Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 3 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6
Оглавление»Fritz, was ist los mit dir? Du stocherst in deinem Essen herum als wären es Sägespäne.«
»Ich weiß auch nicht, Mutter. Ich hab ein bißchen Bauchweh.« Als er aber Mutters besorgtes Gesicht sah, sagte er schnell: »So schlimm ist es auch wieder nicht, es zwickt nur ein wenig.«
»Hast du vielleicht unreife Äpfel gegessen?«
Zögernd sagte Fritz: »Nein. Aber ich war mit Vater doch in Celle, da hab ich eine große Portion Eis vertilgt.«
Wie jede Mutter machte sich Helmi Trummert doch Sorgen um ihr Kind. Sie überlegte, ob sie nicht gleich den Doktor rufen sollte. Ihr Mann Kurt war noch am Spätnachmittag zu einem Kunden gerufen worden, dessen Fernsehapparat streikte. Hoffentlich kam er bald zurück.
»Du legst dich am besten gleich ins Bett, Fritz. Ich mache dir einen Pfefferminztee, den trinkst du ganz langsam, dann geht es dir bald wieder besser.«
Fritz stand sofort auf, ging ins Bad und putzte sich die Zähne. Den Brechreiz, den er verspürte, unterdrückte er mit Mühe. Als er im Bett lag, fröstelte es ihn plötzlich, obwohl es ein warmer Augusttag war.
Er war für seine sieben Jahre groß und kräftig. Bisher war er nie krank gewesen. Mal einen Schnupfen, sonst nichts. Fritz, der vor dem Einschlafen immer gern noch ein wenig las, fühlte sich so apathisch, daß er sich gleich auf die Seite drehte, um schlafen zu können. Doch plötzlich spürte er einen stechenden Schmerz im Unterleib. Erschrocken dachte er, das wird doch nicht der Blinddarm sein?
Langsam drehte er sich wieder auf den Rücken und tastete vorsichtig seinen Bauch ab.
Mutter kam ins Zimmer. »Hier ist der Tee, Fritz. Trink ihn ganz langsam mit kleinen Schlucken. Du wirst sehen, er renkt deinen Magen wieder ein.«
»Du hast sicher recht, Mutter.«
»Ich sehe noch einmal nach dir, bevor ich ins Bett gehe.« Sie beugte sich zu ihm herab und gab ihm, wie jeden Abend, einen Kuß auf die Wange.
»Versuch zu schlafen, mein Fritzchen.«
Als sie die Treppe nach unten ging, dachte sie: Hoffentlich kommt Heinz bald zurück, aber wie ich ihn kenne, trinkt er im Heidekrug noch ein Bier – und wenn er noch ein paar Sportsfreunde trifft, wird es bestimmt später.
Seufzend nahm sie die Mohrrüben und das Gulasch vom Herd. Sie hoffte sehr, daß ihr Mann doch bald nach Hause kam.
Helmi Trummert holte ihr Strickzeug aus dem Handarbeitskorb und machte es sich auf der Bank im Garten bequem. Doch heute klapperten ihre Nadeln nicht so eifrig wie sonst hin und her, dafür war sie zu unruhig. Um Heinz machte sie sich keine Gedanken, er war ein zuverlässiger und fleißiger Mann. Doch Fritz war heute trotz seiner Sonnenbräune ziemlich blaß. Nie hatte er ihnen Kummer oder Sorgen gemacht. Er war der Beste in der Schule – und er freute sich schon, daß er bald in die zweite Klasse kam. »Ich will doch einmal Arzt werden«, hatte er der Mutter anvertraut.
Helmi, schalt sie sich, du machst dir unnötige Sorgen. Morgen ist Fritz wieder munter und wohlauf.
Die untergehende Sonne verzauberte den Garten. Die Rosen dufteten berauschend, und die Margeriten hatten einen rosigen Schimmer. Wie ruhig und still es hier ist, dachte sie zufrieden. Ein paar Vögel zwitscherten leise ihr Abendlied, und eine Amsel hüpfte noch recht munter im Rasen umher und pickte eifrig.
Doch ihre innere Unruhe ließ Helmi wieder aufstehen und ins Haus gehen. Die Schlafräume lagen im ersten Stock. Leise ging sie nach oben und öffnete die Tür ihres Fritzchens. Er hatte den Tee zur Hälfte ausgetrunken. Sein Schlaf war unruhig, die Decke hing halb auf dem Boden. Sie berührte seine Stirn, sie war schweißnaß. Er hat Fieber, dachte sie und ging ins Bad, das Thermometer zu holen.
Als sie zurückkam, war er wach. Er lächelte sie an, doch es war ein aufgesetztes Lächeln. »Sind die Magenschmerzen weg?« wollte sie gleich wissen.
»Ja – aber nun tut der Bauch weh«, sagte er leise.
Sie gab ihm das Fieberthermometer und wartete fünf Minuten. »Siebenunddreißigfünf«, las sie halblaut.
»Vielleicht ist es nur eine Blinddarmreizung«, sagte Fritz leise. Er wollte die Mutter nicht beunruhigen.
»Ich rufe doch Dr. Jacobsen an.«
Fritz protestierte schwach. Morgen wollten die Eltern mit ihm nach Walsrode fahren, ins Vogelparadies. Und darauf hatte er sich schon so lange gefreut.
»Also gut«, sagte die Mutter, »ich schau in einer Stunde noch mal nach dir. Und wenn du noch Schmerzen hast, rufe ich den Doktor.«
»Ja, Mutti«, sagte Fritz. Er sagte ihr aber nicht, daß es im Bauch doch ganz schön zwickte.
Helmi Trummert hörte, daß ihr Mann die Haustür aufsperrte.
»Ich bin wieder da!« rief er, »wo seid ihr zwei?«
Helmi ging die Treppe nach unten.
»Entschuldige, daß ich so spät komme. Hoffentlich habt ihr schon gegessen?«
»Ja, haben wir. Das heißt nur ich, denn Fritz geht es nicht besonders. Er klagte über Magenschmerzen, und jetzt hat er Bauchweh.«
»Wahrscheinlich ist das Eis schuld, das er am Nachmittag gegessen hat.«
»Vielleicht… Aber könnte es nicht auch der Blinddarm sein?«
»Was du immer gleich denkst.«
Während er das warmgemachte Essen, das ihm vorzüglich schmeckte, verzehrte, saß Helmi schweigend neben ihm.
»Frau, mach kein so kummervolles Gesicht. Ich habe heute abend noch ein sehr gutes Geschäft gemacht.«
Was interessiert mich jetzt dein Geschäft, dachte sie, ich mache mir Sorgen um Fritz.
Er schob den Teller zurück, umarmte Helmi und sagte: »Wie immer hat es mir ganz hervorragend geschmeckt.«
»Danke!« sagte sie nur. »Komm mit zu Fritz und schau ihn dir an. Ich werde Dr. Jacobsen anrufen, auch wenn es Fritz nicht paßt.« Sie sagte noch: »Gegessen hat er gar nichts.«
»Wie lange hat der Junge schon Schmerzen?«
»Ich weiß nicht. Er ging gleich in sein Zimmer, als ihr aus Celle zurück gekommen seid.«
Sie fanden ihren Sohn zähneklappernd im Bett liegen.
»Was ist denn los mit dir?« fragte sein Vater erschrocken. Die Mutter lief nach unten, nahm den Telefonhörer hoch und wählte die Nummer Dr. Jacobsens. Sie bat um Entschuldigung, weil es schon so spät war, doch er möge sofort kommen. Sie fürchte, Fritz habe eine Blinddarmentzündung.
Es dauerte keine Viertelstunde, und der Doktor untersuchte Fritz. Als er fest auf seinen rechten Unterbauch drückte, schrie Fritz plötzlich: »Oh das tut schrecklich weh!« Sein kleines Gesicht verzog sich vor Schmerz.
»Sei ehrlich, Junge, seit wann hast du diese Schmerzen?« Dr. Jacobsen sah Fritz sehr ernst an.
»Ich habe sie schon seit heute früh, aber nicht so arg. Ich dachte – ich dachte, ich wollte doch mit Vater nach Celle…«
»Ich muß dich sofort in die Klinik einweisen. Du hast eine akute Blinddarmentzündung.« In Gedanken setzte er hinzu: Hoffentlich ist es noch kein Durchbruch, sonst sehe ich nur wenig Chancen für dich.
*
Soeben kamen Hanna und Kay von einem Spaziergang in der Heide zurück, als sie das Martinshorn des Krankenwagens hörten und ihn schon in die Einfahrt der Klinik einbiegen sahen.
»Schwesterherz, ich glaube, aus unserer Schachpartie heute abend wird nichts werden«, sagte Kay.
»Dann findet der Kampf eben morgen statt«, konterte Hanna.
Sie beschleunigten ihre Schritte und kamen dazu, als der diensthabende Arzt, Dr. Camillo Olegra, aus der Klinik kam und die Pfleger anwies, den avisierten Jungen in die Notaufnahme zu bringen.
»Gut, daß Sie zurück sind, Dr. Martens. Die Einweisung ist von Dr. Jacobsen – akuter Blinddarm.«
»Lassen Sie alle Werte feststellen, Blutanalyse und das übliche.«
»Selbstverständlich, Chef. Der Operationsraum ist schon hergerichtet.«
Kay wandte sich an Hanna: »Du assistierst mir?«
»Na klar! In zehn Minuten bin ich bereit.«
Dr. Olegra sagte noch: »OP-Schwester Christina habe ich schon verständigt, auch Dr. Dornbach.«
»Gut, dann sehen wir uns in wenigen Minuten im OP.«
Das eingespielte Team wußte, was notwendig war.
Fritz, der nun eilig in den Aufnahmeraum gebracht wurde, verspürte keine Angst. Er glaubte, das alles nur zu träumen. Wenn ich einmal Arzt bin, dachte er, werde ich allen kranken Menschen helfen. Er fühlte sich irgendwie im Mittelpunkt, und die Schmerzen im Bauch waren eigenartigerweise auch weg. Er wurde gepickt, ausgezogen, auf ein fahrbares Bett gehoben, dann schlief er ein.
Im Operationssaal warf der Scheinwerfer sein grelles Licht auf den nackten Knabenkörper. Alle Werte waren notiert worden und Blutkonserven bereitgestellt. Während die Anästhesistin, Frau Dr. Martina Dirksen, die Narkose vorbereitete, pinselte der Pfleger Harms den Unterbauch des Kindes mit Jod ein.
Das Ärzteteam, drei Ärzte und zwei Schwestern, alle in sterile grüne Kittel gekleidet, mit Kappen und Mundschutz, umstanden den schmalen Operationstisch. Sie arbeiteten schweigsam. Nur kurze Befehle klangen auf.
»Skalpell – Klemme – Tupfer.«
Dr. Hanna Martens wußte meistens schon im voraus, was ihr Bruder für Instrumente brauchte. Eile war geboten, denn der Appendix (Blinddarm) drohte durchzubrechen.
Kay warf seiner Schwester einen bedeutsamen Blick zu. Sie wußte, was er bedeutete. Eine Stunde später hätte der Kleine wenig Chance gehabt zu überleben, dann wäre der Bauchraum voll Eiter gewesen.
Ab und zu tupfte Oberschwester Elli den Schweiß von der Stirn des Chefs.
Dr. Kay Martens arbeitete sehr konzentriert und behutsam, damit er den Wurmfortsatz ohne Komplikationen entfernen konnte. Die Operation, sonst reine Routine, dauerte diesmal lange, doch sie gelang. Der Kleine würde es schaffen und in zwei Wochen wieder gesund sein.
Alle atmeten auf, als die Wunde vernäht und der Kreislauf des Kindes stabil war. Behutsam wurde er wieder auf das fahrbare Bett gelegt und in den Intensivraum gefahren. Schwester Laurie übernahm die Nachtwache.
Mit angstvollen Herzen saßen die Eltern des Kleinen im Warteraum. Während Heinz von Zeit zu Zeit auf seine Uhr sah, denn die Minuten schlichen nur so dahin, betete Helmi still: »Bitte, Gott, gib dem Doktor eine sichere Hand, damit unser Sohn leben darf. Er ist doch unser Sonnenschein.«
Und auf eine wunderbare Weise fand Helmi neue Kraft und Zuversicht. »Unser Fritz wird wieder gesund – ich spüre es«, sagte sie zu ihrem Mann.
Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Mein Leben wäre ohne euch zwei so leer.«
Wenige Minuten später kam Dr. Kay Martens in den Warteraum. Er lächelte das Ehepaar an, als er sagte: »Alles ging gut. Aber höchste Zeit war es schon.«
Voller Dankbarkeit drückten Herr und Frau Trummert die Hand des Arztes.
»Morgen früh schon können Sie Ihren Fritz besuchen«, sagte er noch, als er ein paar Tränen über die Wangen der jungen Frau rinnen sah.
Kay Martens war mit seiner Arbeit zufrieden – und er war stolz, so ein gutes Ärzteteam zu haben. Daß seine Schwester mit ihm so vorzüglich zusammenarbeitete, darüber war er glücklich. Insgeheim aber hatte er manchmal Angst, sie könnte sich verlieben und eines Tages heiraten und von hier fortziehen. Hanna war nicht nur sehr tüchtig, sie war auch bildschön. Ihre großen blauen Augen in dem ovalen Gesicht, das von blonden Haaren umrahmt wurde, und ihre schlanke Figur ließen manches Männerherz höher schlagen. Und Hanna besaß Witz und Charme. Jetzt war sie achtundzwanzig, wie lange würde sie noch seine Partnerin sein?
Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er vergessen hatte, mit Hanna noch einmal in alle Krankenzimmer zu gehen.
Er wollte die Treppe wieder runter, da kam ihm Hanna entgegen. »Kay, ich habe schon die Visite bei unseren Kindern gemacht. Es ist alles in bester Ordnung. Auch der kleine Fritz schläft ruhig. Schwester Laurie wird uns Bescheid geben, wenn irgend etwas sein sollte.«
»Danke, Hanna! Du bist einmalig.« Er fühlte nun doch, wie müde er war.
»Möchtest du noch eine Kleinigkeit essen, Brüderchen?« frage Hanna. »Ich hätte schon noch Appetit auf ein – ja auf was? – Vielleicht ein Lachsbrot und ein Gläschen Bier?«
»Du Verführerin…«, sagte er lachend und war doch froh, den Abend noch gemütlich beenden zu können.
*
Als die Morgensonne durch die Spitzenvorhänge in Hanna Martens’ Schlafzimmer goldene Kringel auf die Bettdecke malte, wurde sie wach. Sie stand auf, öffnete das Fenster weit und freute sich über den herrlich blauen Himmel. Das Vogelgezwitscher, das aus dem Park zu ihr drang, zauberte ein Lächeln auf ihre Lippen.
Der Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch stand, zeigte ihr, daß es erst Viertel vor sechs war. Sie dehnte und streckte sich, machte Atemübungen und ihre morgendliche Gymnastik. Hanna fühlte sich rundum wohl. Sie war mit ihrem Leben zufrieden. Kay und sie hatten ihren Wunsch verwirklichen können. Die Kinderklinik war im weiten Umkreis bekannt und geschätzt. Schon vielen Kindern hatten sie helfen können, wieder gesund zu werden, und es war ein sehr gutes Gefühl, wenn die glücklichen Eltern sich bedankten.
Kay und Hanna gingen erst in die Intensivstation, um nach dem kleinen Fritz zu sehen, dem am Abend vorher der entzündete Blinddarm entfernt worden war.
Schwester Laurie, die in der Nacht bei ihm geblieben war, berichtete, daß der Junge vor einer Stunde wach geworden war und gleich was zu essen wollte.
»Ein gutes Zeichen«, meinte Kay und ging an das Bett des Kindes. »Guten Morgen, kleiner Mann. Wie fühlst du dich denn?«
»Danke, gut. Nur ich habe großen Hunger.« Dann sagte er noch: »Muß ich in diesem komischen Zimmer bleiben? Die vielen Dinger – ich meine die Apparate, brauche ich sie denn?«
»Nein, du brauchst sie nicht. Und du kommst auch bald in ein schönes Zimmer, nur zu Essen bekommst du noch nichts.«
Als er das enttäuschte Gesicht des Kindes sah, sagte er: »Heute morgen darfst du etwas Tee trinken und mittags bekommst du eine gute Suppe. Einverstanden?«
»Ja, Doktor. Doch ich möchte Sie noch was fragen. Darf ich?«
Hanna, die in dem Krankenblatt die Aufzeichnungen gelesen hatte, kam nun ans Bett und gab dem Kind die Hand. »Ich bin auch Ärztin, und du darfst mich alles fragen. Was möchtest du denn wissen?«
Fritz überlegte kurz, dann sagte er: »Ich will einmal ein Doktor werden, dann darf ich meinem Onkel Peter in seiner Praxis helfen.«
»Bis dahin hast du aber noch viel Zeit«, sagte Kay Martens.
»Das schon. Aber ich will jetzt schon so viel wissen. Die Schwester, die vorhin da war, hat mich ausgelacht, als ich sie fragte, ob ich einmal den Schnitt an meinem Bauch sehen dürfte.«
Hanna und Kay sahen sich verblüfft an. »Heute noch nicht, Fritz. In ein paar Tagen sicher«, sagte der Arzt.
»Aber du mußt uns versprechen, daß du ruhig im Bett liegen bleibst«, mischte sich Hanna ein, »denn es könnte gefährlich werden, wenn die Wunde aufbrechen würde.«
»Das verstehe ich. Keine Sorge, ich bleibe schon liegen.«
»Dann ist es ja gut. Hast du noch eine Frage?«
»Ja, Herr Doktor. Wissen Sie, wann meine Eltern mich besuchen?«
»Ich denke, daß sie bald hier eintreffen, deshalb wirst du jetzt gleich von Schwester Laurie und der Oberschwester Elli in einem fahrbaren Bett abgeholt werden und in ein schönes Zimmer gebracht. Zufrieden?«
»Danke, Herr Doktor. – Dürfen mir meine Eltern was zum Lesen mitbringen?«
»Die ersten zwei Tage solltest du versuchen, viel zu schlafen, damit du schnell wieder gesund bist.«
»Ja, ich verstehe schon«, erwiderte ein wenig altklug der Kleine.
Als die Geschwister den Raum verlassen hatten, sahen sie sich an. »Weißt du, wie alt dieser Junge ist?« fragte Hanna den Bruder.
»Ja, siebeneinhalb. Es ist kaum zu glauben, mit welchen Fragen sich dieser kleine Kerl schon beschäftigt.«
Als gegen neun Uhr Heinz und Helmi Trummert kamen, hatte das Geschwisterpaar mit seinem Team die Visite gerade beendet. Hanna ging lächelnd auf die beiden zu und begrüßte sie freundlich. Unter ihrem weißen Kittel sah das hellblaue Kleid hervor, es war ein schöner Kontrast.
»Wie geht es unserem Fritz? Dürfen wir ihn schon besuchen?« fragte Helmi und sah die junge Ärztin erwartungsvoll an.
»Es geht ihm ganz gut. Er fragte schon, wann er was zu essen bekäme.«
Heinz Trummert lachte, dann sagte er: »Das ist immer ein gutes Zeichen.«
Dr. Hanna Martens sagte ihnen nun, daß Fritz ein sehr aufgeweckter Junge sei und erzählt habe, daß er einmal Arzt werden würde.
Fritzchens Mutter seufzte ein wenig, als sie erwiderte: »Wir waren Pfingsten bei meinem Bruder Peter in Hannover – er ist Arzt – seitdem sagt Fritz: Ich will Doktor werden, wenn ich groß bin.«
Heinz Trummert meinte: »Fritz ist ganz geschickt, er hat schon manches Kätzchen und auch ein Vögelchen verarztet.«
Die Ärztin lächelte und meinte: »Früh übt sich, wer ein Meister werden will…« Sie begleitete nun die Eltern zu dem Zimmer, in dem der Junge lag. Sie fragte noch: »Hat Fritz keine Geschwister?«
»Leider nicht, Frau Doktor«, erwiderte Helmi Trummert. »Wir haben erst nach zehn Ehejahren unser Kind bekommen. Fritz ist unser ganzes Glück.«
»Aber Fritz hat ein paar nette Schulfreunde, und die Tochter unseres Nachbarn mag er auch sehr gern«, fügte Heinz Trummert hinzu. Die Ärztin sollte nicht denken, daß Fritz viel allein wäre.
»Ich finde das sehr gut, wenn ein Kind Freunde hat«, sagte die Ärztin. »So, wir sind schon da.« Sie öffnete die Tür zu dem Krankenzimmer, in dem drei Betten standen. Im Bett am Fenster lag Fritz, die zwei anderen waren leer.
»Im Moment sind wir nicht voll belegt«, erklärte Hanna Martens, »aber das ändert sich leider oft schnell.«
Als Fritz die Eltern sah, strahlte er übers ganze Gesicht. »Wie schön, daß ihr schon da seid«, sagte er froh.
Die Mutter beugte sich zu ihm herab und gab ihm einen Kuß auf die Wange. Sie fand, er sah sehr blaß und schmal aus, doch sie sagte: »Ich bin so froh, mein Kleiner, daß du alles gut überstanden hast.«
»Ist doch klar, Mutti. Alles ist bestens. Auch die Ärzte und Schwestern.«
Der Vater drückte ihm die Hand. Er fragte: »Hast du noch Schmerzen?«
»Na ja, ein bißchen tut es schon noch weh, aber das ist doch selbstverständlich.«
Dr. Hanna Martens verabschiedete sich von den Eltern und sagte: »Der erste Besuch sollte nicht so lange bleiben. Fritz braucht noch viel Schlaf.«
»Wir verstehen, Frau Doktor. Und vielen Dank auch«, sagte Heinz Trummert.
»Dann auf Wiedersehen, ihr drei«, verabschiedete sich die Ärztin.
Heinz holte seiner Frau einen Sessel ans Bett, die nun die Hand ihres Kindes nahm. Und Fritz schlief… Das Ehepaar lächelte sich an. Helmi blieb noch eine Weile sitzen, während ihr Mann sich umsah. Das Zimmer war sehr nett eingerichtet. An den Fensterscheiben waren aus durchsichtigem bunten Papier Blumen aufgeklebt, und an den unifarbenen Tapeten hingen verschiedene Märchenfiguren.
Vorsichtig löste nun die Mutter ihre Hand von der ihres Kindes und strich ihm sanft über das lockige blonde Haar. »Schlaf dich gesund, mein Kleiner«, sagte sie kaum hörbar. Leise gingen sie aus dem Zimmer.
Heinz wollte seine Frau nach Hause fahren, doch sie meinte: »Ich möchte gern mit zu dir in die Firma. Daheim fällt mir sonst die Decke auf den Kopf.«
»Das verstehe ich. Du könntest dann Frau Herzog helfen, die gestern angekommenen Staubsauger auszuzeichnen.«
Heinz Trummert hatte ein gutgehendes Elektrogeschäft mit ein paar Angestellten. Er hoffte zwar, daß sein Sohn Fritz einmal die Firma übernehmen würde, doch bis dahin war noch viel Zeit.
Als sie am Nachmittag ihren Sohn besuchten, war das Bett neben ihm belegt. Ein kleiner Junge mit wuscheligem schwarzen Haar lag mit eingegipstem Fuß, der hochgelagert war, in den Kissen. Er war am Vormittag vom Rad gefallen, als er über den Bordstein fahren wollte.
Fritz legte den Finger auf den Mund, damit die Eltern leise sprachen, denn Heiko, so hieß der Kleine, schlief gerade.
»Wie geht’s dir, mein Liebling«, flüsterte die Mutter.
»Ganz gut. Ich bekam auch schon eine Suppe«, flüsterte er zurück. »Das ist Heiko, er ist vom Fahrrad gefallen.«
Der Vater drückte Fritz die Hand und sagte: »Du siehst schon wieder fast gesund aus.« Auch er bemühte sich, ganz leise zu reden, als er noch sagte: »Mutter bleibt noch hier, ich muß ins Geschäft zurück.«
Fritz nickte nur. Dann sagte er kaum hörbar zu seiner Mutter: »Ich kenne Heiko – sein Bruder Michel ist bei mir in der Schule. – Herr Dr. Martens hat gesagt: ›Fritz, du paßt ein bißchen auf den Kleinen auf. Du klingelst der Schwester, wenn er was braucht.‹«
»Na, der Doktor hat ja großes Vertrauen zu dir«, sagte die Mutter und lächelte.
»Ich habe ihm doch gesagt, daß ich einmal Arzt werden will.«
»Das Leise-Sprechen strengt sehr an, wir sind jetzt ein wenig still, sonst wecken wir ihn doch noch auf.« Die Mutter holte nun aus ihrer Tasche ein kleines Päckchen und gab es Fritz.
Behutsam machte er es auf, um jedes Geräusch zu vermeiden. Als er auf der Schachtel sah, daß ein Landrover abgebildet war, den man mit Legosteinen zusammenbauen konnte, strahlte er über das ganze Gesicht. »Danke, Mutti! Den habe ich mir schon lange gewünscht.« Er hatte impulsiv laut gesprochen und sah nun erschrocken rüber in das Nachbarbett. Doch Heiko schlief weiter.
»Versprich mir, Fritz, daß du mit dem Basteln erst anfängst, wenn es dir wieder bessergeht.« Als er nickte, küßte sie ihn auf die Nasenspitze. »Bis morgen!«
*
»Lisa, wie lange bleibst du in Lindau?« fragte die fünfjährige Jasmin ihr Kindermädchen.
»Vier Wochen. Genauso lange, wie du mit deinem Vati Urlaub in der Heide machst.«
»Es wäre aber viel schöner, wenn du mit uns fahren würdest«, sagte Jasmin und machte einen Schmollmund.
Lisa setzte sich auf das Bett, auf dem Jasmins geöffneter Koffer stand, in dem schon einige Sachen lagen. Sie zog das Mädchen an sich und streichelte ihren blonden Lockenkopf. »Du mußt nicht traurig sein. Weißt du, Herzchen, meine Mutter freut sich auch sehr, wenn ich sie wieder einmal besuche.«
Die großen blauen Augen des Kindes sahen Lisa, die sie schon seit vier Jahren betreute, nun sehr ernst an. »Ich hab dich schon einmal gefragt, ob du meine Mami werden willst. Du weißt doch, wie sehr ich dich liebhab?«
Lisa atmete tief durch, bevor sie antwortete: »Jasmin, ich liebe dich auch sehr, aber deine Mami kann ich nicht werden.«
»Warum nicht?« bohrte das Kind weiter und legte die Ärmchen um Lisas Hals. »Und wenn ich dich ganz lieb bitte?«
Die Frage des Kindes verwirrte Lisa sehr.
