Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 2 – Arztroman - Britta Frey - Страница 4

Schwester Christina hat ein Geheimnis Warum läuft sie vor dem neuen Arzt davon? Roman von Britta Frey

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Der Januar und mit ihm ein neues Jahr waren ins Land gezogen. Die vergangenen Monate mit sehr kalten und schneereichen Phasen hatten für Dr. Kay Martens und seine Schwester Hanna so einiges an Veränderungen gebracht. Seit gut zwei Monaten wohnten sie nun schon in ihrem neuen Heim, im Doktorhaus, das hinter dem Klinikpark gebaut worden war. Veränderungen hatte es insofern bedeutet, als die Geschwister nun zwar in einem neuen Heim, aber in getrennten Wohnungen lebten. Kay hatte sich für die fünfzigjährige Hella Sandberg entschieden, die ihn und seinen Haushalt versorgte.

Die dunkelhaarige, schlanke Hella Sandberg war eine sehr tüchtige und resolute Person, und Kay, der sich sehr rasch an sie gewöhnt hatte, war vollauf mit ihr und ihren Leistungen zufrieden. Doch auch die inzwischen dreißigjährige Kinderärztin Hanna Martens fühlte sich in ihren eigenen Wänden sehr wohl. Sie und ihr Haushalt wurden umsorgt von Jolande Rilla, einer Hauswirtschafterin von zweiundvierzig Jahren. Jolande Rilla war eine vollschlanke, warmherzige Witwe mit fuchsrotem Haar. Hanna verstand sich ausgezeichnet mit ihr. Schon nach dem ersten Monat im Doktorhaus hatte Jolande Rilla Hanna gebeten, sie einfach nur Füchsin zu nennen, da sie immer so genannt worden sei, und so war es dann geblieben.

Doch nicht nur im privaten Bereich der beiden Chefärzte der Kinderklinik Birkenhain hatte es Veränderungen gegeben, sondern auch im Bereich der Klinik. So hatten sich die Geschwister dazu entschlossen, einen klinikeigenen Krankenwagen anzuschaffen und außerdem zwei Pfleger einzustellen, um das Pflegepersonal der Kinderklinik zu vergrößern. Es waren Jan Sounders, vierundzwanzig, und Dieter Rösler, zweiundzwanzig Jahre alt. Beide kamen aus Celle und wechselten sich im Tag- und Nachtbereitschaftsdienst ab.

Nun stand noch eine Veränderung bevor. Wegen eines Todesfalles in der Familie schied Dr. Hartmut Frerichs nun doch aus. Der bei allen sehr beliebte junge Assistenzarzt würde die Praxis seines verstorbenen Vaters, eine kleine Landarztpraxis in Westfalen, übernehmen. Die Stelle für den neuen Mitarbeiter hatte Dr. Kay Martens inzwischen schon ausgeschrieben.

*

Es war ein trüber Januartag. Tief hingen dunkle Wolken am Himmel, und wenn die Temperatur erneut absinken würde, würde es wohl wieder zu Schneefällen kommen.

Kay und Hanna Martens hatten gerade mit der Oberschwester Elli und Schwester Laurie die Visite beendet. Hanna war noch bei Kay im Sprechzimmer, als Martin Schriewers die Tagespost brachte.

Hanna, die sich von Kay die Unterlagen eines kleinen Patienten hatte geben lassen, wollte gerade aus dem Zimmer gehen, als Kay sie zurückhielt.

»Einen Augenblick, Hanna, ich sehe gerade, daß heute Bewerbungen für den Ersatz von Dr. Frerichs dabei sind. Es wäre mir schon lieb, wenn du sie dir auch anschaust.«

»Gern, Kay, wie viele sind es denn?«

»Es sind vier Bewerbungen. Nimm du zwei, und ich die beiden anderen. Vielleicht ist etwas dabei, was für unsere Klinik in Frage kommt.«

Kay reichte seiner Schwester zwei der vier großen braunen Umschläge, und für Minuten beschäftigten sich beide mit dem Inhalt.

»Nun, was sagst du?« fragte Kay danach.

