Kinder, die wachsen erst einmal etwas langsamer. Und plötzlich geht es dann los. Dann hören sie gar nicht mehr auf zu wachsen. Sie bekommen breite Schultern und ihr Brustkorb dehnt sich«, antwortete er.

»Ist das bei mir auch so?« wollte Markus wissen. In seine Wangen stieg dabei sanftes Rot.

»Nach den Röntgenaufnahmen sieht es ganz so aus, Markus. Du mußt allerdings etwas nachhelfen«, erwiderte Kay lächelnd.

»Und wie muß ich das machen?«

»Das ist ganz einfach, Markus. Du brauchst nur viele gesunde Sachen zu essen. Und ein bißchen Sport wäre auch ganz gut«, setzte er hinzu.

Markus nickte. »Das mache ich, Herr Doktor. Ich esse ab jetzt ganz viel Honig und mache jeden Tag einen Dauerlauf.«

Hanna lachte. »Dann begegnen wir uns ja vielleicht beim Dauerlauf, Markus«, meinte sie.

Markus sah sie mit großen Augen an. »Müssen Sie denn auch einen Dauerlauf machen, Frau Doktor?« wollte er wissen.

Hanna lachte wieder. »Ich muß nicht, Markus. Aber es tut mir gut. Und meinem Bruder auch.«

Auf Markus’ Gesicht erschien ein kleines Lächeln. »Es wäre wirklich toll, wenn wir uns beim Dauerlauf treffen würden«, sagte er. Er reckte dabei seine schmalen Schultern, als sei er bereit, seine Kräfte zu messen.

*

Von diesem Tag an sah es so aus, als sei Markus fest entschlossen, ein Athlet zu werden. Er machte mindestens einmal am Tag einen Waldlauf und trainierte bis zur Erschöpfung mit den Hanteln, die Gerhard ihm aus einem Sportgeschäft in Celle mitgebracht hatte. Auf der Wiese hinter dem Imkerhaus war eine Eisenstange, die zum Teppichausklopfen benutzt wurde. Dort übte Markus Bauchwelle und den Riesenschwung. Ute und Gerhard ermahnten ihn immer wieder, nicht zuviel des Guten zu tun. Markus wollte jedoch nicht auf sie hören.

Bei Tisch entwickelte er im Laufe der Wochen einen wahren Heißhunger. Jeden Tag stellte er sich auf die Waage im Badezimmer des Imkerhauses und überprüfte sein Gewicht. Er strahlte, wenn der Zeiger der Waage wieder einen Strich nach vorwärts rückte. Mußte Markus jedoch feststellen, daß sein Gewicht gleich geblieben war, wirkte er ganz enttäuscht.

Sein fester Wille, groß und stark zu werden, zeigte bald Erfolg. Seine Erkältungen hörten auf. Er bekam eine frische Farbe, und seine Glieder streckten sich.

Dennoch machten Ute und Gerhard sich seinetwegen nach wie vor große Sorgen. Markus war und blieb ein Einzelgänger und Außenseiter.

Der Imker und seine Frau hatten gehofft, daß Markus in der Schule, die er in Ögela besuchte, Freunde finden würde. Stattdessen schloß sich Markus völlig von anderen Kindern ab.

Auch mit seinen beiden kleinen Schwestern wollte er nichts zu tun haben. Christiane und Claudia waren so von ihm enttäuscht, daß sie sich bald völlig von ihm zurückzogen.

Ute gab sich die größte Mühe, um Markus zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte. Markus war ihr gegenüber jedoch so abweisend, daß Ute immer wieder aufs neue tief verletzt war.

Auch Gerhard ließ Markus nicht an sich rankommen. Markus schien niemanden zu brauchen und niemanden gern zu haben.

Eines Tages fuhr Gerhard mehrere Bienenstöcke mit seinem Kombiwagen in eine Heidelandschaft, die hinter dem Waldstück lag, das Ögela im Westen umgab.

Nachdem Gerhard die Bienenstöcke vom Wagen genommen hatte, hörte er auf einmal einen Laut, als ob ein Kind weinte. Er ging in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Der weiche Waldboden dämpfte seine Schritte.

Hinter einem hohen Farnstrauch entdeckte Gerhard Markus. Der Junge hockte am Boden und hielt etwas in seinen Händen verborgen. Dabei liefen Tränen über sein Gesicht, die er mit seinem rechten Arm abzuwischen versuchte.

»Markus«, sagte Gerhard mit leiser Stimme.

Markus fuhr herum. Er schien erschrocken zu sein. Mit weitaufgerissenen, tränenverschleierten Augen blickte er auf Gerhard.

Gerhard ging zu ihm und hockte sich neben ihm nieder. »Was hast du denn da, Markus?« fragte er.

Markus schluckte. »Einen Vogel. Er ist noch ganz klein«, brachte er hervor und schluchzte wieder trocken auf.

»Zeig ihn mir doch bitte einmal«, forderte Gerhard das Kind auf.

Markus nahm seine Hände auseinander. Zum Vorschein kam eine winzige Blaumeise.

»Sie ist gar nicht verletzt«, meinte Gerhard.

»Warum ist sie dann tot?« wollte Markus wissen und strich dem kleinen Vogel unendlich sanft über den einen Flügel.

»Das weiß ich nicht, Markus. Was meinst du, wollen wir sie am Waldrand begraben?« schlug Gerhard vor.

Markus nickte.

»Ich habe eine Schaufel im Wagen. Die hole ich schnell«, erklärte Gerhard. Er lief zu seinem Auto und kam gleich darauf zu Markus zurück.

Zwischen weißen Sternblümchen und blauem Männertreu begann er für die Meise ein kleines Grab zu schaufeln. Markus hielt noch immer die Meise in seinen Händen, die er wie eine Schale gewölbt hatte.

»So, jetzt ist es tief genug«, meinte Gerhard schließlich.

Markus nickte und legte die Meise in die Erde. Dabei schluchzte er noch einmal trocken auf. Gerhard bedeckte die Meise mit losem Sand.

»Du hast Tiere sehr gerne, nicht wahr, Markus?« fragte er das Kind.

Markus nickte dreimal nacheinander.

Gerhard legte ihm eine Hand auf die Schulter und lächelte ihm zu. »Ich wollte gerade einige Bienenkörbe aufstellen. Magst du mir dabei helfen?«

»Aber die Bienen stechen mich vielleicht«, wandte Markus ein.

»Ich gebe dir einen Schutzanzug. Dann können sie dir nichts tun«, erwiderte Gerhard. Seine Hand lag noch immer auf der Schulter des Kindes. Sie gingen zum Kombiwagen. Dort holte Gerhard einen weißen Schutzanzug, einen Helm und einen Schleier hervor. Nachdem er die Ar­me und Beine des Anzuges aufgerollt hatte, gab er ihn Markus. »So, jetzt müßte er dir passen«, meinte er.

Er war zwar viel zu weit, aber das machte nichts. Gerhard stülpte Markus den Helm mit dem Schleier über. »Bleibe ganz ruhig stehen und bewege dich nicht. Dann kümmern sich die Bienen gar nicht um dich«, versicherte Gerhard dem Jungen.

Er stellte die Bienenstöcke neben große, wildwachsende Holunderbüsche. Es war ein Gesumm und Gebrumm. »Jaja, ist ja gut. Ihr kommt ja gleich raus«, sagte Gerhard und öffnete die Fluglöcher der Bienenstöcke.

In der gleichen Sekunde schossen, stoben und stürmten unzählige Bienen ins Freie.

»Paß auf, sie stechen dich«, rief Markus ganz erschrocken.

Tatsächlich begannen die Bienen Gerhard anzugreifen. Sie setzten sich ihm auf das Gesicht, die nackten Arme und das Haar, sie umflogen ihn und stießen gegen ihn.

Er stand jedoch da wie ein Fels in der Brandung. Nicht eine Sekunde verlor er seine Ruhe. Er zwinkerte nicht einmal mit den Augen.

Erst als die Bienen sich beruhigt hatten und zu den Blüten flogen, ging Gerhard zu Markus.

Markus zitterte am ganzen Körper. »Haben dich viele gestochen?« stieß er hervor.

»Einige«, erwiderte Gerhard.

»Laß uns schnell hier weggehen. Sonst kommen sie wieder«, sorgte sich Markus.

Gerhard schüttelte den Kopf. »Nein, jetzt haben sie sich ausgetobt.«

Markus stieß einen entsetzlichen Laut aus. »Da ist ein Stich. Auf deinem Arm. Und auf deinem Finger. Überall hast du Stichel« rief er.

»Ja, die Bienen waren sehr gereizt«, erwiderte Gerhard. Er begann, sich ganz vorsichtig die Stachelapparate aus der Haut zu ziehen. »Du darfst Bienenstachel nie mit zwei Fingern herausziehen, sondern mußt sie ganz vorsichtig wegstreifen. Siehst du, so«, erklärte Gerhard und strich vorsichtig über die Stellen, wo die Bienen ihn gestochen hatten.

»Sind jetzt alle draußen?« fragte Markus nach einer Weile.

»Ich denke schon.«

»Tut das nicht furchtbar weh?«

»So schlimm ist es nicht. Komm, laß uns zu dem Bach gehen, damit ich die Stichwunden mit dem Wasser kühlen kann«, erwiderte Gerhard.

»Ja.«

»Willst du jetzt nicht den Anzug ausziehen und den Helm absetzen?« schlug Gerhard vor.

»Lieber noch nicht.«

»Na gut. Wie du möchtest.« Gerhard und Markus gingen zu dem kleinen Bach, der sich durch die Wiese schlängelte. Dort neigte Gerhard sich über das Wasser und benetzte die Stellen, wo die Bienen ihn gestochen hatten, mit Wasser.

»Warum waren die Bienen denn so wütend?« erkundigte sich Markus.

»Das ist ganz alleine meine Schuld, Markus. Normalerweise sind Bienen ganz friedliche Insekten. Sie stechen nur, wenn sie sich verteidigen wollen. Erstens hat ihnen heute die Hitze zugesetzt. Dazu kommt, daß sie auf den holprigen Heidewegen stark durchgeschüttelt worden sind. Sie waren also nicht gerade bester Stimmung, als sie aus den Fluglöchern kamen«, erklärte Gerhard.

»Aber deshalb hätten sie dich nicht gleich stechen dürfen«, meinte Markus.

Gerhard lachte. »Naja, das Geschüttele und die Hitze hat sie halt aggressiv gemacht.« Er schwieg einen Moment. »Markus, jetzt weißt du wenigstens, daß man mit Bienen sehr vorsichtig umgehen muß. Versprich mir, daß du nie an die Bienenstöcke gehst, wenn ich nicht dabei bin.«

»Das würde ich nie tun, wirklich nie«, antwortete Markus voller Überzeugung.

»Dann ist es gut, Markus. Es tut mir nur leid, daß du jetzt einen so schlechten Eindruck von unseren Bienen bekommen hast. Bienen sind nämlich die interessantesten Tiere, die es gibt«, versicherte Gerhard.

Markus nahm seinen Helm vom Kopf und machte ein skeptisches Gesicht. »Wirklich?« fragte er.

»Und ob. Sieh doch nur, wie fleißig die Bienen jetzt den Nektar aus den Blüten sammeln. Weißt du auch, wie viele Male so ein kleines Bienchen ausschwärmen muß, um ein Pfund Honig zu sammeln?«

»Das weiß ich nicht«, gestand Markus.

»Zwanzigtausendmal.«

»Die sind ja wirklich bienenfleißig«, meinte Markus.

Gerhard lachte und strich ihm über das Haar. »Das kann man wohl behaupten. Sag einmal, hast du eigentlich schon mal auf einem Pferd gesessen?« erkundigte er sich unvermittelt.

»Noch nie. Aber das würde ich ganz furchtbar gerne. Pferde sind so schön. In meiner Klasse in Frankfurt war ein Mädchen, das hatte ein Pony«, berichtete Markus. Er war so zutraulich, wie Gerhard ihn noch nie erlebt hatte.

»Was hältst du davon, wenn wir am nächsten Sonntag nach Wismor fahren? Dort finden im Frühjahr und im Herbst Reitturniere statt, und es gibt dort auch einen Ponyhof«, erklärte Gerhard.

»Oh, wie toll. Können wir nicht gleich heute nach Wismor fahren?« bettelte Markus.

»Heute habe ich noch zu tun, Markus. Du weißt doch, daß ich ein Buch über Bienenzucht schreibe. Das eine Kapitel muß ich heute noch fertig schreiben und nach Hamburg zu meinem Verleger schicken«, erwiderte Gerhard.

»Und morgen?«

»Morgen habe ich Unterricht in der Landwirtschaftsschule.«

»Unterrichtest du dort nur Imker und Imkerinnen?« fragte Markus.

»Das sind noch keine Imker und Imkerinnen, die ich unterrichte. Sie wollen es erst werden, Markus«, stellte Gerhard richtig.

Markus blickte zu ihm auf. »Dann klappt es also wirklich erst am Sonntag.«

»Das sind ja nur noch drei Tage, Markus. So, nun zieh einmal deinen Anzug aus und gib mir deinen Hut mit dem Schleier«, bat Gerhard den Jungen, während er die hintere Tür seines Kombiwagens öffnete.

»Oh, was ist denn das?« rief Markus, als er eine Gerätschaft entdeckte, wie er sie vorher noch niemals gesehen hatte.

Gerhard zeigte es ihm. »Das ist eine Pfeife, die man ansteckt, wenn man am Bienenstock zu tun hat. Beim Füttern oder um die Waben mit dem Honig herauszunehmen. Der Rauch nimmt den Bienen die Angriffslust.«

»Aber du hast dir vorhin gar keine Pfeife angesteckt«, erinnerte Markus.

»Ja, das war eben meine Dummheit. Und Dummheit muß bestraft werden. Deshalb habe ich jetzt so viele Bienenstiche«, antwortete Gerhard.

»Tut es noch sehr weh?« erkundigte sich Markus mitleidig.

»Kaum noch«, erwiderte Gerhard. Markus warf ihm einen bewundernden Blick zu. Er fand es toll, wie Gerhard den Angriff der Bienen überstanden hatte. Zum ersten Mal verspürte er den Wunsch, seine Hand in die von Gerhard zu legen. Das wagte er jedoch nicht zu tun.

*

Es war ein strahlender Morgen, als die Familie nach Wismor aufbrach. Als sie am Doktorhaus vorbeikamen, rief Christiane plötzlich: »Papa, dort ist Frau Martens.«

»Tatsächlich«, antwortete Gerhard und hielt an. Er kurbelte das Fenster neben seinem Sitz herunter und rief Bea zu: »Guten Morgen, Frau Martens. Ihre Azaleen wachsen ja großartig.«

Bea Martens kam den Gartenweg hinunter. Ihr feines, immer noch schönes Gesicht strahlte. »Guten Morgen«, sagte sie und fügte dann hinzu: »Sie haben recht, Herr Behnsen. Es ist wirklich eine Freude, die Azaleen anzusehen. Ich hatte zuerst befürchtet, daß der Heideboden zu trocken für sie sein könnte. Zum Glück war das jedoch ein Irrtum. Die Pflanzen scheinen sich in der Erde von Ögela ja wirklich ausgesprochen wohl zu fühlen.«

»Das wundert mich gar nicht. Wer fühlt sich nicht in Ögela wohl«, entgegnete Gerhard lachend.