Robert Fischer, der Vater Jasmins, stand hinter der offenen Tür des Kinderzimmers, als er die Frage seiner Tochter hörte. Es war sonst nicht seine Art, an offenen Türen zu lauschen, doch jetzt war er gespannt, was Lisa sagen würde. Als er ihre Antwort hörte, vergaß er, was er im Kinderzimmer wollte.
Lisa sagte: »Schau, mein Kleines, dein Vati und ich müßten heiraten, und das können wir nur, wenn wir uns auch lieben.«
»Papi liebt dich, das hat er mir gesagt, als ich ihn fragte. Lisa, liebst du Papi auch?«
»Ja, ich liebe deinen Vater auch. Aber du darfst ihm das niemals sagen.«
»Warum? Das verstehe ich nicht.«
Robert Fischer wartete nicht mehr auf die Antwort Lisas. Er ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an seinen Schreibtisch und dachte über sein Leben nach. In einer großen Werbeagentur in Hannover hatte er eine gutbezahlte Stelle als Grafiker. Er liebte seine Arbeit und in seiner Freizeit malte er gern Landschaftsbilder und auch Porträts.
Vor einer Woche hatte er seinen dreiunddreißigsten Geburtstag gehabt, den er mit den Kollegen feierte. Seine Frau Monika, die Mutter Jasmins, war vor vier Jahren bei einem Reitunfall tödlich verunglückt. Seitdem war das Kind sein ganzes Glück. Und Glück hatte er auch, als er auf ein Inserat Lisa Keller als Kinderschwester für seine damals einjährige Tochter einstellte. Vier Jahre war Lisa nun im Haus und er hatte nie bemerkt, daß sie für ihn mehr empfand als nur Sympathie.
Und plötzlich war er sich seiner Gefühle auch nicht ganz sicher. Liebte er Lisa? Wahrscheinlich, denn er freute sich jeden Morgen, wenn er in das Eßzimmer kam und sie ihn lächelnd begrüßte. Sie umsorgte ihn und das Kind wunderbar. Als die Zugehfrau einmal krank war, übernahm sie ganz selbstverständlich auch die Putzarbeiten.
Liebe – was ist Liebe eigentlich? fragte er sich nun. Vor seiner Heirat mit Monika hatte er ein Mädchen geliebt, das ihn zurückgewiesen hatte, als er sie bat, seine Frau zu werden. Er war tief verletzt gewesen und todunglücklich. Ihre Karriere war ihr wichtiger gewesen als seine Liebe.
Monika? Hatte er Monika richtig geliebt? War es nicht nur Begehren gewesen? Denn sie war wunderschön und aufregend. Seit ihrem Tod hatte er keine Frau mehr im Arm gehalten. Er sah nun gedanklich Lisa vor sich. Ihre schwarzen halblangen Haare umrahmten ihr schönes, klares Gesicht sieht. Die großen braunen Augen blickten immer freundlich. Nie hatte er Lisa unbeherrscht gesehen. Sie war mittelgroß und schlank, aber das Wichtigste war, sie liebte Jasmin von ganzem Herzen. Er hätte sich für sein Kind keine bessere Mutter vorstellen können. Ob es stimmte, was sie gesagt hatte, daß sie ihn auch liebte?
Eigentlich konnte er sich ein Leben ohne Lisa gar nicht mehr vorstellen. Vier Jahre kannten sie sich schon, und sie hatte Jasmin nicht nur vorbildlich, nein liebevoll betreut.
Robert, sagte er sich, du lebst mit einer bezaubernden Frau im selben Haus – und du hast bisher nicht erkannt, daß diese Frau dein Schicksal ist.
Nun fiel ihm auch ein, daß Lisa abends nie wegging, obwohl sie doch erst fünfundzwanzig war. Sie hatte auch keinen Freund, der ihr schrieb oder zu dem sie ging. Vielleicht war in Lindau einer, dem sie treu war und mit dem sie die vier Wochen verbrachte? Dieser Gedanke beunruhigte ihn. Er mußte wissen, ob sie jemanden liebte – und gleich wollte er es wissen, deshalb ging er in das Zimmer seiner Tochter zurück.
Jasmin hatte er in der Küche mit Frau Wasner, der Zugehfrau, sprechen gehört. Doch was sollte er Lisa sagen? Auf einmal klopfte sein Herz schneller. Wäre es nicht besser, er würde sich alles noch einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, bevor er sie fragte, ob sie seine Frau werden wollte, wie es auch Jasmin wünschte? Quatsch! dachte er. Sie merkt doch sonst gleich, daß ich ihr Gespräch belauscht habe.
Aber nun stand er schon vor ihr. Sie war gerade dabei, einen Anorak Jasmins zusammenzulegen und in den Koffer zu tun. Sie sah ihn lächelnd an. »Ich lege auch ein paar warme Sachen mit in den Koffer, denn man kann ja nie wissen…«
»Ich wollte Sie schon lange etwas fragen, Lisa.« Als sie ihn erwartungsvoll ansah, wußte er plötzlich nicht weiter. Am liebsten hätte er sie jetzt in die Arme genommen und gesagt: Lisa, werde meine Frau. Aber das war ja unmöglich… Vielleicht würde sie ihn auslachen, oder noch schlimmer, gleich fristlos kündigen…
»Herr Fischer, ist irgendwas an mir, weil Sie mich so eigenartig ansehen?«
»Nein, nein, Lisa. Ich wollte Sie nur fragen, ob es Ihnen bei uns auch gefällt. Manchmal habe ich Angst, Sie könnten aus ihrem Urlaub nicht zurückkommen. Sicher werden Sie Ihren Freund eines Tages heiraten?« O Gott, was rede ich nur für einen Unsinn, dachte er.
»Ich habe keinen Freund – und ich bin sehr gern bei Jasmin und Ihnen«, sagte sie, dabei stieg ihr die Röte ins Gesicht.
Seine grauen Augen sahen sie nun durchdringend an, als er sagte: »Nach dem Urlaub müssen wir uns einmal miteinander unterhalten, wie es mit uns weitergehen soll. Sind Sie damit einverstanden?«
»Könnten wir nicht gleich…?« Das Klingeln des Telefons in seinem Arbeitszimmer unterbrach ihre schicksalhafte Unterhaltung. Es war die Autowerkstatt Kühnlein. Der Mechaniker meldete, daß sein Wagen fertig sei und abgeholt werden kann.
»Ja, ich bin in zehn Minuten bei Ihnen.« Er legte den Hörer auf die Gabel und wußte, daß er viel zu durcheinander war, um mit Lisa das Gespräch fortzusetzen. Er mußte auch noch seinen Koffer packen, ein paar Telefongespräche tätigen und noch manches andere. Ich bin feige, dachte er, was wird sie nur von mir denken? Aber ihre Worte klangen in ihm nach: Ich habe keinen Freund und ich bin gern bei Jasmin und Ihnen. – Doch wie schnell kann sich das ändern in den vier Wochen? Lisa war nicht nur bildschön, sie war auch reizvoll… Warum nur hatte er sie so lange unbeachtet gelassen? Hatte er kein Selbstvertrauen mehr, weil seine erste Liebe ihn nicht heiraten wollte? Und Monika, Jasmins Mutter, war eigentlich die treibende Kraft, sie wollte ihn heiraten. Monika sah mit ihren blonden Haaren und den blauen Augen wie ein Engel aus, doch ihr Temperament und ihre Leidenschaft rissen ihn mit. Seine Jugendliebe verblaßte neben dieser faszinierenden Frau.
Auf dem Weg in die Autowerkstatt hatte er diese Gedanken, doch er schob sie beiseite, als Herr Kühnlein ihm entgegenkam.
»Ihr Auto ist wieder wie neu, Herr Fischer«, sagte er gleich nach der Begrüßung. »Und ich habe im Radio gehört, daß das Wetter so herrlich bleiben wird.«
»Das wäre natürlich schön. Ich könnte dann mit meiner Kleinen viel unternehmen.« Er rechnete noch mit Herrn Kühnlein ab und fuhr mit seinem blauen BMW nach Hause.
Beim Abendessen vermied er es, Lisa anzusehen. Auch sie war ruhiger als sonst. Nur Jasmin hatte viele Fragen.
»Papi, werden wir auch Schafe sehen? Und eine Kutschfahrt machen?«
»Sicher, mein Kind – und du wirst die Heide in voller Blüte sehen. Wie ein riesiger Teppich blüht um diese Zeit das Heidekraut, das viele tausende erikafarbene Blüten hat.«
»Hast du auch deinen Fotoapparat mit eingepackt?« Sie wandte sich an Lisa: »Wir werden dir dann die schönsten Bilder schicken. Du schreibst uns doch auch?« wollte sie noch wissen.
»Natürlich. Dein Vater gab mir ja eure Adresse«, sagte Lisa.
Robert sagte noch, daß er auch seine Malutensilien mitnehmen würde. »Im Auto ist Platz genug«, sagte er zu Lisa, denn es war ausgemacht, daß er sie am anderen Morgen nach Hannover zum Bahnhof bringen würde. Er konnte dann mit Jasmin gleich weiter fahren, und gegen Mittag würden sie schon in Ögela sein.
Er hatte bei der Familie Fritz und Berta Sundermann, die einen großen Bauernhof bewirtschaften, für sich und Jasmin zwei nebeneinanderliegende Zimmer bestellt. Und erst heute abend kam ihm der Gedanke, daß es wunderschön wäre, wenn Lisa mit dabei wäre.
*
Lisas Herz pochte noch immer heftig gegen die Rippen, als sie sich langsam in dem Sitz zurücklehnte. Robert Fischer hatte sie geküßt und seine Worte klangen in ihr noch nach: Am liebsten würde ich dich mitnehmen.
Seit vier Jahren betreute sie seine Jasmin – und vom ersten Augenblick an hatte sie das Kind in ihr Herz geschlossen. Die Liebe zu Robert erwachte erst nach zwei Jahren, in ihr. Sie hatte vor vier Jahren in Lindau damals wohnte sie noch bei ihrer Mutter – eine große Enttäuschung erlebt. Der Mann, den sie liebte, hatte ihr die beste Freundin weggenommen. Die Mutter hatte Verständnis dafür, daß sie ihre Stelle als Kindergärtnerin aufgab, und ein glücklicher Zufall spielte ihr die Hannoversche Zeitung in die Hände, wo sie die Anzeige las, daß ein Kindermädchen gesucht würde.
Sie bewarb sich, legte Zeugnisse und ein Bild bei – und sie wurde zu einem Vorstellungsgespräch gebeten. Robert Fischer fand sie geeignet und sympathisch. Als er sah, wie sie mit Jasmin sprach und diese ihr gleich die Ärmchen entgegenstreckte, wußte er, daß Lisa die Richtige für seine Kleine war.
Vor vier Jahren war das gewesen, dachte Lisa. Und nach zwei Jahren entdeckte sie, daß sie den Mann liebte, dessen Kind sie betreute und von ganzem Herzen zugetan war.
Und heute hatte sie zum erstenmal gespürt, daß er sie vermissen würde. Ihre große Angst, daß er wieder heiraten würde und Jasmin eine neue Mami bekäme und sie nicht mehr gebraucht würde, konnte sie diese Angst nun vergessen?
Lisa war froh, allein im Abteil zu sitzen. Robert hatte nicht nur die Fahrkarte für die Erste Klasse gekauft und bezahlt, sondern auch einen Fensterplatz reservieren lassen. Auch mit den Koffern mußte sie sich nicht abplagen, die hatte er vorher schon aufgegeben, wie immer, wenn sie zu ihrer Mutter fuhr.
Sie nahm das Foto aus ihrer Handtasche, das sie immer bei sich trug. Als Mutter zu Besuch war, hatte sie es am Maschsee aufgenommen. Es zeigte Robert, der lächelte, und sie, die den Arm um Jasmin gelegt hatte, denn sie saß zwischen ihnen.
Mutter schrieb, als sie ihr das Bild schickte: Ich habe das Foto rahmen lassen, es steht nun auf meiner Kommode. Man könnte meinen, Ihr wärt eine glückliche Familie. Ich weiß, Lisa, daß Du diesen Mann liebst, und ich hoffe von Herzen, daß Ihr zueinanderfindet.
Mutter, dachte Lisa nun, hoffentlich werden deine und meine Wünsche wahr. Schon jetzt hatte sie Sehnsucht nach Jasmin und Robert – und war noch nicht einmal eine Stunde von ihnen weg. Herr Fischer – in Gedanken nannte sie ihn immer Robert – hatte versprochen, sie heute abend anzurufen, ob sie gut angekommen sei. Auch sie würde dann wissen, daß er und Jasmin ihr Urlaubsziel erreicht hatten.
In Göttingen stieg ein älteres Ehepaar zu, das Lisa nun gegenüber saß. Es stellte sich heraus, daß die beiden zu ihrem Sohn nach Lindau fuhren, der in drei Tagen heiraten würde.
Lisa, die eine gute Zuhörerin war, ließ den Redeschwall der beiden über sich ergehen. Die Zeit verging dabei sehr schnell, aber sie war dann doch froh, als der Zug im Bahnhof einlief und ihre Mutter sie umarmte.
»Ich bin so glücklich, dich endlich für ein paar Wochen zu haben.«
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen, Mutter.«
»Weißt du, mein Kind, ich hatte schon ein wenig Angst, du würdest mit in die Heide fahren.«
Lisa dachte: Vielleicht im nächsten Jahr, aber sie sagte: »Ich habe dir doch versprochen zu kommen.«
Als abends Robert anrief, klopfte ihr Herz bis zum Hals. »Lisa, wir vermissen dich jetzt schon«, sagte er. »Bei uns ist alles bestens. – Jasmin will noch mit dir sprechen.«
»Lisa…«, hörte sie die helle Stimme des Kindes. »Könntest du nicht doch ein paar Tage zu uns kommen? Wir wohnen in einem schönen Haus, und viele, viele Tiere gibt es. Auch schöne, gute Ponys. – Vati will noch einmal mit dir reden.«
»Ja, Herr Fischer?« sagte sie und schluckte, weil ihr Herzklopfen nicht nachlassen wollte.
»Jasmin hat dich was gefragt. Wäre deine Mutter böse, wenn du die letzte Woche zu uns kommen würdest?«
»Ich weiß nicht. Ich werde mit ihr darüber sprechen.«
»Wie ich deine Mutter kenne, hat sie ein Herz für zwei einsame Menschen in der Heide, die zwar wunderschön, aber auch sehr groß ist.«
Lisa mußte nun lachen, aber es war ein glückliches Lachen.
»Ich rufe bald wieder an«, versprach Robert und wünschte noch eine schöne Zeit. Liebe Grüße an ihre Mutter vergaß er natürlich nicht.
*
In der Kinderklinik Birkenhain waren Dr. Kay Martens und seine Schwester Hanna Martens gerade bei der Visite, als ein Telefonanruf für Hanna kam.
Frau Kirchner war am Apparat. Sie bat die Ärztin, so bald wie möglich zu kommen, denn ihre Tochter Angela habe hohes Fieber.
»Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen, Frau Kirchner«, versprach Hanna. Sie sagte ihrem Bruder Bescheid, nahm ihre Arzttasche aus ihrem Sprechzimmer und ging zum Parkplatz, wo ihr Wagen stand. Sie kannte die Adresse – Heideweg 5 – denn sie betreute die beiden Mädchen von Frau Kirchner schon lange.
Marga Kirchner mußte ihre dreijährige Erika und die zehnjährige Angela allein großziehen, denn ihr Mann hatte sie vor zwei Jahren verlassen. Von morgens acht Uhr bis nachmittags vier arbeitete sie in der Bäckerei in Ögela. Der Unterhalt, den ihr Mann bezahlte, war nicht besonders hoch, er reichte gerade für das Nötigste. Aber die Kinder brauchten auch Kleidung, und die Schuhe waren besonders teuer.
Erika hatte seit ein paar Tagen Schnupfen, der aber schon im Abklingen war. Seit gestern abend klagte nun auch Angela über Kopfweh und Halsschmerzen. Auch ihr Husten hörte sich gar nicht gut an. Marga Kirchner wollte an diesem Tag deshalb nicht in die Bäckerei gehen, aber Angela sagte: »Mami, du kannst unbesorgt zur Arbeit. Ich passe schon auf Erika auf. Ich fühle mich heute schon wieder ein wenig besser.«
»Stimmt das wirklich, Angela?« Als die Zehnjährige nickte, ging die Mutter doch zu ihrer Arbeitsstelle. Die ersten Stunden machte sie sauber, dann half sie im Laden mit. Sie bekam immer Brot und Brötchen, und auch oft ein paar Stücke Kuchen, worüber sich die Kinder freuten.
Doch den ganzen Tag war die Mutter etwas unruhig Sie fragte sich, ob Angela ihre Unpäßlichkeit nicht heruntergespielt hatte.
Und so war es auch. Angela fühlte sich sehr schlapp und müde. Sie war froh, daß Erika im Garten mit ihrer kleinen Freundin Petra spielte, die schon sechs war, so konnte sie sich ein wenig auf die Couch legen, denn ihr war ab und zu schlecht. Der Husten quälte sie, auch schien sie Fieber zu haben.
Immer wieder sah sie auf die Uhr, ob Mami nicht bald heimkäme. Doch die Zeiger der Uhr schlichen nur so dahin. Plötzlich verschwamm alles vor ihren Augen, der Boden hob und senkte sich, sie bekam kaum noch Luft. »Du mußt stark bleiben«, sagte sie vor sich hin. »Mami verläßt sich auf dich.«
Nur mit Mühe wärmte sie die Suppe für Erika auf. Sie konnte keinen Bissen runterbringen, und als Erika sie fragte: »Spielst du ein bißchen mit mir Ball?« erwiderte sie nur: »Heute nicht, meine Kleine. Morgen…«
»Petra kommt nach dem Essen wieder, hat sie mir versprochen. Wir sind ganz leise«, sagte Erika und lief wieder in den Garten.
Angela wollte noch die Teller spülen, doch auf einmal fühlte sie sich so schwach, und der Teller fiel ihr aus der Hand. Als sie sich bücken wollte, wurde ihr schwarz vor den Augen und sie fiel in ein bodenloses Nichts.
Hier fand sie ihre Mutter. Frau Bernd, die Bäckersfrau, hatte ihre Unruhe gespürt und sie früher heimgeschickt. Verständnisvoll hatte sie noch gesagt: »Wenn Sie morgen nicht kommen können, rufen Sie an, Frau Kirchner. Und gute Besserung für ihre zwei Mädchen.«
Als die Mutter im Garten ihre Kleine spielen sah, war sie froh, als diese sagte: »Mami, mir geht es gut. Angela spült das Geschirr.«
Doch als sie Angela am Boden liegen sah, fuhr ihr der Schreck in die Glieder. »Kind, was ist mit dir?« fragte sie angstvoll. Behutsam hob sie das Mädchen hoch und legte es im Wohnzimmer auf die Couch, denn die Schlafzimmer waren im oberen Stock. Sie merkte sofort, daß Angela hohes Fieber hatte, denn ihr Atem ging schnell und die Stirn war heiß.
Rasch lief sie die Treppe nach oben und holte aus dem Badezimmer das Thermometer. Als sie zurückkam, öffnete Angela ein wenig die Augen. Sie versuchte zu lächeln.
»Was ist mit dir, mein Kind?Tut dir was weh?«
»Alles, Mami. Laß mich nur schlafen«, flüsterte sie.
Die Mutter wußte, ihr Mädchen war ernstlich krank. Sie ging zum Telefon und wählte die Nummer der Kinderklinik. Ihre Hände zitterten so, daß sie kaum den Hörer halten konnte. Sie verlangte sofort Frau Dr. Hanna Martens, als die Aufnahmeschwester sich meldete.
Es dauerte keine Minute, und sie hörte die sympathische Stimme der Ärztin, die schon seit Jahren ihre beiden Kinder betreute. »Frau Kirchner, was gibt es denn? Ist was mit Erika?«
»Nein, Frau Doktor. Angela hat hohes Fieber. Ich fand sie in der Küche bewußtlos, als ich heimkam.«
»Ich bin in wenigen Minuten da«, hörte Frau Kirchner erleichtert.
Sie ging wieder zu Angela, nahm das Thermometer hoch und sah erschrocken, daß es vierzigzwei anzeigte. Mit Ungeduld wartete sie nun auf die Ärztin. Als sie hörte, daß diese ihr Auto vor der Haustür parkte, ging sie ihr entgegen.
»Ich bin so froh, daß Sie gleich kommen konnten, Frau Doktor. Angela hat über vierzig Fieber.«
Die Ärztin nahm ihre Tasche aus dem Wagen und folgte der aufgeregten Mutter ins Haus. Im Wohnzimmer, das einfach, aber gemütlich eingerichtet war, lag das kranke Kind.
»Hallo, Angela«, begrüßte sie das Mädchen, das sie mit fieberglänzenden Augen ansah. »Du machst ja Sachen, an so einem herrlichen Tag krank zu sein, da wüßte ich doch was Besseres.«
Als Angela etwas sagen wollte, legte sie ihr den Finger auf den Mund. »Mußt nicht reden, Kleines. Bald wirst du wieder gesund sein, und dann werden wir zwei uns ausführlich unterhalten. Wir mögen uns doch, stimmt’s?«
Das Mädchen nickte nur.
Dr. Martens nahm ihr Stethoskop und einen Holzspatel aus ihrer Arzttasche und sah als erstes Angela in den Hals. Sie wandte sich an Frau Kirchner, die mit angstvollen Augen dabeistand. »Die Mandeln sind leicht gerötet, aber nicht eitrig. – Nun helfen Sie mir bitte, Angelas Kleid auszuziehen, damit ich sie abhören kann.«
Nach dieser Untersuchung war die Miene der Ärztin ernst. »Frau Kirchner, Angela hat eine Lungenentzündung. Es wird am besten sein, wenn wir sie in unsere Klinik bringen.«
»Mein Gott, muß das sein?«
»Ja. Glauben Sie mir, wir werden alles tun, damit Angela bald wieder gesund wird. Sie haben doch Vertrauen zu uns?«
»Natürlich…«
In diesem Moment stürmte Erika ins Zimmer. »Mami, ich möchte…« Als sie die Ärztin sah, verstummte sie plötzlich, dann sagte sie artig: »Guten Tag, Frau Doktor! Ist Angela sehr krank?« Sie lehnte sich an ihre Mutter, als sie hörte, daß die Schwester in die Klinik sollte.
Apathisch ließ Angela alles über sich ergehen, als der Krankenwagen sie abholte.
Natürlich wäre die Mutter gern mitgefahren, doch sie konnte ihre Dreijährige nicht allein lassen.
»Heute abend können Sie Angela schon kurz besuchen«, sagte die Ärztin. »Und wenn Sie niemanden für Erika haben, bringen Sie sie mit, die Aufnahmeschwester beschäftigt sich schon mit ihr.«
»Danke, Frau Doktor. Ich bin überzeugt, daß Sie alles für meine Angela tun. Sie wissen ja, meine zwei Kinder sind mein ganzes Glück.«
»Das weiß ich, Frau Kirchner. Also dann bis heute abend!«
»Bis heute abend«, erwiderte sie leise.
*
Dr. Hanna Martens kam gleich nach dem Krankenwagen in der Klinik an. Als sie ihr Auto auf dem gewohnten Parkplatz abgestellt hatte, eilte sie ins Ärztezimmer und zog sich um.
Man hatte Angela schon in ein Krankenzimmer gebracht. Hannas Bruder Kay wartete bereits auf sie. Hanna berichtete ihm nun ihre Diagnose.
»Ich muß dir jetzt ein kleines bißchen weh tun, Angela«, sagte sie zu dem Kind, »denn wir brauchen ein wenig Blut, um es im Labor analysieren zu lassen.«
Das Mädchen nickte nur. Während die Ärztin mit einen alkoholgetränkten Wattebausch die Armvene abtupfte, die sie durch ein festes Band gestaut hatte, und etwas Blut in das sterile Glasröhrchen rinnen ließ, stand die Oberschwester Elli schon bereit. Sofort lief sie ins Labor und nahm die Blutanalyse selbst vor.
»Wir geben am besten gleich Antibiotikum.« Hanna sah ihren Bruder an.
»Du hast recht, Hanna. Penicillin ist das beste Heilmittel.«
Als abends die Mutter Angelas kam – Erika konnte solange bei der Nachbarin bleiben –, merkte sie, daß ihr Kind schon gleichmäßiger atmete. Es fühlte sich auch nicht mehr so heiß an. Ganz sanft nahm sie die Hand ihrer Tochter in ihre.
»Schön, daß du da bist, Mami«, sagte Angela leise. »Mir geht es schon etwas besser. Schmerzen habe ich keine mehr.«
Marga Kirchner atmete befreit auf. »Es war schon richtig, daß die Frau Doktor dich gleich hier eingewiesen hat.«
»Ja, alle sind sehr nett hier. Besonders die Oberschwester Elli. Eine Nachtschwester war auch schon da. Sie heißt Jenny, genau wie meine Babypuppe.«
»Liebling, du solltest noch nicht so viel sprechen. Es strengt dich sicher zu sehr an«, mahnte die Mutter. »Um Erika mußt du dich auch nicht sorgen. Frau Bernd hat mir Urlaub gegeben. Ich darf zu Hause bleiben, bis du wieder ganz gesund bist. Ist das nicht nett von Frau Bernd?«
»Ja, sie ist überhaupt eine gute Frau.«
»Morgen früh komm ich wieder, meine Große. Erika darf aber nicht mit ins Zimmer, sie muß bei der Schwester in der Aufnahme bleiben.«
»Gib ihr ein Küßchen von mir, Mami«, sagte Angela und gähnte herzhaft.
»Schlaf dich gesund, mein Herzchen. Du weißt, wie sehr ich dich liebe?«
»Ich dich auch, Mami.« Angela schloß die Augen, und tiefe Atemzüge verrieten, daß sie fest schlief.