»Einer würde mir schon zusagen. Aber laß uns erst die Unterlagen tauschen, damit ich mir auch von den anderen Bewerbern ein Bild machen kann. Dir geht es doch umgekehrt sicher genauso, oder?«

»Genau, so machen wir es. Die beiden, die ich hier habe, sind zwar den Unterlagen nach ausgezeichnete Ärzte, aber für unser Team eigentlich nicht die richtigen. Du wirst bestimmt meiner Meinung sein.«

Als Hanna nach wenigen Augenblicken die Bewerbungen aus der Hand legte und Kay sie fragend ansah, schüttelte sie den Kopf und bestätigte damit das, was er vorher schon ausgedrückt hatte.

»Wenn du meine ehrliche Meinung wissen willst, Kay, so würde ich mich für diesen Dr. Küsters entscheiden. Er hat in Erlangen studiert, hat ausgezeichnet abgeschlossen und paßt mit seinen sechsundzwanzig Jahren gut in unser Team. Auch der optische Eindruck ist ausgezeichnet. Er scheint sehr warmherzig und kinderlieb zu sein. Bei ihm stimmt in der Bewerbung eigentlich alles. Und er ist zum kommenden Ersten frei.«

»Es ist genau derjenige Bewerber, der auch mir am meisten zusagt. Da er eine Telefonnummer beigefügt hat, werde ich mich umgehend darum kümmern und mit dem jungen Mann einen Vorstellungstermin vereinbaren. Wenn unser Eindruck bei diesem persönlichen Kennenlernen noch der gleiche ist, könnte man sagen, daß wir einen neuen Mitarbeiter und guten Ersatz für Dr. Frerichs haben. Es tut mir sowieso sehr leid, daß er ausscheidet und nicht mehr an unserer Klinik zurückkommt.«

»Mir auch, aber wir könnten ihn ja nach Lage der Dinge nicht zurückhalten. Jeder geht den Weg, den er gehen muß. Jetzt muß ich mich aber um den kleinen Peter kümmern. Du entschuldigst mich.«

Lächelnd sah Kay hinter seiner Schwester her, die mit leichten Schritten das Zimmer verließ. Er war erleichtert, denn sie hatte ein so gutes Gespür für Menschen, daß er sich eigentlich blind darauf verlassen konnte. Er war schon in diesem Augenblick sicher, daß dieser Dr. Küsters am kommenden Ersten seinen Dienst in der Klinik antreten würde.

Schon eine knappe Viertelstunde später hatte er besagten jungen Arzt am Telefon. Der Mann hatte eine angenehme, warme Stimme, und er würde schon in drei Tagen zu einem persönlichen Gespräch in die Kinderklinik Birkenhain kommen.

Diese drei Tage wollte Kay noch warten, bevor er den anderen drei Bewerbern absagte.

Während Kay das Telefongespräch führte, war Hanna wieder hinauf auf die Krankenabteilung gegangen. Schwester Laurie wartete schon mit dem Verbandswagen.

»Dann wollen wir uns jetzt mal um den Peter kümmern, Schwester Laurie.«

»Ich bin bereit, Frau Dr. Martens. Ein armer Kerl, dieser Peter. Es ist nicht einfach, in einem Kinderheim aufzuwachsen. Wenn es auch gut geführt wird, so kann es doch niemals die Liebe von Mutter und Vater ersetzen.«

»Mir tut auch jedes Kind leid, das im Heim aufwachsen muß, aber wir können nur dazu beitragen, daß den Kindern geholfen wird, wenn sie krank sind. Es gibt nun mal zu viele Heimkinder. Doch genug geredet, kümmern wir uns um den Peter, wechseln wir erst einmal die Verbände bei ihm.«

Während Hanna nun mit Schwester Laurie in das Krankenzimmer ging, in dem man den neunjährigen Peter König untergebracht hatte, ging ihr dieser Fall, für den sie sich von Kay die Unterlagen geholt hatte, durch den Kopf. Es war alles ziemlich seltsam mit dem neunjährigen Jungen. Er hatte sich bei einem Brand, der beim Spielen entstanden sein sollte, schwere Verbrennungen an den Beinen und Armen zugezogen und lag nun schon über eine Woche bei ihnen in der Klinik. Er war ein tapferer und geduldiger kleiner Patient. Nur der Ausdruck seiner Augen, die unendlich traurig blickten, gab Hanna von Tag zu Tag mehr zu denken. Noch nicht ein einziges Mal hatte sie den Jungen lächeln sehen. Aus diesem Grund hatte sie sich auch von Kay die Unterlagen geholt, um sich noch einmal sehr gründlich damit zu beschäftigen.