»Das stimmt allerdings.« Bea blickte von den beiden braungebrannten, pummeligen Mädchen auf Markus. »Hast du dich denn schon ein wenig eingelebt, Markus?« erkundigte sie sich liebevoll.

Markus schüttelte den Kopf.

»Na, das kommt noch, Markus«, versicherte Bea.

»Wir sind gerade auf dem Weg nach Wismor. Die Kinder möchten sich die Ponys ansehen«, berichtete Gerhard.

»Dann wünsche ich Ihnen allen einen schönen Tag«, entgegnete Bea. Sie trat einen Schritt von dem Wagen zurück.

»Auf Wiedersehen, Frau Martens«, rief Christiane.

»Auf Wiedersehen, Kinder«, antwortete Bea.

Gerhard kurbelte wieder das Fenster hinauf. Sie fuhren weiter. Eine halbe Stunde später erreichten sie den Heideort Wismor. Gerhard fuhr direkt vor den Ponyhof. Die Familie stieg aus dem Wagen.

Fröhliche junge Mädchen waren dabei, kräftiggebaute Fjordpferde zu striegeln. Andere Ponys tummelten sich auf den Koppeln rund um den Hof herum.

»Sind die süß«, rief Claudia.

»Oh, wie niedlich«, schrie Christiane und rannte zu einem Pony mit struppeliger schwarzer Mähne.

Markus kletterte auf das Gatter und betrachtete mit weitaufgerissenen, sehnsuchtsvollen Augen die robusten Tiere.

Gleich darauf kamen Gerhard und Inge Hansen, die Besitzerin des Po­nyhofes, zu ihm. Sekunden später stürmten auch Christiane und Claudia hinzu.

»Papa, Papa, dürfen wir auf einem Pony reiten?« rief Christiane.

»Bitte, Papa, ich zuerst«, bettelte Claudia.

»Schreit doch nicht so, Christiane und Claudia«, forderte Ute, die ebenfalls herangekommen war, ihre Töchter auf. »Heute ist Markus als erster an der Reihe«, bestimmte sie.

Inge Hansen kletterte zwischen den Stäben des Gatters hindurch und führte das größte der Ponys zu Markus. »Du bist also der Markus«, sagte sie.

Markus nickte und sprang auf die Erde. »Sei so nett, leg Archibald schon mal den Sattel über«, forderte die Ponyhofbesitzerin Markus auf.

Markus nahm den Sattel vom Gatter und packte ihn dem Pony Archibald auf den Rücken. Archibald wandte ihm dabei seinen Kopf zu und sah ihm tiefgründig in die Augen. Über Markus’ Gesicht glitt unwillkürlich ein Lächeln.

»So, und jetzt die Zügel«, rief Inge Hansen Markus zu. Markus nahm die Zügel auf und ließ sich von Inge Hansen zeigen, wie er sie anzulegen und zu halten hatte.

»Großartig machst du das«, lobte die Ponyhofbesitzerin. Sie wollte Markus auf den Rücken des Pferdes helfen, aber bevor es dazu kam, protestierte Markus: »Das kann ich doch alleine.« Er schwang sich in den Sattel, und schon setzte sich Archibald in Trab.

»Halte die Zügel fest und lasse dich einfach von Archibald tragen«, rief Inge Hansen ihm nach.

In diesem Moment ging das Pony zum Trab über. Markus stieß unwillkürlich einen Freudenschrei aus. Er kam sich vor wie ein wilder Indianer, der über die Prärie ritt.

»Langsam, Archibald, langsam«, befahl Inge Hansen dem Pferd. Archibald dachte gar nicht daran, auf sie zu hören. Er setzte mit seinen stämmigen Beinen zum Galopp an.

»Die Zügel fester, Markus, fest die Zügel, preß die Beine zusammen«, schrie Inge Hansen.

Gerhard kletterte über das Gatter. Als Archibald und Markus gleich darauf auf ihn zukamen, gelang es ihm, die Zügel des Ponys zu erwischen.

Archibald schüttelte unwillig die Mähne und wieherte laut auf. Er wollte weiterlaufen. Als er jedoch spürte, daß Gerhard stärker war als er, blieb er stehen und wandte den Kopf Markus zu. Es sah aus, als wollte er sagen: »Ich wäre ja noch gerne weiter mit dir galoppiert. Aber du siehst ja selbst, sie lassen mich nicht.«

Gerhard führte das Pony mit Markus zum Gatter. »Archibald, hast du heute wieder deinen Dickkopf?« schimpfte Inge Hansen mit dem Pferd, woraufhin Archibald nur seinen Kopf mit der dichten Mähne schüttelt.

»Er sagt nein«, meinte Christiane.

Gerhard hob Markus vorsichtig von Archibalds Rücken. »Du hast dich wirklich großartig gehalten, Markus«, lobte er.

»Da kann ich nur zustimmen. Ich glaube, du bist der geborene Reiter«, erklärte Inge Hansen.

»Hast du gar keine Angst gehabt, Markus?« fragte Claudia.

Diese Frage fand Markus jedoch so unpassend, daß er Claudia nur einen abschätzigen Blick zuwarf. Als ob er jemals Angst hätte.

Christiane zupfte ihren Vater am Ärmel. »Papa, darf ich jetzt reiten?«

»Das darfst du, Christiane. Allerdings nicht auf Archibald. Der ist heute zu wild«, bestimmte Gerhard.

Inge Hansen holte das dunkelbraune Pony Mathilde, von dem sie behauptete, es habe das sanfte Gemüt eines Lammes. »Es sieht auch ganz lieb aus«, meinte Christiane.

Die Ponyhofbesitzerin legte Mathilde den Sattel auf. Gerhard hob seine kleine Tochter auf Mathildes Rücken. Markus drehte sich um und ging weg.

»Markus, wo willst du denn hin?« rief Ute ihm nach.

»Ich sehe mich nur ein bißchen um«, antwortete Markus.

Ute lächelte ihm zu. »Gut, Markus. Aber gehe nicht zu weit weg«, bat sie.

Markus gab keine Antwort. Er ging zur gegenüberliegenden Koppel und sah dort eine Weile zu, wie die Ponys über das frische grüne Gras liefen. In seinem Herzen erwachte dabei eine tiefe Sehnsucht. Wie schön wäre es, selbst ein Pony zu haben. Ein Pony, das nur ihm gehörte, das er lieben konnte und das ihn liebte.

Markus seufzte tief auf. »Komm mal her«, rief er einem der stämmigen Pferde zu und rupfte etwas Löwenzahn ab.

Das Pony trabte zu ihm und nahm den Löwenzahn aus Markus Hand. Über Markus Gesicht glitt wieder ein Lächeln. Er versenkte seine Hand in die dichte, feste Mähne des Tieres. Wie gut es roch. Und wie stark es war!

Markus strich ihm über das weiche Maul, sah ihm in die Augen und klopfte ihm auf den Rücken. Plötzlich kam ihm der Gedanke, sich für einen Moment, wirklich nur für einen kurzen Moment auf den Rücken des Ponys zu setzen.

Er kletterte zwischen dem Holz­zaun hindurch. »Du mußt ganz still halten«, raunte er dem Pony zu.

Das Pferdchen wieherte auf. Es hörte sich an wie ein Versprechen.

Markus schwang sich auf seinen Rücken. Das Pony war so klein, daß er mit seinen Fußspitzen fast bis auf den Boden kam. »So, nun lauf los, Pony«, forderte er das Pferd auf.

Das ließ sich das Pony nicht zweimal sagen. Er trabte zu einem kleinen See, der am Fuß der Koppel zwischen hohen Pappeln und niedrigem Weißdorn verborgen lag. »Halt an, Pony«, rief Markus.

Durch diesen Ruf fühlte sich das Pony jedoch anscheinend nur noch angespornt. Es begann noch schneller zu laufen, und Markus wurde noch mehr durchgeschüttelt.

Von dem See ging ein kleiner Bach ab, den das Pony mit Bravour übersprang. In diesem Augenblick verlor Markus das Gleichgewicht. Er fiel vom Rücken des Pferdes und landete im Bach. Das Pony hielt an und sah ihn mit großen Augen an.

»Siehst du, jetzt bin ich ganz naß«, rief Markus ihm zu und erhob sich aus dem Bach. Das Wasser tropfte von seinen Kleidern. Die Antwort des Ponys war Wiehern.

»Es nützt gar nichts, daß es dir leid tut«, meinte Markus und fuhr sich mit beiden Händen über sein nasses Gesicht. Das Wasser rann ihm von seinem Haar in sein hellblaues T-Shirt.

In diesem Augenblick war vom Ponyhof her Gerhards laute Stimme zu hören: »Markus, wo bist du? Markus?«

Markus hielt den Atem an.

»Markus, wir suchen dich«, rief Christiane.

Markus ging um den Weißdorn herum und stieg die Koppel hinauf. Das Pony folgte ihm.

»Papa, da ist Markus ja«, schrie Christiane, als Markus die leichte Anhöhe erreichte.

»Markus, du bist ja ganz naß. Mama, Papa, Markus hat gebadet«, rief Claudia.

Markus ging zum Gatter. Ute betrachtete ihn mit erschrockenen Augen. »Markus, was ist denn passiert?« stieß sie hervor.

»Ich bin in den Bach gefallen«, antwortete Markus ganz kläglich.

»Aber Markus, du wußtest doch, daß du dich nicht einfach auf ein Pony setzen darfst«, erklärte Gerhard. In seiner Stimme schwang eine gewisse Schärfe mit.

Ute legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. »Schimpf nicht mit ihm, Gerhard«, bat sie.

Gerhard seufzte tief auf. »Denk doch einmal daran, was dabei alles passieren kann, wenn der Junge ohne Sattel losreitet, Ute. Er weiß doch auch gar nicht in der Gegend Bescheid«, entgegnete Gerhard.

»Er hätte sich das Genick brechen können, Papa«, meinte Christiane.

»Genau«, warf Claudia ein und fügte dann schnell hinzu: »Müssen wir jetzt nach Hause fahren, weil Markus ganz naß ist, Papa?«

»Das müssen wir wohl leider, Claudia. Markus kann ja nicht in den nassen Sachen herumlaufen«, erwiderte Gerhard.

Claudia schob ihre Unterlippe vor. »Ich möchte aber noch nicht nach Hause fahren, Papa. Du hast gesagt, daß wir ganz lange auf dem Ponyhof bleiben.«

»Das ist leider nicht mehr möglich, Claudia. Kommt zum Auto, Kinder. Markus, zieh dir wenigstens die Socken und dein T-Shirt aus«, forderte Gerhard den Jungen auf.

Als sie vor ihrem Auto standen, kam Inge Hansen aus dem Stall. »Was hast du denn gemacht, Markus?« rief sie.

»Er ist in den Bach gefallen«, antwortete Christiane für Markus.

»In den Bach? Wie ist denn das passiert?« wollte die Ponyhofbesitzerin wissen.

»Es tut mir sehr leid, das sagen zu müssen, Frau Hansen. Aber Markus ist mit einem Ihrer Ponys losgeritten, und das Pony hat ihn in den Bach geworfen«, berichtete Gerhard.

Die Ponyhofbesitzerin war jedoch keineswegs empört. Sie lachte, als sie das hörte. »Das war wahrscheinlich Robinson, nicht wahr, Markus?« fragte sie.

»Ich weiß nicht, wie er heißt. Es war das hellbraune Pony mit dem weißen Streifen auf dem Kopf«, antwortete Markus.

»Genau, das ist Robinson. Er ist ein wenig störrisch. Aber zum Glück ist dir ja nichts passiert, Markus«, erwiderte Inge Hansen.

»Warum ist Robinson denn störrisch?« wollte Christiane wissen.

»Er hat einen sehr eigenwilligen Charakter, Christiane. Aber im Grunde ist er sehr gutartig. Er braucht nur jemanden, der sich ständig um ihn kümmert«, sagte die Ponyhofbesitzerin.

»Aber Sie kümmern sich doch um alle Ponys«, entgegnete Claudia.

»Das stimmt. Mit Robinson ist das eine etwas andere Sache, Claudia. Er gehört nämlich nicht zu unserem Ponyhof. Die Besitzerin ist eine junge Irin, die ihn nur als Pensionsgast auf unseren Hof gegeben hat. Sie möchte Robinson gerne verkaufen«, berichtete Inge Hansen.

»Verkaufen?« stieß Markus hervor.

»Ja. Leider hat sich bisher noch kein Käufer gefunden«, antwortete die Ponyhofbesitzerin.

»Und was passiert mit Robinson, wenn ihn niemand haben will?« rief Christiane aus.

»Das kann ich dir leider auch nicht sagen, Christiane.«

»Dann können Sie ihn doch einfach behalten«, schlug Claudia vor.

»Das möchte ich sehr gerne. Die junge Irin möchte ihn aber unbedingt verkaufen. Sie möchte sich von dem Geld, das sie für Robinson bekommt, ein größeres Pferd kaufen«, erklärte Inge Hansen.

»Aber…«, wollte Claudia wieder anfangen.

Gerhard legte ihr schnell eine Hand auf die Schulter. »Jetzt ist es genug, Claudia. Wir müssen so schnell wie möglich nach Hause fahren. Markus darf nicht länger so naß herumstehen. Sonst erkältet er sich noch.«

Inge Hansen winkte ihnen zu. »Also, bis zum nächsten Mal«, rief sie und lief in den Stall, wo am Tag vorher ein Esel, der zu ihrem Hof gehörte, ein Fohlen geworfen hatte.

Ute und Gerhard Behnsen setzten sich mit den Kindern ins Auto und fuhren zurück nach Ögela.

Nach dem Mittagessen holten Christiane und Claudia ihre Puppenwagen hervor und fuhren damit zu ihrer Freundin Irene, die mit ihren Eltern am Ende der kleinen Straße wohnte.

Markus ging zuerst in sein Zimmer. Weil es ihm dort zu langweilig war, entschloß er sich, einen Streifzug durch den Wald zu unternehmen.

Als er durch die Diele kam, öffnete Ute die Tür des Wohnzimmers. »Markus, komm doch bitte mal herein«, bat sie ihren Sohn.

Markus trat ins Wohnzimmer. Auf der Couch lag der halbfertige Pullover, den seine Mutter für ihn strickte. Gerhard stand am Fenster und sog an seiner Pfeife.

»Setz dich, Markus«, bat Gerhard den Jungen und deutete mit seinem Pfeifenstiel auf einen der Sessel, die um einen Glastisch herumstanden.