Die Mutter übergab der Nachtschwester Jenny noch drei Schlafanzüge und Waschzeug. Sie fand die Schwester auch sehr nett, und sie nahm sich vor, ihr morgen früh einen Strauß Blumen aus ihrem Garten mitzubringen.
*
Das große Gebäude des zu der Kinderklinik umgebauten Birkenschlößchens bot ein friedliches Bild. Es lag mit seinen Anbauten in einem großen Park. Durch ein hohes schmiedeeisernes Tor führte die Auffahrt an bunten Blumenrabatten und blühenden Büschen vorbei direkt zum Schloß. Unter den alten Bäumen standen vereinzelt weiße Bänke, die vom Klinikpersonal in ihrer Freizeit gern genutzt wurden.
Dr. Hanna Martens erwachte an diesem Morgen sehr früh. Das Vogelgezwitscher, das aus den hohen Bäumen in ihr offenes Fenster drang, ließ sie auch nicht wieder einschlafen. Dämmerung drang ins Zimmer, dem ein rosiger Schein folgte.
Hanna stand auf, dehnte und streckte sich, dann trat sie ans Fenster. Sie schob den weißen Spitzenvorhang zur Seite und öffnete das Fenster weit. Tief atmete sie die kühle Morgenluft ein.
Plötzlich fröstelte sie, deshalb schloß sie das Fenster. Sie schlüpfte in ihren seidenen Morgenmantel und setzte sich in ihren Schaukelstuhl.
Obwohl es erst fünf Uhr war, stellte sie sich unter die Dusche, wusch ihre Haare, föhnte sie und zog sich fertig an. Die blonden Haare fielen lockig auf die Schultern. Ihre blauen Augen blitzten aber heute nicht so fröhlich wie sonst. Wenn ich nur wüßte, was mit mir nicht stimmt? überlegte sie.
Die Nacht in der Klinik war ruhig verlaufen. Das bedeutete, daß alle kranken Kinder im Haus auf dem Weg der Besserung sind. Auch Angela, die zehnjährige, würde die Lungenentzündung überstehen. Und Fritz, dem vor zwei Tagen der Blinddarm entfernt wurde, fühlte sich sehr gut.
Wie immer hatte sie mit Kay am gestrigen Abend eine Kurzvisite bei den Kindern gemacht. Es gab keinerlei Grund zu ihrer Unruhe.
Laß die Dinge doch erst an dich herankommen, bevor du dir jetzt schon unnötige Gedanken machst, sagte sie sich. Doch immer wieder grübelte sie über ihren nächtlichen Traum nach, denn ein ungutes Gefühl verließ sie den ganzen Tag nicht.
Beim Frühstück fragte Kay: »Hanna, was ist mit dir? Du wirst doch nicht krank werden? Ich sehe doch, daß dein Lächeln heute nur aufgesetzt ist.«
»Ich hatte einen blöden Traum, Kay. Aber ich kann mich an ihn nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, er war sehr bedrohlich.«
»Im Laufe des Tages wird er dir einfallen, Schwesterlein, dann lachst du über deine unnötigen Ängste.«
»Schön wär’s, Kay.«
»Dir macht doch deine Arbeit Freude – und du bist hier auch zufrieden?« Als sie nickte, meinte er noch: »Wir haben alles erreicht, was wir uns gewünscht haben. Und wir wissen auch, daß wir hier im weiten Umkreis bekannt und geschätzt sind.«
»Das weiß ich alles. Ich bin dafür sehr dankbar.«
»Vielleicht solltest du mal ein paar Tage ausspannen?«
»Du hättest auch einen Urlaub nötig, Kay. Aber leider können wir nicht zusammen wegfahren«, sagte Hanna nachdenklich.
»Das haben wir vorher gewußt. Also laß uns überlegen, wie wir für dich, wenigstens eine Woche, den Urlaub planen.«
»Ich wüßte nicht einmal, wohin ich fahren möchte.«
»Wir holen uns einfach ein paar Reiseprospekte – und du wirst schon was Passendes finden.«
»Meinst du?« sagte sie zweifelnd.
»Kollege Herbst kommt doch nächste Woche von seinem Urlaub zurück. Er könnte dich dann vertreten.«
Als Hanna ihren Bruder mit gerümpfter Nase ansah, lächelte er und sagte: »Was hast du nur gegen Alex Herbst? Er ist zwar keine Schönheit, doch er ist tüchtig und dynamisch – und auch zuverlässig.«
»Wenn du meinst. Aber reden wir in ein paar Tagen wieder darüber.«
War sie wirklich urlaubsreif? fragte sie sich. Zugegeben, Kay und sie hatten schon lange keine freien Tage mehr. Bis heute hatte sie auch gar nicht daran gedacht wegzufahren, denn sie empfand die Heide und die nähere Umgebung einfach wunderschön. Und mit Kays großem Wagen hatten sie beide schon sehr schöne Tagesfahrten gemacht.
Jetzt reiß dich zusammen, sagte sie sich, denn Launen kannst du dir als Ärztin wirklich nicht erlauben.
Und als sie in die Krankenzimmer ihrer kleinen Patienten kam, war ihr Lächeln nicht mehr aufgesetzt, es kam wieder vom Herzen.
Die Narbe sah sehr gut aus bei Fritz Trummert, und sie sagte es ihm. »Dann darf ich sie mir vielleicht heute schon ansehen, Frau Doktor?«
»Wenn du willst, aber nicht, wenn dir danach schlecht wird.«
»Was denken Sie von mir, Frau Doktor? Sie wissen doch, daß ich einmal Arzt werde, da darf ich doch nicht so zimperlich sein.«
»Entschuldige, das habe ich ganz vergessen, Fritz. Na, dann schau dir deine Narbe mal an.«
Fritz hob den Kopf ein wenig und nickte zufrieden.
»Es heilt ganz gut«, war die fachmännische Antwort des Jungen. »Frau Doktor, ich darf doch auch, wenn ich wieder gesund bin, das Labor besichtigen? Die technischen Geräte, besonders der Herzmonitor interessieren mich sehr.«
»Da mußt du Dr. Martens fragen. Aber ich bin sicher, er erlaubt es einem zukünftigen Kollegen.«
Fritz lachte, dann sagte er: »Ich kann schon wieder lachen, ohne daß es weh tut.«
»Du siehst, mein Bruder ist ein guter Chirurg.«
»Vielleicht kann ich einmal bei ihm meine Assistentenzeit…« Fritz sprach nicht weiter, denn Kay Martens hatte das Krankenzimmer betreten. Er hatte die letzten Worte mitbekommen.
»Fritz, du denkst ja schon weit voraus«, sagte er lächelnd. »Einige Jahre wird es aber noch dauern, ehe du studieren kannst.«
»Ja, ich weiß«, seufzte er. »Aber wünschen darf ich es mir jetzt schon, einmal ein guter Arzt zu werden.«
»Das ist klar«, sagte Kay Martens. »Und wenn man sich etwas von ganzem Herzen wünscht, dann geht es auch oft in Erfüllung.«
»Danke, Herr Doktor. Daran will ich glauben.«
Die beiden Ärzte wandten sich nun dem kleinen Heiko zu, der mit großen Augen dem Gespräch zugehört, aber nur wenig verstanden hatte. Auf die Frage des Doktors, ob er noch Schmerzen habe, sagte er nur: »Ein bißchen schockt mein Fuß noch.«
»Das wird von Tag zu Tag besser«, versprach der Arzt. »Du wirst sehen, bald kannst du wieder laufen.«
Als Kay und Hanna Martens das Zimmer verlassen hatten, sagte Fritz zu Heiko: »Vielleicht bekommst du bald einen Gehgips, dann darfst du wieder nach Hause.«
»Ja, ich möchte bald heim, nächste Woche habe ich doch Geburtstag. Und meine Mutter hat gesagt, daß ich ein paar Freunde einladen darf.«
»Frag die Frau Doktor und sag ihr das vom Geburtstag«, schlug Fritz vor.
»Ich möcht gern, daß du auch kommst, Fritz. Du bist immer so lustig.«
»Prima, ich komme gern. Ich kenne auch ein paar Spiele, da lachst du dich schief.«
Schwester Trude kam ins Zimmer. »Na, ihr zwei, habt ihr Appetit auf etwas Obst?« Als die Kinder nickten, gab sie Fritz eine Banane und Heiko einen schon zurechtgeschnittenen Apfel. Sie schüttelte ihnen noch die Kopfkissen zurecht und holte aus dem Nachtkasten von Fritz, auf seinen Wunsch, das Märchenbuch, weil er Heiko etwas vorlesen wollte.
»Schön, daß ihr zwei euch gut vertragt«, sagte Trude lächelnd.
»Wir könnten auch gar nicht miteinander raufen«, sagte Fritz, »weil wir noch nicht mal richtig stehen können. Aber wir werden’s auch nicht, wenn wir wieder gesund sind.«
»Das hör ich gern. Also dann weiterhin gute Besserung. Ich habe zwei Tage frei.«
»Schwester Trude«, sagte Fritz, »Sie sind immer so nett. Wir freuen uns, wenn Sie wieder da sind.«
»Das hör ich gern Fritz. Ihr beide seid auch besonders lieb.« Mit einem Lächeln verließ Trude das Krankenzimmer – und ausgerechnet Dr. Klaus Mettner kam ihr auf dem Flur entgegen.
Immer wenn sie dem gutaussehenden Neurologen begegnete, klopfte ihr Herz ein paar Takte schneller. Er war groß und schlank, sein rötliches Haar immer gut frisiert, und die Sommersprossen im Gesicht ließen ihn noch jünger als achtundzwanzig erscheinen.
Mit einem kurzen Gruß wollte sie an ihm vorbei, aber er blieb stehen und sagte: »Ich habe gar nicht gewußt, wie schön Sie sind, wenn Sie lächeln, Schwester Trude.«
Zarte Röte stieg ihr ins Gesicht, und das gefiel dem jungen Arzt ganz besonders.
»Die Oberschwester Elli hat mir gesagt, daß Sie ein paar Tage frei haben. Fahren Sie weg?«
»Nein – ich bleibe hier. Meine Freundin aus Hannover kommt mich besuchen.«
»Freundin…?« fragte er zweifelnd.
»Ich hab noch viel zu tun. Ich muß weiter«, sprudelte sie hervor und eilte den Flur entlang. Sie war sehr verwirrt.
Der Vormittag verging für das Ärzteteam mit der Visite und anschließend mit der üblichen Besprechung im Konferenzraum. Die Lungenentzündung Angelas war im Abklingen, doch sie sollte noch weiter mit Antibiotika behandelt werden.
Beruhigt konnten alle in den Speiseraum gehen und ihr Mittagessen einnehmen. Mareike Schriewers, die Küchenchefin, hatte mit ihrer Gehilfin wieder einmal ein wohlschmeckendes Essen zubereitet. Es gab Seezungenfilet, Kartoffelbrei und grünen Salat, als Nachtisch Vanilleeis mit heißen Himbeeren.
Hanna nahm gerade den ersten Löffel Eis, als das Telefon klingelte. Kollege Mettner, der in der Nähe des Apparates saß, hob ab.
»Frau Dr. Martens, Sie werden verlangt. Ein Notfall.«
Hanna stand auf und nahm den Hörer. Schwester Tina, die zur Zeit Telefondienst hatte, erklärte der Ärztin, daß sie schon einen Krankenwagen in die Birkenallee geschickt habe, weil die zweieinhalbjährige Tochter Petra der Familie Steiner von den giftigen Tollkirschen gegessen habe.
»Ich komme sofort in das Behandlungszimmer. Wahrscheinlich müssen wir dem Kind den Magen auspumpen.«
Kurz erklärte sie den Anwesenden, daß sie dringend gebraucht würde. Sie bat auch die Oberschwester Elli, mit ihr zu kommen, die ihr behilflich sein konnte.
Im Behandlungszimmer richteten sie schon alles her – und als die Kleine mit hochrotem Gesicht von zwei Pflegern hereingefahren wurde, mußte sich die Oberschwester erst um die Mutter des Kindes kümmern, denn sie hatte eine Kreislaufschwäche. Zum Glück war Schwester Trude da, sie konnte der Ärztin helfen.
Beruhigend sprach Trude auf die kleine Petra ein, die ganz apathisch auf dem Behandlungstisch lag. Doch plötzlich begann sie wieder zu würgen, aber der kleine Magen schien schon leer zu sein.
»Trude, nehmen Sie das Kind in den Arm, ich werde dann behutsam, wenn der Brechreiz vorüber ist, den Magen auspumpen.«
Es war eine unangenehme Prozedur, die das Kind über sich ergehen lassen mußte. Doch es war bald vorbei. Das kleine Herz schlug wieder normal, die Röte im Gesicht verschwand.
»Nun muß ich dir noch ein klein wenig weh tun, Petra«, sagte Hanna Martens. »Aber du bist ja ein tapferes Mädchen«, lobte sie das Kind, als sie ihr aus der Armvene ein wenig Blut abgenommen hatte.
Hanna kannte das Kind. Es gehörte zu ihren kleinen Patienten, die sie ambulant behandelte.
»Wo ist meine Mami?« fragte nun Petra leise.
»Sie wartet draußen auf dich. Schwester Trude wird dich nun in ein schönes Zimmer bringen, dann kommt deine Mami zu dir.«
Petras Mutter ging es wieder besser. Die Oberschwester hatte ihr Kreislauftropfen gegeben und dann sehr ernst mit ihr gesprochen.
»Wußten Sie nicht, daß Tollkirschen giftig sind?«
»Ja… Wir haben keine im Garten. Überhaupt keinen Strauch, der dem Kind gefährlich werden könnte.«
»Wie ist es dann passiert, daß Petra von den Kirschen aß?«
»Petras Freundin Heike spielte mit ihr im Garten, dann fragten sie, ob sie im kleinen Wäldchen, das gleich hinter unserem Grundstück beginnt, Versteck spielen dürfen. Ich hab mir nichts dabei gedacht und es erlaubt. Ich wußte doch nicht, daß es da Tollkirschen gibt.« Schluchzend sprach Frau Steiner nun weiter: »Hoffentlich kann die Frau Doktor Petra wieder gesund machen.«
»Sie müssen auf Petra besser aufpassen. Und vor allen Dingen müssen sie ihr erklären, daß sie keine Kirschen, Beeren oder Blüten essen darf – nur was Sie ihr geben.«
»Das war mir eine große Lehre. Aber wer denkst denn an so was?« Sie fragte nun: »Darf ich jetzt zu Petra?«
»Ich sehe erst mal nach und gebe Ihnen Bescheid.« Trude fügte noch hinzu: »Einen oder zwei Tage wird Petra hierbleiben müssen, damit wir sicher sind, daß das giftige Atropin, das in der Tollkirsche vorhanden ist, ihr nicht mehr schadet.«
Als die Mutter ins Krankenzimmer kam, schlief Petra fest. Sie atmete ruhig und gleichmäßig.
Im Bett nebenan lag Hanni, ein blonder Wuschelkopf, der die Mandeln herausgenommen worden waren. Die Siebenjährige fragte leise: »Was ist mit Ihrer Tochter?«
»Sie hat von den giftigen Tollkirschen gegessen.«
»Oh…, wird sie wieder gesund?«
»Ja. In ein paar Tagen darf sie schon heim. Aber warum bist du hier?«
»Mir sind die Mandeln entfernt worden, weil ich oft Halsschmerzen hatte. Mir geht’s schon wieder gut, ich darf auch bald nach Hause. – Ich bin aber froh, daß ich nicht mehr allein hier liegen muß.«
Frau Steiner lächelte Hanni zu und sagte. »Ich komme später wieder.« Beruhigt ging sie heim, denn sie wußte ihr Kind in guten Händen.
Als sie nach ein paar Stunden wiederkam, brachte sie Petra ihre Lieblingspuppe Susi mit. Für Hanni hatte sie ein Märchenbüchlein.
»Vielen Dank«, sagte sie. »Nun kann ich Petra was vorlesen, wenn sie es will.«
Und Petra bedankte sich mit einem Küßchen für ihre Susi. »Ich muß aber vielleicht noch zwei Tage hierbleiben, Mami. Du bist doch nicht traurig deshalb?«
»Nein, mein Herzchen. Wichtig ist, die Frau Doktor macht dich ganz gesund.«
»Ja, ich bin nur noch so müde, aufstehen darf ich auch nicht.«
Die Mutter sah, daß Petra schon wieder eingeschlafen war. Sie gab ihr einen Kuß auf die Stirn und sagte leise: »Dein Schutzenglein hat dich vor Schlimmerem bewahrt.«
Am Abend, als ihr Mann aus Hamburg anrief, wo er geschäftlich zu tun hatte, berichtete sie ihm gleich von dem Geschehen.
Natürlich erschrak er sehr, doch als sie ihm versicherte, daß Petra bald wieder heim durfte, war er beruhigt.
*
Ein paar Tage schon war Robert Fischer mit seiner Tochter Jasmin bei der Familie Sundermann, die sie herzlich aufgenommen hatte. Sie hatten zwei schöne Zimmer mit einer Verbindungstür, die Jasmin auch ausnützte.
Schon am ersten Morgen dachte Robert genüßlich: Endlich einmal richtig ausschlafen können! Mit einem Blick auf den Wecker hatte er gesehen, daß es sechs Uhr war. Er schloß wieder die Augen und sah vor seinem geistigen Auge Lisa vor sich. Er sah ihr anmutiges Lächeln, ihre braunen großen Augen mit den langen Wimpern und ihr seidiges schwarzes Haar…
Plötzlich flüsterte ein feines Stimmchen in sein Ohr: »Papi, schläfst du noch?«
Ohne seine Antwort abzuwarten, hob Jasmin seine Bettdecke hoch und schlüpfte neben ihn.
»Darf ich mit meinem Teddy zu dir kommen?« fragte sie leise und kuschelte sich schon zärtlich an ihn.
Robert schmunzelte, weil sie erst fragte, nachdem sie schon bei ihm lag. »Natürlich darfst du, mein Kleines«, sagte er und drückte sie fest an sich.
Aufmerksam sah Jasmin ihn nun an. »Bist du traurig?« wollte sie wissen und legte ihm ihr Lieblingsbärchen an die Wange. »Teddy und ich werden dich trösten, Vatilein«, schmeichelte sie. Dabei schlang sie die Ärmchen um seinen Hals und küßte ihn auf die Nasenspitze.
Scherzend sagte er nun: »Ich bin noch ein wenig traurig. Ein Küßchen war zu wenig…«
Sofort küßte ihn Jasmin noch einmal, diesmal auf die Wange. »Huuuch«, meinte sie erschrocken, »du bist ja stachelig wie ein Igel.« Sie leckte die roten Lippen wie ein Kätzchen.
»Kunststück, ich bin ja noch nicht rasiert«, sagte er lachend. Mit betont tiefer Stimme sagte er nun: »Junge Damen sollten so früh am Morgen ältere Herren auch nicht im Bett überfallen.«
Jasmin jauchzte, denn so liebte sie ihren Papi besonders, wenn er mit ihr Spaß machte. Achtlos warf sie ihr geliebtes Bärchen aus dem Bett, denn nun begann das Tobi-Spiel, wie sie schon als Zweijährige gesagt hatte.
Robert zog nun die Bettdecke über seinen Kopf und brummte: »Ich bin ein großer Bär – ich mag mein Mädchen sehr…«
Jasmin warf sich nun auf ihn und kitzelte ihn so lange, bis er vor Lachen nicht mehr konnte und um Gnade flehte. Dann kam sie an die Reihe.
»So, nun ist Schluß, mein Prinzeßchen.« Er drückte sie nochmals kurz an sich, gab ihr einen kleinen Klaps auf den Po und meinte: »Was meinst du, wollen wir zwei heute eine Kutschfahrt durch die Heide machen?«
»Au fein«, jauchzte Jasmin. Doch plötzlich schob sie die Unterlippe vor.
»Was ist jetzt los?« wollte er gleich wissen.
»Ich bin traurig, weil Lisa nicht bei uns ist. Warum ist sie nicht mit uns gefahren? Im letzten Jahr war sie doch mit am Meer.«
»Damals war Lisas Mutter auch dabei. In diesem Jahr wollte Lisa nach Lindau, weil es ihrer Mutter nicht besonders gut geht. Die Reise hätte sie zu sehr angestrengt. Das verstehst du doch?«
»Versteh ich schon, Papi, aber es wäre halt noch schöner, denn ich habe Lisa sehr lieb.«
»Ich auch, mein Kleines. Vielleicht kann sie im nächsten Jahr mit uns fahren.« Dabei dachte er: Ich werde sie sofort fragen, wenn wir in vier Wochen wieder daheim sind, ob sie meine Frau werden will.
»Bis dahin ist es noch schrecklich lang…«, meinte Jasmin. Sie hob ihren kleinen Teddy hoch, drückte ihn an sich und ging ins nebenanliegende Badezimmer. Ihrem Vater rief sie noch zu: »Ich mach heute nur Katzenwäsche, denn ich habe doch gestern abend gebadet.«
»Aber Zähneputzen nicht vergessen, Kind.«
»Natürlich nicht…«, schallte es hinter der Tür.
Lisa hatte Jasmin gut erzogen, und sie war für ihre Jahre ganz schön selbständig. Sie zog sich allein an und aus, und sie aß am Eßtisch sehr manierlich. Trotzdem blieb sie das liebe Mädchen, ohne affektiert zu sein.
Robert hatte das Fenster weit geöffnet, er sah, daß es ein strahlend schöner Tag werden würde. Er machte ein paar Freiübungen, atmete die kühle Morgenluft ein und freute sich, ein paar Wochen ausspannen zu können. Obwohl er seine Arbeit als Grafiker liebte, malte er sehr gern Aquarelle in seiner Freizeit. Seine Staffelei, Leinwand und Palette sowie Pinsel hatte er mitgenommen. Doch die ersten Tage sollten nur Jasmin gehören. Als sie aus dem Badezimmer kam, fragte er. »Kann ich dir beim Anziehen helfen, Liebling?«
»Nein, Papi. Ich kann das schon allein. Lisa hat mir viel eingepackt, sie meinte, ich soll mich nach dem Wetter richten. Heute kann ich ein Sommerkleid anziehen, weil die Sonne scheint.«
Als sie beide fertig angezogen waren, gingen sie nach unten, um zu frühstücken. Vor dem Haus war der große runde Tisch gedeckt. Ein bunter Sonnenschirm spendete Schatten, denn die Sonne meinte es schon gut.
»Fast so schön wie daheim, nur Lisa fehlt«, sagte Jasmin und setzte sich in den hohen Stuhl, auf dem ein Kissen für sie lag. Sie hatten zu Hause eine schöne große Terrassenwohnung, wenn es das Wetter gut meinte, konnten sie auch draußen essen.
Berta und Fritz Sundermann vermieteten im Sommer nur an ausgesuchte Gäste. Sie hatten eine mittlere Landwirtschaft, ein paar Kühe, zwei Schweine, Hühner und natürlich zwei Ponys. Und in der Remise stand ein Kutschwagen, in dem die Ponys. Franz und Jonas, eingespannt wurden, wenn eine Fahrt gewünscht wurde.
Nun kam Peter Sundermann mit seiner Mutter auf die Terrasse. Beide hatten ein Tablett, auf dem leckere Sachen standen. Mit einem fröhlichen »Guten Morgen!« deckten sie den Tisch.
»Habt ihr beide gut geschlafen?« fragte Berta Sundermann, die wie ein junges Mädchen aussah, obwohl sie schon fünfunddreißig war.
»Hat euch der Hahn nicht aufgeweckt? Er hat heute schon um vier Uhr zu krähen angefangen.« Peter sah dabei nur Jasmin an, und seine blauen Augen strahlten, als das Mädchen sagte: »Ich hab wie ein Murmeltier geschlafen.«
»Ich hab ihn auch nicht gehört«, meinte Robert Fischer. »Frühstückt ihr beide heute nicht mit uns?« wollte er wissen, weil er nur zwei Gedecke auf dem Tisch sah.
»Mein Mann meint, wir würden euch vielleicht lästig fallen«, sagte Berta Sundermann.
Robert lachte, dann sagte er: »Das ist doch Unsinn, wir lieben es, wenn mehr am Tisch sitzen – und euch zwei mögen wir besonders gern.«
Peter sah seine Mutter an, sie nickte, und er lief schnell in die Küche und holte noch zwei Gedecke. Er war ganz vernarrt in Jasmin, und zu gern hätte er sie als Schwester gehabt. Ihre blonden Locken und die tiefblauen Augen – und ihr Liebreiz hatten ihn ganz verzaubert.
Seine Mutter sah es, doch sie lächelte weise über seine erste Liebe. Er war für seine zehn Jahre schon groß und kräftig, denn er half im Haus und Stall immer mit, wenn die Schule aus war. Und Peter hatte sie und Vater gebeten, sich ein wenig um die Gäste kümmern zu dürfen, wenn sie es wünschten.
Gestern war Peter mit Herrn Fischer und Jasmin beim Schäfer Vinzenz und seiner großen Schafherde gewesen. Das Kind war so glücklich gewesen, die Heidschnucken, wie ihr Vater sagte, anfassen und kraulen zu können. Die beiden Hunde, die die Herde zusammenhielten, waren auch sehr zutraulich gewesen.
Nun ließen sich die vier am Tisch das Frühstück gut schmecken.
Jasmin fragte nun: »Vati, du wolltest doch mit mir heute eine Kutschfahrt machen?«
»Ja, das wäre schön…« Er wandte sich an Frau Sundermann: »Kann uns Peter nicht kutschieren?«
»Natürlich, er fährt immer unsere Gäste spazieren und erklärt ihnen die Umgebung.«
Peter mußte an sich halten, um nicht einen Juchzer auszustoßen. Doch seine Augen leuchteten, als er sagte: »Wir können durch die Heide fahren bis zum Wilsederberg. Die Birken am Weg dorthin sehen wunderschön aus mit ihren grünen Blättern und den fast weißen Stämmen.«
Seine Mutter fügte noch hinzu: »Peter zeigt euch dann auch die Wacholderbäume und Büsche. Manche sehen wie riesige Tiere aus und andere wie Menschen.«
»Und jetzt blüht die Heide wie ein rosaroter Teppich«, schwärmte Peter ihnen noch vor. »Wann wollt ihr fahren?«
Robert, der die Begeisterung des Jungen sah, blickte auf seine Uhr. »Wenn es dir recht ist, Peter, in einer halben Stunde.«
Er nickte zustimmend, dann fragte er Jasmin: »Freust du dich auch?«
»Ja…, sehr.« Sie umarmte ihren Papi und sagte: »Du bist der beste Papi, den es gibt.«
Peter half der Mutter noch das Geschirr in die Küche zu tragen, dann lief er auf die Wiese, die hinter dem Garten lag, und holte die beiden Ponys. Gekonnt spannte er die zwei ein, und wie verabredet konnten sie losfahren.