Sie hatten das Zimmer erreicht und traten ein.

»Hallo, Peter, heute wollen wir wieder deine Verbände wechseln und uns anschauen, wie gut die Wunden inzwischen verheilt sind. Wir wollen doch, daß du recht bald wieder gesund wirst und mit deinen Freunden spielen kannst, nicht wahr?«

Ein weiches Lächeln lag auf Hannas Gesicht, als sie nun mit Hilfe von Schwester Laurie sehr behutsam begann, die Verbände an den Armen abzurollen.

»Wenn ich dir weh tu, mußt du es mir sagen, hörst du?«

»Es tut nicht weh, nicht sehr«, beteuerte der Neunjährige.

Aber Hanna sah auf einmal in seinen Augen einen Ausdruck, der nackte Angst widerspiegelte.

»Wovor fürchtest du dich, mein Junge? Willst du es mir nicht sagen?« Aufmunternd lächelte Hanna den Jungen an.

Doch er schüttelte nur wild den Kopf. Hanna nahm sich vor, später noch einmal darauf zurückzukommen. Zuerst mußte sie sich nun um die Brandwunden kümmern. Die Wunden begannen gut zu verheilen, an den Armen genauso wie an den Beinen. Damit konnten sie also mehr als zufrieden sein. Was ihr nur größere Sorgen bereitete, war der seelische Zustand des Jungen, seit sie die Angst in seinen Augen gelesen hatte. Sie mußte sich erst mit den Unterlagen befassen und danach noch einmal mit Kay reden, bevor sie dem Jungen weitere Fragen stellen würde.

So mit ihren Gedanken beschäftigt, legte sie mit Schwester Laurie behutsam die frischen Verbände an.

»So, mein Junge, jetzt lassen wir dich wieder allein. Vielleicht kannst du noch ein wenig schlafen. Ich komme heute mittag noch einmal zu dir, dann unterhalten wir uns ein wenig.«

Sanft strich sie Peter über das dunkle Haar, danach verließ sie mit Schwester Laurie, die dem Jungen noch einen mitleidigen Blick zuwarf, das Krankenzimmer.

*

Nachdem Hanna sich noch einmal gründlich mit den Unterlagen von Peter König beschäftigt hatte, suchte sie Kay auf, der sich in der chirurgischen Ambulanz aufhielt.

»Was gibt es, Hanna?«

»Ich möchte mit dir über Peter König sprechen. Hast du einen Augenblick Zeit?«

»Natürlich, ich bin hier fertig. Gehen wir hinüber in mein Sprechzimmer.«

»Hast du diesen Dr. Küsters schon erreichen können?« wollte Hanna wissen, während sie über den Gang gingen.

»Hab ich. Er wird am Donnerstag zu einem persönlichen Gespräch zu uns in die Klinik kommen.«

»Das ist prima, daß es so rasch klappen kann.«

»Das ist auch meine Meinung«, erwiderte Kay.

Sie betraten Kays Sprechzimmer, und er fragte interessiert: »Was ist mit dem kleinen Peter? Ist mit ihm etwas nicht in Ordnung? Hast du nicht persönlich die Verbände gewechselt?«

»Natürlich habe ich das, und ich bin auch sehr zufrieden. Natürlich wird der Junge noch ein paar Wochen bei uns bleiben müssen. Aber die Verbrennungen sind es nicht, über die ich mir im Augenblick Sorgen mache. Ich habe mir die Unterlagen noch einmal durchgelesen, und mir sind da einige Unklarheiten aufgefallen. Aber erst zu dem Jungen. Er scheint sich vor irgend etwas sehr zu fürchten. In seinen Augen lag ein Ausdruck panischer Angst, als ich zu ihm sagte: Wir wollen doch, daß du recht bald gesund wirst und du mit deinen Freunden spielen kannst.«