Markus machte ein erschrockenes Gesicht. Hatte er vielleicht etwas angestellt, ohne es zu wissen? Er nahm auf dem Sessel Platz.

Gerhard räusperte sich, während Ute sich auf die Couch setzte. »Gerhard und ich haben uns etwas überlegt«, sagte sie und lächelte Markus an. Als Markus keine Antwort gab, sondern sie nur groß ansah, fuhr sie fort: »Wir haben gedacht, daß wir dir vielleicht eine sehr große Freude machen würden, wenn wir das Pony Robinson kaufen.«

Markus riß seine Augen noch weiter auf. »Robinson? Für mich?«

»Ja, Markus«, entgegnete Gerhard. »Robinson hätte auf der Wiese hinter unserem Haus genug Platz zum Auslauf. Allerdings stelle ich eine Bedingung, Markus«, erklärte er mit Entschiedenheit.

Markus nickte. Er war bereit, alles zu versprechen, wenn er das Pony bekam.

»Deine Mutter und ich erwarten von dir, daß du nichts anstellst, was gefährlich sein könnte. Dazu gehört, daß du ohne unsere Erlaubnis nicht mit Robinson ausreitest«, sagte Gerhard.

»Das tue ich ganz bestimmt nicht«, stieß Markus hervor. Seine hellen Augen begannen zu leuchten. Ihm war anzumerken, wie sehr er sich freute.

Ute lächelte ihm zu. »Ich weiß, daß Robinson sich bei dir sehr, sehr wohl fühlen wird, Markus«, versicherte sie.

»Du bist natürlich dann auch für Robinson verantwortlich, Markus«, setzte Gerhard hinzu.

»Das möchte ich ja auch«, erwiderte Markus mit Eifer.

»Na also. Dann rufe ich morgen auf dem Ponyhof an und sage, daß wir Robinson am nächsten Wochenende abholen«, bestimmte Gerhard.

»Darf Robinson denn nicht vorher zu uns kommen?« bat Markus.

»Das geht leider nicht, Markus. Ich bin während der nächsten Woche sehr beschäftigt. Du mußt also noch etwas Geduld aufbringen«, meinte Gerhard.

Markus erhob sich von seinem Platz. Er war ganz selig. »Ich…, ich freue mich wirklich sehr«, brach es aus ihm hervor.

Ute erhob sich ebenfalls. »Ich glaube, wir haben ein Buch über Ponys im Bücherschrank, Markus. Laß uns doch einmal nachsehen«, schlug sie vor.

Nach einigem Suchen fand sie das Buch und reichte es Markus.

»Vielen Dank. Ich lese es gleich durch«, sagte Markus. Er lief aus dem Haus und setzte sich mit dem Buch auf die Wiese neben die große wilde Brombeerhecke.

Im Wohnzimmer nahm Gerhard seine Frau in den Arm. »Die Sache mit dem Pony war wirklich eine sehr gute Idee von dir, Ute. Eine größere Freude hätten wir Markus gar nicht machen können«, erklärte er.

»Er war so glücklich, Gerhard. Hast du gesehen, wie er gelächelt hat? Ich hätte ihn in dem Moment so gerne in den Arm genommen. Aber ich weiß ja, daß er das gar nicht mag«, erwiderte Ute.

Gerhard strich ihr das Haar zurück. »Ich muß dir etwas gestehen, Ute.«

»Was denn?«

»In der letzten Zeit kam mir manchmal der Gedanke, daß Markus vielleicht gefühllos sein könnte«, erwiderte Gerhard.

»Gefühllos?« stieß Ute hervor.

»Ja, eben weil er so abweisend ist und keine Zärtlichkeit duldet. Und dann sein Benehmen Christiane und Claudia gegenüber«, erinnerte Gerhard.

»Er ist doch nicht gefühllos«, rief Ute heftiger aus, als es ihre Absicht gewesen war.

»Das weiß ich, nachdem ich gesehen habe, wie er mit Tieren umgeht. Du hättest seine Verzweiflung über die kleine tote Meise erleben müssen. Und heute, wie er die Ponys gestreichelt hat. Ein Kind, daß ein so starkes Empfinden für Tiere hat, kann ganz einfach nicht gefühllos sein«, stellte Gerhard fest.

Ute lehnte ihre Stirn gegen die breite Brust ihres Mannes. Gerhard strich ihr zärtlich über das Haar. »Irgendwann wird Markus nicht nur die Tiere, sondern auch die Menschen wieder lieben. Wir müssen, nur weiterhin Geduld haben, Ute«, sagte er.

*

Zwei Tage später fuhr Gerhard zu der Landwirtschaftsschule, in der er zukünftigen Imkerinnen und Imkern Unterricht gab. Ute war zu einer alten Dame gegangen, die sich ein Bein gebrochen hatte und die Ute seitdem betreute.

Markus lag auf der großen Wiese hinter dem Imkerhaus und las in dem Ponybuch, das Ute ihm gegeben hatte. Weiter hinten, ganz am äußersten Ende der Wiese, stand ein einzelner Bienenstock. Die Bienen summten in den weißen langen Blüten der Akazie, die schon Gerhards Großvater, der auch das Imkerhaus gebaut hatte, angepflanzt hatte.

Nach einer Weile wurde es Markus langweilig. Er klappte das Buch zu und sah zu der Akazie hinüber. Dabei überlegte er, ob die Bienen die Waben wohl schon mit Honig gefüllt haben mochten.

Er stand auf und ging in die Nähe des Bienenstockes. Jetzt konnte er das Gesumm schon lauter hören. Die Bienen schienen alle in der Akazie zu sein. Am Bienenstock war kaum eine zu sehen.

Markus wagte sich noch ein paar Schritte näher heran. Er wußte inzwischen eine ganze Menge über Bienen und fand das Leben der kleinen Tiere tatsächlich so interessant, wie Gerhard es gesagt hatte.

Gar zu gern hätte er gewußt, wie der Honig in den Waben lag. Wenn es denn überhaupt schon Honig gab.

Markus ging noch ein paar Schritte weiter vor. Wie gut die Akazie roch. Und wie laut sich das Gesumm der Bienen anhörte. Markus neigte sich über den Bienenstock, um zu sehen, wie ein paar Bienen, die mit gelben Beinen von der Akazie kamen, darin verschwanden.

»Markus«, rief in diesem Moment Christiane.

Markus drehte sich um. Christiane stand mitten auf der Wiese. Sie trug ein rotes Kleid mit weißen Pünktchen, das Ute genäht hatte.

»Was ist denn?« fragte Markus ungehalten.

»Geh lieber nicht so dicht an den Bienenstock heran«, warnte Christiane.

»Warum denn nicht?«

»Die Bienen könnten dich stechen.«

»Dein Vater hat selbst gesagt, daß Bienen nur stechen, wenn sie sich verteidigen müssen«, erinnerte sich Markus.

»Trotzdem, ich würde nicht so nahe rangehen«, meinte Christiane.

»Ich habe keine Angst«, verkündete Markus großartig. Dabei begann sein Herz auf einmal ganz schnell zu schlagen.

Christiane kam näher. »Ich auch nicht«, versicherte sie.

Markus öffnete ganz vorsichtig das Flugloch.

»Laß das lieber sein. Sonst ärgern sich die Bienen«, schrie Christiane auf. Sie lief zu Markus, um ihn von dem Bienenstock wegzuziehen.

In diesem Moment schossen mehrere Bienen aus dem Bienenstock hervor. Christiane schrie gellend auf. »Sie haben mich gestochen«, rief sie und begann wild um sich zu schlagen. Sie wußte, daß man so etwas niemals machen durfte und daß die Bienen dann nur noch angriffslustiger wurden. In diesem Moment konnte sie sich jedoch nicht beherrschen.

Markus hatte sekundenlang wie erstarrt dagestanden. Plötzlich kam Bewegung in ihn. »Lauf doch schnell weg«, rief er Christiane zu. Er griff nach ihrer Hand und wollte sie mit sich ziehen.

Christiane schrie jedoch nur noch gellender und bewegte sich nicht von der Stelle. Dabei schlug sie verzweifelt nach den Bienen, die sie umschwirrten.

Plötzlich kam Markus eine Idee. Er rannte zu der Wäscheleine, die neben der Stange zum Teppichausklopfen hing und riß ein Handtuch herunter. Damit lief er zu Christiane zurück und wehrte die Bienen ab.

Die Bienen hatten sich ohnehin ausgetobt. Sie summten wieder in Richtung der Akazie. Christiane schrie und schrie.

»Nun komm doch endlich, Christiane«, rief Markus.

»Laß mich, du sollst mich lassen« antwortete Christiane mit einem Aufschrei.

»Zeig doch mal, wo sie dich gestochen haben«, bat Markus.

»Überall. Am Bein und am Arm, wirklich überall«, erwiderte Christiane mit schmerzverzerrtem Gesicht. Sie wollte sich einen Stachel aus dem linken Arm ziehen.

»Nicht, so macht man das doch nicht«, erinnerte Markus. Er nahm einfach Christianes Arm und hielt ihn fest. Mit zusammengepreßten Lippen strich er über die Stichwunde. Abstreifen mußte man den Stachel, hatte Gerhard gesagt.

Markus wußte jedoch nicht, ob der Stachel wirklich draußen war. Christiane schrie nach wie vor wie am Spieß.

»Nun sei doch endlich mal ruhig«, rief Markus ganz verzweifelt.

Christiane bückte sich. Eine Biene hatte sie auf ihren bloßen Fuß gestochen, und dieser Stich schmerzte ganz besonders. Sie rieb mit der Hand über die Stichstelle.

»Damit machst du doch alles nur noch schlimmer«, rief Markus.

»Es tut so weh. So schrecklich weh. Überall haben sie mich gestochen. Oh, mein Fuß, mein Hals, oh mein Arm. Mama, Papa«, schrie Christiane. Sie wollte auf einmal schnell ins Haus laufen.

»Aber es ist doch niemand da«, erinnerte Markus und wollte Christiane wieder am Arm festhalten.

»Laß mich. Mama, Papa«, stieß Christiane schluchzend hervor und riß sich von Markus los.

»Ich will dir doch bloß helfen. Bleib doch endlich stehen, damit ich die Stachel von deiner Haut abstreifen kann«, bat Markus. Er war ganz außer sich, weil Christiane sich nicht helfen lassen wollte.

Christiane hörte jedoch gar nicht zu, was er sagte. Sie lief durch das Gartentor und auf die Straße.

Markus sah ihr einen Moment nach, dann folgte er ihr. »Wo willst du denn hin?« schrie er.

»Zu meiner Mama.« Tränen strömten über Christianes Gesicht.

Markus biß sich auf die Unterlippe und blieb stehen. Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Seine Verzweiflung und seine Angst waren grenzenlos.

Während er Christiane nachsah, überlegte er, wieviel Bienen Christiane wohl gestochen haben mochten. Zehn, oder vielleicht sogar noch mehr?

Markus fiel ein, was ihm ein Junge aus seiner früheren Schulklasse erzählt hatte. Danach konnten die Stiche von sieben Bremsen ein Pferd töten. Das Gift aus den Stacheln so vieler Bremsen hatte beim Pferd einen Herzstillstand zur Folge. Es würde einfach umfallen, und dann sei es tot, hatte der Junge Markus glaubhaft versichert.

Markus sagte sich, daß Bienen genau wie Bremsen waren, nur etwas größer. Wieviele Bienenstiche mochten wohl nötig sein, um einen Menschen zu töten? Bei dieser Überlegung hielt Markus für eine Sekunde die Luft an. Sein Mund war auf einmal ganz trocken, und sein Herz begann heftig zu schlagen.

Er biß sich auf die Unterlippe. »Christiane«, flüsterte er. Er überlegte, ob er ihr doch noch nachlaufen sollte. Als Christiane gleich darauf hinter einer Straßenhecke verschwand, ließ er es jedoch sein.

Statt dessen lief er zum Wald. Dort warf er sich auf den Boden und vergrub sein Gesicht in dem weichen, ein wenig feuchten Moos.

*

Christiane war auf dem Weg zu dem Haus, in dem die Dame wohnte, die ihre Mutter betreute. Kurz hinter dem Gasthaus Heidekrug begegnete ihr Bea Martens.

»Christinchen, was ist denn, meine Kleine? Warum weinst du denn so?« fragte Bea. Gleich darauf bemerkte sie jedoch, daß das Gesicht, der Hals und die Arme des Kindes gerötete Schwellungen aufwiesen. Bevor Christiane noch eine Antwort geben konnte, fügte sie deshalb schnell hinzu: »Hat dich etwas gestochen, Christiane?«

»Ja, die Bienen. Ganz viele Bienen«, rief Christiane aufschluchzend.

»Ach, du Arme. Komm, Christianchen, wir gehen schnell in die Klinik. Dort wird man dir helfen«, versicherte Bea dem Kind. Sie nahm Christianes Hand und eilte mit ihr die Straße hinunter, an deren Ende das hohe schmiedeeiserne Tor lag, hinter dem die Kinderklinik Birkenhain zu sehen war.

Christiane weinte noch immer. Als Bea mit ihr in die große Eingangshalle der Kinderklinik trat, verstärkte sich ihr Weinen sogar noch.

Schwester Trude, die gerade auf dem Weg in die Krankenstation im ersten Stockwerk der Klinik gewesen war, blieb mitten im Schritt stehen und kam dann die Treppe wieder hinunter.

»Guten Tag, Frau Martens. Wen bringen Sie uns denn da? Ach, die Kleine ist ja voller Insektenstiche«, rief die Schwester gleich darauf aus.

»Christiane ist von Bienen gestochen worden. Würden Sie bitte meinem Sohn oder meiner Tochter Bescheid sagen, Schwester Trude?« bat Bea.

Sie legte dabei einen Arm um Christianes zuckende Schultern. Die Kleine schmiegte sich schutzsuchend an sie und verbarg dabei ihr tränenüberströmtes Gesicht an Beas hellblauem Baumwollpullover.

»Der Doktor ist auf der Krankenstation. Aber Ihre Tochter habe ich gerade in ihr Arztzimmer gehen sehen«, berichtete Schwester Trude.

»Vielen Dank.« Bea nahm wieder Christianes Hand und trat mit ihr durch die Glastür, die in den medizinischen Trakt der Klinik führte.

Christianes lautes Weinen hatte Hanna bereits alarmiert. Sie trat aus ihrem Arztzimmer. »Mutter, Christiane«, stieß sie hervor, als sie ihre Mutter und das kleine Mädchen herankommen sah.

»Hanna, Christiane ist von Bienen gestochen worden«, erklärte Bea noch einmal.

»Oh, Christiane, das ist ja schlimm. Kommt schnell mit in die Notfallaufnahme«, forderte Hanna ihre Mutter und Christiane auf.

Christianes Weinen steigerte sich zum Gebrüll. Bea seufzte tief auf. Vor Mitleid traten ihr selbst fast die Tränen in die Augen.