Es war eine wunderschöne Fahrt. Franz und Jonas, die Ponys, lenkte Peter mit sicherer Hand. Erst ließ er sie ein wenig rascher laufen, denn sie waren noch jung, und die Bewegung tat ihnen gut. Peter freute sich über die Begeisterung Jasmins. Ihr Vater hatte seinen Fotoapparat mitgenommen – und wo es ihnen gefiel, hielten sie an, machten mehrere Bilder, dann ging’s weiter. Jasmin staunte über die wirklich märchenhaften Wesen, die die Wacholderbüsche darstellten.
»Alle sind ganz natürlich gewachsen. Keiner hat daran rumgeschnitten«, erklärte Peter.
Allmählich wurde es Mittag, und die Sonne stand schon ziemlich hoch. »Ich denke, wir machen uns wieder auf den Heimweg, Peter. Aber wir fahren bestimmt noch ein paarmal mit dir, du bist ein guter Reiseleiter.«
Jasmin war doch ein wenig müde vom vielen Schauen, sie sagte nur: »Ja, wir fahren noch oft mit dir.«
Er drehte sich lächelnd um, da sah er, daß Jasmin an ihrem Vater lehnte und schlief.
Nun ließ Peter die Ponys langsamer laufen, damit Jasmin nicht wach wurde. Er freute sich auf die kommenden Wochen, denn das süße Mädchen hatte ihn auch gern, das merkte er an ihrem Lächeln und ihrer Zutraulichkeit.
Robert Fischer hatte den Arm um Jasmin gelegt, und sie schlief noch, als Peter bremste und die Ponys standen.
»Aufwachen, Kleines, wir sind da. Die Fahrt ist zu Ende«, sagte der Vater.
Jasmin blinzelte und rieb sich dann die Augen. »Ich bin noch müde«, murmelte sie.
Ihr Vater hob sie vom Wagen, stellte sie auf die Beine und sagte: »Erst waschen wir uns die Hände, dann essen wir eine Kleinigkeit und danach darfst du noch ein wenig schlafen. Einverstanden?«
»Ja, Papi.« Sie sah zu Peter, der abwartend stehengeblieben war, gab ihm die Hand und bedankte sich für die schöne Fahrt.
»Hoffentlich hat sie dir auch gefallen?«
»Natürlich. Es war sehr schön. Papi, wir fahren doch bald wieder mit Peter?«
»Na klar, wir bleiben ja noch lange hier.« Er wandte sich an Peter und sagte: »Danke, Peter, man sieht, du liebst die beiden Ponys – sie gehorchen dir ja aufs Wort.«
»Ja, ich pflege sie auch und versorge sie, seit sie bei uns sind.« Er kraulte ihnen die Stirn, was ihnen sehr gefiel.
Den Nachmittag verbrachten Vater und Tochter im Garten, denn es war ziemlich heiß. Jasmin plantschte in einer großen mit Wasser gefüllten Gummiwanne, die der Hausherr für sie aufgestellt hatte. Sie sah reizend aus in ihrem pinkfarbenen Badeanzug, und ihr Juchzen drang durch den Garten in die Küche, wo Berta Sundermann dabei war, einen Apfelstrudel zu backen.
Sie blickte aus dem Fenster und sah, daß Herr Fischer mit einem großen Zeichenblock am Tisch saß und sein Töchterchen skizzierte. Ein wenig verwundert fragte sie sich, warum dieser gutaussehende Mann mit seiner Tochter allein lebte? Nur kurz hatte er ihrem Mann und ihr erklärt, daß seine Frau vor vier Jahren verunglückt sei.
*
Lisa Keller, die zu ihrer Mutter nach Lindau gefahren war, weil sie in letzter Zeit nicht ganz gesund gewesen, saß mit ihr beim Abendessen, als das Telefon klingelte.
Sie sprang sofort auf und meldete sich mit ihrem Namen.
»Hallo, Lisa«, hörte sie die ihr so vertraute Stimme Roberts. »Wie geht es dir?« war seine erste Frage.
Er hat das Du beibehalten, dachte sie froh. »Danke, mir geht es gut. Und euch beiden?«
»Wir sind hier bestens untergebracht. Die Sundermanns sind ganz reizend, dennoch vermißt dich Jasmin sehr. Jeden Tag sagt sie: Schade, daß Lisa nicht bei uns ist.«
»Vermissen Sie mich auch?« fragte Lisa und erschrak über ihre Kühnheit.
»Und wie… Wenn ich dich hier hätte, würdest du es spüren.«
Für einen Moment verschlug es ihr die Sprache. Sollten ihre Wünsche doch in Erfüllung gehen?
»Bist du noch da, Lisa?«
»Ja…, Sie haben mich verwirrt…«
»Dann gewöhne dich schon an den Gedanken, daß wir uns nie mehr trennen werden.« Als sie nichts darauf sagte, fragte er: »Entschuldige, ich habe noch gar nicht nach dem Befinden deiner Mutter gefragt.«
»Ihr geht es schon besser. Wir waren beim Arzt, und er meinte, sie solle endlich zu arbeiten aufhören, nachdem sie doch schon sechzig ist.«
»Hilft sie immer noch ihrer Schwester im Büro?«
»Leider ja. Aber ich werde sie überzeugen, daß sie jetzt einmal an sich selber denkt, nicht nur an andere.«
»Tu das, Lisa. Dann soll sie uns aber für mehrere Wochen besuchen. Sag ihr das.«
»Mach ich. Sie wird sich über Ihre…, deine Einladung freuen.« sie hatte Robert zum erstenmal geduzt, und ihr Herz, das noch immer heftig gegen die Rippen pochte, schlug erst ruhiger, als sie Jasmin sagen hörte: »Lisa, es ist wunderschön hier, aber mit dir wäre es noch tausendmal schöner, das sagt Papi auch.«
»Schön, deine Stimme zu hören, mein Herzchen. Ich habe auch Sehnsucht…« Als sie den traurigen Blick ihrer Mutter sah, hielt sie den Hörer zu und sagte zu ihr: »Herr Fischer hat dich eingeladen, mehrere Wochen nach Gehrden zu kommen. Du sagst doch ja?«
Die Mutter nickte lächelnd. Sie wußte längst, daß ihre Tochter den Vater Jasmins liebte. Und wie es nun den Anschein hatte, liebte er diese auch. Möge Gott den beiden das große Glück schenken, dachte sie innig.
Als Lisa den Hörer aufgelegt hatte, strahlten ihre braunen Augen die Mutter an. »Robert stimmt mit mir überein, daß du nicht mehr arbeiten sollst. Und du möchtest für mehrere Wochen nach Gehrden kommen.« Sie umarmte die Mutter herzlich und wirbelte sie im Zimmer herum. Als diese um Gnade bat, sagte sie noch: »Robert meinte, ich soll mich an den Gedanken gewöhnen, daß wir uns nie mehr trennen werden.«
»Du weißt, mein Kind, daß ich dir alles Glück dieser Erde wünsche«, sagte sie, doch sie dachte daran, wie viele Kilometer sie dann voneinander getrennt wären.
Daß Glück und Glas ganz leicht zerbrechen können, das bewiesen die nächsten Tage.
Robert Fischer bekam eines Abends einen Anruf seines Chefs aus Hannover, der ihm mitteilte, daß Bernd Springer ganz plötzlich an Herzversagen gestorben war. Diese Nachricht schmerzte ihn sehr, denn Bernd war ein prima Kollege gewesen und erst dreiundfünfzig Jahre alt. Seine Frau würde untröstlich sein, denn sie hatten eine gute Ehe geführt.
Er sagte zu, zur Beerdigung zu kommen, die zwei Tage später in Hannover stattfinden sollte.
Robert sprach mit Herrn und Frau Sundermann, die selbstverständlich bereit waren, Jasmin für diesen Tag zu betreuen. Auch Peter versprach, ganz besonders gut auf seine kleine Freundin aufzupassen.
»Ich bin am späten Nachmittag wieder zurück, Jasmin«, versprach er ihr, als er sie fest an sich drückte, bevor er wegfuhr.
»Ich werde ganz lieb sein, Papi«, versicherte sie.
Er winkte ihr noch vom Auto aus zu, sie winkte lebhaft zurück und schickte ihm Küßchen nach.
Die letzten Tage waren so schön und friedlich gewesen, nun fuhr er schweren Herzens denselben Weg zurück. Um Jasmin machte er sich keine Sorgen, doch der Gedanke an Lena Springer beunruhigte ihn. Würde sie es schaffen, allein ohne ihren Bernd zurechtzukommen?
*
Jasmin hatte kein bißchen Langeweile. Sie durfte mit Frau Sundermann die Hühner füttern. Mit ihrer hellen Stimme rief sie: »Putt, putt, putt, kommt alle her, ich habe gute Körnerchen für euch.«
Und das Hühnervolk rannte herbei, als gäbe es heute wirklich etwas Besonderes.
Berta Sundermann betrachtete entzückt das reizende Kind. Es hatte einen ärmellosen hellblauen Pulli an, weiße Shorts und weiße Sandalen. Die Arme und Beine waren leicht gebräunt, das Gesicht nun vor Eifer etwas gerötet, und die blonden Locken schon ein wenig zerzaust.
Als die Schüssel leer war, fragte Jasmin: »Mehr bekommen sie nicht?« Denn sie sah, daß ein paar noch eifrig nach Körnern suchten.
Frau Sundermann erklärte ihr, daß das Federvieh den ganzen Tag nach was Eßbarem Ausschau hielt. »Aber wir füttern jetzt die Schweine, da kannst du zusehen, wie es ihnen schmeckt. In ihren Koben dürfen wir aber nicht rein, denn der Boden darin ist alles andere als sauber.«
Schon als sie die Stalltür aufmachten, hörten sie die zwei gutgenährten Schweine grunzen. Jasmin hielt sich das Näschen zu, denn der Geruch war schon ganz deftig.
Als Berta Sundermann den Eimer mit dem Futtergemisch in den Trog schüttete, liefen die zwei eilig herbei, und bald hörte man, wie es ihnen schmeckte.
Nachdem Peter seine zwei Ponys auch gestriegelt und gefüttert hatte, saßen sie alle in der Küche und aßen ein zweites Frühstück.
Jasmin trank ein Glas Milch und aß ein Honigbrot.
Plötzlich fragte sie: »Habt ihr gar keinen Hund?«
Peter sah seine Mutter an. Sie atmete tief durch, bevor sie antwortete: »Wir hatten einen schönen, treuen Schäferhund. Er war schon sehr alt, vor zwei Wochen ist er gestorben…«
Peter sprach weiter: »Ich zeige dir ein Bild von unserem Rex, es hängt in meinem Zimmer.« Er schluckte, bevor er noch sagte. »Bisher haben wir noch keinen Hund gekauft, weil wir alle noch an Rex hängen.«
»Das ist schon traurig«, meinte Jasmin, »ihr habt aber noch die zwei Ponys.«
»Aber mit Rex sind sie nicht zu vergleichen«, meinte Frau Sundermann noch.
Als das Telefon klingelte, stand sie auf und hob den Hörer ab. »Ja, bitte?« fragte sie. »Peter, es ist Stefanie. Sie fragt, ob sie heute morgen auf Jonas eine halbe Stunde reiten darf.«
Peter überlegte kurz, sah Jasmin an, mit der er gern in den Ort gegangen wäre, dann sagte er nicht sehr begeistert: »Na ja, sie kann schon kommen.«
»Kann man denn auf Jonas reiten?« wollte Jasmin wissen.
»Ja. Wir vermieten ihn schon manchmal für eine halbe Stunde, oder eine ganze. Aber nicht an Fremde.«
»Bin ich denn eine Fremde?« fragte Jasmin und sah Peters Mutter an.
»Natürlich nicht, mein Kind«, sagte sie lächelnd. »Aber hast du schon einmal auf einem Pony gesessen?«
»Nein, noch nie. Ich würde schon gern einmal reiten.«
In diesem Moment kam Peters Vater, Fritz Sundermann, in die Küche. »Du möchtest reiten, Jasmin? Höre ich das richtig?«
»Ja, bitte! Sie erlauben es?«
»Hmm, warum eigentlich nicht? Jonas ist lammfromm, und schon kleinere Mädchen als du haben im Sattel gesessen.«
»Au fein – danke!« jubelte Jasmin.
»Peter muß aber neben dir gehen und die Zügel halten«, bestimmte der Hausherr noch.
»Selbstverständlich, Vati«, sagte Peter und lachte dann Jasmin an.
»Ich werde jetzt Jonas fertig machen, Stefanie kann ein wenig warten. Du darfst jetzt deinen ersten Reitversuch wagen.«
Stefanie war schon dreizehn Jahre. Sie war ein großes schlankes Mädchen, das Pferde und Ponys über alles liebte, deshalb erlaubten ihre Eltern auch, daß sie ab und zu Jonas, das Pony, reiten durfte.
»Soll ich mir eine lange Hose anziehen?« fragte Jasmin, bevor Peter in den Stall ging.
»Ja, das wäre schon besser«, mischte sich Fritz Sundermann ein.
Schnell lief das Mädchen in sein Zimmer, zog eine dunkelblaue lange Hose an und sang dabei fröhlich: »Ich darf auf Jonas reiten… und Peter ist dabei…« Die Melodie borgte sie sich von »Ein Männlein steht im Walde« aus.
Berta und Fritz Sundermann gingen mit Jasmin zum Stall, wo Peter soeben den Sattel festzurrte. Er prüfte noch, ob die Kandare nicht zu straff war. Dann streichelte er Jonas am Hals und flüsterte ihm was ins Ohr.
Fritz Sundermann hob Jasmin hoch und setzte sie auf das Pony. »Halt dich hier am Sattel fest, Kleines. Peter hält es am Halfter.«
Die blauen Augen des Kindes strahlten erwartungsvoll.
Ganz langsam ging das Pony, als hätte ihm Peter zugeflüstert, daß Jasmin eine kostbare Last sei. Und so war es auch.
»Wie gefällt es dir?« fragte Peter.
Sie atmete tief durch und sagte nur: »Es ist sehr schön.«
»Heute reiten wir nur ein paar Minuten auf dem Hof. Ein anderes Mal, wenn dein Vater da ist, können wir in den Wald.«
»Warum nur ein paar Minuten?« wollte Jasmin wissen. »Jonas ist doch so brav.«
»Ja, das ist er, aber ich denke…« Peter sprach nicht weiter, denn ganz plötzlich scheute das Pony – eine Wespe hatte es gestochen.
Vergeblich versuchte Peter Jonas festzuhalten, doch als er sich aufbäumte und laut wiehernd davongaloppierte, hatte er keine Kontrolle mehr über das Tier. Mit einem Schrei fiel Jasmin aus dem Sattel und blieb regungslos liegen.
»Mein Gott«, flehte Peters Mutter, »laß dem Kind nichts geschehen sein.«
Peter war als erster bei Jasmin. Er beugte sich über sie und sah, daß das Pflaster sich rot färbte. Er war kreidebleich, als er die Kopfwunde sah und Jasmin auf seine Fragen nichts sagte.
Der Vater war hinter Jonas hergerannt, er ahnte, was das Tier so erschreckt hatte. Um zu verhindern, daß Jonas, der auf die Straße gelaufen war, weiteren Schaden anrichtete, lief er so schnell er nur konnte.
Er fand das Pony, das im Kreis gelaufen war, und nun prustend und schnaubend vor einem Gartenzaun stand. Mit beruhigenden Worten brachte er das schweißnasse Tier zurück in den Stall und machte die Box zu. Fritz Sundermann hatte die Schwellung an seinen Nüstern gesehen, es war ein Wespenstich, wie er gedacht hatte.
Peters Mutter war im ersten Moment wie gelähmt, doch in ein paar Sekunden war der Schock überwunden, und sie beugte sich auch über Jasmin.
»Mutti, sie ist bewußtlos«, sagte Peter leise.
»Wir legen sie behutsam auf die Seite, dann rufe ich sofort in der Kinderklinik an, daß sie einen Krankenwagen schicken.«
»Wie konnte das nur geschehen?« fragte der Junge unglücklich. Er streichelte Jasmins Arm, dabei liefen ihm die Tränen übers Gesicht.
Nachdem Berta Sundermann die Klinik verständigt hatte, brachte sie eine Wolldecke mit und legte sie auf die Kleine.
»Jasmin, mach doch die Augen auf«, flehte Peter, doch sie hörte ihn nicht.
Der Vater kam nun dazu und beugte sich über Jasmin. »Ich hoffe, sie hat nur eine leichte Gehirnerschütterung.«
Dann erklärte er seiner Frau und dem Sohn, daß eine Wespe Jonas genau zwischen die Nüstern gestochen hatte.
Das Martinshorn war schon hörbar, und nach zwei Minuten war der Krankenwagen da. Der diensthabende Arzt, Dr. Klaus Mettner, hob mit dem Krankenpfleger das verletzte Mädchen auf die Trage. Im Rettungswagen legte ihr der Doktor eine Sauerstoffmaske an, denn die Atmung war sehr schwach.
Mit Blaulicht fuhren sie so schnell sie konnten in die Kinderklinik.
Fritz Sundermann machte sich heftige Vorwürfe, seine Zustimmung gegeben zu haben, Jasmin reiten zu lassen. »Wir fahren mit unserem Auto gleich in die Klinik«, sagte er zu Frau und Sohn, die nur stumm nickten.
Als der Krankenwagen vor der Notaufnahme hielt, wurde die Tür schon aufgemacht. Der Chefarzt Dr. Kay Martens kam heraus, gefolgt von zwei Schwestern, die eine fahrbare Trage schoben.
Während der leblose Körper des Mädchens sehr sanft auf die Trage gelegt wurde, informierte sich Dr. Martens über das Geschehene, ohne jedoch das Kind aus den Augen zu lassen.
Dann verschwand die Trage mit den Schwestern im Innern der Klinik. Der Chefarzt sagte noch: »Wenn Herr Sundermann kommt, soll er gleich die Personalien des Mädchens angeben.«
»Ist gut, Herr Doktor«, antwortete Martin Schriewers, der Hausmeister in der Klinik war.
Als Fritz Sundermann mit Frau und Sohn wenig später eintraf, schickte Martin Schriewers sie zur Aufnahme.
»Haben Sie schon was gehört, Schwester, wie es dem Kind geht?« wollte Berta gleich wissen.
»Es tut mir leid, ich kann Ihnen noch nichts sagen. Sie müssen sich schon so lange gedulden, bis Herr Dr. Martens mit den Untersuchungen fertig ist. Es kann schon noch eine Weile dauern. Übrigens, ich bin Schwester Dorte«, stellte sich die reizende Schwester vor.
»Wir warten so lange, bis uns Dr. Martens sagen kann, was mit Jasmin ist. Ihr Vater kommt erst gegen Abend zurück, nur er kann Ihnen die genauen Daten bekanntgeben.« Fritz Sundermann seufzte tief, als er noch sagte. »Gebe Gott, daß die Kleine nicht allzuschwer verletzt ist.«
Berta und Peter wischten sich die Tränen aus den Augen. Sie konnten gar nicht sprechen, denn die Angst um Jasmin schnürte ihnen die Kehle zu.
»Machen Sie sich keine allzu großen Sorgen. Unser Chef und seine Schwester sind ganz hervorragende Kinderärzte. Die Kleine befindet sich hier in der Klinik in den besten Händen.«
Mit einem beruhigenden Lächeln verließ Schwester Dorte die drei, denen die Wartezeit wie eine Ewigkeit erschien.
*
In der Notaufnahme bemühten sich Dr. Kay Martens und seine Schwester, Dr. Hanna Martens, um das verletzte Kind.
»Schädelbruch, nicht wahr?« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage von Dr. Hanna Martens.
»Ich will es nicht hoffen, aber das werden die Röntgenaufnahmen zeigen.«
Nach allen anstehenden Untersuchungen konnte Dr. Martens aufatmen. Die Verletzung erwies sich als nicht so schwer, wie er zuerst befürchtet hatte.
»Ich bin sehr froh, daß kein Schädelbruch vorliegt. Die Locken des Mädchens haben den Aufprall auf das Pflaster gemildert«, sagte Dr. Martens zu seiner Schwester. »Die Platzwunde wird bald heilen, nur die tiefe Bewußtlosigkeit macht mir Sorgen.«
»Die ist aber bei einer schweren Gehirnerschütterung doch normal.« Hanna sagte noch: »Schädelbasisbruch wäre viel schlimmer für das Kind.«
»Da hast du recht«, erwiderte Kay. »Wir werden ihr Antibiotika geben und sie an den Tropf hängen.«
»Gut, ich werde alles tun – und das Kind dann in die Intensivstation legen lassen. Schwester Laurie kann die Wache übernehmen und sie wird uns sofort verständigen, wenn die Kleine aufwacht. – Ich werde dann auch Herrn und Frau Sundermann verständigen, daß die Kleine überleben wird.«
»Das mache ich schon, Hanna.« Er prüfte noch einmal den Puls des Kindes, der sich langsam normalisierte.
Als er die Tür zu dem Wartezimmer öffnete, sahen ihn drei Augenpaare angstvoll an. »Bitte sagen Sie uns, Herr Doktor, wie geht es Jasmin?« fragte Fritz Sundermann.
Er konnte seine innere Anspannung nicht verbergen, und der Arzt verstand das gut. Mit einem beruhigenden Lächeln sagte er: »Die Kleine lebt, sie wird wieder gesund werden.«
»Ist sie schwer verletzt?« fragte Berta Sundermann.
»Sie hat eine Platzwunde am Kopf und ein paar Prellungen am Rücken. Zum Glück bewiesen die Röntgenaufnahmen, daß kein Schädelbruch vorliegt.«
»Herr Doktor, ist Jasmin noch immer bewußtlos?« wollte Peter wissen. »Wann dürfen wir zu ihr?«
»Die ersten beiden Tage nicht, denn sie hat eine schwere Gehirnerschütterung. Wie lange die Bewußtlosigkeit anhält, läßt sich vorerst noch nicht sagen.«
Fritz Sundermann unterrichtete Dr. Martens, daß Jasmin ihnen heute anvertraut worden war, weil ihr Vater zu einer Beerdigung nach Hannover mußte.
»Er wird uns schwere Vorwürfe machen, denn Jasmin ist sein ganzes Glück. Seine Frau verunglückte vor vier Jahren…«
»Das ist natürlich tragisch, doch Jasmin wird den Sturz von dem Pony überleben, sagen Sie ihm das.« Dr. Martens meinte noch: »Sagen Sie ihm, wenn er heute abend zurückkommt, darf er seine Tochter natürlich sehen. Ich werde mit ihm dann persönlich sprechen.«
Nicht sehr beruhigt fuhr Peter mit den Eltern heim. Keiner sprach ein Wort, jeder empfand die Leere, die Jasmin hinterlassen hatte. Ihr lustiges Geplauder und ihr helles Lachen fehlten im ganzen Haus und im Garten.
Keiner dachte an ein Mittagessen. Peter ging in den Stall, um nach Jonas zu sehen und nach Franz. Fritz Sundermann ging in den Ort – er sagte nicht einmal, wohin. Und Berta ging in die Küche und schälte Äpfel für einen Apfelkuchen. Immer, wenn sie etwas bedrückt, holte sie ihre Backwerkzeuge hervor und das große Kuchenblech und bereitete den Teig, auf den sie Äpfel und Rosinen legte.
Peter ging zu ihr, legte die Arme um sie und sagte zuversichtlich: »Der Doktor hat doch gesagt, Jasmin wird wieder gesund. Ich glaube daran, Mutti.«
»Ich fürchte nur, Herr Fischer wird uns große Vorwürfe machen. Vielleicht will er auch gar nicht mehr bei uns wohnen?« Sie schluchzte: »Ich könnte das sogar verstehen…«
»Bitte, Mutti, warten wir’s doch ab. Herr Fischer weiß sicher…« Peter wurde in seinem Satz unterbrochen, denn das Telefon klingelte.
Er hob den Hörer ab und meldete sich. Es war Stefanie, die ihn mit Vorwürfen überhäufte. »Über eine Stunde habe ich auf euch gewartet. Wo wart ihr denn?« Peter wollte antworten, doch sie sagte noch: »Ich bin in zehn Minuten da, und ich hoffe, du sattelst Jonas gleich für mich.«
»Nein…«, schrie Peter sie an. »Auf Jonas darf niemand mehr reiten. Verstehst du mich? Niemand mehr.« Er legte sofort den Hörer auf.
»Wie hast du Jonas vorgefunden?« fragte die Mutter.
»Ich hätte bei ihm bleiben sollen und ihn beruhigen müssen«, sagte Peter und preßte die Zähne in die Unterlippe. »Er zitterte immer noch, und die Schwellung an seinen Nüstern ist kaum zurückgegangen. – Ich habe ihm kalte Umschläge gemacht und gut zugeredet, dann bürstete ich sein Fell. Ich hoffe, daß er dieses schreckliche Erlebnis bald vergessen wird.«
»Willst du Jonas nicht auf die Wiese zu Franz bringen? Ich denke, er braucht seinen Kameraden jetzt.«
»Du hast recht, Mutti«, sagte Peter und ging in den Stall, um das Pony ins Freie zu führen.
*
Als Robert Fischer sich von der Trauergesellschaft gelöst hatte, fühlte er sich noch sehr deprimiert. Doch je näher er an sein Ziel kam, wo seine Tochter Jasmin auf ihn wartete – Ögela war nur noch ca. dreißig Kilometer entfernt –, desto froher wurde er.