»Das ist in der Tat recht eigenartig. Doch was für Unklarheiten sind dir in den Krankenunterlagen aufgefallen?«

»Nun, es wurde doch angegeben, daß der Brand, bei dem sich Peter verletzt hatte, beim Spielen entstanden sei. An sich mag das so gewesen sein. Ich versteh dabei nur nicht ganz, warum ausschließlich Peter so schlimme Brandwunden davongetragen hat und sonst niemand von den anderen Kindern auch nur die kleinste Verletzung aufwies. Ehrlich, Kay, diese Frage möchte ich ja unbedingt geklärt haben. Ich möchte in Erfahrung bringen, vor wem oder was sich dieser neunjährige Bub so fürchtet. Ich werde natürlich vorsichtig forschen und den Jungen zunächst nicht befragen. So lange nicht, bis es ihm bessergeht. Du kennst mich ja. Was ich mir vornehme, das führe ich auch bis zum Ende durch.«

»Eben weil ich dich genau kenne, werde ich dir auch nicht widersprechen. Wenn da wirklich etwas nicht in Ordnung ist, wirst du es schon herausfinden. Wenn ich dir irgendwie helfen kann, sage mir Bescheid.«

»Ich werde es nicht vergessen, Kay. Jetzt jedoch will ich dich nicht länger aufhalten. Ich muß noch hinunter in die Küche und einiges mit Marike Schriewers besprechen.«

»Ist es nicht bald soweit, daß Marike ihr Baby bekommt?«

»In vier Wochen. Aus diesem Grund muß ich auch noch etwas mit ihr besprechen. Sie weist ja schon seit vierzehn Tagen ihre Vertretung ein, und ich interessiere mich natürlich dafür, ob während Marikes Abwesenheit auch alles reibungslos weiterläuft. Immerhin wird sie eine Weile aussetzen.«

»Und ist es schon sicher, daß sie danach ihre Arbeit bei uns wieder aufnehmen wird?«

»Ja, denn ihre Mutter wird das Kleine versorgen.«

»Dann ist ja alles bestens. Du, ich muß mich jetzt aber entschuldigen, ich muß ins Labor hinunter und ein paar Ergebnisse holen. Wir sehen uns dann später.«

Marike Schriewers, mit der Kay und Hanna genau wie mit ihrem Ehemann Martin ein fast freundschaftliches Verhältnis verband, kam sofort auf Hanna zu, als diese die große, geräumige Küche betrat, in der es schon recht hektisch zuging.

»Nun, wie läuft es, Marike?«

»Prima, Hanna. Frau Blomfeld ist eine ausgezeichnete Köchin. Sie wird auch hervorragend mit den Küchenhilfen fertig. Ich habe es nicht anders erwartet, sonst hätte ich sie nicht empfohlen. Ich muß auch zugeben, daß mir die Arbeit nun doch mit jedem Tag schwerer fällt und ich wohl ab nächsten Montag aussetze. Ich muß jetzt an mein Kind denken.«

»Ist doch schon seit vierzehn Tagen mein Reden, Marike. Wenn es nach mir geht, sollten Sie noch nicht einmal mehr diese Woche durcharbeiten. Zuviel des Guten ist auch nicht das Wahre. Wenn man es hier in der Klinik schon ohne Sie schafft, bleiben Sie ruhig gleich morgen daheim. Ihre Mutter hat sich ja bestimmt schon hier bei uns in der Gegend eingelebt, nicht wahr?«

»Das hat sie, Hanna. Sie sagte es mir erst gestern abend, daß sie sich schon riesig auf die Zeit freut, in der die Heide wieder zu blühen beginnt. Es wurde auch Zeit, daß sie endlich aus der Enge der Stadt herauskam. Martin hat sich mit ihr schon immer sehr gut verstanden und er ist sehr froh, daß sie in Zukunft mit uns zusammenleben wird. Ich hatte doch sehr häufig große Sehnsucht nach ihr.«

»So geht es mir auch, Marike. Zum Glück ist meine Mutter nicht allein. Wenn auch mein Vater in den vergangenen Monaten immer etwas kränkelt, weil sein Herz nicht mehr so recht mitmachen will, so hat meine Mutter doch wenigstens jemanden, den sie umsorgen kann. Ihre Mutter dagegen lebte ja völlig auf sich gestellt in der Stadt.«