In der Notfallaufnahme hatte Dr. Malte Dornbach gerade einem Jungen, der sich an der Hand mit einer Glasscherbe verletzt hatte, einen Verband angelegt. Der Junge, der neben seiner Mutter stand, betrachtete Christiane mit großen Augen. »Was ist denn? Warum schreist du denn so?« wollte er wissen.

»Christiane ist von Bienen gestochen worden«, antwortete Bea zum dritten Mal.

Dr. Malte Dornbach legte dem Jungen, den er gerade verarztet hatte, eine Hand auf die Schulter. »Komm, Karsten, wir haben hier nichts mehr zu suchen«, sagte er und verließ mit dem Kind und dessen Mutter die Notfallaufnahme.

»So, und dir werden wir auch gleich geholfen haben, meine Kleine«, sagte Hanna liebevoll zu Christiane.

Christiane schniefte und schluckte. »Es tut so weh«, stieß sie hervor.

»Das glaube ich dir, Christianchen«, erwiderte Hanna mitfühlend, während sie vorsichtig einige Tropfen Salmiakgeist auf die roten Einstichstellen gab.

»Gleich gehen die Schmerzen weg«, versicherte sie Christiane lächelnd.

»Jetzt sind sie aber noch da«, schluchzte Christiane.

»Ja, mein Schatz, ich weiß«, sagte Hanna mit leiser Stimme. Sie legte Umschläge, die mit einer Borsäurelösung benetzt waren, auf die Schwellungen.

Christiane beobachtete jede ihrer Handbewegungen. Sie hatte grenzenloses Vertrauen zu der Ärztin. Trotzdem machte ihr die ungewohnte Umgebung große Angst. Dazu kamen die schlimmen Schmerzen. Sie begann wieder zu weinen.

Bea legte ihre Arme um Christiane und strich ihr mit zärtlichen Bewegungen über den Rücken. »Weine nur, Christiane«, murmelte sie.

Christianes ganzer Körper wurde von Schluchzen geschüttelt. Nach einer Weile merkte sie jedoch, daß die Schmerzen tatsächlich nachließen. Sie hob ihren Kopf. »Es waren mindestens hundert Bienen, die mich gestochen haben«, versicherte sie Bea und Hanna.

Bea streichelte ihr Haar. »Ja, es waren sehr viele, Christiane«, stimmte sie mit feinem Lächeln zu.

»Und Schuld hatte ganz alleine Markus«, fuhr Christiane fort.

»Markus?« fragte Hanna erstaunt.

Christiane nickte. »Er hat die Fluglöcher von dem Bienenstock geöffnet, und dabei sind die Bienen rausgeflogen. Markus haben sie kein bißchen gestochen. Sie sind alle zu mir gekommen. Dabei habe ich ihnen doch gar nichts getan«, antwortete sie.

»Das ist wirklich ungerecht, Christiane«, erwiderte Bea mitleidig.

Christiane schniefte noch einmal und fuhr sich dann mit beiden Händen über das tränenfeuchte Gesicht. »Muß ich jetzt in der Klinik bleiben?« fragte sie.

»Nein, Christiane, das brauchst du nicht. Ich fahre dich jetzt nach Hause zu deiner Mama und deinem Papa«, versprach Hanna.

»Wirklich?«

»Ja. Ich habe sowieso noch einen Hausbesuch zu machen«, entgegnete Hanna.

Christiane blickte auf Bea. »Bringst du mich auch nach Hause?« erkundigte sie sich und merkte gar nicht, daß sie Bea duzte.

»Ja, meine Kleine«, versprach Bea.

Über Christianes Gesicht glitt ein Lächeln. Sie faßte nach Beas Hand. »Von mir aus können wir losfahren«, erklärte sie.

Hanna lachte. »Von mir aus auch, Christiane.« Sie holte ihre Arzttasche aus ihrem Zimmer und ging mit ihrer Mutter und Christiane zu ihrem Auto, das in der Garage hinter dem Doktorhaus stand.

Auf dem Weg zum Imkerhaus fiel Christiane plötzlich ein, daß ihre Mutter ja bei der alten Dame mit dem gebrochenen Bein und ihr Vater in der Landwirtschaftsschule war. Im gleichen Moment bog Hanna jedoch schon mit ihrem Wagen in die schmale Straße ein, an dessen Ende das Imkerhaus stand. Vor dem Gartentor ihres Elternhauses entdeckte Christiane den weißen Kombiwagen ihres Vaters mit dem aufgemalten Bienenstock.

»Da steht schon das Auto von meinem Papa. Mein Papa ist schon nach Hause gekommen«, rief Christiane.

Als Hanna gleich darauf hinter dem Wagen des Imkers anhielt, konnte Christiane gar nicht schnell genug aus Hannas Auto herauskommen.

»Papa, Papa«, rief sie, als sie über den Gartenweg zur Haustür lief. Bevor sie dort anlangte, trat Gerhard zur Tür hinaus. Hinter ihm erschien seine Frau.

»Christiane, was ist denn los? Bist du verletzt? Warum hast du denn überall einen Verband?« stieß Gerhard hervor und hob seine kleine Tochter auf seine Arme.

Christiane legte ihre weichen Hände um sein kräftiges Gesicht. Ihre Wangen glühten vor Aufregung. »Papa, mich haben tausend Bienen gestochen. Überall habe ich Stiche. Aber die Frau Doktor hat mir geholfen. Sie hat Borwasser auf die Stiche getan. Deshalb tut es mir jetzt gar nicht mehr weh. Nur noch ein bißchen«, berichtete sie.

Gerhard blickte über die Schulter seines Kindes hinweg auf Hanna und Bea. »Guten Tag, Frau Martens, guten Tag, Frau Doktor. War Christiane bei Ihnen in der Klinik?« fragte er auf seine ruhige Art.

Hanna nickte und berichtete dann in wenigen Worten, wie sie Christianes Einstichwunden behandelt hatte. Zum Schluß fügte sie hinzu: »Sie haben meiner Mutter und mir damals so gut erklärt, wie man den Stachel abstreifen muß, damit das Gift nicht in den Körper dringt. Leider war es dazu bei Christiane zu spät. Die Stacheln saßen bereits fest in der Haut.«

»Aber wie konnte das nur passieren? Die Kinder sind doch noch nie von unseren Bienen gestochen worden«, sagte Ute mit entsetztem Gesicht.

»Das ist alles Markus’ Schuld«, erklärte Christiane, und dann erzählte sie auch ihren Eltern, wie es dazu gekommen war, daß die Bienen über sie hergefallen waren.

»Und wo ist Markus jetzt?« erkundigte sich Ute bei ihrer kleinen Tochter.

»Das weiß ich auch nicht, Mama.« Gerhard stellte Christiane wieder auf den Boden. »Ich danke Ihnen sehr, daß Sie Christiane so gut verarztet haben, Frau Doktor«, sagte er zu Hanna.

»Ich habe die gleichen Mittel angewandt wie meine Mutter früher, wenn mein Bruder und ich von einer Biene gestochen wurden«, antwortete Hanna.

»Die alten Mittel sind eben oft die besten«, stimmte Gerhard ihr zu.

»Ja, dann werde ich mich jetzt verabschieden«, meinte Hanna.

»Ich komme mit dir, Hanna«, sagte Bea. Nach kurzer Pause fügte sie mit einem feinen Lächeln hinzu: »Frau und Herr Behnsen, Sie sollten trotzdem nicht zu sehr mit Markus schimpfen. Der Junge wußte wahrscheinlich gar nicht, was er tat.«

Gerhards Gesicht verschloß sich. Ohne auf Beas Worte einzugehen, begleitete er sie und Hanna bis zum Gartentor. »Wo ist denn Claudia?« wollte er von Christiane wissen, nachdem er ins Haus zurückgekehrt war.

»Bei Irene. Sie wollten mit dem Puppenhaus spielen. Weil ich dazu keine Lust hatte, bin ich weggegangen. Und dann ist das mit den Bienen passiert«, erklärte Christiane.

Kurz darauf kam Claudia nach Hause, und Christiane erzählte auch ihr, wie sie von tausend und noch viel mehr Bienen überfallen und gestochen worden war.

Inzwischen war es sieben Uhr geworden. Ute deckte den Abendbrottisch. »Ich verstehe gar nicht, warum Markus nicht nach Hause kommt«, sagte sie mit sorgenvoller Miene zu ihrem Mann.

»Er wird ein schlechtes Gewissen haben«, erwiderte Gerhard.

»Und was ist, wenn Markus gar nicht wiederkommt, Mama?« fragte Claudia.

»Natürlich kommt Markus wieder, Claudia«, entgegnete Ute sichtlich erschrocken. Sie blickte auf ihren Mann. »Bitte, Gerhard, sieh doch mal nach, ob Markus vielleicht in den Wald gegangen ist«, bat sie.

Gerhard zögerte einen Moment. »Also gut«, antwortete er dann und verließ das Haus.

»Kommt, Kinder, ihr fangt schon einmal an zu essen«, forderte Ute ihre beiden Töchter auf.

»Wir möchten aber lieber warten, bis Papa zurückkommt, Mama«, widersprach Christiane.

»Bitte, Christiane, jetzt tut doch endlich einmal ohne Widerrede, um was ich euch bitte«, entgegnete Ute ungehaltener, als es sonst ihre Art war.

Christiane und Claudia setzten sich an den Tisch. Als sie fertig gegessen hatten, war ihr Vater noch immer nicht zurückgekommen.

»Zieht euch jetzt aus. Dann ruft mich, damit ich euch duschen kann«, bat Ute die beiden kleinen Mädchen.

»Aber…«, wollte Claudia wieder beginnen.

»Bitte, Claudia, ihr sollt euch ausziehen«, unterbrach Ute ihre Tochter.

Claudia schob die Unterlippe vor, stieg dann aber die Treppe zum Obergeschoß des Imkerhauses hinauf. Christiane folgte ihr. Als sie eine halbe Stunde später frisch gewaschen in ihren Betten lagen, war von ihrem Vater und Markus noch immer nichts zu hören und nichts zu sehen.

*

Gerhard hatte den ganzen Wald durchquert, bevor er Markus am Waldrand liegen sah. Der Junge hatte die Hände im Nacken verschränkt und sah zum Himmel hinauf.

»Markus, da bist du also«, rief Gerhard.

Markus richtete sich ruckartig auf. Sein schmales Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an.

Gerhard stellte sich vor ihn hin und sah ihn eine ganze Weile ohne zu sprechen an. Er erkannte auf Markus’ Gesicht die Spuren hastig weggewischter Tränen. Schließlich fragte er: »Warum hast du das gemacht, Markus? Warum hast du die Bienen nicht in Ruhe gelassen?«

Markus gab keine Antwort, sondern starrte nur trotzig und mit zusammengepreßten Lippen vor sich hin.

Gerhard setzte sich neben ihn. »Willst du mir nicht antworten, Markus?« fuhr er fort.

Markus schwieg verbissen.

»Gut, Markus, dann höre mir wenigstens zu. Ich hatte dir verboten, die Fluglöcher der Bienenstöcke zu öffnen. Du hast es trotzdem getan. Ich weiß jetzt, daß ich mich nicht auf dich verlassen kann. Das ist für mich eine große Enttäuschung«, erklärte Gerhard.

Er machte eine Pause. Als Markus weiterhin vor sich hin starrte, fuhr er fort: »Du wirst vielleicht verstehen, daß ich nach allem jetzt keine Lust mehr habe, dir das Pony zu kaufen.«

Markus wandte ihm seinen Kopf zu und starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Seine Lippen bewegten sich, aber er sagte kein Wort.

Gerhard erhob sich. »Komm jetzt nach Hause, Markus«, forderte er den Jungen auf.

Markus stand auf. Sein Gesicht war auf einmal wachsbleich. Mit gesenktem Kopf folgte er Gerhard quer durch den Wald zum Imkerhaus. Von Zeit zu Zeit wischte er verschämt über seine Augen. Gerhard tat, als merkte er es nicht. Sein Herz war noch immer voller Groll gegen Markus.

Als sie zur Tür hereintraten, kam Ute ihnen vom Wohnzimmer aus entgegen. »Da seid ihr ja endlich«, meinte sie. Es sah aus, als falle ihr ein Stein vom Herzen.

Markus sah zu Boden.

»Wo warst du denn nur, Markus?« fragte Ute. Als Markus schwieg, antwortete Gerhard: »Ich habe ihn am Waldrand gefunden, Ute.«

Ute strich kurz über Markus’ Arm. »Du wirst hungrig sein, Markus«, vermutete sie.

Markus schüttelte den Kopf.

»Aber du hast doch seit heute mittag nichts mehr gegessen, Markus«, fuhr Ute fort.

»Ich habe aber keinen Hunger«, stieß Markus hervor.

»Dann geh jetzt gleich ins Bett, Markus«, bestimmte Gerhard.

Ohne ein Wort zu sagen, lief Markus die Treppe hinauf. Ute wollte ihm folgen, aber Gerhard hielt sie am Arm fest. »Laß ihn, Ute. Er muß lernen, sich in unsere Familie einzufügen. Es war zuviel, was er heute angestellt hat.«

»Gerhard, es tut ihm bestimmt furchtbar leid.«

»Dann hätte er das sagen müssen, Ute. Ich habe ihm übrigens erklärt, daß wir das Pony nicht kaufen werden«, berichtete Gerhard.

»Wie konntest du nur so etwas tun, Gerhard?« stieß Ute hervor.

»Also jetzt reicht es mir aber, Ute. Ich habe bestimmt genug Geduld mit Markus bewiesen. Irgendwann ist aber einmal Schluß«, befand Gerhard.

»Trotzdem… das hättest du nicht tun dürfen«, wiederholte Ute. Sie überlegte einen Moment, dann lief sie die Treppen hinauf.

Die Tür zu Markus’ Zimmer war angelegt. Ute öffnete sie. Markus lag bereits im Bett. Auf seinem blassen Gesicht waren noch immer die Spuren von Tränen zu sehen. Er hatte sich nicht vor dem Zubettgehen gewaschen, aber das war Ute in diesem Moment völlig gleichgültig.

Sie setzte sich neben ihren Sohn auf die Bettkante. »Markus, du sollst wissen, daß Gerhard und ich dich nach wie vor sehr lieb haben«, versicherte sie. In ihrer Stimme schwang ein Zittern mit.

Markus schüttelte den Kopf. »Das ist nicht wahr. Ihr wollt mich bloß los sein. Ihr wollt gar nicht, daß ich bei euch bin«, stieß er hervor.

»Das darfst du nicht sagen, Markus.« Ute wollte ihn umarmen. Bevor es aber dazu kam, verkroch sich Markus wieder ganz schnell unter die Bettdecke.

Ute wartete noch einen Moment, dann erhob sie sich und verließ das Zimmer. Leise schloß sie hinter sich die Tür. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand, während sich in ihr ein Gefühl tiefster Verzweiflung ausbreitete.