In Gehrden hatte er sich in seiner Wohnung wieder umgezogen, denn im schwarzen Anzug sollte ihn seine Kleine nicht sehen. Sicher hatte sie ihm viel zu erzählen, was sie alles an diesem Tag erlebt hatte. Er sah sie vor sich, das blonde Lockenköpfchen, die tiefblauen Augen und die Grübchen in den Wangen, wenn sie lachte. Mit einem tiefen Atemzug verscheuchte er den letzten Rest von Traurigkeit. Er war dankbar, dieses entzückende Mädchen als Tochter zu haben.
Und vielleicht…, dachte er weiter, wird Lisa bald ihre Mutter und meine Frau.
Er fuhr an Feldern und grünen Wiesen vorbei und sah von weitem schon das stattliche Anwesen der Familie Sundermann. Als er auf den Hof fuhr, hupte er einmal kurz, doch es blieb alles still. Er hupte noch einmal, doch keine Jasmin kam aus der Tür gelaufen und jubelte: »Papi, schön, daß du wieder da bist.«
Er fuhr den Wagen in die Remise und dachte verwundert: Wo sind sie denn alle? Als er dann Fritz Sundermann unter der Küchentür mit ernster Miene stehen sah, preßte eine Riesenfaust sein Herz zusammen.
Er bekam kaum Luft, als er fragte: »Wo ist Jasmin? Was ist geschehen?«
»Bitte, kommen Sie, Herr Fischer. Lassen Sie es sich erklären…«
»Ist – Jasmin – tot?« fragte er kaum hörbar.
»Nein! Jasmin lebt. Sie wird wieder gesund.«
Mühsam, als wäre er schon über achtzig Jahre, ging Robert in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen Berta Sundermann stand am Herd, sie drehte sich nicht um, damit er ihre Tränen nicht sah. Peter war in sein Zimmer gegangen.
»Sagen Sie endlich, was mit Jasmin ist«, herrschte Robert den Landwirt an. Er konnte die Ungewißheit nicht mehr länger ertragen. Mit zusammengepreßten Lippen hörte er nun zu, was sich am Vormittag auf dem Hof ereignet hatte. Berta war aus der Küche gelaufen, sie konnte sich nicht mehr beherrschen. Robert hatte es nicht wahrgenommen.
Als Fritz Sundermann nun schwieg, sagte Robert leise: »Wissen Sie, wie Jasmins Mutter ums Leben kam?« fragte er. »Nein, das können Sie nicht wissen… Meine Frau ist vom Pferd gestürzt und hat sich das Genick…« Er schlug die Hände vors Gesicht, dann fuhr er sich hilflos durch die Haare, als könnte er damit seine große Angst wegstreichen.
»Das tut mir sehr leid – aber Jasmin wird wieder gesund, der Doktor hat es gesagt. Ich fahre Sie gleich in die Klinik, es ist besser, wenn ich meinen Wagen nehme.«
Robert Fischer hatte das Gefühl zu träumen. Er setzte sich auf den Beifahrersitz und starrte vor sich hin.
Als sie bei der Klinik waren, sagte Fritz Sundermann: »Ich warte hier auf Sie.«
»Ja…«, war seine kurze Antwort. Steifbeinig ging er die wenigen Stufen nach oben. Beim Empfang sagte er der diensthabenden Schwester seinen Namen.
»Ich verständige sofort den Chefarzt Dr. Martens. Herr Fischer, gehen Sie bitte so lange in das Wartezimmer – die zweite Tür links.«
»Danke«, murmelte er. Das Zimmer war leer, und er war dafür dankbar. Er stellte sich ans Fenster und sah in den Park. Doch er sah weder die schönen alten Bäume noch die Blumenrabatten. Er sah nur Jasmin vor sich, wie – sie ihm am Morgen Kußhändchen zugeworfen hatte.
Die Tür ging auf, er merkte es gar nicht.
»Herr Fischer? – Ich bin Dr. Martens.«
»Was ist mit meinem Mädchen, Herr Doktor? Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit.«
Robert konnte seine innere Anspannung nicht verbergen. Der Arzt sah das. Mit einem beruhigenden Lächeln sagte er: »Ihre Tochter lebt, Herr Fischer. Bitte, beruhigen Sie sich erst einmal, nehmen Sie Platz.«
»Ist Jasmin schwer verletzt?«
»Sie hat sich bei dem Sturz eine Gehirnerschütterung zugezogen. Wir haben getan, was möglich war. Sie befindet sich jetzt auf unserer Intensivstation. Sie ist also ständig unter ärztlicher Kontrolle.«
»Wird sie jemals wieder gesund?« fragte er atemlos.
»Natürlich! In ein paar Wochen wird Jasmin wieder völlig gesund sein.«
»Kann ich sie sehen?«
»Ja. Aber die Kleine ist noch immer ohne Bewußtsein. Kommen Sie, ich führe Sie hin.«
Die Zuversicht des Arztes machte Robert neuen Mut, doch als er seinen Liebling mit einem Kopfverband und sehr blaß in den Kissen liegen sah, preßte er die Lippen aufeinander.
Er ging zu ihr und streichelte ganz sanft ihre Wange. »Werde bald gesund, mein Herzchen«, sagte er kaum hörbar.
Jasmin blinzelte ein wenig, dann sah sie ihren Vater mit noch halbgeschlossenen Augen an. »Schön, daß du schon wieder da bist, Papi«, flüsterte sie.
Robert lächelte sie an, doch sein Mädchen blieb nun stumm. Hilfesuchend sah er den Arzt an, doch dieser sagte: »Kommen Sie, Herr Fischer. Sie wird wieder gesund, es braucht nur alles seine Zeit. Es war aber schon ein gutes Zeichen, daß Jasmin Sie erkannt hat.«
Auf dem Flur berichtete Robert Fischer dem Arzt, daß Jasmins Mutter vor vier Jahren bei einem Reitturnier tödlich verunglückt ist »Sie verstehen sicher deshalb meinen Schock?«
»Ich kann mir schon vorstellen, wie Ihnen zumute ist, aber Jasmin hatte einen Schutzengel, denn ein Schädelbasisbruch würde weit schlimmer sein.«
»Danke, Herr Doktor! Ich weiß mein Kind bei Ihnen in guten Händen. – Morgen früh kann ich wieder…« Er konnte nicht weitersprechen, denn er glaubte ein Trugbild zu sehen. Das ist doch nicht möglich, dachte er verwirrt, Hanna ist hier in der Klinik angestellt? Es muß doch alles nur ein Traum sein…Aber sie ist es, die blonden Haare, die klaren blauen Augen, und sie ist noch viel schöner als vor sechs Jahren.
Hanna hielt der Schritt an, denn auch sie traute ihren Augen nicht. Doch sie faßte sich schnell wieder und ging mit einem Lächeln auf den Mann zu, den sie einmal sehr geliebt hatte.
Als der Chefarzt sagte: »Herr Fischer, darf ich Ihnen meine Schwester Dr. Hanna Martens vorstellen?« erwiderte sie nach einem tiefen Atemzug: »Lieber Bruder, wir beide kennen uns schon lange. Ich hatte aber keine Ahnung«, sie wandte sich nun an Robert, »daß die kleine Jasmin deine Tochter ist.«
Sie gaben sich die Hand. Doch im Gegensatz zu Hanna, deren Herz ein paar Takte schneller schlug, blieb Robert distanziert.
Dr. Kay Martens kannte seine Schwester gut – und er war überrascht, als er sah, wie sie errötete, als Herr Fischer sagte: »Du hast also dein Ziel erreicht, Hanna.«
Dr. Martens hatte das Gefühl zu stören, deshalb meinte er: »Ihr habt euch beide sicher viel zu erzählen. Warum geht ihr nicht in den Park, da könnt ihr euch ungeniert unterhalten.«
»Vielleicht ein anderes Mal«, sagte Robert. »Herr Sundermann wartet auf dem Parkplatz auf mich.«
»Dann bis morgen, Herr Fischer.« Kay Martens gab ihm die Hand und versicherte ihm noch, daß alles für sein Kind getan würde.
Robert reichte auch Hanna die Hand, und sie hatte das Gefühl, als täte er das nur widerwillig. Er haßt mich, weil ich damals seinen Heiratsantrag abgelehnt habe. Und ich hasse ihn nicht – im Gegenteil, ich habe noch die gleichen Gefühle für ihn… Bevor sie weiter über Robert nachdenken konnte, fragte Kay: »Seit wann und woher kennst du Herrn Fischer?«
»Kay, ich werde dir ein anderes Mal von dieser Liebe berichten. Ich kann es heute nicht…«
»Ich sehe, daß du leidest, Hanna. Du weißt aber, wie gut es ist, wenn man sich seinen Kummer von der Seele redet.«
»Unsinn, Kay. Ich…« Hanna sprach nicht weiter, sie lief in den Park, um mit dem Überschwang ihrer Gefühle fertig zu werden. Gerade in den letzten Tagen hatte sie von Robert geträumt – und nach dem Aufwachen hatte sie sich nach seiner Liebe und Zärtlichkeit gesehnt.
Ein ganzes Jahr lang waren sie beide sehr glücklich gewesen. Damals war sie dreiundzwanzig und studierte in Heidelberg. Robert war Grafiker in einer kleinen Werbeagentur. Sie glaubte, daß Robert sich mit ihrer Liebe und Freundschaft zufrieden gab, doch er wollte heiraten und Kinder haben. Sie wollte beides nicht, obwohl sie Kinder liebte.
Robert bat sie nur einmal, seine Frau zu werden. Als sie ihm erklärte, daß sie mit ihrem Bruder, wenn sie mit dem Studium fertig sei, eine Klinik eröffnen wollte, sagte er nur kurz: »Gut, Hanna, du hast dich entschieden. Dein Ehrgeiz ist größer als deine Liebe zu mir.«
»Es ist nicht nur Ehrgeiz – ich will den Menschen helfen, ich fühle mich dazu berufen«, hatte sie ihm erwidert.
»Ich respektiere deine Entscheidung, aber unsere Wege trennen sich ab heute.«
»Kann es nicht bleiben, wie es ist? Wir lieben uns doch.«
»Nein! Ich habe ein Angebot von einer großen Werbeagentur in einer anderen Stadt und werde demnächst dort anfangen.«
Sie hätte nie gedacht, daß Robert sie so leicht aufgeben würde. Und ihr Stolz ließ es auch nicht zu, als er sich von ihr telefonisch verabschiedete, ihn zu bitten, noch einmal über dieses Thema zu diskutieren.
Nie mehr hatte sie von Robert gehört – und sie hatte sich mit großem Eifer ihrem Studium gewidmet, das sie erfolgreich beendete.
Die Gedanken an Robert und seine Liebe hatte sie immer verdrängt und heute sah sie ihn nach Jahren wieder. Obwohl sie sonst immer beherrscht war und sich nie anmerken ließ, wenn sie was bedrückte, konnte sie heute die Tränen nicht zurückhalten. Sie setzte sich auf eine Parkbank, die von der Klinik aus nicht zu sehen war, und weinte. Ihr Herz und ihr Verstand waren verwirrt und sie fragte sich ernsthaft, ob sie damals richtig gewählt hatte. Das kleine Mädchen mit den blonden Locken könnte ihr Töchterchen sein. Die Liebe zu Robert war immer noch in ihrem Herzen – und sie wußte, daß man diese Gefühle mit keiner Therapie und auch keiner Medizin vertreiben kann.
Er würde nun jeden Tag ein paar Wochen lang seine Jasmin besuchen. Sie würde sich freuen, ihn zu sehen, doch daß es auch schmerzhaft sein könnte, wußte sie.
Sie trocknete ihre Tränen und stand auf. Hanna hatte nicht bemerkt, daß ihr Bruder schon eine Weile an der Wegbiegung stand und sie mit Sorge beobachtete.
»Hier bist du ja, Schwesterlein«, sagte er betont heiter. »Hast du unsere abendliche Visite vergessen?«
Hanna sah auf ihre Uhr und erschrak, weil es schon über die Zeit war. »Entschuldige, Kay – ich war in der Vergangenheit und ich mußte mich mit ihr auseinandersetzen.«
»Alles wieder klar?« wollte er wissen. Er legte den Arm um sie und drückte sie an sich.
»Ja. Wenn Robert mit seiner Tochter wieder aus meinem Leben verschwunden ist, werde ich dir alles erklären. Einverstanden?«
Er nickte verständnisvoll. Doch später berichtete er ihr noch, daß Robert Fischers Frau vor vier Jahren bei einem Reitunfall ums Leben kam.
Daß Hanna nun den Wunsch hatte, Robert würde sie noch einmal bitten, seine Frau zu werden, machte sie ihm gegenüber unsicher, wenn sie ihm begegnete. Und sie sahen sich fast jeden Tag, sprachen über das Befinden des Kindes und über allgemeine Dinge. Doch jedesmal klopfte Hannas Herz bis zum Hals, und Robert blieb kühl und gelassen. Seine Liebe zu ihr war erloschen, stellte sie fest.
*
Als Robert neben Fritz Sundermann in dessen Wagen Platz genommen hatte, sah ihn dieser besorgt an. »Wie geht es Jasmin? Ist sie noch immer bewußtlos?«
»Sie öffnete nur einmal kurz die Augen, als ich sie ansprach. Sehr leise sagte sie ›Schön, daß du wieder da bist, Papi.‹ Und Dr. Martens meinte, es sei ein gutes Zeichen, daß sie mich gleich erkannt hat. Er sagte auch, in ein paar Wochen wird sie wieder gesund sein.«
»Ich hoffe das auch sehr.« Dann fragte Fritz Sundermann noch. »Werden Sie bei uns wohnen bleiben?«
»Aber natürlich – wo sollte ich sonst hin?«
»Es tut mir so leid, Herr Fischer, ich hätte nicht einwilligen sollen, daß Jasmin auf dem Pony reitet.«
»Sie konnten ja nicht wissen, daß Jasmins Mutter vom Pferd gestürzt ist… Es ist wohl alles Schicksal.«
»Meine Frau und Peter sind auch ganz unglücklich, daß dies passiert ist. Aber in diesem Jahr gibt es wahrscheinlich besonders viele Wespen…«
Robert hörte kaum noch hin, was der Landwirt von den Wespen berichtete, er dachte an die Begegnung mit Hanna. Sollte diese auch schicksalhaft sein? Er hätte sie bestimmt nie wieder gesehen, wenn Jasmin nicht von Jonas abgeworfen worden wäre. Seine Gefühle für Hanna konnte er noch nicht analysieren, dazu war er wegen Jasmin viel zu schockiert gewesen. Er nahm sich vor, am Abend in Ruhe darüber nachzudenken.
Als der Wagen vor dem Anwesen hielt, stieg Robert aus, und im Vorgarten kamen ihm schon Peter und Berta Sundermann entgegen. Erwartungsvoll sahen sie ihn an. Und er berichtete ihnen das gleiche, was er dem Hausherrn schon gesagt hatte.
»Wir beten für Jasmin«, sagte Berta, und Peter nickte eifrig.
Robert wollte gleich nach oben in sein Zimmer gehen, obwohl es noch taghell war. Er war schon auf der Treppe, als er Frau Sundermann fragen hörte: »Sie kommen doch noch mal runter? Ich habe für Sie eine Kleinigkeit zum Essen vorbereitet.«
Auf der Herfahrt von Gehrden hatte er schon Hunger verspürt, doch dieser war ihm inzwischen vergangen. Er wandte sich um und sagte: »Ist gut – ich mache mich nur ein wenig frisch.«
Eigentlich war er froh, jetzt nicht allein sein zu müssen, denn die Angst um Jasmin würde ihn doch nicht schlafen lassen. Er dachte an Lisa. Ob er sie verständigen sollte, was heute passiert war? – Ich will noch ein paar Tage abwarten, bis es Jasmin bessergeht, sonst macht sie sich auch große Sorgen.
Nach dem Essen saßen sie noch im gemütlichen Wohnzimmer zusammen. Frau Berta strickte, und Robert und Peter spielten eine Partie Schach. Der Hausherr machte noch seine Runde und sah in den Ställen nach, ob alles in Ordnung war. Als er zurückkam, schmauchte er eine Pfeife, und seine Frau sagte vorwurfsvoll: »Fritz, du hast unseren Gast gar nicht gefragt, ob dein Rauchen ihn nicht stört.«
Ein wenig schuldbewußt sah er zu Robert hin. Der meinte ruhig: »Rauchen Sie nur weiter, mich stört es nicht.«
Eigentlich war es wie jeden Abend, nur daß Jasmin nicht oben in ihrem Bett lag, sondern krank in der Klinik.
»Schachmatt!« Peter sagte dies voller Stolz, denn bisher hatte er immer nur verloren.
Sein Vater sah ihn an. »Kunststück«, meinte er, »wo sich heute dein Partner nicht so konzentrieren kann.«
»Nein, nein«, widersprach Robert, »Peter hat wirklich sein Spiel sehr verbessert.«
»Wir werden es ja morgen abend sehen, ob das stimmt«, sagte die Mutter lächelnd.
Als Robert später im Bett lag, stand er noch einmal auf und ging in Jasmins Zimmer. Das leere Bett machte ihn so traurig, daß er am liebsten geweint hätte. Er dachte nun an Jasmins Mutter. Monika war eine schöne Frau gewesen – temperamentvoll und sehr eigenwillig. Als er sie kennenlernte, sie war die Tochter eines Kollegen, hatte er sich noch nicht von Hannas Abweisung erholt.
Ein wenig verloren fühlte er sich auf der Party, als ihm Monika vorgestellt wurde. Ihr Charme und ihre Fröhlichkeit rissen ihn aus seiner Lethargie. Sie sprühte vor Lebenslust. Er hielt es für Spaß, als sie ihm nach einer Stunde sagte: »Robert, du bist der Mann, mit dem ich einmal Kinder haben möchte.«
Erst hatte er gedacht, sie hätte zuviel getrunken, doch dann sah er, daß sie nur verdünnten Orangensaft trank. Und als sie ihm von ihrer Leidenschaft zu Pferden erzählte, auch daß sie bei Turnieren schon manchen Preis errungen hatte, hörte er ihr aufmerksam zu. Und ihre Ausstrahlung faszinierte ihn. Ob es Liebe war? Er wußte es nicht. Wollte er nur Hanna vergessen?
Als Monika ihn nach vier Wochen fragte, ob er sie heiraten wolle, war er so verblüfft, daß sie sagte. »Natürlich willst du, weil ich es mir wünsche.«
Er war mit ihr nicht unglücklich gewesen, aber immer wieder tauchte Hanna vor seinem geistigen Auge auf. Ihr Bild verschwand erst, als nach einem Jahr Jasmin zur Welt kam. Da wußte er, daß es richtig war, Monika geheiratet zu haben, denn das kleine Mädchen war sein ganzes Glück. Nur zwei Jahre dauerte diese Ehe, dann geschah das Unglück…
Nun sagte er sich: Robert, sei ehrlich, was empfindest du noch für Hanna? Liebst du sie immer noch? Oder ist es nur noch die Erinnerung an eine wundersame Liebe?
Lisa kam ihm in den Sinn. Lisa, die er nach dem Urlaub festhalten wollte. Lisa war die Frau, mit der man ein Leben lang glücklich sein konnte. Warum hatte er das nicht schon lange erkannt? Morgen abend würde er sie anrufen und fragen, ob sie mit ihrer Mutter nicht herkommen wollte. Ob er ihr sagen sollte, daß Jasmin mit einer Gehirnerschütterung in der Klinik lag? Er wußte es noch nicht.
Mit den Gedanken bei Jasmin und Lisa schlief er ein.
*
Dr. Kay Martens spürte, daß seine Schwester Hanna in einer Krise steckte. Mit Leib und Seele war sie wie immer Ärztin. Alle kleinen Patienten behandelte und betreute sie vorzüglich. Doch ihr Herz schien andere Wege gehen zu wollen.
Ich muß heute abend mit ihr ernsthaft darüber sprechen, nahm er sich vor, als sie mit den anderen Ärzten und der Oberschwester die morgendliche Visite bei den Kindern machten.
Das Ärzteteam ging von Zimmer zu Zimmer. Dr. Kay Martens gab Anweisungen, die die Oberschwester notierte.
Angela, die mit einer Lungenentzündung eingeliefert worden war, hatte nur noch ein wenig erhöhte Temperatur, doch ihr Husten war noch quälend.
Dr. Hanna Martens horchte sie mit dem Stethoskop ab und meinte zufrieden: »Der Husten wird in ein paar Tagen auch vorbei sein, denn die Lunge ist wieder ganz in Ordnung.«
»Dann darf ich bald wieder heim?« fragte das Mädchen.
»Es ist schon besser, wenn du noch eine Woche bei uns bleibst, damit kein Rückfall kommt. Einverstanden?«
»Ja, Frau Doktor.«
Der Chefarzt meinte: »So schlimm ist es doch bei uns gar nicht, oder?«
»Nein…, alle sind so nett, besonders Schwester Trude.« Angela war mit dieser Antwort nicht sehr diplomatisch, denn die Oberschwester Elli hatte geglaubt, daß die Kinder sie am liebsten hätten. Sie verzog nur ein wenig den Mund, aber Hanna Martens sah es doch.
Im Bett neben Angela lag die dreijährige Petra, die von den Tollkirschen gegessen hatte. Sie war zwar außer Lebensgefahr, doch sie mußte noch am Tropf hängen, weil sie jede Nahrung verweigerte.
Mit großen ängstlichen Augen sah sie die Ärzte an. Als Dr. Kay Martens sie fragte: »Was möchtest du heute gern essen, Petra?«, sagte sie leise: »Mami soll kommen.«
»Und was soll dir deine Mami mitbringen?« fragte die Frau Doktor.
»Schokoladenpudding, bitte…«
»Ich sage es deiner Mami. Du bekommst deinen Schokoladenpudding.« Zärtlich strich Hanna dem Kind übers Haar und lächelte es an.
Sie dachte nun an Roberts Töchterchen Jasmin. Gestern war sie noch spät am Abend in der Intensivstation gewesen, um nach dem Kind zu sehen. Schwester Laurie, die bei dem verletzten Mädchen Wache hielt, sagte ihr, daß Jasmin nur einmal kurz wach geworden war und nach ihrem Papi gefragt habe. Aber ohne eine Antwort abzuwarten, war sie wieder eingeschlafen.
Der Chefarzt betrat nun mit seinem Team das Zimmer, in dem Heiko lag, der sich beim Fahrradfahren den Fuß gebrochen hatte. – Fritz, der siebenjährige, dessen größter Wunsch es war, einmal Arzt zu werden, wartete schon neugierig auf die Ärzte.
Mit einem fröhlichen »Guten Morgen« gingen sie zuerst zu Heiko, der immer noch über Schmerzen klagte.
»So schlimm wie gestern sind sie aber nicht mehr?« fragte Dr. Martens. Er hielt die Krankenkarte in der Hand und erklärte Heiko, daß er ja schon vier Tage sehr tapfer gewesen ist. »Wenn du weiterhin so gute Fortschritte machst, bekommst du bald einen Gehgips und darfst wieder nach Hause.«
Ehe Heiko antworten konnte, mischte sich Fritz ein: »Das habe ich ihm auch schon erklärt. Stimmt’s, Heiko?« Dieser nickte nur, denn die vielen Ärzte irritierten ihn doch ein wenig.
»Ach ja, unser kleiner Doktor weiß ja schon manches, aber er sollte auch wissen, daß man sich nicht in Gespräche einmischt, die jemand anderen betreffen.« Der Arzt sagte dies zwar mit einem Lächeln, doch Fritz errötete und bat um Entschuldigung.
»Ist schon gut, Fritz… Und wie geht es dir?« Er sah sich die Narbe an und nickte zufrieden. »Heute nachmittag darfst du ein paar Minuten aufstehen und im Zimmer hin und her gehen.«
Fritz, dem so viele Fragen auf der Zunge lagen, sagte nur: »Danke, Herr Doktor.« Er ärgerte sich, weil er so vorlaut gewesen war.
Auch als die Ärzte das Zimmer verlassen hatten, blieb er stumm. Aber als Heiko ihn bat, ihm eine Geschichte vorzulesen, war er sofort dazu bereit. Doch die Zurechtweisung des Chefarztes, der, wie er wußte, recht hatte, hing ihm noch lange nach.
*
Nach Beendigung der Visite in den anderen Krankenzimmern, in denen Kinder lagen, die schon bald entlassen wurden, gingen Kay und Hanna zu Jasmin, die noch in der Intensivstation lag. Nur Oberschwester Elli war bei ihnen.
Laurie, die die ganze Nacht bei dem Kind gewesen war, sah müde aus. »Nichts Außergewöhnliches ist gewesen«, sagte sie. »Jasmin schläft noch immer.«
»War sie nicht unruhig?« fragte Hanna, deren Herz beim Anblick dieses Kindes schmerzte. Wieder dachte sie: Es hätte mein und Roberts kleines Mädchen sein können, wenn ich damals anders entschieden hätte.
»Unruhig war sie nicht. Nur einmal wollte sie was trinken, und ich gab ihr aus der Schnabeltasse ein wenig Tee.« Laurie gähnte verstohlen, doch Kay sah es.
»Oberschwester, lassen Sie Laurie sofort ablösen, sie kann ja kaum noch gucken.«
»Ich habe schon Schwester Tina beauftragt zu kommen.«
Und wie auf ein Stichwort öffnete sich die Tür leise, und Schwester Tina kam in den Raum. Sie war auf die Minute pünktlich. Mit einem reizenden Lächeln sagte sie: »Hier bin ich.«
Kay unterrichtete sie nun, daß das Mädchen in ein Einzelzimmer gebracht und weiterhin beobachtet werden soll.
Oberschwester Elli war immer ein bißchen auf die junge Schwester eifersüchtig, die es mit ihrem Liebreiz verstand, alle großen und kleinen Leute zu verzaubern.
Die junge Ärztin stand noch bei dem Kind. Sanft streichelte sie ihr die blasse Wange – und plötzlich öffnete Jasmin die Augen. Sie waren noch ein wenig trübe, doch das tiefe Blau schlug gleich mehrere Saiten in Hannas Herzen an.
»Bin ich krank?« fragte sie leise. Als Hanna nickte, wollte sie wissen: »Warum sind Lisa und Papi nicht bei mir?«
»Sie kommen dich bald besuchen«, antwortete Hanna.
»Auch Lisa? Ist sie nicht mehr in Lindau?«
»Dein Papi wird dir alles erklären«, sagte Hanna, und ihr Herzschlag wurde schneller. Ruhig bleiben, sagte sie sich. Du bist nur Ärztin.
Die anderen verhielten sich im Hintergrund ruhig. Doch Kay atmete befreit auf, denn das Kind schien wieder klar denken zu können.
»Weißt du, kleine Jasmin, wir werden dich jetzt in ein schönes Zimmer fahren. Es wird dir gefallen, denn es sind an den Fenstern bunte Blumen und an der Wand viele Märchenfiguren.« Als das Kind nur ein wenig schmerzlich den Mund verzog, fragte Hanna: »Sag mir, was dir weh tut. Ich kann dir sicher helfen.«
»Der Kopf, der Arm und mein Rücken. Alles tut so weh…«
»Nicht weinen«, bat Hanna, als sie sah, daß ein paar Tränen über das Gesichtchen liefen. Sie nahm die Spritze, die ihr Kay reichte, und spritzte den Inhalt in die Tropfflasche, die eine Nährlösung enthielt.
Und Jasmin merkte nicht mehr, daß sie auf dem fahrbaren Bett in ein anderes Zimmer gebracht wurde.
Als kurz darauf Robert Fischer die Klinik betrat, kam Hanna ihm entgegen. Er wußte nicht, daß sie auf ihn gewartet hatte. Seine erste Frage, nach einem kurzen Gruß, war: »Wie geht es Jasmin?«
»Ich kann dich beruhigen, Robert. Sie ist wieder ganz klar.« Daß ihr Herz ein paar Takte schneller klopfte, konnte er gottlob nicht sehen.
»Ich möchte gleich zu ihr.«
»Ist gut, ich bringe dich in ihr Zimmer.«
Gemeinsam gingen sie die Treppe nach oben. Robert war ihr immer einen Schritt voraus, er konnte seine Ungeduld kaum zügeln, seinen kleinen Sonnenschein zu sehen.
»Links den Flur entlang, Zimmer elf«, sagte Hanna, als er nach rechts abbiegen wollte.
Vor der Tür blieb er einen Augenblick stehen, atmete tief durch und machte sie dann leise auf.
Schwester Tina sah ihn fragend an. »Ich bin der Vater«, flüsterte er und wollte die Tür hinter sich schließen. Er hatte Hanna total vergessen, doch sie drückte dagegen und kam auch ins Zimmer. Er murmelte eine Entschuldigung zu Hanna hin, die versuchte, den Robert von einst wiederzufinden.
In diesem Augenblick wußte Hanna, daß die Liebe zu seinem Kind die Liebe zu ihr ausgelöscht hatte. Und sie nahm sich vor, in seiner Gegenwart besonders reserviert und gelassen zu sein. Jetzt beobachtete sie, daß Tina ihm einen Stuhl an das Kinderbett schob, und wie er mit einem Lächeln der Schwester dankte. Trotz seines ernsten Gesichts sah Robert sehr gut aus. Er trug ein hellblaues Hemd, das seine Bräune noch unterstrich. Plötzlich sahen seine grauen Augen sie fragend an. »Wie lange wird sie schlafen?« flüsterte er.
»Ich weiß es nicht. – Du hast doch Zeit, also bleibe bei ihr, dann kann Schwester Tina mal eine Pause machen.«
»Das ist gut, Hanna. Ich habe den ganzen Tag Zeit. Danke!« Er atmete erleichtert auf, dann wollte er wissen, wie lange sie den Tropf noch haben muß.
»Wenn Jasmin wieder essen kann, braucht sie ihn nicht mehr.«
Bevor Schwester Trude ging, sagte sie, daß sie in einer Viertelstunde wieder zurück sein wollte.
Hanna wollte gehen, doch ihre Gefühle für Robert waren wieder so stark, daß sie ihn am liebsten umarmt und ihn um Verzeihung gebeten hätte.
Davor wurde sie bewahrt, denn Jasmin öffnete die Augen, sah ihren Vater und lächelte glücklich: »Papi, ich bin so froh, daß du wieder da bist.«
»Wie geht es dir, mein Herzchen? Hast du Schmerzen?«
»Nein, Papi. Aber warum liege ich in einem Babybett? Ich brauche doch schon lange kein solches Gitter mehr.«
»Das wissen wir natürlich, Jasmin«, sagte Hanna und ging zu dem Kind. »Weißt du, manch kleiner Patient will mal nachts aufstehen, das kann man aber natürlich nur, wenn man ganz gesund ist. Ist man krank, kann man ganz leicht fallen und sich sehr weh tun.«
»Hmm…, ich verstehe schon. Aber was ist das für ein komischer Schlauch an meinem Arm?«
»Dieser komische Schlauch«, erwiderte Hanna lächelnd, »bedeutet für dich einmal Frühstück, Mittagessen und Abendessen.«
»Das verstehe ich nicht, ist doch nur Wasser.«
Der Vater mischte sich in das Gespräch: »Strengt es dich nicht zu sehr an, so viel zu reden?«
Jasmin verneinte und fragte gleich: »Hast du mir meinen Teddy mitgebracht?«
»Den habe ich leider vergessen.«
»Macht nichts – bringst ihn später mit, Papi.«
»Hast du sonst noch einen Wunsch, Kleines?«
Sie überlegte, dann griff sie sich plötzlich an den Kopf. »Hab ich einen Verband?« fragte sie ängstlich.
»Kannst du dich erinnern, was gestern vormittag passiert ist?« Robert sah sie dabei aufmerksam an.
Auch Hanna war gespannt auf die Antwort des Kindes.
Jasmin überlegte ein wenig, dann sagte sie: »Ja, ich durfte auf Jonas reiten. Es war sehr schön, doch dann warf er mich runter. Dann weiß ich nichts mehr…«
»Weißt du, Liebes, Jonas war nicht böse, eine Wespe hatte ihn gestochen, deshalb scheute er«, erklärte ihr der Vater.
»Geht es Jonas wieder gut?« fragte sie leise.
»Ja, er ist wieder ganz in Ordnung. Und Peter läßt dich auch sehr lieb grüßen. Aber ich denke, du versuchst wieder, ein wenig zu schlafen. Ich bleibe bei dir, Prinzeßchen.«
Hanna nahm die kleine Hand in ihre und prüfte dann den Puls. »Er ist schon wieder fast normal.« Als sie sah, daß Jasmin eingeschlafen war, sagte sie noch: »Du mußt dir nicht allzu große Sorgen machen, Robert. Die Gehirnerschütterung ist doch leichter, als wir angenommen haben.«
»Und wie sieht es mit der Platzwunde am Hinterkopf aus?«
»Sie ist in vierzehn Tagen ganz bestimmt geheilt.« Hanna hätte Robert nun gern gefragt, was er noch für sie empfand, doch sie brachte es nicht über die Lippen.
Robert spürte, was sie dachte, denn auch er empfand noch viel für sie. Hanna war noch schöner geworden, auch reifer, was ihrem Gesicht einen besonderen Ausdruck verlieh.
Keiner sprach über die Vergangenheit – und Robert wußte, daß man die glücklichen Stunden von damals nicht zurückzaubern konnte.
Der Bann war gebrochen, als Hanna ganz plötzlich fragte: »Wer ist Lisa? Jasmin fragte nach ihr.«
Er zögerte einen Moment, bevor er antwortete: »Lisa ist Jasmins Betreuerin seit vier Jahren. Sie verbringt den Urlaub bei ihrer Mutter am Bodensee.« Und erstaunt fragte er sich, warum er Hanna nichts davon sagte, daß er Lisa heiraten würde.
War die Ausstrahlung, die noch von ihr ausging, so groß, daß Lisas Bild aus seinem Herzen verschwand? Nein! Das durfte nicht sein. Noch einmal konnte er diesen Wirrwarr von Gefühlen nicht verkraften.
Hanna, die ihn fragen wollte, ob diese Lisa ihm mehr bedeutet, preßte die Lippen zusammen, denn ihr Stolz ließ diese Frage doch nicht zu. Er muß doch spüren, was ich für ihn noch empfinde, warum fragt er mich nicht, ob ich bei ihm bleiben will? Ohne viel zu überlegen hätte sie ja gesagt. Sie wußte genau, daß sie keinen anderen Mann mehr so lieben konnte wie Robert.
Die ersten Jahre ohne ihn waren sehr schwer für sie gewesen, doch sie hatte ihre Sehnsucht nach ihm unterdrückt. Sie wollte unbedingt Ärztin werden, sogar eine besonders gute. Und sie hatte erreicht, was sie sich so sehr gewünscht hatte. Warum nur hatte ihr das Schicksal den geliebten Mann wieder über den Weg geführt?
Das Schweigen zwischen den beiden, die sich noch so viel zu sagen hätten, wurde durch das Öffnen der Tür unterbrochen. Schwester Tina kam ins Zimmer, und Hanna besann sich wieder auf ihre Pflichten. Sie blickte auf ihre Uhr und sah, daß es nach zehn war. »Bis bald«, sagte sie zu Robert und eilte in den Konferenzraum, denn Kay hatte eine Besprechung angesetzt. Es ging um die Anschaffung einiger neuer Geräte.
Alle Ärzte und Schwestern waren schon anwesend, nur Hanna kam zu spät. »Ich bitte um Entschuldigung«, murmelte sie und setzte sich auf ihren Platz.
Doch ihr Bruder Kay merkte sofort, daß sie nicht bei der Sache war. Noch heute abend mußte er mit ihr ernsthaft über ihre Probleme sprechen. Sie war es ihm schuldig, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Er würde erst wieder froh sein, wenn Robert Fischer mit seiner Tochter Ögela verlassen hatte.
Das Schicksal geht schon manchmal seltsame Wege, dachte auch er.
*
Schweigend saßen sich die Geschwister beim Abendessen gegenüber. Als Kay nun Hanna bat, ihm das Brot zu reichen, erschrak er. »Was ist nur mit dir los, Schwesterlein? Fühlst du dich nicht wohl?«
»Doch, doch…, ich bin gesund«, versicherte sie. »Ich bin nur ein wenig müde. Weil ich nachts so schlecht geschlafen habe.«
»An dieser schlaflosen Nacht kann nur Robert Fischer schuld sein«, sagte er lauter, als er wollte.
»Du brauchst nicht zu schreien, aber es stimmt«, sagte Hanna und schob ihren Teller zur Seite.
»Hanna, entschuldige, daß ich unbeherrscht war. Ich mache mir Sorgen um dich, das verstehst du doch?«
»Natürlich verstehe ich es… Aber Kay, es ist entsetzlich, daß ich diese Liebe zu Robert nicht aus meinem Herzen reißen kann. Ich habe es versucht – und ein paar Jahre glaubte ich auch, daß ich ihn vergessen habe, doch als ich ihn so plötzlich vor mir sah…« Hanna weinte nun, und ihr Bruder war erschüttert, denn nie hatte er seine Schwester weinen sehen. Sie war immer so stark und selbstbewußt gewesen, und er hatte geglaubt, daß sie hier mit ihm in der Kinderklinik glücklich und zufrieden war.
Er stand auf, legte den Arm um sie und bat: »Komm, Hanna, wir wollen beide ganz ernsthaft miteinander reden. Es tut mir weh, dich leiden zu sehen.«
»Entschuldige, Kay, ich bin schon wieder vernünftig.« Sie schluckte die Tränen hinunter, die ihr noch in der Kehle saßen, dann stand sie auf und stellte das Geschirr auf das Tablett.
»Laß nur, ich trage alles in die Küche. Setz dich ins Wohnzimmer und mach’s dir bequem. Und ich wäre froh, wenn du mir dein Vertrauen beweist und mir alles von dieser Liebe berichtest.«
»Danke, Kay! Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich dir schon viel früher von Robert erzählt hätte.«
Nachdem er kurz darauf ins Zimmer kam, nahm er ihr gegenüber in seinem Sessel Platz. Ein wenig nervös strich er sich über sein welliges schwarzes Haar, denn er hatte Angst vor dem, was ihm Hanna sagen würde.
Hanna sprach nun ruhig und beherrscht, doch ihre Stimme zitterte manchmal, wenn sie dem Bruder schilderte, wie glücklich sie damals mit Robert gewesen war. »Ich weiß auch nicht, warum ich dir nichts davon gesagt habe, als ich dich in München besuchte. Aber das Problem kam erst, als Robert mich bat, ihn zu heiraten, denn er hatte eine gutbezahlte Stelle in Hannover angeboten bekommen. Und er wollte auch Kinder – aber ich wollte eine gute Ärztin werden und mit dir eine Klinik leiten. Ich wollte keine Heirat und sagte nein, dann ging er, ohne mich noch einmal sehen zu wollen.«
»Und was würdest du tun, wenn er dich jetzt noch einmal fragen würde? – Bist du dir sicher, daß er dich noch liebt?«
Gebannt starrte er auf ihren Mund. Was wird sie antworten? fragte er sich, und dann sagte sie leise: »Ich würde mit ihm gehen. – Würdest du es erlauben? Ich weiß, daß er mich noch so liebt wie damals.«
Es fiel Kay unsagbar schwer zu sagen: »Du mußt dich allein entscheiden, das weißt du. Daß ich dich brauche, muß ich nicht extra betonen.«
»Ich weiß nicht, Kay, ob du das verstehst. Ich möchte auch hier bleiben, denn ich liebe meinen Beruf, und ich war glücklich und zufrieden. Doch die Liebe zwischen Robert und mir war so etwas Wunderbares – ich habe das erst erkannt, als ich ihn verloren hatte.«
»So ganz komme ich da nicht mit, Hanna. Aber wahrscheinlich unterscheidet sich die Seele einer Frau ganz gewaltig von der Seele eines Mannes.« Nachdenklich meinte er noch: »Wenn ich an meine vergangenen Freundschaften während meiner Studienzeit denke, da waren die Abschiede problemlos.«
»Lieber Bruder, dann hast du nie richtig geliebt.«
»Doch, ich fand die Liebe schön, aber meine Berufung, Arzt zu werden, war mir das Wichtigste. Das glaubte ich auch von dir… Doch wie du dich auch entscheidest, Hanna, ich werde damit leben müssen, auch wenn es mir schwerfällt.«
»Eines kann ich dir versprechen, Kay. Ich selbst werde Robert nicht fragen, ob er mich noch haben will. Wie mein Leben weitergeht, soll er entscheiden.«
»Ach, Hanna, ich mach mir Sorgen um dich… Aber laß uns nun schlafen gehen, morgen ist wieder ein langer Tag.«
*
Am selben Abend telefonierte Robert noch mit Lisa. Sie freute sich sehr über seinen Anruf. »Wie geht es dir, mein Liebes?«
»Mir geht es gut, besonders jetzt, weil du Liebes zu mir gesagt hast.«
»Und hat sich deine Mutter schon ein wenig erholt?«
»Ja, weißt du, wir machen zusammen lange Spaziergänge am Seeufer entlang, und heute haben wir eine Schiffahrt zur Insel Mainau gemacht. Wir waren begeistert von der vielseitigen Blumenpracht – und erst im Gewächshaus diese Orchideen…«
Robert lachte leise über ihre Begeisterung.
»Es ist wirklich zauberhaft gewesen, nur du und Jasmin fehlten noch zu meinem Glück.«
»Das nächste Mal werden wir dabei sein, Lisa, denn ich kenne den Bodensee noch nicht.«
»Robert, das wäre wunderbar. Doch wie geht es meinem kleinen Blondköpfchen? Hat sie auch ein wenig Sehnsucht nach mir?«
»Leider geht es ihr nicht besonders. Sie liegt mit einer Gehirnerschütterung in der hiesigen Kinderklinik.«
»O nein, das darf nicht sein! Was ist denn passiert?«
Sie sprach so leise, daß er sie kaum verstehen konnte. »Ich mußte gestern zu einer Beerdigung nach Hannover. Und du kennst ja Jasmin, sie wollte so gern auf einem Pony reiten. Eine Wespe stach das Tier, da scheute es und warf Jasmin ab.«
»Hat sie sonst noch Verletzungen?« fragte sie schluchzend.
»Eine Platzwunde am Hinterkopf und ein paar Prellungen. Aber der Arzt sagte, daß sie in vierzehn Tagen wieder gesund sein wird. – Ich sitze stundenlang an ihrem Bett, damit sie sich nicht so allein fühlt. Und jeden Tag fragt sie nach dir.«
»Ich könnte sofort kommen, Robert. Meine Mutter wird das verstehen.«
Er atmete tief durch, bevor er sagte: »Wir würden nur zu zweit am Bett sitzen… Aber es wäre wunderbar, wenn du eine Woche früher fahren könntest, dann hätten wir noch acht Tage für uns und Jasmin.«
»Robert, ich bin glücklich und traurig zugleich. Verstehst du, was ich empfinde?«
»Ja, mein Herz. Ich fühle das gleiche. Jasmin wird wieder gesund, daran müssen wir glauben. Aber bitte sage mir, seit wann du mich liebst.«
Lisa lachte leise. »Muß ich das verraten?«
»Nein, das mußt du nicht. Ich hatte dich schon immer sehr gern, daß ich dich von ganzem Herzen liebe, wurde mir erst bei unserer Abreise bewußt.«
»Wichtig ist für mich, daß du mich liebst. Warum und seit wann, zählt nicht.«
»Und nun, Lisa, eine ganz wichtige Frage, die sicher nicht sehr oft am Telefon gestellt wird.«
»Ich höre«, sagte sie leise und hielt den Atem an.
»Willst du mich heiraten, Lisa?«
»Ja, ja, tausendmal ja?«
»Alle Küsse, die dazu gehören, bekommst du, wenn du hier bist. Einverstanden? Und wir werden so schnell wie möglich Hochzeit machen. Auch damit einverstanden?«
»Meine Antwort ist: Robert, ich liebe dich von ganzem Herzen.«
»Ich dich auch…« Dann fiel ihm noch ein zu sagen, daß ihre Mutter, wenn sie wollte, bei ihnen wohnen konnte. Er fände es sehr gut. »Frag sie bald, Liebling.«
»Ja, das werde ich. Aber sie hat hier eine schöne Wohnung und nette Freunde. Ich glaube nicht, daß sie ja sagt. Doch sie wird mir versprechen müssen, daß sie uns oft und für längere Zeit besucht.«
»Das wird sie sicher machen. Gib ihr einen Kuß von mir und sag ihr, daß ich sie verehre, weil sie so eine liebreizende Tochter hat.«
»Ich richte es meiner Mutter aus. Und du gibst unserer Jasmin ein liebes Küßchen von ihrer zukünftigen Mami.«
»Sie wird sich sehr freuen, wenn sie hört, daß wir uns per Telefon verlobt haben. Nun schlaf gut, meine Lisa, und träume von unserem Glück.«
»Ich werde wahrscheinlich kaum schlafen können, so aufgewühlt, wie ich bin.«
»Ich rufe bald wieder an und sage dir, wie es Jasmin geht. Nun umarme ich dich in Gedanken und küsse ganz zärtlich deinen Mund…«
»Du bist ja ein Romantiker, doch ich finde es wunderbar.«
Das Gespräch war zu Ende, und Lisa ging ins Wohnzimmer, wo sie die Mutter im Sessel schlafend fand. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, lag auf dem Boden.
Sanft strich Lisa ihr über die Wange. »Muttchen, du solltest lieber ins Bett gehen, da kannst du doch viel besser schlafen.«
»Hmm, du hast schon recht. Wer war denn am Telefon? Du siehst so verändert aus.«
»Weil ich unbeschreiblich glücklich bin. Robert hatte angerufen, und stell dir vor, er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« Doch gleich wirkte ihr Gesichtsausdruck traurig, als sie von Jasmin berichtete, daß sie von einem Pony gestürzt war und eine Gehirnerschütterung und Prellungen hatte.
»Das ist ja schlimm, die arme kleine Jasmin. Sie wird doch hoffentlich bald wieder gesund sein?« Dann wollte die Mutter noch wissen: »Willst du nicht gleich zu ihr fahren?«
»Nein. Robert meinte, ich sollte erst kommen, wenn sie aus der Klinik entlassen wird. – Aber du sagst ja gar nichts zu meiner Verlobung?«
»Ach Lisa, du weißt doch, wie sehr ich mich freue, daß du den Mann, den du schon so lange liebst, jetzt heiraten wirst. Aber wird das Mädchen wirklich wieder gesund werden?«
»Der Chef der Kinderklinik hat es Robert versichert, denn zum Glück war es kein Schädelbasisbruch, der wäre schon viel komplizierter.«
»Gott sei Dank, denn ich habe Jasmin auch von Herzen gern.«
»Mutter, Robert möchte, daß du zu uns kommst und für immer bleibst. Willst du dir das überlegen?«
Nachdenklich meinte sie: »Lisa, einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr. Ich werde euch aber oft besuchen…«
»Das mußt du. Und du sollst dann so lange bleiben, wie es dir gefällt. Versprochen?« Sie umarmte nun die Mutter und küßte sie auf die Wangen.
Noch lange blieben sie zusammen sitzen und redeten. Die Mutter war glücklich, weil ihre Tochter es war.
*
Robert ging noch nach unten in die gute Stube der Familie Sundermann. Er trank ein Glas Bier mit dem Hausherrn, und als sich dessen Frau, wie üblich mit ihrem Strickzeug, dazu setzte, kam auch Peter rein. »Im Fernsehen ist heute auch nichts Gescheites, da setz ich mich lieber zu euch.«
»Ja, dann kann ich euch ja auch einmal eine gute Nachricht bringen.«
Alle sahen ihn erwartungsvoll an, und als er ihnen seine Verlobung mitteilte, fragte Berta Sundermann gleich: »Und wo ist Ihre Braut?«
»Sie ist noch in Lindau bei ihrer Mutter«, erklärte er.
»Dann ist es Jasmins Lisa«, sagte Peter sofort. »Weiß sie es schon?«
Als Robert dann allen erzählte, daß diese Verlobung per Telefon stattgefunden hat, lachten sie herzlich.
»Lisa kommt in etwa zwei Wochen, wenn Jasmin aus der Klinik entlassen wird. – Kann sie hier im Haus auch ein Zimmer haben?« fragte er gleich.
»Aber selbstverständlich«, sagte Frau Sundermann, die sich freute, daß dieser sympathische Mann bald wieder eine Frau haben würde, und seine Kleine eine Mutter.
Später, als Robert dann nach oben ging, sah er noch mal in Jasmins Zimmer. Alles war so aufgeräumt, und das leere Bett bedrückte ihn. Den Teddy, der sonst immer auf dem Kopfkissen lag, hatte er am Nachmittag seinem Liebling mitgebracht.
Jasmin schlief noch immer sehr viel, und wenn sie wach war, klagte sie über Kopfschmerzen. Morgen würde er ihr sagen, daß er mit Lisa gesprochen hatte und diese nun bald ihre Mami sein würde. Vielleicht machte die Freude sie schneller gesund?
Seine Gedanken beschäftigten sich nun mit Hanna. Und die Erinnerung an eine zauberhafte Liebe machte ihn plötzlich unsicher. War es richtig gewesen, Lisa heute zu fragen, ob sie seine Frau werden wollte? Oder hatte er nur Angst vor seinen Gefühlen, die er noch für Hanna hegte?
Er hatte deutlich gespürt, daß er ihr noch viel bedeutete. Aber war es noch Liebe, die er für sie empfand? Oder war es nur noch die Erinnerung an eine wunderschöne Zeit? Ernsthaft fragte er sich nun: Stimmt es vielleicht doch, daß man zwei Frauen lieben kann?
Lange konnte er nicht einschlafen, dann sagte er sich: Ich habe Lisa mein Wort gegeben, dabei bleibt es! Und Hanna werde ich, so gut es geht, aus dem Weg gehen. Sie hat damals abgelehnt, meine Frau zu werden, weil ihr der Beruf viel wichtiger war, nun kann und will ich nicht neue Konflikte heraufbeschwören. Das Schicksal geht manchmal schon seltsame Wege, dachte auch er. Und Robert nahm sich vor, bei passender Gelegenheit auch Hanna von seiner Verlobung zu berichten.
*
Auch Hanna fand in dieser Nacht nur wenig Schlaf. Das Gespräch mit ihrem Bruder hatte sie nicht ruhiger gemacht. Im Gegenteil, damals war sie sich so sicher gewesen, mit Leib und Seele Ärztin sein zu wollen. Und jetzt war sie in einem Zwiespalt ihrer Gefühle, die sie hin und her rissen.
Sie wußte eigentlich gar nicht, ob Robert sie noch liebte, doch das würde sie bald herausfinden – und dann? fragte sie sich, kannst du deinen geliebten Beruf aufgeben?
»Mein Gott«, flehte sie, »zeig mir den Weg, den ich gehen soll.«
Erst ein paar Wochen später bekam sie die Antwort auf ihre Frage.
Am anderen Morgen sah ihr Bruder Kay sie aufmerksam an. Dunkle Schatten unter ihren schönen blauen Augen zeugten von einer schlaflosen Nacht. »Hanna, ich weiß, deine Arbeit hier in der Klinik leidet nicht darunter, daß du zur Zeit Probleme hast. Aber ich sorge mich um dich, deshalb wäre es sicher gut, wenn du bald eine Entscheidung herbeiführen würdest.«
»Wie kann ich das? Robert muß mir doch erst sagen, daß er mich noch liebt.«
»Warum fragst du ihn nicht direkt?«
»Kay, du bist unmöglich. Das würde mein Stolz nicht zulassen.«
»Dann frage ich ihn, von Mann zu Mann…«
»Bist du verrückt?« unterbrach sie ihn erschreckt.
»Nein, bin ich nicht. Aber laß uns nun zu unseren kranken Kindern gehen und alles tun, damit sie bald wieder gesund werden.«
Schweigend gingen sie beide die Treppe hinunter, und niemand von den Kollegen und Schwestern bemerkte die Spannung, die zwischen den Geschwistern lag.