»Ute?« hörte sie ihren Mann von der Diele aus rufen.

»Ja, ich komme schon«, antwortete sie und stieg die Treppe hinunter.

»Du weinst ja«, sagte Gerhard erschrocken.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Gerhard. Ich habe manchmal fast das Gefühl, daß Markus mich haßt«, gestand Ute.

»Dazu hat er nicht den geringsten Grund«, entgegnete Gerhard heftig. Er nahm seine Frau in die Arme. Gleich darauf spürte er, wie die Stelle, wo Utes Augen sein Hemd berührten, feucht wurde.

»Nicht weinen, Liebes…«, sagte er mit zärtlicher Stimme und strich Ute über das schöne Haar. Insgeheim fragte er sich jedoch, ob es wirklich richtig gewesen war, Markus in die Familie aufzunehmen.

*

Während der nächsten Zeit sonderte sich Markus noch mehr als vorher von der Familie ab. Sein Zufluchtsort war nach wie vor der Wald.

Abends kam er mit von Brombeergestrüpp und Unterholz zerkratzten Beinen nach Hause. In seinen Locken hatte sich dann manchmal ein Blatt verfangen, und sein Hemd zeigte grüne Spuren von dem Gras, in das er sich gelegt hatte.

Er hatte keinen Freund. Nie brachte er einen anderen Jungen mit nach Hause, und niemals wurde er von anderen Kindern eingeladen. Er war immer für sich und schien auch gar nicht den Wunsch zu haben, zu irgendeinem Menschen zu gehören.

Eines Tages, als er wieder auf dem Weg zum Wald war, sah er einen seltsamen Zug auf sich zukommen. Er blieb stehen und starrte auf die vier Zirkuswagen, die von traktorartigen Maschinen gezogen wurden.

Auf den Zirkuswagen mit den runden Dächern waren Löwen, Giraffen und Affen gemalt. Unter einem Krokodil mit spitzen, scharfen Zähnen war geschrieben: »Zirkus Romero«.

Plötzlich entdeckte Markus hinter den vergitterten Fenstern eines der Wagen den Kopf eines Pferdes. Er hatte das Gefühl, als würde das Pferd ihm zuzwinkern.

Als die Zirkuswagen gleich darauf um die nächste Straßenecke bogen, begann Markus hinter ihnen herzulaufen. Er rannte, bis er wieder auf gleicher Höhe mit dem Pferd war. Es hatte wie das Pony Robinson einen weißen Streifen auf dem Kopf, der sich von seinen Ohren bis zu dem weichen Maul zog.

Markus folgte den Zirkuswagen zu einer großen Wiese, auf der im Sommer das Schützenfest stattfand. Die Motoren der Zugmaschinen wurden ausgestellt. Die Zirkuswagen bildeten auf der Wiese einen Kreis.

Gleich darauf bevölkerte sich die Wiese mit Männern, Frauen und Kindern, die aus den Zugmaschinen und den Zirkuswagen sprangen.

Markus beobachtete mit weitaufgerissenen Augen, wie ein unglaublich dickes Nilpferd mit kurzen Beinen über eine hölzerne Rampe auf die Wiese stampfte.

Aus einem anderen Wagen kam eine flügelschlagende, schnatternde Gans. Ein kreischender Affe hängte sich an die Tür eines Zirkuswagens und schwang sich auf das Dach, als ein Mann ihm einen Klaps gab. Von dort oben schimpfte er herunter, wobei er sich die Haare raufte.

Ein gackerndes Huhn und mehrere Zwerghühner begannen auf der Wiese zu picken, eine Ziege stieß mit ihren Hörnern gegen einen Holzpflock. Ein Lama mit samtweichem Fell betrachtete neugierig die Gegend, ein Kamel gab sich hochmütig.

Plötzlich sah Markus, wie ein Junge zwei Pferde an Hanfseilen aus einem der Zirkuswagen zog. Das eine Pferd war kohlrabenschwarz, das andere war das Pferd mit dem weißen Streifen auf dem Kopf.

Der Junge trug weiße Turnhosen. Sein Oberkörper und seine Füße waren nackt. Er führte die Pferde etwas abseits der Wagenburg und trieb einen Holzpflock, an den die Seile gebunden waren, in den Boden. Danach lief er zu den Zirkuswagen zurück und half, ein Zelt auf die Wiese zu ziehen.

Markus ging zu dem Pferd mit dem weißen Streifen. Zaghaft streckte er seine Hand aus und berührte damit das weiche Maul des Pferdes.

»Du hast mir zugezwinkert«, sagte er mit leiser Stimme zu dem Tier.

Das Pferd warf seine Mähne auf die andere Seite seines Halses und wieherte laut auf.

»Hallo, du da, was machst du denn mit Hannibal?« schrie in diesem Moment der Junge, der die Pferde ins Freie geführt hatte.

»Gar nichts«, rief Markus.

Der Junge kam zu ihm und betrachtete ihn völlig ungeniert von Kopf bis Fuß. »Bist du von hier? Gehörst du hierher?« erkundigte er sich.

»Ich gehöre nirgendwo hin«, antwortete Markus.

»Irgendwo gehört man immer hin«, widersprach der Junge.

»Ich nicht.«

»Wo sind denn deine Eltern?«

»Warum willst du denn das wissen?«

»Naja, wenn du nirgendwo hingehörst und auch keine Eltern hast, dann kannst du ja mit uns mitkommen. Wir brauchen nämlich noch jemanden, der Hannibal reitet«, berichtete der Junge.

»Wer ist denn Hannibal?« wollte Markus wissen.

»Er hier.« Der Junge klopfte Hannibal auf den kräftigen Hals.

»Und warum kannst du Hannibal nicht reiten?« fragte Markus.

»Weil ich doch schon Cäsar reite«, antwortete der Junge und deutete dabei auf das kohlrabenschwarze Pferd.

Markus biß sich auf die Lippen. »Ich würde gern mit euch mitfahren«, erklärte er dann.

»Das wäre gar nicht schlecht. Mein Vater sucht nämlich seit langem jemanden. Aber sag einmal, kannst du überhaupt reiten?« fragte der Junge.

»Ein bißchen.«

»Auch im Stehen?« fuhr der Junge fort.

»Im Stehen? Wie denn im Stehen?« stieß Markus hervor.

»Naja, auf dem Rücken von einem Pferd sitzen, das kann jeder. Aber wenn du mit uns mitfahren willst, dann mußt du im Stehen auf Hannibal reiten können. Im Stehen und beim Galopp«, erklärte der Junge.

»Das habe ich noch nie gemacht. Aber das kann ich ja lernen«, versicherte Markus.

Der Junge betrachtete ihn noch einmal von Kopf bis Fuß. »Hm, ich weiß nicht.«

»Was weißt du nicht?«

»Ob du das lernst. Das ist nämlich nicht einfach. Sogar mich hat Hannibal schon zweimal abgeworfen. Hier, siehst du die Narbe?« fragte der Junge und deutete auf seine Narbe, die sich über seinen linken Oberschenkel zog.

Markus nickte. »Es ist ein Wunder, daß ich überhaupt noch lebe. Die Ärzte haben drei Stunden gebraucht, um mich zu operieren. Warst du schon einmal in einem Krankenhaus?« erkundigte sich der Junge.

»Ja. Hier in der Kinderklinik Birkenhain. Ich hatte eine Nahrungsmittelvergiftung«, berichtete Markus.

»Pah«, machte der Junge, »eine Nahrungsmittelvergiftung. Das ist doch gar nichts. Ich bin richtig operiert worden. Ich lag auf dem Ope­rationstisch, und über mir war eine große Lampe. Der Arzt und die Schwestern machten sich einen Mundschutz um und gaben mir so eine Maske auf das Gesicht. Es roch ganz scheußlich, das kannst du mir glauben«, versicherte der Junge.

»Und was war dann?« stieß Markus hervor.

»Dann? Dann träumte ich, daß ich in die Lampe hineinflog. Mehr weiß ich nicht. Wie heißt du eigentlich?« fragte der Junge ganz unvermittelt.

»Markus. Und du?«

»Thomas. Aber alle nennen mich Tommy. Wenn du willst, kannst du auch Tommy zu mir sagen.«

Markus kaute kurz an seiner Unterlippe. »Und du meinst wirklich, daß ich auch bei euch im Zirkus auftreten darf?«

»Erst mußt du natürlich richtig reiten lernen. Aber wenn du ein Angsthase bist, laß es lieber sein«, warnte der Junge.

»Ich bin kein Angsthase«, empörte sich Markus.

»Na gut. Jetzt muß ich aber meinem Vater beim Zeltaufbauen helfen«, erklärte Tommy.

»Soll ich mitkommen?« stieß Markus hervor.

»Wenn du willst.«

Die Jungen liefen zu einem großen, unglaublich breitschultrigen Mann, den Tommy Markus als seinen Vater vorstellte. »Markus will mit uns kommen, Papa. Aber erst muß er noch richtig reiten lernen«, erklärte Tommy seinem Vater.

Der große Mann lachte. »Na, Markus, laß dich aber nicht von Hannibal abwerfen«, meinte er.

Während der nächsten Stunden arbeitete Markus so hart wie noch nie in seinem Leben. Er half Tommy und seiner großen Familie beim Aufbau des Zeltes und brachte danach den Tieren in großen gelben Eimern Wasser. Das Nilpferd bekam Heu zu fressen, die Hühner Körner, das Lama und das Kamel frisches Gras und dazu hartes Brot.

Als um sechs Uhr die Kirchenglocken läuteten, rief Markus ganz erschrocken. »Oh, ich muß ja nach Hause.«

»Ich denke, du gehörst nirgendwo hin«, erinnerte Tommy.

»Ich gehöre auch nicht da hin, wo ich zu Hause bin«, antwortete Markus. In diesem Moment kam eine schlanke Frau, deren rote Haare ihr bis zu den Hüften reichten, aus einem der Zirkuswagen. In ihrer rechten Hand hielt sie eine lange Leine, an die ein kleines Krokodil gekettet war.

»Was ist denn das?« stieß Markus hervor.

»Das siehst du doch. Ein Krokodil. Es ist ganz zahm und gehorcht Coringa aufs Wort. Coringa heißt die Frau. Sie ist meine Cousine«, berichtete Tommy.

»Das Krokodil guckt aber so komisch. So schief«, meinte Markus. »So gucken Krokodile nun mal.«

»Habt ihr noch mehr Krokodile?« wollte Markus wissen.

Tommy schüttelte den Kopf. »Nur das eine.«

»Und was ist mit den Löwen? Auf den Zirkuswagen sind Löwen gemalt«, sagte Markus.

»Die Löwen… naja, Löwen haben wir nicht. Aber dafür einen Clown und ganz tolle Akrobaten«, erwiderte Tommy.

»Und Pferde«, fügte Markus hinzu. »Genau. Kommst du morgen früh zum Reiten?«

»Klar. Aber erst muß ich zur Schule«, antwortete Markus mit großem Bedauern.

»Ich auch.«

»Du auch? Gehst du denn überall, wo ihr mit dem Zirkus seid, in die Schule?« stieß Markus erstaunt hervor.

»Das muß ich doch. Ich will doch schließlich was lernen«, erwiderte Tommy.

»Aber dann gehst du ja jeden Tag in eine andere Schule«, rief Markus.

»Das macht doch nichts. Ich bin froh, daß ich nicht immer die gleichen Lehrer habe. Jetzt muß ich aber wieder meinem Vater helfen. Wenn du willst, kannst du mich ja morgen abholen. Dann gehen wir zusammen zur Schule«, schlug Tommy vor.

»Das mach ich. Bis morgen, Tommy«, rief Markus und lief nach Hause. Seine Mutter hatte gerade den Abendbrottisch gedeckt, als er zur Tür hereinstürmte.

»Da bist du ja, Markus. Christiane und Claudia haben mir erzählt, daß sie dich auf der Festwiese gesehen haben. Du hast geholfen, das Zirkuszelt aufzubauen, nicht wahr?« fragte sie mit liebevollem Lächeln.

Markus nickte. Sein gerade noch so strahlendes Gesicht bekam sofort wieder einen abweisenden Zug. Er lief ins Badezimmer, um sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Als er in den Spiegel sah, dachte er daran, daß er bald wie Tommy ein großer Zirkusreiter sein würde. Bis dahin mußte er noch viel üben.

*

Als Markus am nächsten Morgen zum Zirkus kam, erkannte er seinen Freund Tommy kaum wieder. Tommy trug eine frischgebügelte hellbeige Popelinhose, ein weißes Hemd und blankgeputzte Schuhe. Durch sein Haar, das am Tag vorher so strubbelig gewesen war, zog sich ein schnurgerader Scheitel.

In der Schule wurde Tommy von allen anderen Kindern bestaunt. Tommy genoß das in vollen Zügen und erzählte die wildesten Geschichten, die er im Zirkus seines Vaters erlebt hatte.

Als der Unterricht beendet war, lief Markus mit Tommy zum Zirkus. Dort zog Tommy wieder seine Turnhose an und rannte mit Markus auf die Wiese zu den Pferden.

»He, Tommy, was habt ihr vor?« rief in diesem Moment ein alter Mann, der einen riesigen Strohhut auf dem Kopf trug.

»Markus möchte auf Hannibal reiten. Papa hat es erlaubt«, antwortete Tommy mit lauter Stimme.

»Dann ist ja alles in Ordnung. Seid aber trotzdem vorsichtig«, warnte der alte Mann.

»Na klar, Opa«, erwiderte Tommy. Er hielt Hannibal am Hanfseil fest. »So, steig schon auf«, meinte er zu Markus.

»Ohne Sattel?« wunderte sich Markus.

»Im Zirkus reitet man nicht mit Sattel«, war Tommys knappe Antwort.

Markus versuchte, sich auf Hannibals Rücken zu schwingen. Er war jedoch zu klein und Hannibal zu groß. Immer wieder rutschte er ab.

»Das mußt du so machen, Markus«, erklärte Tommy ungehalten. Er hielt sich an Hannibals Mähne fest, und ehe Markus sich versah, thronte Tommy auf dem Rücken des Pferdes.

»Hast du gesehen, wie das geht?« rief Tommy ihm zu und sprang neben Markus auf die Erde.

Markus nickte und versuchte, es Tommy nachzumachen. Es klappte jedoch wieder nicht.

»Und so etwas will Zirkusreiter werden«, höhnte Tommy.

Markus biß die Zähne zusammen und nahm einen Anlauf. Diesmal gelang es ihm, ein Bein über Hannibals Rücken zu schwingen.

»Na also. Das war schon ein bißchen besser«, sagte Tommy und gab Hannibal einen Klaps aufs Hinterteil. Daraufhin begann das Pferd loszutraben.