Bei der Visite lachten die Ärzte, sogar die Oberschwester konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken, als der siebenjährige Fritz fragte: »Darf ich bald heim?«
Der Chefarzt nickte, und der Knirps wollte gleich wissen: »Dann kann ich endlich die Klinik besichtigen.«
»Sachte, sachte, kleiner Freund«, sagte Dr. Martens. »Auf dem Flur kannst du ein wenig hin und her gehen – und morgen vielleicht einen kleinen Spaziergang im Park machen. Aber die ganze Klinik besichtigen? Davon war nie die Rede.«
»Ich meinte auch nur die technischen Geräte, nicht die Krankenzimmer, Herr Doktor.«
Kay Martens sah sich die Operationswunde an und nickte zufrieden. Er wandte sich an Hanna. »Du kannst nachher die Klammern entfernen.« Zur Oberschwester sagte er: »Fritz darf nun essen, auf was er Appetit hat.«
»In Ordnung, Herr Doktor.« Schwester Elli notierte dies, wie alles, in ihr kleines Notizbuch.
Heiko, der nebenan im Bett lag, fragte auch gleich: »Wann darf ich denn aufstehen? Mein Fuß tut gar nicht mehr weh.«
»Zwei Tage mußt du schon noch im Bett bleiben, dann wird dein Fuß geröntgt. Wenn alles gut ist, bekommst du einen Gips und darfst wieder nach Hause.«
»Au fein…«, sagte er erfreut.
»Aber mit dem Radfahren mußt du schon noch warten«, ermahnte ihn der Arzt.
»Das Fahrrad ist ja kaputt, und so schnell bekomme ich auch kein neues«, sagte der Knirps.
Als das Team das Zimmer verließ, drehte sich Kay noch einmal um und sagte zu Fritz: »Ich hoffe, lieber zukünftiger Kollege, daß Sie mit meinen Anordnungen einverstanden sind.«
»Jawohl, Herr Doktor«, sagte Fritz und lachte. Er fand, daß der Arzt ein sehr sympathischer Arzt war.
Im nächsten Zimmer lag Angela, die seit gestern völlig fieberfrei war. Dr. Hanna Martens hörte sie mit dem Stethoskop ab und nickte zufrieden. »Die Lungenentzündung ist geheilt, und den Husten bekommen wir auch noch in den Griff.« Sie streichelte Angela übers Haar und sagte noch: »Du bist ein tapferes Mädchen, ich komme noch einmal zu dir, dann bringe ich einen Inhalierapparat mit.«
»Danke, Frau Doktor, mir geht es wirklich schon gut. Muß ich noch lange hier bleiben?«
»Nicht ungeduldig sein, Mädchen alles braucht seine Zeit.« Sie lächelte Angela an, dann wandte sie sich der kleinen Petra zu, die auch auf dem Weg der Besserung war.
Dr. Kay Martens hielt die Krankenkarte in der Hand und meinte zufrieden: »Ich sehe aus den Aufzeichnungen, daß das Blut wieder frei von dem Atropin ist. Wann wurde die letzte Analyse gemacht?« fragte er die Oberschwester.
»Es ist auf der Karte vermerkt, Herr Doktor«, war ihre Antwort. Sie runzelte dabei die Stirn, denn seine Frage irritierte sie.
»Das Datum steht nicht drauf, nur die Werte.« Er reichte ihr die Karte und sah sie ernst an.
Die Röte schoß Oberschwester Elli ins Gesicht, und sie murmelte: »Ich versteh nicht, wie mir das passieren konnte.«
Die Umstehenden schmunzelten ein wenig, denn daß die überkorrekte Oberschwester mal einen Fehler machte, kam wirklich selten vor.
Im nächsten Zimmer lagen zwei Kinder, denen die Mandeln vor einer Woche herausgenommen worden waren. Der Chefarzt untersuchte sie kurz und sagte ihnen, daß sie morgen wieder nach Hause konnten.
»Aber ihr müßt euch noch etwas schonen und dürft nicht gleich herumtoben. Ich werde noch mit euren Eltern sprechen, wenn sie heute nachmittag kommen.«
Dr. Hanna Martens ging als letzte zur Tür hinaus. Sie atmete tief durch, denn im nächsten Zimmer lag Jasmin, Roberts Tochter. Sicher saß er schon an ihrem Bett. Ihr Herz schlug ein paar Takte schneller, doch sie wurde enttäuscht, nur Schwester Laurie war im Raum. Sie saß am Bett des Kindes und stand nun auf, als die Ärzte und die Oberschwester hereinkamen.
Laurie sagte zu Dr. Martens: »Ich bin ein paar Minuten bei Jasmin geblieben, sie hatte geweint, weil ihr Papi noch nicht da ist.«
Nur Hanna ging zu dem Kind, lächelte es an und nahm die kleine Hand in ihre. »Dein Papi wird bald hier sein«, sagte sie. »Sicher hat ihn das schlechte Wetter abgehalten.« Sie prüfte den Puls des Kindes, er war ein wenig unregelmäßig.
»Hast du noch Kopfschmerzen, Jasmin?«
»Nur wenn ich mich bewege, tut mein Rücken und der Kopf so weh«, sagte sie weinerlich. »Ich möchte zu meinem Papi…« Sie legte ihre kleine Hand über die Augen, damit die Frau Doktor ihre Tränen nicht sah.
»Hanna, bleib noch ein wenig bei Jasmin, bis der Vater kommt«, bat Kay seine Schwester. »Wir gehen schon ein Zimmer weiter.« Er wünschte die Entscheidung der beiden herbei, denn die Ungewißheit, ob Hanna bleiben oder fortgehen würde, machte ihm doch sehr zu schaffen.
Als alle außer der jungen Ärztin gegangen waren, spreizte Jasmin ihre Finger und blinzelte durch den Spalt.
»Du bist ja ein kleiner Schelm«, sagte Hanna lachend und wischte dem Kind die restlichen Tränen von den Wangen. Sie benutzte dabei ihr Taschentuch, das in der oberen Kitteltasche steckte.
In diesem Moment wurde leise an die Tür geklopft, und schon ging sie auf. Es war, wie Hanna erwartet hatte, Robert.
Mit einem fröhlichen »Guten Morgen« kam er ins Zimmer.
Hanna stand sofort auf und bot ihm den Stuhl an. Bevor sie etwas sagen konnte, rief Jasmin glücklich: »Papi, Papi, da bist du ja endlich.«
Er nickte Hanna kurz zu und antwortete dem Kind: »Ich wäre gern früher gekommen, aber mein Auto streikte. Nun hat mich Herr Sundermann hergefahren. Übrigens soll ich dir viele liebe Grüße von Peter und seiner Mutter und seinem Vater bestellen.«
»Danke, Papi. Und Lisa? Hast du mit Lisa telefoniert?«
»Ja, gestern abend noch. Sie wünscht dir auch alles Liebe und Gute. Du kannst dir denken, wie besorgt sie um dich ist, mein Herzchen.«
Noch nie war sich Hanna überflüssiger vorgekommen als in diesem Augenblick. Ihr Herz fand wieder zu seinem gewohnten Rhythmus zurück. Robert hatte sie gar nicht beachtet, das kränkte sie schon, doch was hatte sie erwartet?
Ganz ruhig sagte sie nun: »Robert, ich komme in einer halben Stunde wieder und wechsle Jasmins Verband.«
»Ist gut, ich bin dann auch noch hier«, war alles was er zu sagen hatte.
Auf dem Flur ging Hanna an eines der großen Fenster und sah in den Park hinaus. Die Bäume wurden vom Wind gepeitscht, und der Regen prasselte gegen die Scheiben, wie ein Hagel kleiner Geschosse. Genauso sieht es in meinem Innern aus…
Ich muß vernünftig sein, dachte sie, ich habe ihn für immer verloren. Vielleicht an diese Lisa? grübelte sie. Ein Trost blieb ihr noch, sein Kind würde noch einige Tage hier sein, und wie sie ihn kannte, kam er morgens, mittags und abends. Noch oft würde sie ihn treffen und sie hoffte, daß dann doch einmal ein richtiges Gespräch zustande kommen würde.
Ruhig, aber freundlich wie immer, verarztete sie die Kinder, die die Mütter in ihre Sprechstunde um elf brachten.
Als sie Jasmins Verband gewechselt hatte, war Schwester Laurie dabei, die ihr zur Hand ging. Robert stand mit zusammengepreßten Lippen daneben, als er die Platzwunde sah, die sich schon geschlossen hatte. Als das Kind nur ein wenig stöhnte, ging er zu Jasmin und hielt ihre Hand fest. »Mein tapferer Liebling«, sagte er zärtlich, »ich verspreche dir, wenn du wieder gesund bist, feiern wir ein ganz großes Fest.«
»Wo, Papi?« wollte sie gleich wissen.
»Wo es ganz besonders schön ist. Und wir laden alle ein, die wir lieben. Einverstanden, Prinzeßchen?«
»Au fein – und Lisa muß aber dabei sein.«
»Das ist doch klar, auch ihre Mutter und noch viele andere.«
Immer nur diese Lisa, grübelte Hanna. Wenn sie Roberts Freundin wäre, würde sie ihren Urlaub doch mit Vater und Tochter verbringen.
Hanna war mit sich uneins. Die ganzen Jahre war sie glücklich und zufrieden gewesen, denn sie hatte ihr Ziel erreicht, eine gute Ärztin zu sein und mit ihrem Bruder diese Kinderklinik zu leiten.
Konnte sie sich vorstellen, nur Ehefrau und Mutter zu sein? Womöglich viele Stunden am Tag zu putzen, zu waschen und zu kochen? Robert würde sie nie mit ihrem Beruf teilen. Auch eine Wochenendehe wäre nicht ideal.
Also, sagte sie sich ernsthaft, nimm dein Herz in beide Hände und schlag dir diesen Mann aus dem Kopf. Diese Liebe macht dich nur unglücklich, und auch Kay würde darunter leiden.
Doch diese vernünftigen Gedanken zerplatzten wie Seifenblasen, wenn sie Robert nur sah.
*
Robert ging es nicht sehr viel anders. Immer wenn er Hanna in der Klinik begegnete, war er befangen und wortkarg. Ihre Ausstrahlung faszinierte ihn wieder, und die Erinnerungen an die wunderschöne Zeit ihrer Liebe verwirrten ihn.
Wenn er daran dachte, daß er Lisa schon vier Jahre kannte und seine Gefühle für sie erst vor ein paar Tagen entdeckt hatte, fragte er sich, ob es wirklich Liebe war, die er für sie empfand.
Warum quälst du dich? fragte er sich dann. Du hast dich entschieden und Hannas fragende Augen mußt du ignorieren. Der Gedanke durchzuckte ihn: Vielleicht sagt sie diesmal ja, wenn ich sie frage, ob sie meine Frau werden will.
Jetzt ist es genug, Robert, rief er sich zur Raison. Wenn heute nachmittag die Sonne scheint, und der Wetterbericht hatte es prophezeit, dann gehst du in die Heide, nimmst deine Malutensilien mit und malst. Das vertreibt dir die Flausen, und du wirst wieder normal.
Er aß bei Frau Sundermann und Peter zu Mittag und versprach ihnen, sie um zwei Uhr in die Klinik mitzunehmen. Zuerst holte er noch seinen Wagen aus der Werkstatt, den der Mechaniker schon fertig hatte.
Frau Sundermann hatte einen bunten Blumenstrauß zusammengestellt, und Peter trennte sich von seinem kleinen Kasperl, das Jasmin so gut gefallen hatte.
Vor dem Krankenzimmer ließen sie Peter den Vortritt. Er klopfte leise an und öffnete dann die Tür.
»Peter, wie schön, daß du mich besuchst«, freute sich Jasmin.
Schwester Laurie war bei ihr. Sie hatte das Kopfteil des Bettes ein wenig höher gestellt, damit das Kind allein essen und trinken konnte. Soeben hatte sie eine halbe Tasse Schokolade und ein paar Kekse zu sich genommen.
»Geht es dir schon ein wenig besser, Jasmin?« fragte Peter, und als sie nickte, gab er ihr das schön eingewickelte Päckchen.
»Was ist da drinnen?«
»Mach’s auf, dann siehst du es.« Peter zeigte sein Erschrecken nicht, denn Jasmins Gesicht war schmal geworden, und der Kopfverband verdeckte ihre blonden Locken.
Sorgsam löste sie die kleine Schleife und das Seidenpapier. »Peter, du bist so lieb«, sagte sie leise und gab ihm ihre Hand. »Du hast doch dein Kasperl selbst so gern… Aber ich danke dir vielmals.«
»Wichtig ist, Jasmin, daß du dich freust«, sagte Peter und hielt noch ein wenig ihre Hand fest.
Die Tür ging erneut auf, und Berta Sundermann kam mit Jasmins Papi ins Zimmer.
Schwester Laurie bat aber gleich: »Bitte nicht zu lange bleiben. Auch lieber Besuch ist für einen Kranken anstrengend.«
»Wir richten uns danach, Schwester«, sagte Robert Fischer.
Laurie nahm die Blumen mit und brachte sie in einer schönen Vase wieder. Sie stellte sie auf Jasmins Nachttisch, damit das Kind sie auch sehen konnte.
»Vielen Dank für die Blumen. Sie sind sehr schön«, sagte sie und lächelte Peters Mutter an.
Ihr Vater gab ihr einen Kuß auf die Nasenspitze und sagte: »Wie ich sehe, hast du den Tropfer wieder los, Schätzchen. Kannst du denn schon wieder richtig essen?«
»Ja, Papi. Auch die Kopfschmerzen sind nur noch ganz klein. Bitte, frag doch die Frau Doktor, wann du mich holen kannst.«
»Ich fürchte, du mußt schon noch ein bißchen Geduld haben. Vielleicht sind es nur noch wenige Tage.«
Jasmin, die schon bis zwanzig zählen konnte, fragte: »Zehn Tage oder mehr?«
»Warten wir’s ab. Ich besuche dich bestimmt alle Tage dreimal. Und heute male ich dir ein schönes Bild, vielleicht von der Heide oder von den Schafen.«
»Von den Schafen, Papi, bitte. Die sind so schön wuschelig.«
»Mal sehen… Aber nun müssen wir wieder gehen, sonst wirft uns Schwester Laurie raus.«
»Sie kommen später ja wieder, Herr Fischer. Und Jasmin muß jetzt schon ein wenig schlafen.«
Jasmin machte ein Schmollmündchen, dann sagte sie: »Kommt bald wieder, bitte!«
Sie rief Peter noch einmal zurück: »Sag Jonas, daß ich ihm nicht böse bin, er konnte ja nichts dafür.«
»Ich richt’s ihm aus, Jasmin. Du bist einfach lieb.« Er schluckte vor Rührung, dann dachte er. So eine Frau werde ich einmal heiraten. Er sagte dies auch später seiner Mutter.
»Ja, so eine Schwiegertochter hätte ich auch gern«, war ihre Antwort.
»Glaubst du, daß Herr Fischer mit Jasmin wieder einen Urlaub bei uns verbringen wird?«
»Ich weiß nicht, vielleicht. Aber noch sind sie ja hier, und Jasmin wird sicher bald aus der Klinik entlassen werden.«
»Sie hat bestimmt noch Schmerzen, doch geklagt hat sie nicht. Fandest du nicht auch, Mutti, daß ihr Gesicht ganz klein geworden ist? Und der schreckliche Verband…«
»Nun klag du nicht, Peter. Ich vermisse Jasmin auch, aber wir müssen fest daran glauben, daß sie sich schnell wieder erholt. – Nun geh zu Vater und sei ihm behilflich, den Jägerzaun vor dem Haus zu reparieren.«
Er machte seine Arbeit wie üblich, doch die blauen Augen in dem schmalen Gesicht, überhaupt das ganze Persönchen blieb in seinen Gedanken.
*
Nach dem morgendlichen Regenguß strahlte am Nachmittag wieder die Sonne von einem azurblauen Himmel. Robert fand, genau die richtige Stimmung um ein Landschaftsbild zu malen. Jasmin hatte sich ein Bild gewünscht, auf dem ein paar Schafe weideten. Also stellte er seinen Wagen auf einen Parkplatz, holte aus dem Kofferraum seine Staffelei und die anderen Utensilien und machte sich auf den Weg.
In wenigen Minuten war er bei dem alten Schäfer, der ihm natürlich erlaubte, ein paar Schafe und auch ihn auf die Leinwand zu bringen. Er stellte sich auf seinen Stock gestützt in Positur und sah lächelnd über seine Herde.
Der Schäfer war zwar gewohnt, fotografiert zu werden, doch ein Aquarell war etwas Besonderes.
Mit Eifer ging Robert an die Arbeit. Die Staffelei war bald aufgestellt, die Farben waren gemischt, und mit geübter Hand hatte Robert in kurzer Zeit den Schäfer auf der Leinwand.
»Sie können sich wieder rühren, Herr Vinzenz«, rief er dem Schäfer zu. »Jetzt fange ich mit den Schafen an.«
»Das ging aber schnell – darf ich mal schauen?«
»Ich zeig Ihnen das Bild, wenn es fertig ist. Einverstanden?«
»Ist gut – aber neugierig bin ich schon.« Er ging ein paar Schritte weiter, redete mit seinen zwei Hunden Zorro und Caruso, die ihn schwanzwedelnd umsprangen.
Robert, der gern ein Maler geworden wäre, er hatte Grafik und Malerei studiert, nutzte jede Gelegenheit, seinem Hobby zu frönen. Es dauerte gar nicht sehr lange, und er war zufrieden mit seinem Werk.
Ein paar Birken im Hintergrund, links der Schäfer und etwas abseits drei Schafe, die friedlich grasten. Ein blauer Himmel mit kleinen weißen Wolken vervollständigten das Bild.
»Ich bin fertig«, rief er dem Schäfer zu, der neugierig kam.
»Sie sind ja ein echter Künstler«, sagte der alte Schäfer bewundernd. »Kann ich Ihnen das Bild abkaufen?«
»Ich hab es für meine Tochter gemalt, sie hat es sich gewünscht. Jasmin hatte einen Unfall und liegt nun in der Kinderklinik. – Ich werde noch einmal das gleiche malen und es Ihnen schenken.«
»Das tut mir aber leid mit Ihrer Kleinen. Hoffentlich ist sie bald wieder gesund.« Dann sagte er noch: »Doch auf das Bild freue ich mich.«
»Ich komme in den nächsten Tagen wieder vorbei und bringe es mit.« Robert packte alles zusammen und verabschiedete sich von dem Schäfer Vinzenz.
Auf dem Heimweg kaufte er einen passenden Rahmen, und als er abends Jasmin besuchte, war sie begeistert. Sie erkannte den Schäfer gleich, und die Schafe fand sie herrlich wuschelig.
»Ich nehme das Bild wieder mit, denn Vinzenz möchte gern das gleiche haben.«
Jasmin war einverstanden. Sie gähnte ein paarmal heftig, dann trank sie ein paar Schlückchen Milch und gleich darauf war sie eingeschlafen.
Robert hatte vorgehabt, Hanna zu fragen, ob Komplikationen eintreten könnten. Als er die Schwester fragte, wo die Ärztin zu finden sei, meinte sie: »Die Frau Doktor mußte einen Hausbesuch machen. Aber Herrn Dr. Mettner können Sie sprechen. Sie finden ihn im Sprechzimmer.«
Als er den Flur entlangging, kam ihm ein großer, schlanker Arzt entgegen. »Ich suche Herrn Dr. Mettner…«
»Sie haben Glück, das bin ich. Sie sind sicher Herr Fischer, Jasmins Vater?« Als dieser nickte, fügte der Arzt hinzu: »Ich war drei Tage bei einem Ärztekongreß und habe erst heute nachmittag Ihre Tochter gründlich untersucht.« Als er den ängstlichen Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah, meinte er beruhigend: »Ich bin Neurologe und kann Ihnen sagen, daß Ihr Kind vom Chefarzt Dr. Martens und seiner Schwester bestens versorgt wurde.«
»Sind wirklich keine Komplikationen zu befürchten?« wollte Robert noch wissen.
»Bestimmt nicht. Aber es ist schon besser, wenn Jasmin noch einige Tage in der Klinik bleibt. Hier hat sie viel Ruhe – und Sie wissen ja, Herr Fischer, Sie können Ihr Kind jederzeit besuchen.«
Robert atmete befreit auf und bedankte sich bei dem freundlichen Arzt, der mit seinem rötlichen Haar und den Sommersprossen sehr sympathisch wirkte.
Am Abend telefonierte er noch mit Lisa, und er berichtete ihr, was der Neurologe zu ihm gesagt hatte. Sie freute sich darüber und erzählte ihm, daß sie mit ihrer Mutter gesprochen habe und diese einverstanden war, daß sie kommen konnte, wenn Jasmin aus der Klinik entlassen wurde.
»Lisa, ich kann es kaum erwarten, dich in die Arme zu schließen. Ich liebe dich!«
»Ich dich auch, Robert. So sehr, daß es bald schon ein bißchen weh tut.«
»Schlaf gut, meine kleine Braut! Ich rufe dich morgen wieder an.«
Nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, wußte er, daß Hanna ihm nicht mehr gefährlich werden konnte.
Als er ihr am anderen Tag begegnete, versuchte sie mit ihm ein Gespräch anzufangen. »Robert, erinnerst du dich noch an unsere wunderschöne Zeit, damals?«
»Ja, aber das ist lange her und vorbei.«
Hanna war über seine Antwort enttäuscht. Sie fragte daher: »Denkst du, wir könnten es so einrichten, daß wir uns nicht wie Fremde benehmen?«
Er antwortete: »Sind wir nicht Fremde?«
»Gibt es jemanden?«
»Ja…«
»Und, liebst du sie?« fragte sie atemlos.
»Ja – aber ganz anders als dich!« Robert wollte noch nicht über Lisa sprechen, deshalb sagte er nur noch: »Sechs Jahre sind eine lange Zeit.«
»Du hast recht, Robert. Aber die Beziehung zu dir war ein wichtiger Teil meines Lebens. Ich bin reifer geworden.«
»Und hast du die Erfüllung in deinem Beruf gefunden?«
»Ja, mein Beruf füllt mich ganz aus.« Gern hätte sie noch gesagt: Heute würde ich mich anders entscheiden… Doch ihre Lippen blieben verschlossen. Und sie dachte an den Satz, den sie einmal gelesen hatte: Liebe fragt nicht danach, ob sie erwidert wird.
Hanna fiel es nicht leicht, ihrem Bruder Kay zu gestehen, daß die Entscheidung gefallen war, weil Robert eine andere Frau liebte.
Seine Antwort tröstete sie ein wenig über die Enttäuschung hinweg.
»Schwesterlein, ich bin so glücklich, daß du nicht fortgehst.« Er umarmte sie herzlich und sagte ehrlich: »Ohne dich wäre die Klinik nicht mehr dieselbe. Du bist die Seele des Hauses.«
»Danke!« sagte sie nur und lief in ihr Zimmer, damit er ihre Tränen nicht sah. Nach wenigen Minuten kam sie zurück und lächelte.
»Ein Frauenherz ist doch manchmal unberechenbar. Aber ich habe mich wieder fest im Griff. Kay, ich verspreche dir, nie mehr…«
»Hanna, sprich nicht weiter, denn gegen die Liebe ist wohl noch kein Kraut gewachsen.«
Nun mußten beide lachen.
*
Nun ist alles klar, dachte Robert und war froh darüber. Die Gefühle, die er noch für Hanna gehegt hatte, waren endgültig gebannt. Das Gespräch mit ihr hatte die Vergangenheit abgeschlossen.
Sie grüßten sich freundlich, wenn sie sich sahen, und wechselten ab und zu belanglose Worte.
Er sehnte den Tag herbei, an dem Jasmin die Klinik verlassen durfte. Sie klagte zwar noch immer über leichte Kopfschmerzen, wenn sie aufrecht saß, aber die Platzwunde am Hinterkopf war schon gut verheilt.
Schwester Laurie und Schwester Dorte bemühten sich sehr um sein Mädchen. Als er eines Morgens in das Krankenzimmer kam, sah er mit Freude, daß der Kopfverband verschwunden war. Nur noch ein Pflaster bedeckte die Wunde.
»Papi, freust du dich, daß ich wieder dein Lockenköpfchen bin?« fragte ihn Jasmin gleich.
»Natürlich bin ich darüber froh. Und wer hat deine Haare so schön gebürstet?« wollte er gleich wissen.
»Schwester Laurie, sie war so sanft wie meine Lisa.«
»Das ist doch selbstverständlich«, sagte die Schwester, und leichte Röte überzog ihr Gesicht.
Robert bedankte sich bei ihr und er nahm sich vor, den beiden Schwestern Laurie und Dorte Blumen und Konfekt zu schenken, wenn er Jasmin abholen konnte.
Mit dem Neurologen, Dr. Mettner, hatte er am Abend vorher gesprochen. Der junge Arzt hatte ihm noch mal versichert, daß bei Jasmin keinerlei Schaden zurückbleiben würde. »Nur achten Sie darauf«, hatte er noch gesagt, »daß sie nicht gleich wieder herumtollt, vorerst nur kleine Spaziergänge mit Ihnen macht und sich dazwischen ausruht.«
»Und wann darf Jasmin die Klinik verlassen?« hatte er noch gefragt.
»In vier, fünf Tagen«, war seine Antwort gewesen.
Als hätte das Kind seine Gedanken erraten, fragte es nun: »Muß ich noch lange hier bleiben?«
»Ich weiß nicht genau – vielleicht noch eine Woche.«
»Och, das ist noch so lange… Aber wir fahren nicht gleich nach Hause. Oder…?«
»Natürlich nicht. Ich habe doch bis Ende August noch Urlaub, und der Doktor hat gesagt, daß wir beide kleine Spaziergänge machen können.« Als er ihre Augen freudig aufblitzen sah, meinte er noch: »Aber Kutschfahrten und Ponyreiten ist noch streng verboten.«
»Versteh ich schon, Papi. Mein Rücken tut mir kein bißchen mehr weh. Und der Kopf nur, wenn ich lange aufrecht sitze.«
Oberschwester Elli kam nun ins Zimmer. Sie grüßte freundlich, dann sagte sie zu Herrn Fischer: »Ihre Tochter darf jetzt ein paar Minuten aufstehen und im Zimmer hin und her gehen.«
»O fein! Aber muß ich erst wieder laufen lernen?«
»Keine Bange, Jasmin, das verlernt man nicht«, sagte die Schwester lächelnd. Sie ging an den Schrank, holte den hellblauen Bademantel heraus, und legte ihn zurecht.