Markus dachte, daß Hannibal viel größer war als das Pony Robinson. Hannibal trabte inzwischen im Kreis herum, angefeuert von Tommys Rufen. »Zu, Hannibal, sei doch nicht so ein lahmer Esel. Ein bißchen mehr Trab, Hannibal.«

Markus hatte alle Mühe, sich auf Hannibal zu halten. Bei jedem Schritt rechnete er damit, daß er herunterfiel. Wie durch ein Wunder blieb er jedoch auf Hannibal sitzen.

Endlich machte Tommy »Brrrrr«, und Hannibal blieb stehen. Markus ließ sich auf den Boden gleiten.

Tommy grinste. »War es schlimm?« fragte er.

»Wieso schlimm?«

»Das sehe ich dir doch an der Nasenspitze an, daß du Angst hast«, erwiderte Tommy.

»Ich habe überhaupt keine Angst«, widersprach Markus heftig.

»Wirklich nicht?«

»Wenn ich es dir doch sage«, stieß Markus hervor.

»Also gut, dann beweise es mir auch. Ich stell mich im Galopp auf Hannibals Rücken. Wenn du mir das nachmachst, dann glaube ich dir, daß du keine Angst hast«, versprach Tommy.

Er schwang sich wieder leichtfüßig auf das Pferd und schnalzte mit der Zunge. Hannibal begann zu traben. Er wurde schneller und schneller.

Plötzlich sprang Tommy auf seine Füße, und während Hannibal zum Galopp überging, breitete er beide Arme auseinander. Dabei lachte er über das ganze Gesicht.

Nachdem er drei Runden im Stehen geritten war, machte er wieder »Brrr«, und Hannibal fiel in den Schritt. Kurz darauf blieb Hannibal stehen. Tommy sprang von seinem Rücken. »Na, was ist?« fragte er Markus.

»Du denkst wohl, das kann ich nicht«, antwortete Markus. Sein Gesicht war auf einmal ganz bleich. In seinem Magen spürte er ein flaues Gefühl.

»Dann beweise mir doch, daß du es kannst«, forderte Tommy ihn auf.

Markus nahm wieder einen kleinen Anlauf. Diesmal gelang es ihm sofort, sich auf Hannibals Rücken zu schwingen. Das Pferd setzte sich in Trab.

»So, jetzt mußt du aufstehen, Markus!« schrie Tommy.

Markus hielt für den Bruchteil einer Sekunde die Luft an. Er wagte gar nicht, zu Tommy hinunterzublicken. Sein Herz schlug auf einmal bis zum Halse. Um nichts in der Welt hätte er jedoch zugegeben, daß er Angst hatte.

Hannibal trabte schneller und schneller.

»Was ist denn? Willst du jetzt sitzen bleiben oder willst du aufstehen?« rief Tommy.

Markus biß seine Zähne zusammen und kniete sich ganz vorsichtig auf Hannibals breiten Rücken. Er hatte das Gefühl, auf einem Schiff zu sein, das von hohen Wellen hin- und hergeschaukelt wurde.

Nachdem er eine Runde kniend hinter sich gebracht hatte, setzte er ganz langsam einen Fuß auf Hannibals Rücken. Dabei schoß es ihm durch den Kopf, das es besser gewesen wäre, wenn er seine Schuhe ausgezogen hätte. Aber jetzt war es zu spät.

Markus hob seinen anderen Fuß hoch.

In diesem Moment ertönte von einem der Zirkuswagen her der laute, zornige Ruf von Tommys Vater. »Seid ihr denn des Teufels, ihr Bengel? Hör sofort auf.«

Markus sah für einen winzigen Augenblick, wie Tommys Vater auf ihn zurannte. Im gleichen Moment wieherte Hannibal laut auf und vollführte eine Art Bocksprung Markus versuchte noch, sich in Hannibals brauner langer Mähne festzuhalten. Seine Hände griffen jedoch ins Leere. Er stieß einen lauten, gellenden Schrei aus.

Gleich darauf verspürte er einen furchtbaren Schmerz. Dann tanzten auf einmal unzählige bunte Pünktchen vor seinen Augen. Was danach geschah, drang nicht mehr in Markus’ Bewußtsein.

*

Dr. Hanna Martens streichelte dem kleinen Mathias, der am Leistenbruch operiert worden war, über das Köpfchen mit den hellen Haaren. »Jetzt freust du dich aber, daß du wieder nach Hause darfst, nicht wahr, Mathias?« fragte sie.

Mathias lachte und zeigte dabei seinen einen Zahn. Seine Mutter, die ihn auf dem Arm hielt, drückte ihn zärtlich an sich. »Dank Ihrer Hilfe hat Mathias den Aufenthalt in der Klinik großartig überstanden, Frau Doktor«, sagte sie.

»Ich glaube eher, es liegt daran, daß Sie die ganze Zeit über bei ihm waren«, erwiderte Hanna lächelnd.

»Mathias hatte eben Glück, daß er Sie als Ärztin und dich als Mama hat«, meinte Mathias’ Vater, der in die Klinik gekommen war, um seine Frau und seinen kleinen Sohn abzuholen.

Hanna reichte Mathias’ Eltern die Hand. »Ich wünsche Ihnen und Ihrem Söhnchen alles Gute«, sagte sie auf ihre herzliche Art.

»Das wünschen wir Ihnen auch, Frau Doktor. Und vielen Dank noch einmal für alles«, erwiderte Mathias’ Mutter.

Hanna sah ihnen nach, wie sie durch die große Glastür gingen und die Klinik verließen. Sie empfand dabei ein Glücksgefühl und dachte wieder einmal, was für einen schönen Beruf sie hatte und wieviel er ihr bedeutete.

Hanna warf einen Blick auf ihre kleine goldene Armbanduhr. Es war schon nach zwölf Uhr. Sie erinnerte sich, daß ihre Haushälterin gebratene Krabben nach dem Rezept von Ute Behnsen zubereiten wollte. Kay sollte mit ihr und ihrer Mutter essen.

Nach kurzem Überlegen trat Hanna in das Arztzimmer ihres Bruders. »Wie ist es, Kay, bist du fertig? Kommst du mit zum Mittagessen?« fragte Hanna.

»Sofort, Hanna. Ich möchte nur noch schnell einen Bericht auf Band sprechen. Geh du nur schon los. Ich komme gleich nach«, erwiderte Kay.

»Gut. Dann also bis gleich«, antwortete Hanna und ging zur Tür hinaus.

Kay wollte gerade mit seinem Bericht beginnen, als das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete. Er nahm den Hörer ab und meldete sich.

»Was? Ein Reitunfall auf der Schützenplatz-Wiese?! Ja, ich komme sofort«, sagte er und legte auf. Fünf Minuten später saß er neben Martin Schriewers im Unfallwagen. Sobald sie das schmiedeeiserne Tor verlassen hatten, schaltete Martin Schriewers Blaulicht und Martinshorn ein.

Wieder fünf Minuten später erreichten sie die große Wiese, auf der der Zirkus seine Zelte aufgeschlagen hatte. Die Zirkusleute und eine ganze Reihe von Schaulustigen bildeten am Rande der Wiese einen Kreis. Etwas abseits grasten zwei Pferde und riß ein Nilpferd sein großes Maul auf.

Als der Kinderchirurg und der Hausmeister aus dem Notarztwagen sprangen, traten die Menschen etwas beiseite. Kay eilte mit schnellen Schritten durch das Spalier der Zirkusleute und der Schaulustigen.

»Das ist ja der Meine Markus Behnsen«, sagte er, als er den Jungen auf dem Rasen liegen sah.

»Herr Doktor, es ist nicht meine Schuld. Ich hatte ja keine Ahnung, was die Kinder mit den Pferden anstellten«, erklärte in diesem Moment Tommys Vater, der Zirkusdirektor.

Kay sah ihn nur ganz kurz an. Ohne auf die Worte des Mannes einzugehen, neigte er sich über Markus. Er sah mit einem Blick, daß keine Sekunde zu verlieren war, wenn Markus gerettet werden sollte.

Kay hob den Kopf. In der gleichen Sekunde stellten Martin Schriewers und ein Mitarbeiter des Zirkusses eine Trage neben ihn.

»Ganz vorsichtig«, sagte Kay zu Martin Schriewers. Er und Martin Schriewers hoben Markus auf die Trage, eilten damit zum Rand der Wiese und schoben den Jungen auf der Liege durch die rückwärtige Tür in den Notarztwagen.

Dr. Kay Martens setzte sich neben Markus. Martin Schriewers nahm hinter dem Steuer Platz. Sekunden später jagte der Krankenwagen mit Blaulicht in Richtung Kinderklinik Birkenhain davon.

Als er vor der Klinik hielt, kamen die beiden Pfleger Karsten Famula und Jan Sounders angelaufen. Kay wies sie mit knappen Worten an, den Patienten sofort in den Operationssaal zu bringen. Danach forderte er Martin Schriewers auf, die Anästhesistin Dr. Simone Wilde und den Neurologen Dr. Klaus Mettner sowie Oberschwester Elli Gaus zu sagen, daß sie ebenfalls in den Operationssaal kommen sollten.

Fünf Minuten später lag Markus nackt auf dem Operationstisch. Der Operationssaal war bis in die hinterste Ecke von dem kalten, grellen Licht der Operationslampen erhellt. Die Ärzte und Schwester Elli Gaus trugen grüne Kittel, die auf dem Rücken zugebunden waren. Hauben hielten ihre Haare zurück. Mund und Nase bedeckten sterile Tücher.

Der Chefarzt und Kinderchirurg Dr. Kay Martens neigte sich über Markus. Er strahlte jene angespannte Ruhe aus, die er in den vielen Jahren, die er schon als Arzt tätig war, erworben hatte.

»Frau Dr. Wilde, Sie übernehmen die Narkose und die Bluttransfusion. Dr. Mettner, Sie assistieren mir bitte«, bestimmte er.

In diesem Moment öffnete Markus einen winzigen Spaltbreit seine Augen. Auf seinem wachsbleichen Gesicht erschien ein Ausdruck maßlosen Erschreckens. Es war genauso, wie Tommy es ihm erzählt hatte. Über ihm hing eine grelle große Lampe. Grüne Menschen mit weißen Masken neigten sich über ihn.

Markus wollte schreien, er wollte sich wehren und um Hilfe rufen. Aber so sehr er sich auch anstrengte – er brachte keinen Ton hervor.

Statt dessen spürte er, wie er langsam, wie bei einer Zeitlupenaufnahme, in das weiße harte Licht der Lampe hineinschwebte. Gleich darauf breitete sich tiefe Dunkelheit um ihn aus.

»Wir fangen an«, sagte Dr. Kay Martens.

Oberschwester Elli Gaus hatte den kleinen Hahn eines gläsernen Behälters aufgedreht. Während Kay sich daranmachte, die durchtrennte Sehne am linken Arm von Markus zu nähen, rann unaufhörlich eine Dauertropfinfusion in den Blutkreislauf des kleinen Patienten.

Nachdem Kay die Sehne fachmännisch zusammengenäht hatte, warf er einen kur­zen schnellen Blick auf die Anäs­thesistin Dr. Simone Wilde. »Befinden…?« wollte er wissen.

»Der Puls wird schwächer, Chef.«

»Geben Sie Blut, Schwester«, wies Kay Oberschwester Elli Gaus an.

Dr. Klaus Mettner hatte inzwischen eine Wunde gereinigt, die Markus am Kopf davongetragen hatte. Es ist ein Wunder, daß der Schädel nicht gebrochen ist, fuhr es Kay durch den Kopf. Er begann, die Wunde zu vernähen. Als er damit fertig war, fragte er wieder: »Befinden?«

»Es ist wieder alles in Ordnung, Chef«, erwiderte die Anästhesistin.

Kay atmete insgeheim auf. Während der nächsten halben Stunde sprach niemand im Operationssaal. Unter Mithilfe seines Teams operierte Kay Markus’ linken Oberschenkel, der doppelt und auf äußerst komplizierte Weise gebrochen war. Zum Schluß legte er Markus den Gips um.

Oberschwester Elli Gaus wischte dem Chirurgen mit einem sterilen Tuch die schweißnasse Stirn ab. »Das haben Sie ja wieder einmal ganz großartig gemacht, Herr Doktor«, lobte sie.

Kay wußte, wieviel ein Lob aus dem Mund der manchmal sehr strengen Oberschwester bedeutete. Er nahm seinen Mundschutz ab und lächelte ihr zu. »Sie auch, Schwester Elli. Ich glaube, wir haben den Jungen wieder ganz gut hingekriegt. Jetzt müssen wir noch die Eltern benachrichtigen. Wenn sie nicht schon erfahren haben, was passiert ist«, setzte er hinzu.

*

Kays Hoffnung, daß es mit Markus nach der Operation nur noch bergauf gehen könne, erfüllte sich nicht. Noch eine Woche nach dem Unfall glühte Markus’ Körper im Fieber. Matt und apathisch, mit glasigen Augen lag er im Bett. Er wurde zu einem Schatten, seiner selbst.

Ute Behnsen brach fast zusammen vor Sorge um ihren Sohn. Ohne die Hilfe ihres Mannes hätte sie gar nicht gewußt, wie sie diese furchtbare Zeit überstehen sollte.

Als es Markus besonders schlecht ging, wollte sie schier verzweifeln. Gerhard machte ihr jedoch Mut, indem er sagte, nun könne es nicht mehr schlimmer kommen. Jetzt müsse es einfach mit Markus bergauf gehen.

Statt dessen ging es mit Markus jedoch immer weiter abwärts. Die Ärzte standen vor einem Rätsel. Nach ihrer Erfahrung hätte Markus schon längst wieder auf dem Weg der Besserung sein müssen.

Eines Morgens erschien Ute Behnsen sehr früh in der Kinderklinik. Dr. Hanna Martens stand neben Markus’ Bett, als Ute in das Zimmer trat. Mit Erschrecken sah Ute, daß durch einen Schlauch Flüssigkeit in die linke Armvene ihres Kindes tropfte.

»Was ist mit Markus?« stieß Ute zu Tode erschrocken mit flüsternder Stimme hervor.

»Ich habe eine Dauertropfinfusion anlegen lassen, damit er wieder etwas zu Kräften kommt«, antwortete die Ärztin mit ebenso leiser Stimme.

»Steht es denn wirklich so schlimm mit ihm?« wollte Ute wissen. Sie sah die Ärztin mit weitaufgerissenen Augen an.

»Es ist nur eine Vorsichtmaßnahme«, erwiderte Hanna. Ihr schönes, klares Gesicht drückte tiefes Mitleid aus.

Ute schlug ihre Hände vors Gesicht. In diesem Moment schrie Markus auf. Seine Mutter nahm sofort ihre Hände weg und neigte sich über ihn. Markus stieß einige zusammenhanglose Fetzen hervor, denen Ute und Dr. Hanna Martens jedoch entnehmen konnten, daß er einen Angsttraum hatte.