Robert war aufgestanden, damit er der Schwester nicht im Weg war. Er wollte Jasmin erst selbst helfen, doch das hätte die Schwester vielleicht gekränkt, deshalb unterließ er es.
Sehr vorsichtig stellte Elli das Kind auf die Beine. Ein wenig ängstlich sah Jasmin ihren Vater an. »Nur Mut, Kleines, du schaffst das schon«, sagte er aufmunternd.
Die ersten Schritte waren noch zögernd, und als Jasmin dann sagte: »Ich gehe wie auf Watte«, lachten alle, und sie lachte mit.
»Heute nachmittag können Sie Ihr Töchterchen spazieren führen, Herr Fischer«, sagte die Oberschwester zu ihm. »Vielleicht sogar auf den Flur… Natürlich nur, wenn Sie wollen.«
»Und ob ich will«, meinte er lachend. Aber als er sah, daß Jasmin doch ein wenig erschöpft aussah nach den wenigen Minuten, nahm er sich vor, sie nicht zu überanstrengen.
Als Jasmin wieder im Bett lag und die Oberschwester das Zimmer verlassen hatte, fragte er: »War es sehr schwer, mein Herzchen?«
»Nicht so schlimm, Papi. Ich muß nur jetzt wieder viel essen.«
*
Nach ein paar Tagen ging es Jasmin schon viel besser. Sie durfte mit ihrem Vater schon in den Park gehen. »Wenn du müde bist, mein Kleines, sagst du es mir, dann trage ich dich in dein Zimmer zurück.«
Unter den schattigen Bäumen standen ein paar bequeme Sessel. »Wir ruhen uns hier ein wenig aus«, meinte der Vater, »dann geht es mit frischer Kraft wieder ins Bett.«
Dr. Hanna Martens sah zufällig aus dem Fenster von ihrem Sprechzimmer, und als sie die Vertrautheit der beiden beobachtete, fühlte sie wieder den Schmerz, Robert für immer verloren zu haben.
Sie wußte aber auch, wenn Robert wieder aus ihrem Leben verschwinden würde, daß sie diese aussichtslose Liebe vergessen mußte. Ich liebe meinen Beruf, sagte sie sich, und bis zu diesem Wiedersehen war ich glücklich und zufrieden. Ich werde es wieder sein…
Ihre Sprechstunde war beendet, sie hatte einem kleinen Jungen, der beim schnellen Laufen gestolpert war und sich das Knie aufgeschlagen hatte, ambulant verarztet. Eine Tetanusspritze bekam der Sechsjährige diesmal nicht, weil sie ihm diese schon vor einem halben Jahr injiziert hatte. Damals hatte er sich mit einem scharfen Messer in die Hand geschnitten.
Sie ermahnte das Kind im Beisein der Mutter, ein wenig besser auf sich aufzupassen, damit nicht wieder so schnell was passierte.
Vorher waren noch einige Kinder in der Sprechstunde gewesen, ohne ihre Mütter, die arbeiten mußten. Dem einen verschrieb sie Hustentropfen, der andere bekam einen neuen Verband um seinen Fuß, und es war wie alle Tage, außer Samstag und Sonntag. Und auch da war sie dienstbereit, wenn sie gerufen wurde.
Auf dem Weg in den Speiseraum, wo sie eine Tasse Kaffee trinken wollte, begegnete sie ihrem Bruder Kay. An seiner Seite war der siebenjährige Fritz, der übers ganze Gesicht strahlte.
»Nun darf der künftige Arzt sicher alle Apparate und Meßinstrumente begutachten?« fragte Hanna.
»Frau Doktor, ich habe schon den Herzmonitor gesehen und ich finde ihn ganz toll. Auch alles andere, doch ich kann mir gar nicht alles merken.«
»Das wäre ja noch schöner, wenn du das alles könntest. Wir haben lange studieren müssen…«
Kay unterbrach Hanna. »Laß dich nicht einschüchtern, Fritz, komm, ich zeige dir jetzt den Operationssaal.«
Hanna lachte hinter den beiden her, denn Fritz hatte vor Eifer schon ganz rote Ohren.
Nach dem Abendessen machte Kay den Vorschlag, noch eine Stunde spazierenzugehen.
Hanna willigte gern ein, denn es war nicht mehr so heiß wie tagsüber. Sie besprachen alles mögliche, doch das Thema Robert und Jasmin klammerten sie aus.
Kay hatte den schönen Wiesenweg, der von Birken gesäumt war, gewählt. Er führte direkt in die Heide. »Wir müssen einmal wieder den alten Schäfer besuchen, er freut sich immer, wenn er uns sieht.«
»Ja, das machen wir. Aber laß uns jetzt umkehren, länger als eine Stunde wollten wir ja nicht weg sein«, meinte Hanna.
Niemand von ihnen blieb der Klinik zu lange fern. Es war immer gut, zur Stelle zu sein, wenn einmal etwas Unvorhergesehenes geschah. An diesem Abend war zum Glück alles ruhig.
Sie spielten noch eine Partie Schach – und Hanna freute sich, daß sie gewann. Mißtrauisch fragte sie: »Hast du mich vielleicht gewinnen lassen?«
»Hanna…«, sagte er entrüstet, »sehe ich vielleicht so aus?«
»Gute Nacht, Bruderherz. Ich bin müde«, sagte sie gähnend.
Der kommende Tag würde mit seinen Pflichten und Aufgaben erneut all ihre Kräfte und ihr Können fordern.
In der Nacht träumte sie wieder von Robert. Sie ging mit ihm Hand in Hand an einem See spazieren. Vor ihnen lief Jasmin, die Blumen pflückte. Als der Strauß groß genug war, blieb sie stehen und reichte ihn ihr. »Er ist für dich, Lisa«, sagte das Kind. Als sie morgens wach wurde, war ihr Gesicht tränennaß. Doch sie wußte nun, daß Robert diese Lisa liebte. Ich will ihn vergessen, weil ich es muß!
*
An diesem Abend telefonierte Robert lange mit Lisa. Er berichtete von Jasmin, daß sie heute schon aufstehen durfte und nachmittags sogar mit ihm im Park war.
»Du ahnst nicht, wie froh ich darüber bin, Robert. Und ich wäre gern dabei, wenn du sie abholst. Ich bin sicher, sie freut sich auf mich, wie ich mich auf sie.«
»Und auf mich freust du dich nicht?« Er sagte das mit ganz dunkler Stimme.
»Oh, hoher Gebieter, verzeihen Sie mir! Sind Sie vielleicht auch krank?«
»Und wie… Ich bin liebeskrank, nach dir, Geliebte!«
»Da gibt es doch nur eine Lösung ich muß sofort zu Ihnen kommen.«
Sie lachten beide so herzlich über ihr Albernsein.
»Lisa, es ist so herrlich – du gehst auf meine Scherze ein. Ich lerne dich jeden Tag besser kennen und mehr lieben. Ich bin ganz traurig, wenn ich daran denke, daß wir fast vier Jahre versäumt haben.«
»Das holen wir alles nach, Robert.«
»Ja, ganz bestimmt. Da fällt mir gerade eine Liebeserklärung ein, die ich vor kurzem mal gelesen habe. Bestimmt sind diese Worte schon tausendmal gesagt worden…«
»Ich will sie dennoch hören«, bat Lisa.
»Für mich gelten diese Worte wirklich. – Ich liebe dich heute mehr als gestern und weniger als morgen.«
»Das ist eine wunderschöne Liebeserklärung. Ich werde sie mit in meine Träume nehmen.«
»Weißt du was, Lisa? Komm doch, sobald du kannst. Deine Mutter hat bestimmt nichts dagegen. Wie ich sie kenne, freut sie sich mit uns.«
»Muttchen hat mich schon gefragt, wann ich in die Heide fahre. Gleich morgen werde ich mich nach einem Zug nach Celle erkundigen. Am liebsten möchte ich auf der Stelle losfahren.«
»Das geht leider nicht, mein Herz. Ich rufe dich morgen zur gleichen Zeit an, dann kann ich dich übermorgen schon in meine Arme schließen.«
»Das wäre himmlisch…«
»Nun können wir beide wieder einmal feststellen, daß die Zeit ein relativer Begriff ist. Manchmal schleicht sie nur so dahin, wenn man auf etwas wartet, dann wieder rast sie an einem vorbei und man kann schöne Augenblicke gar nicht so recht genießen.«
»Ja, das stimmt. Aber wir wollen jede Stunde bewußt leben – und unsere Liebe wird wunderschön sein.«
»Ich kann es nicht erwarten, bis du bei uns bist. Jasmin sag ich noch nichts, wir werden sie überraschen. Ich hab noch einen guten Gedanken, Liebling. Wie wäre es, wenn du von Lindau nach Hannover fliegst? Ich hole dich dann vom Flughafen ab.«
»Robert, du bist ein Gedankenleser. Ich hatte die gleiche Idee. Dann machen wir jetzt Schluß, denn ich will gleich meine Koffer packen.«
»Lisa, ich umarme dich. Ich freue mich sehr, sehr, ich kann gar nicht sagen, wie.«
»Ich sage nur, schlaf gut, Liebster. Bis morgen! Ich rufe dich gleich früh um acht Uhr an, wann ich ankomme.«
Robert legte den Hörer auf die Gabel. Ein Glücksgefühl durchströmte ihn, wie er es noch nie empfunden hatte. Lisa war die richtige Frau für ihn und eine verständnisvolle Mutter für seine Jasmin.
Er wollte morgen, bevor er zum Flughafen fuhr, in ein Juweliergeschäft gehen und einen Verlobungsring für Lisa kaufen. Einmal hatte sie ihren Ring auf dem Waschbecken liegen lassen, er hatte ihn sich auf den kleinen Finger gesteckt, und er paßte. Dabei hatte er sich gar nichts gedacht, doch jetzt half ihm dies, die richtige Größe auszusuchen.
In dieser Nacht schlief er seit langem wieder herrlich. Und als er gegen sieben Uhr wach wurde, sprang er sofort aus dem Bett und machte sich fertig.
Während er mit der Familie Sundermann frühstückte, erzählte er ihnen, daß Lisa schon heute eintreffen würde.
Berta sagte erfreut: »Das ist ja wunderbar. Jasmin wird darüber sehr glücklich sein.«
»Und ich erst«, sagte Robert lachend.
»Ich habe für Ihre Braut das große Dachzimmer hergerichtet, Herr Fischer. Ich hoffe, daß es ihr auch gefällt.«
Robert überlegte nur kurz, dann meinte er: »Ich denke, es wäre besser, Lisa schläft in meinem Zimmer, und ich ziehe nach oben. Das heißt, wenn es nicht zu viele Umstände macht.«
»Nein, macht es wirklich nicht«, versicherte Frau Berta.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Das ist bestimmt Lisa, dachte Robert. Sie war es, und der Hausherr gab ihm lächelnd den Hörer.
Ein wenig aufgeregt teilte ihm Lisa mit, daß sie gegen vierzehn Uhr in Hannover-Langenhagen eintreffe. »Drücke die Daumen, Robert, daß das Flugzeug nicht abstürzt. – Es ist mein erster Flug…«
»Keine Angst, mein Liebling. Jeden Tag fliegen Tausende dieser Riesen und nichts passiert. Auf den Autostraßen geschehen mehr Unglücke. Du mußt nur daran denken, daß ich dich gleich danach in die Arme schließe.«
»Ja, Robert, bis dann.«
Lisa hatte aufgelegt, bevor er noch was sagen konnte.
»Werden Sie Jasmin sagen, daß Lisa heute kommt, Herr Fischer?« fragte Peter.
»Nein, ich werde sie heute nachmittag überraschen.«
»Da wäre ich gern dabei«, sagte Peter.
»Da würdest du bloß feststellen, daß wir zwei dann ganz überflüssig sind, Peter. Aber da fällt mir ein, ich muß Jasmin noch heute früh sagen, daß ich am Nachmittag was ganz Dringendes besorgen muß. Vielleicht kannst du ab drei Uhr zu ihr gehen? Vor vier werden wir kaum zurück sein…«
Peter sah seinen Vater fragend an, dieser nickte zustimmend, bevor er sagte: »Du kannst ja schon in der Frühe das erledigen, was ich dir aufgetragen habe.«
»Au fein, danke, Vati.«
Als Robert ein wenig später zu Jasmin kam – er wollte nicht da sein, wenn die Arztvisite war –, fragte ihn seine Tochter gleich: »Papi, hast du gestern abend mit Lisa telefoniert?«
»Ja, mein Schatz. Sie läßt dich ganz lieb grüßen und schickt dir liebe Küßchen.« Er küßte sie links auf die Wange und sagte: »Das ist von Lisa.« Er küßte sie rechts: »Das ist von mir.«
»Ich bin so froh, wenn ich hier wieder raus kann«, sagte sie niedergeschlagen. »Dann kann Lisa endlich zu mir kommen.«
»Hab noch ein wenig Geduld, mein Herzchen. – Aber wie fühlst du dich? Immer noch Kopfschmerzen?«
»Ab und zu schon noch«, sagte sie leise.
»Heute nachmittag wird Peter dich besuchen. Darüber freust du dich aber.« Als sie nickte und dabei ein wenig lächelte, sagte er noch: »Ich muß heute was ganz Dringendes erledigen in der Stadt, da kann ich vor vier Uhr nicht da sein.«
»Dann ist es ja gut, wenn Peter kommt«, war ihre Antwort.
»Ich bringe dir auch was ganz Besonderes mit, mein Kind.«
»Werde ich mich darüber freuen?« wollte sie wissen.
»Da bin ich ganz, ganz sicher.«
*
Mit wehmütigem Herzen stand Frau Keller, Lisas Mutter, neben ihrer Tochter, als diese ihr Gepäck aufgab. Die freundliche Stewardeß der Lufthansa reichte ihr die Bordkarte und wünschte ihr einen guten Flug.
Sie hatten beide noch reichlich Zeit, ehe der Abflug am großen Bildschirm angezeigt wurde. Lisa, die nur noch eine Handtasche bei sich hatte, hakte sich bei ihrer Mutter ein.
»Möchtest du dich setzen, Muttchen? Oder laufen wir noch ein wenig hin und her?«
»Was möchtest du?« war ihre Gegenfrage.
»Ich glaube, ich bin zu unruhig, um still zu sitzen«, sagte Lisa. »Weißt du, ich bin in einem komischen Zwiespalt. Auf der einen Seite bin ich unheimlich glücklich, weil ich nun weiß, daß Robert mich auch liebt, und auf der anderen habe ich eine wahnsinnige Angst, die Maschine könnte abstürzen.«
»Dann wäre es doch besser gewesen, du hättest den Zug genommen. Ich versteh dich gar nicht, Mädchen, in ein paar Stunden…« Die Mutter sprach lachend weiter: »Und die vergehen sprichwörtlich wie im Flug, erwartet dich Robert.«
Lisa blieb stehen, umarmte die Mutter und sagte: »Du bist die liebste Mutter auf der ganzen Welt.«
»Na, nun übertreib nicht gleich. Ich bin auch manchmal egoistisch, und wenn ich Robert nicht kennen würde, hätte ich auch eine namenlose Angst, weil du so weit wegheiratest.«
»Denk daran, du hast versprochen, uns oft und lange zu besuchen. Und wenn wir heiraten, das ist sicher schon sehr bald, kommst du ja auch.« Nachdenklich meinte Lisa noch: »Ich glaube kaum, daß wir eine Hochzeitsreise machen…«
»Wenn ja, Lisa, ich versorge gern Jasmin. Du weißt, sie mag mich auch.«
»Ich sagte es doch eben schon, du bist die Beste!«
»Soll ich dir nun sagen, daß du auch meine liebste Tochter bist?« fragte die Mutter.
»Kunststück, du hast ja nur eine. Ich glaube, nun ist es bald Zeit…«
Im selben Augenblick ertönte der Lautsprecher, und der Flug nach Hannover wurde aufgerufen.
Noch eine letzte Umarmung, ein Kuß und Lisa trennte sich von der Mutter. Sie drehte sich x-mal um und winkte, bevor die anderen Passagiere sich dazwischen schoben.
Glück und gleichzeitig Angst im Herzen betrat Lisa mit weichen Knien die Maschine. Eine freundliche Stewardeß wies ihr einen Platz am Fenster an.
Sie hatte wohl ein Gefühl für Leute, die zum erstenmal flogen. »Wenn Sie etwas brauchen, drücken Sie bitte hier auf diesen Knopf.«
Tief atmete Lisa durch, dann sagte sie leise: »Danke!« Sie war ärgerlich über sich, weil ihre Hände zitterten, als sie den Gurt schließen wollte. Ob Robert weiß, was ich manchmal für ein Angsthase bin? fragte sie sich.
*
Lisas Mutter ging noch auf die Aussichtsplattform und wartete, bis die Maschine abhob. Ein wenig traurig war sie schon, daß Lisa nicht wie vorgesehen vier Wochen blieb. Aber sie war auch stolz auf Lisa. Sie hatte wunderschön ausgesehen in dem apfelgrünen Kleid mit der weißen Leinenjacke. Ihre tiefschwarzen Haare glänzten seidig, und die Locken, die sie sich morgens gefönt hatte, fielen leicht auf die Schultern. Sie hatte das Haar und die schwarzbraunen Augen von ihrem Vater, die schlanke Figur und das ovale Gesicht von ihr. »Werde glücklich, mein Kind«, sagte sie leise und fuhr mit dem Bus heim in ihre leere Wohnung.
*
Viel zu früh war Robert auf dem Flughafen Langenhagen in Hannover. Er hatte bei dem Juwelier Merklein einen schönen Ring – Weißgold mit zwei kleinen Diamanten – gekauft. Ob er ihr gefallen wird? fragte er sich.
Ungeduldig lief er in der Halle auf und ab. Die Zeiger der Uhren schienen alle stillzustehen. Sollte er noch einmal an den Lufthansa-Schalter gehen und fragen, ob die Maschine auch pünktlich ankam? Nein, mach das nicht, sagte er sich. Die Stewardeß hatte ihm schon versichert, daß die Maschine ganz pünktlich landen würde.
Er dachte daran, daß Frau Sundermann das Zimmer, das er bisher bewohnt hatte, für Lisa besonders schön hergerichtet hatte. Einen Schaukelstuhl hatte sie reingestellt, die cremefarbene Decke auf dem kleinen Tisch gegen eine weiße Spitzendecke umgetauscht, auf der nun ein großer Strauß der schönsten Rosen stand, die der Garten hergegeben hatte.
Ich versteh das nicht, dachte er nun, vier Jahre kenne ich Lisa, und noch nie hat mein Herz so schnell geklopft wie jetzt. Hatte der berühmte Funke so lange unter Asche gelegen? Es hat keinen Sinn, darüber nachzugrübeln, sei glücklich, daß du sie jetzt bald in den Armen halten wirst.
Endlich war es soweit, und die ersten Passagiere kamen in die Halle. Schon von weitem sah er Lisa. Am liebsten wäre er ihr entgegengelaufen, doch die Ankommenden waren ihm im Weg.
Sie hatte ihn auch schon entdeckt. Mit einem glücklichen Lächeln kam sie auf ihn zu. Wie schön sie ist, dachte er noch, dann lagen sie sich in den Armen. Sie sahen die Umwelt nicht mehr, denn der Kuß, den er ihr gab, war Glück und Seligkeit in einem. Als sie sich voneinander lösten, stand auf dem Transportband nur noch Lisas Koffer. Das Band war schon abgestellt.
Nicht ein bißchen verlegen, sondern glücklich, nahm ihn Robert hoch, und beide gingen lächelnd an dem Steward vorbei, der ihnen die große Glastür aufhielt, zum Parkplatz. Auf der Fahrt nach Ögela hielt Robert an einem Rastplatz. »Ich muß dir doch in die Augen schauen, wenn ich dich noch einmal bitte, meine Frau zu werden.«
Sie stiegen beide aus, und Robert umarmte sie. Seine grauen Augen sahen sie ernst an, als er sagte: »Willst du mich heiraten, Lisa?«
»Ja, Robert, ich will!«
Behutsam küßte er nun ihre Augen, die Nase und den Mund, und Lisa war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben. Als er ihr dann den Ring an den Finger steckte, freute sie sich, daß er genau paßte. »Woher wußtest du meine Ringgröße?«
Als er es ihr sagte, lachte sie nur.
»Nun wollen wir aber zu Jasmin. Sie hat keine Ahnung, daß du heute schon kommst. Ich habe ihr aber versprochen, was ganz Besonderes für sie mitzubringen.«
Und während der Fahrt berichtete er Lisa auch von Hanna, die er nach sechs Jahren wiedergesehen habe. »Ich habe sie damals sehr geliebt und wollte sie heiraten. Doch Hanna hatte sich für ihren Beruf entschieden, da habe ich sie aus meinen Erinnerungen verbannt.« Als sie ihre Hand auf seinen Arm legte, sagte er noch: »Auch aus meinem Herzen. – Zugegeben, ich war ein wenig verwirrt, als ich sie hier wieder sah. Ich weiß genau, jetzt liebe ich nur dich, dich und unsere Jasmin.«
»Robert, ich verspreche, dir eine gute Frau zu sein und für Jasmin eine liebevolle Mutter.«
»Das weiß ich, mein Herz. Aber nun müssen wir beide genau überlegen, ob wir das Haus, das mir vor ein paar Wochen angeboten wurde, nicht doch kaufen sollen. Es ist erst acht Jahre alt, hat sechs Zimmer und einen wunderschönen gepflegten Garten. Und es liegt am Waldrand…«
»Ich kenne das Haus nur von außen und auch Herrn und Frau Kern flüchtig. Stimmt es, daß sie nach Los Angeles umziehen, zu ihrer Tochter?«
»Ja… Ich werde sie heute abend noch anrufen und ihnen sagen, daß wir beide es uns anschauen, wenn wir aus dem Urlaub zurück sind.«
»Robert, wenn das Haus dir gefällt, dann kaufe es. Ich geh mit dir überall hin, auch nach Afrika.«
»Du bist ein Schatz, Lisa.«
Als sie an dem Ortsschild Ögela vorbeifuhren, fragte Robert: »Machen wir erst Halt bei Familie Sundermann? Oder fahren wir gleich in die Kinderklinik?«
»Kinderklinik«, bat Lisa.
Und wie es der Zufall wollte, begegneten sie Hanna, die sich mit der Empfangsschwester unterhielt.
Robert dachte, das ist gut, da kann ich ihr gleich meine Braut vorstellen. Als er die beiden miteinander bekanntmachte, sah er in Hannas Augen ein kurzes Erschrecken, doch dann lächelte sie liebenswürdig und reichte Lisa die Hand.
»Ich freue mich, Sie nun auch kennenzulernen, denn Jasmin hat viel von Ihnen gesprochen.« Daß Hannas Lächeln nur aufgesetzt war, ahnte nur Robert.
Sie entschuldigte sich, daß sie noch ihre Visite machen mußte, und meinte: »Wir sehen uns ja sicher noch, denn Jasmin wird ja noch ein paar Tage bei uns bleiben.« Sie nahm nun endgültig von ihrer Liebe zu Robert Abschied, mit dem tröstlichen Gedanken, daß sie noch vielen kranken Kindern helfen konnte.
Leise klopfte Lisa an die Tür des Krankenzimmers, in dem ihr Liebling lag. Eine Schwester rief: »Ja bitte!« und sie öffnete die Tür. Hinter ihr kam Robert.
»Lisa, meine Lisa…«, jubelte Jasmin und umarmte sie heftig. »Ich freue mich so, daß du da bist…« Ein paar Tränen liefen über ihre Wangen.
»Ich bin auch so glücklich, wieder bei dir zu sein.«
»Papi hat mir gar nicht gesagt, daß du kommst.«
»Ich habe dir aber versprochen, dir was Besonderes mitzubringen. Na, ist sie nicht was Besonderes, unsere Lisa?« fragte ihr Vater.
»Ja, Papi. Du weißt doch, wie lieb ich sie habe!«
»Das weiß ich, ich liebe sie auch, und deshalb…« Er sah sein Kind aufmerksam an, was sie für ein Gesicht machen würde, als er weitersprach: »Deshalb wird sie auch bald deine Mami sein.«
Für ein, zwei Sekunden sah sie ihren Papi und Lisa sprachlos an, dann umarmte sie beide und sagte: »Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe.«
»Und bekomme ich dann auch ein kleines Hündchen?« Als ihr Vater zustimmend nickte, meinte sie noch: »Und vielleicht ein Brüderchen?«
»Das können wir dir leider noch nicht versprechen, aber vorgesehen ist es schon, das heißt, wenn Lisa damit einverstanden ist.«
»Das bist du doch, Lisa?« fragte das Kind.
Eine leichte Röte überflutete ihr Gesicht, als sie sagte: »Natürlich bin ich damit einverstanden.«
»So, nun müssen wir aber gehen, denn Lisa ist von der Reise müde. Morgen früh kommen wir beide wieder«, sagte ihr Vater und bat: »Werde ganz schnell gesund, dann dürfen wir dich schon in ein paar Tagen mitnehmen.«
»Und wir bleiben dann noch eine Woche hier«, fügte Lisa hinzu.
Als später die Ärztin Hanna Martens zu Jasmin kam, erzählte ihr diese gleich, daß sie bald Lisa als Mami bekäme.
*
Berta und Fritz Sundermann und natürlich auch Peter waren von Lisa begeistert. Und als sie als erste zur Hochzeit eingeladen wurden, die so bald wie möglich stattfinden sollte, sagten sie freudig zu.
Mit einer Flasche Sekt feierten sie eine stille Verlobung zusammen. Danach machten Robert und Lisa noch einen kurzen Spaziergang. Sie hatten ja noch viel zu besprechen. Doch es wurden mehr Küsse getauscht als geredet.
Der Abend war nicht mehr so heiß, denn die Sonne war schon untergegangen. Als sie zurückkamen, legten sie sich in die bequemen Liegestühle im Garten, die ihnen Berta Sundermann zurechtgestellt hatte.
Der Duft der Rosen wehte zu ihnen her, und die Ruhe in diesem kleinen Stückchen Paradies ließ ihre Seelen zueinanderfinden.