Als Markus schwieg, betupfte Ute seine Stirn mit einem schneeweißen Taschentuch. Plötzlich drehte sie ihren Kopf der Ärztin zu. »Dr. Martens, ich möchte Tag und Nacht bei Markus sein. Ist es vielleicht möglich, daß Sie ein Bett in Markus’ Zimmer aufstellen lassen?« bat sie.

»Das wollte ich Ihnen gerade vorschlagen, Frau Behnsen. Ich bin fest davon überzeugt, daß es zu Markus Heilungsprozeß beiträgt, wenn Sie ständig bei ihm sind«, antwortete Hanna.

»Vielen, vielen Dank, Frau Doktor«, flüsterte Ute.

Zwei Stunden später erschien ihr Mann. Als Ute ihm sagte, daß sie auch nachts bei Markus bleiben wollte, war er sofort einverstanden. Er versprach, sich um Christiane und Claudia zu kümmern, damit Ute ganz für Markus dasein konnte.

Während der nächsten Tage und Nächte erfuhr Ute, welche seelische Not ihr Kind litt. Im Fieber brach die ganze Qual aus Markus hervor, die er bei seinem Vater ertragen hatte. Ihn plagten die Erinnerungen an Mißhandlungen.

Eines Tages, als außer Ute auch Gerhard und Dr. Hanna Martens an seinem Krankenbett standen, schilderte Markus seinen Vater als ein dunkles Ungeheuer, das sich auf ihn stürzt.

»Wenn ich das gewußt hätte. Aber ich dachte doch immer, daß es Markus bei seinem Vater gutgeht. Als Markus klein war, hat sein Vater ihn wirklich geliebt. Ich konnte ja nicht ahnen, daß später alles ganz anders werden würde«, brach es aus Ute hervor.

Sie kniete neben Markus’ Bett nieder und nahm seine Hand in ihre. Markus ergriff sie wie ein Ertrinkender einen Strohhalm und hielt sie fest.

»Der arme Junge. Ich bekomme furchtbaren Zorn auf alle, die schlecht zu Kindern sind«, sagte Gerhard.

Ute strich ihrem Sohn mit ihrer freien Hand zärtlich über die Stirn. Sie hätte alles getan, um ihm zu helfen, aber sie wußte einfach nicht, wie sie es anfangen sollte.

Kurz darauf wurde Hanna von Schwester Trude zu einem kleinen Mädchen gerufen, das mit einer Harnweginfektion in die Kinderklinik eingeliefert worden war.

Für Gerhard war es Zeit, nach Hause zu gehen, um für Christiane und Claudia das Mittagessen zuzubereiten.

Ute blieb neben dem Bett ihres Sohnes sitzen. Nach einer ganzen Weile wurde vorsichtig die Tür geöffnet. Bea Martens trat ins Krankenzimmer.

Sie lächelte Ute auf ihre feine, liebevolle Art zu. »Guten Tag, Frau Behnsen. Ich wollte Sie mal ablösen«, sagte sie.

»Ablösen?« fragte Ute erstaunt.

»Ja. Meine Tochter hat mir erzählt, daß sie sich um Sie Sorgen macht, weil Sie weder etwas Richtiges essen noch zum Schlafen kommen. Deshalb bitte ich Sie, jetzt zum essen nach Hause zu fahren und sich dann ein paar Stunden auszuruhen. Machen Sie sich um Markus keine Sorgen. Er ist in guten Händen«, versicherte Bea.

»Aber…«

»Kein aber, Frau Behnsen! Sie sind ja nur noch ein Strich. Das kann ich gar nicht mehr mit ansehen«, erklärte Bea so energisch, wie es sonst gar nicht ihre Art war.

Ute lächelte unwillkürlich. »Dann muß ich wohl jetzt gehen, nicht wahr?« fragte sie.

Bea nickte. »Ja. Und lassen Sie sich ruhig Zeit«, erklärte Bea Martens noch einmal.

Ute warf noch einen zärtlichen Blick auf ihren Sohn, dann verabschiedete sie sich von Bea. Als sie die große Eingangshalle der Klinik durchquerte, kam ihr der Krankenpfleger Jan Sounders entgegen.

»Frau Behnsen, ich bin abkommandiert, Sie nach Hause zu fahren«, erklärte der vierundzwanzigjährige, schlanke junge Mann.

»Abkommandiert?« erkundigte sich Ute erstaunt.

Jan Sounders lachte. »Abkommandiert ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Frau Martens hat mich nämlich sehr höflich und liebenswürdig gefragt, ob ich denn bereit wäre, Sie zum Imkerhaus zu fahren.«

»Und da haben Sie natürlich nicht gewagt, nein zu sagen.«

»Ich wollte es gar nicht. Es ist mir nämlich ein Vergnügen, Sie nach Hause zu bringen.« Während sie sprachen, waren sie in den Klinikpark getreten. Der buntbemalte Kleinwagen des Krankenpflegers stand auf dem Parkplatz, der hinter einer dichten Hecke verborgen lag. »Darf ich bitten?« sagte Jan Sounders und hielt Ute die Tür neben dem Beifahrersitz auf. Ute stieg ein. Zehn Minuten später hielten sie vor dem Imkerhaus.

»Das war wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Sounders. Möchten Sie mit ins Haus kommen und einen Kaffee trinken?« bot Ute aus reiner Höflichkeit an.

»Heute nicht. Ein anderes Mal sehr gerne. Auf Wiedersehen, Frau Behnsen«, rief der Krankenpfleger und setzte sich wieder hinter das Steuerrad.

Ute trat ins Haus. »Ute, das ist aber eine Überraschung«, rief Gerhard. Er hatte seine beiden Töchter gerade abgefüttert und war dabei, in der Küche Ordnung zu schaffen.

»Frau Martens hat mich hergeschickt. Ich soll etwas essen und danach schlafen«, erklärte Ute mit einem schwachen Lächeln.

»Das ist eine wirklich vernünftige alte Dame. Setz dich, Ute. Zum Glück habe ich noch etwas Hühnchen«, rief Gerhard. Er tischte seiner Frau etwas Hühnchen und Gemüse auf. Danach legte Ute sich zum Schlafen in ihr Bett. Gerhard breitete eine Decke über sie und schloß das Fenster, damit Ute nicht von dem Geschrei der Kinder, die auf der Wiese hinter dem Haus spielten, gestört wurde.

Ute streckte sich unter der Decke aus. Sie dachte an Markus und Bea, aber dann fielen ihr schon die Augen zu. Gleich darauf war sie tief und fest eingeschlafen.

*

Am späten Nachmittag fuhr Gerhard seine Frau zur Kinderklinik Birkenhain zurück. Zu seinem Bedauern konnte er sie nicht zu Markus begleiten. Er mußte dringend in die Bienenstöcke, die er hinter dem Ögelaer Wald aufgestellt hatte, neue Seitenwände einbauen.

Mit Markus’ abgegriffenem Teddy in der Hand ging Ute über den Flur der Krankenstation. In einem der Zimmer, dessen Tür weit offenstand, legte eine Schwester, die jung und hübsch aussah, gerade eine Dauertropfinfusion an. In einem anderen Raum saß ein kleines Mädchen im geblümten Nachthemd im Bett und malte selbstvergessen mit Buntstiften ein Bild. Durch eine der Türen drang lautes, übermütiges Jungenlachen.

Markus’ Zimmer lag ganz am Ende des Flures. Ute drückte vorsichtig die Türklinke hinunter. Bea Martens, die auf einem Stuhl neben Markus’ Bett gesessen hatte, erhob sich.

»Da sind Sie ja. Jetzt gefallen Sie mir schon viel besser«, sagte sie mit flüsternder Stimme, während sie Ute lächelnd betrachtete.

»Guten Tag, Frau Martens. Jetzt habe ich Sie so lange warten lassen«, erwiderte Ute ebenfalls leise flüsternd.

»Markus und ich haben uns unterhalten, und da ist die Zeit nur so verflogen«, antwortete Bea.

Sie warf einen Blick auf den schlafenden Markus und nahm dann Utes Hand. »Kommen Sie, wir gehen vor die Tür. Sonst wacht Markus noch auf«, meinte sie.

Ute folgte ihr wieder auf den Flur. Bea trat vor das große Fenster, von dem aus sie einen weiten Blick in den herrlichen Klinikpark hatten.

»Markus sah so friedlich und entspannt aus. Wie haben Sie das nur fertiggebracht, Frau Martens?« fragte Ute.

»Wie gesagt, wir haben uns nur unterhalten«, erwiderte Bea.

»Hat Markus sich Ihnen anvertraut?« wollte Ute wissen.

Bea nickte. »Ja, das hat er.«

Auf Utes Gesicht erschien ein Ausdruck von tiefem Weh. »Mir ist es nie gelungen, Markus’ Vertrauen zu bekommen. Ich hatte manchmal sogar das Gefühl, daß er mich haßt. Frau Martens, Sie glauben ja gar nicht, wie schwer es mir fällt, Ihnen das einzugestehen. Sehen Sie, jetzt fange ich schon wieder an zu weinen. Wenn das so weitergeht, werde ich noch zu einer richtigen Heulsuse«, stieß Ute hervor.

»Das glaube ich kaum«, entgegnete Bea. Sie nahm dabei ein mit zarter Spitze umhäkeltes Tuch aus ihrer kleinen Handtasche und reichte es Ute.

Ute lächelte unter Tränen. »Vielen Dank«, sagte sie und betupfte mit dem Tuch ihre Augen.

Bea wartete einen Moment, dann sagte sie mit leiser, aber klarer Stimme: »Markus haßt Sie nicht, Frau Behnsen. Das dürfen Sie nicht annehmen. Im Gegenteil. Ihr Sohn sehnt sich mit ganzem Herzen nach Ihrer Liebe.«

»Aber die hat er doch. Wir haben ihn doch alle lieb. Nicht nur ich, sondern auch mein Mann«, rief Ute aus.

»Daran wagt Markus nicht zu glauben«, entgegnete Bea mit ernstem Gesicht.

»Aber warum denn nicht? Seitdem Markus bei uns ist, haben mein Mann und ich ihm unzählige Beweise unserer Liebe gegeben. Er hat uns aber immer wieder von sich gestoßen. Er hat nie erlaubt, daß ich ihm gegenüber zärtlich war«, berichtete Ute.

»Nein, das konnte er auch nicht, Frau Behnsen«, stimmte Bea mit leiser Stimme zu.

»Warum nicht, Frau Martens? Können Sie mir das sagen?« bat Ute gequält.

»Weil er nicht mehr weiß, wem er Glauben schenken darf, Frau Behnsen. Er glaubt nicht, daß er ein Kind ist, das man wirklich liebhaben kann. Sein Vater hat ihm über Jahre immer wieder gesagt, daß Sie weggegangen sind, weil Sie ihn nicht bei sich haben wollten. Er sei Ihnen eine Last gewesen, und Sie wollten ihn nicht sehen«, berichtete Bea.

»Wie konnte er nur so etwas sagen«, rief Ute aus.

»Manche Erwachsene wissen anscheinend wirklich nicht, was sie tun. Das Gefühl, verlassen worden zu sein und ganz allein dazustehen, muß für Markus entsetzlich gewesen sein. Dazu kam, daß er auch für die zweite Frau seines Vaters immer nur ein Störenfried war. Ist es ein Wunder, daß ein solches Kind zu keinem Menschen mehr Vertrauen hat?« fragte Bea sich und Ute.

Ute senkte den Kopf und betupfte wieder ihre Augenwinkeln.

Bea nahm ihre Hand. »Sprechen Sie ganz offen mit Markus, Frau Behnsen. Erklären Sie ihm, wie es damals wirklich war, warum es Ihnen nicht möglich war, ihn nach der Scheidung mit sich zu nehmen.«

»Aber er ist doch noch ein kleiner Junge. Wird er denn das alles verstehen?« meinte Ute.

»Kinder verstehen oft mehr, als wir Erwachsene ihnen zutrauen«, versicherte Bea.

»Sie meinen, ich soll ihm die ganze Wahrheit sagen?« fragte Ute.

»Ja, das müssen Sie, Frau Behnsen. Seien Sie ganz ehrlich und aufrichtig zu Markus.« Bea sah Ute lächelnd in die Augen. »Markus hat ein Herz voller Liebe, Frau Behnsen. Das ist nur möglich, weil Sie diese Liebe in ihn eingepflanzt haben. Er wußte schon bei seiner Geburt, was Liebe ist. Und während der wichtigsten Zeit seines Lebens, in seinen ersten drei Jahren, waren Sie ganz für ihn da. Markus liebt Sie, Frau Behnsen, er hat nur Angst, wieder enttäuscht zu werden, wenn er seine Liebe zeigt«, versicherte Bea eindringlich.

»Woher wissen Sie das alles?« fragte Ute.

Beas Lächeln vertiefte sich. »Das kommt mit dem Alter«, antwortete sie.

»Sie haben mir so sehr geholfen, Frau Martens«, versicherte Ute der alten Dame mit viel Wärme in der Stimme.

»Wir sind doch da, um uns gegenseitig zu helfen. Gehen Sie jetzt wieder zu Markus, Frau Behnsen. Wenn es Ihnen recht ist, komme ich morgen noch einmal vorbei«, erwiderte Bea.

»Es würde mich sehr freuen.«

Bea Martens reichte Ute die Hand. »Auf Wiedersehen. Und alles Gute.«

»Danke, Frau Martens. Bis morgen«, entgegnete Ute. Während Bea den Gang der Krankenstation hinunterging, trat Ute wieder in das Zimmer ihres Sohnes. Sie bemerkte, daß Markus viel ruhiger und gleichmäßiger atmete als an den Tagen vorher. Sein schmales Gesicht wirkte auch nicht mehr verkrampft, sondern fast entspannt.

Ute betrachtete ihn eine ganze Weile, dann streckte sie sich auf dem Bett aus, das nur durch einen schmalen Gang von dem ihres Sohnes getrennt war.

Später kam Elli Gaus, um die Dauertropfinfusion zu überprüfen. Kurz vor Anbruch der Dunkelheit erschien Gerhard. Ute berichtete ihrem Mann von ihrem Gespräch mit Bea Martens.

Gerhard hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen. Als Ute schwieg, meinte er: »Nach dem, was ich inzwischen weiß, traue ich Markus’ Vater alles zu, Ute. Sogar, daß er eines Tages auf die Idee kommt, Markus wieder zu sich zu holen.«

»Das darf er nicht, Gerhard«, fiel Ute ihrem Mann ins Wort.

»Vom Gesetz her ist er dazu berechtigt, Ute. Er hat das Sorgerecht für Markus«, erinnerte Gerhard.

»Aber er wollte Markus doch nicht mehr bei sich haben«, entgegnete Ute heftig.

»Das ist richtig. Damit er es sich nicht wieder anders überlegen kann, bin ich dafür, daß wir das Sorgerecht für Markus beantragen«, erklärte Gerhard.

»An diese Dinge habe ich bisher gar nicht gedacht, Gerhard. Aber du hast recht. Wir sollten so schnell wie möglich alles in die Wege leiten, damit Markus auch vor dem Gesetz zu uns gehört«, entschied Ute.

Gerhard nahm sie in den Arm. »Ich fahre gleich morgen früh nach Celle und bespreche die Sache mit einem Anwalt für Familienrecht«, antwortete er.

Kurz darauf verließ er die Klinik. Ute legte sich schlafen. Am nächsten Morgen, bei Anbruch der Dämmerung, erhob sie sich und kleidete sich so leise wie möglich an.

Als sie vor dem Spiegel stand und sich kämmte, sah sie, wie Markus sie mit großen Augen betrachtete. Sie drehte sich herum.

»Markus, du bist wach?« fragte sie erstaunt.

»Was… was machst du hier?« wollte er wissen.

Ute trat neben sein Bett und setzte sich auf die Bettkante. »Ich war die ganze Zeit über bei dir, Markus.«

»Nein, ich war immer allein«, erwiderte er.

Ute nahm seine Hand in ihre. »Du meinst damals, damals sei ich weggegangen?« fragte sie so leise, daß Markus sie kaum verstehen konnte.

Er nickte.

Ute hob seine Hand an ihre Wange. »Ja, damals bin ich weggegangen, Markus. Aber mit meinem Herzen war ich immer bei dir.«

Markus betrachtete sie mit großen Augen.

»Ich werde dir erzählen, wie es damals war, Markus. Aber ich weiß nicht, ob du mich verstehen wirst«, gestand Ute.

Markus nahm seine Hand aus ihrer und warf einen Blick auf den Teddy mit dem einen Glasauge, den Ute neben ihn auf das Kopfkissen gelegt hatte. Als sie schwieg, forderte Markus sie mit leiser Stimme auf: »Fang an.«

Ute sah ihm in die Augen, und dann berichtete sie, wie glücklich sie damals gewesen war, als sie ihn nach der Geburt im Arm gehalten hatte. Sie erzählte von den drei Jahren, in denen sie nur für ihn dagewesen war und wie sie bei der Scheidung um ihn gekämpft hatte. Von ihrer Verzweiflung, als sie den Kampf verlor, von ihren vergeblichen Versuchen, Kontakt zu ihm aufzunehmen. Von den Briefen und Päckchen, die sie ihm geschickt hatte und die zurückgekommen waren. Und schließlich von ih­rem Schweigen, weil sie ihn nicht in einen Zwiespalt bringen wollte.

Zum Schluß sagte sie: »Ich habe nie aufgehört, dich liebzuhaben, Markus. Wenn ich einen Jungen in deinem Alter sah, habe ich an dich gedacht. Immer habe ich mich gefragt, was du machst und ob es dir gutgeht. Und immer hatte ich die Hoffnung, daß du irgendwann später, wenn du groß bist, vor meiner Tür stehst und sagst: Da bin ich, Mama.«

Markus biß sich auf die Lippen und preßte sein Gesicht gegen die Schulter seines Teddys.

Ute erhob sich. »Ich höre Schritte auf dem Flur. Das wird Schwester Elli sein«, meinte sie.

Kurz darauf trat Oberschwester Elli Gaus in Markus’ Zimmer. »Na, wie geht es denn?« fragte sie auf ihre liebevolle und zugleich doch sehr forsche Art.

»Gut, Schwester Elli. Markus hat die ganze Nacht durchgeschlafen«, berichtete Ute.

»Na, endlich. Dann magst du vielleicht heute auch ein kleines Frühstück zu dir nehmen, Markus«, antwortete Elli Gaus.

»O ja, gerne.«

»Das lobe ich mir. Wenn du ordentlich ißt, können wir auch den Apparat hier wegnehmen«, erklärte die Schwester.

»Warum ist der denn da?« wollte Markus wissen.

»Über diesen Apparat wirst du mit den Wirkstoffen ernährt, die dein Körper braucht, Markus«, erwiderte Schwester Elli.

Markus sah zu dem gläsernen Behälter hinauf. »Viel lieber würde ich aber ein Brötchen mit Honig essen«, versicherte er.

Die Schwester lachte. »Ich glaube, du bist wirklich über den Berg, Markus. Das wurde aber auch Zeit.«

Sie eilte aus dem Zimmer, um in der Küche den Auftrag zu geben, für Markus ein ganz leichtes Frühstück herzurichten. Nachdem Markus gegessen hatte, erschien Dr. Kay Martens, Dr. Hanna Martens sowie die Ärzte Dr. Simone Wilde und Dr. Malte Dornbach mit zwei Schwestern zur Visite an Markus’ Krankenbett.

»Herr Doktor, ich habe heute richtig gefrühstückt. Dann brauche ich doch den Apparat nicht mehr, nicht wahr? Er stört mich nämlich ganz furchtbar«, berichtete Markus.

Kay lächelte ihm zu. »Dann nehmen wir ihn noch heute morgen weg, Markus, damit du wieder tüchtig essen kannst.«.

»Herr Doktor, ist es wirklich wahr, was Sie damals auf dem Röntgenbild gesehen haben? Werde ich später wirklich ganz groß und stark?« fragte Markus.

»Davon bin ich so gut wie überzeugt, Markus«, versicherte Kay. Er war neben Markus’ Bett getreten und befühlte vorsichtig den Kopfverband des Kindes. »Wenn du so weitermachst, können wir den Verband bald abnehmen«, sagte er und ließ seine Hand für einen Moment auf Markus’ Schulter liegen.

»Ich mach bestimmt so weiter, Herr Doktor«, erwiderte Markus, und in seinen Augen erschien dabei ein Leuchten.

Kay, die anderen Ärzte und die Schwestern verließen Markus’ Krankenzimmer und setzten ihre Visite im Nebenraum fort.

Markus schlief für ein paar Stunden, und als er wieder aufwachte, fiel sein erster Blick auf seine Mutter.

»Du bist ja wirklich noch immer da«, flüsterte er.

Ute lächelte ihm zu. »Jetzt wirst du mich auch nie mehr los, Markus«, versicherte sie und nahm Markus’ Hand in ihre. Diesmal zog Markus sie nicht weg.

Von diesem Tag an ging es tatsächlich mit Markus steil bergauf. Er aß mit einem so guten Appetit, daß Ute manchmal fast versucht war, ihn zu bremsen. Drei Wochen nach dem Unfall nahm Dr. Kay Martens seinen Kopfverband ab. Seinen vergipsten Arm trug Markus wie eine Trophäe.

Eines Tages erschienen Tommy und sein Vater in der Kinderklinik Birkenhain, um Markus zu besuchen. Tommy überreichte Markus ein kleines Kästchen.

»Was ist denn da drin?« wollte Markus wissen.

»Sieh doch mal nach«, forderte Tommy ihn auf.

Markus wickelte das bunte Papier ab und öffnete das Kästchen. »Ein Stein. Ein roter Stein«, rief er. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck von Ratlosigkeit.

»Das ist kein normaler Stein, Markus. Es ist ein Zauberstein. In unserem Zirkus war einmal ein Zauberer, der konnte die tollsten Sachen zaubern. Und das nur, weil er diesen Stein hatte. Als er wegging, hat er mir seinen Stein geschenkt. Und jetzt schenke ich ihn dir«, sagte Tommy.

Markus hielt den Stein in seiner Hand. »Ich weiß schon, was ich mir wünsche«, antwortete er.

»Was denn?« erkundigte sich Tommy neugierig.

»Das sage ich nicht. Sonst geht der Wunsch vielleicht nicht in Erfüllung«, meinte Markus.

Tommy grinste. »Wenn du wieder ganz gesund bist, kannst du mich ja mal besuchen. Wir sind jetzt in Celle, und danach fahren wir auf so ein kleines Dorf bei Hannover«, erklärte er.

Der Zirkusdirektor legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. »Aber dann wird nicht wieder dieser Unsinn angestellt. Ihr habt ja jetzt gesehen, was dabei rauskommen kann«, sagte er mit seiner dunklen Stimme.

Markus und Tommy senkten die Blicke. Kurz darauf verließen der Zirkusdirektor und sein Sohn das Krankenzimmer.

Es kamen andere Besucher. Mindestens zweimal am Tag erschien Gerhard. Oft brachte er seine Töchter Christiane und Claudia mit. Die beiden kleinen Mädchen erzählten dann vom Kindergarten, von ihren Puppen und Freundinnen und von ihren Schwimmversuchen.

Markus mußte manchmal lachen, weil sie noch so klein und kindlich waren. Er begann, in die Rolle als großer Bruder reinzuwachsen.

Es kamen auch Bea und Markus’ Lehrerin. Alle zeigten ihm, wie gern sie ihn hatten.

Ute wich während Markus’ Krankenhausaufenthalt kaum von seiner Seite. So lang die Zeit ihnen manchmal auch wurde – sie hat ihnen doch gut getan. Markus lernte, daß er seiner Mutter wirklich vertrauen konnte. Er fühlte sich in ihrer Liebe sicher. Sein Selbstvertrauen wuchs von Tag zu Tag. Seine Angstträume verschwanden. Statt dessen machte er Zukunftspläne. Er wollte Schwimmen und Tauchen lernen. Gerhard sollte ihm zeigen, wie man mit Bienen umging und wie man einen Drachen baute. Er war auf einmal voller Lebensfreude und Glück.

An einem strahlenden Sommermorgen holten Gerhard, Christiane und Claudia Markus und seine Mutter von der Klinik ab. Christiane hatte für Markus einen Blumenstrauß aus kleinen blauen Blumen mit unregelmäßigen Stielen gepflückt. Bevor sie ihn Markus gab, bürstete sie ein paar Erdkrümel von den Stielen ab. Danach sagte sie: »Die Blümchen sind für dich, Markus.«

Markus wurde vor Verlegenheit ein bißchen rot. »Oh, danke.«

In diesem Moment trat Dr. Hanna Martens ins Zimmer. »Markus, ich wollte mich noch einmal von dir verabschieden. Du wirst mir sehr fehlen«, versicherte sie.

»Ich kann Sie ja mal im Doktorhaus besuchen«, schlug Markus vor.

»Das würde mich riesig freuen, Markus. Du bist immer herzlich willkommen«, erwiderte Hanna, und dann schloß sie ihren kleinen Patienten ganz spontan in die Arme.

*

Vier Wochen später hatte Markus Geburtstag. Als er morgens die Treppe des Imkerhauses hinunterkam, standen Christiane und Claudia unten in der Diele und sangen: »Happy birthday to you, glücklicher Geburtstag für dich, lieber Markus.«

Danach nahmen sie ihren großen Bruder an die Hand und führten ihn ins Wohnzimmer, wo Ute einen Kuchen mit zwölf Kerzen anzündete.

»Markus, mein Junge, ich wünsche dir alles Liebe und Gute zum Geburtstag«, sagte sie mit warmer Stimme und küßte ihren Sohn.

»Ich schließe mich den Wünschen deiner Mutter an, Markus«, erklärte Gerhard. Er legte Markus seine Hand auf die Schulter und zog ihn dann an seine breite Brust.

Christiane tippte ihn mit ihrem kleinen Finger an. »Markus, guck doch mal, unser Geschenk.« Sie hielt eine Mappe hoch.

»Was ist denn das?« wollte Markus wissen. Er schlug den Deckel zurück und sah, daß die Mappe lauter Zeichnungen von Pferden enthielt.

»Gefällt es dir? Magst du unsere Pferde leiden? Sie sind doch schön, nicht wahr?« rief Claudia.

Markus nickte. »Ganz toll sogar«, lobte er.

»Hier ist noch ein Geschenk. Von Frau Martens«, rief Claudia.

»Oh, Schwimmflossen«, sagte Markus. Er fragte sich, woher die Mutter des Doktors wohl wußte, daß er sich Schwimmflossen gewünscht hatte.

»Frau Martens kommt heute nachmittag auch zum Kaffee zu uns«, berichtete Christiane. »Sie hat es Claudia und mir versprochen. Wir haben sie nämlich getroffen, als wir mit unseren Puppenwagen spazieren gefahren sind.«

In diesem Moment vernahm Markus ein lautes Wiehern. Er drehte sich herum. »Robinson«, stieß er hervor.

Es war tatsächlich das Pony Robinson, das seinen Kopf mit dem weißen Streifen zum Fenster hereinstreckte. Gerhard hielt das Pony am Halfter fest.

»Komm, laß uns mal sehen, ob Robinson dich auch noch erkennt, Markus«, schlug Ute vor. Da war Markus aber schon zur Tür herausgestürmt.

»Robinson«, rief er noch einmal.

Gerhard reichte ihm die Zügel. Markus ergriff sie mit einer Hand, mit der anderen zog er den roten Zauberstein aus seiner Hosentasche, den Tommy ihm geschenkt hatte.

»Es ist wirklich wahr, der Stein kann zaubern. Ich habe mir nämlich gewünscht, daß Robinson zu uns kommt«, sagte er mit strahlenden Augen.

»Und jetzt ist es auch passiert, Markus«, antwortete Christiane.

Robinson schnoberte an Markus’ Schulter. Danach berührte er mit seinem weichen Maul Markus’ Hals. Es sah aus, als würde er Markus etwas ins Ohr flüstern wollen.

Markus mußte lachen. Dann stieg er auf Robinsons Rücken. »Ist es das, was du mir sagen willst?« fragte er und lachte wieder.

Robinson wieherte einmal laut auf, und dann setzte er sich in Trab.

»Fall aber nicht runter, Markus«, schrie Claudia mit ihrer hellen Stimme.

»Es macht doch gar nichts, wenn Markus von Robinson runterfällt, Claudia. Robinson ist doch so klein, da kann Markus sich gar nicht weh tun!« entgegnete Christiane.

»Robinson ist zwar klein, aber sehr stark. Und er kann ganz lange laufen«, erinnerte Claudia.

Markus zügelte sein Pony und blieb vor Gerhard stehen. Gerhard fuhr Robinson über die dichte Zottelmähne. »Robinson gehört jetzt dir, Markus. Du bist jetzt für Robinson verantwortlich«, sagte er.

Statt einer Antwort neigte Markus seinen Kopf zu Robinsons kräftigem Hals hinunter. Das Pony bewegte seine Ohren.

»Was hast du ihm gesagt, Markus?« wollte Christiane wissen.

»Gar nichts«, erwiderte Markus und lachte.

»Er hat dich aber trotzdem verstanden. Er kann nämlich deine Gedanken hören, Markus«, meinte Claudia.

Markus lachte wieder und ritt dann noch eine Runde mit Robinson um die Wiese herum. Danach blieb er vor seiner Mutter stehen. Auf seinem schmalen, von der Sommersonne tiefbraun gebrannten Gesicht lag ein Lächeln.

»Da bin ich, Mama«, sagte er, stieg von seinem Pony und umarmte seine Mutter.

Kinderärztin Dr. Martens Staffel 5 – Arztroman

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