Bevor Marike etwas darauf entgegnen konnte, trat Irma Blomfeld, eine zur Fülle neigende Frau von gut vierzig Jahren, zu ihnen und wollte mit einem freundlichen Lächeln wissen: »Haben Sie einen Wunsch, Frau Dr. Martens?«

»Nein, Frau Blomfeld, ich wollte nur nach Frau Schriewers sehen und mich einen Augenblick mit ihr unterhalten. Aber da Sie gerade hier sind… Sind Sie mit den Arbeitsbedingungen bei uns zufrieden? Kommen Sie schon mit allen klar?«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens. Es läßt sich hier auch ausgezeichnet arbeiten. Ich bin vollauf zufrieden, und ich komme auch schon mit allem allein klar. Frau Schriewers sollte sich langsam mehr schonen und an das Baby denken, das sie in Kürze erwartet.«

»Das habe ich ihr auch gerade geraten. Ich will auch jetzt wieder gehen und Sie nicht von der Arbeit abhalten. Ich weiß ja, daß es um diese Zeit jede Menge Arbeit gibt, wenn das Essen zubereitet wird. Es bleibt auch dabei, daß ich es mit Ihnen genauso halte wie mit Frau Schriewers. Immer am Sonnabend nach der Mittagszeit werde ich mit Ihnen den Speiseplan für die kommende Woche besprechen. Also dann, ich muß wieder auf die Krankenstation hinauf.«

Hanna reichte Marike lächelnd die Hand und nickte Irma Blomfeld freundlich zu, danach verließ sie die Küche und ging zur Krankenabteilung hinauf.

*

Das persönliche Vorgespräch zwischen Kay und Michael Küsters, bei dem auch Hanna anwesend war, verlief für alle drei sehr erfreulich. Schon als der sympathische junge Arzt das Sprechzimmer Kay Martens’ betrat, waren beide angenehm überrascht. Im Verlauf des Gespräches stellte sich vor allen Dingen für Hanna sofort heraus, daß sie und Kay sich für den Richtigen entschieden hatten. Nicht das angenehme Äußere allein, sondern auch, wie er sich gab: höflich, zurückhaltend, und dabei doch mit einem verschmitzten Ausdruck in den Augen. Die für Kay und Hanna sehr wichtige Aussage über seine Fähigkeiten als Arzt ließen die Geschwister und den zukünftigen Mitarbeiter schnell einig werden. Dr. Michael Küsters würde also in gut einer Woche, zum ersten Februar, seinen Dienst in der Kinderklinik Birkenhain antreten. Es blieb ihm die Zeit, sich nach einer vorläufigen Unterbringung umzusehen.

Hanna empfahl ihm, sich erst einmal in der Pension »Haus Daheim« ein Zimmer zu nehmen.

»Also, Dr. Küsters, dann auf die kommende Woche und auf gute Zusammenarbeit«, sagte Kay, als sich der neue Mitarbeiter von Hanna und ihm verabschiedete, und reichte ihm mit einem herzlichen Lächeln seine Rechte.

Als Hanna und Kay wieder allein waren, fragte Hanna: »Zufrieden, Bruderherz?«

»Und ob, Hanna. Du hast mal wieder das richtige Händchen gehabt. Ich bin sicher, daß wir in Dr. Küsters einen Arzt gefunden haben, der hervorragend in unser Team paßt. Die Sache ist also bestens gelaufen.«

»Nun, wir werden sehen. Ich werde dann dafür sorgen, daß unsere Mitarbeiter und auch die Schwestern, die abkömmlich sind, am nächsten Freitag in der Kantine zusammenkommen, damit du unseren neuen Mitarbeiter einführen kannst, nicht wahr?«

»Einverstanden, so können wir es halten, dann wissen alle sofort Bescheid«, erwiderte Kay, und für diesen Tag war das Thema Michael Küsters für Hanna und Kay abgehakt.

Am Freitag der nächsten Woche, früh um acht Uhr, waren dann alle Mitarbeiter der Geschwister und auch der größte Teil der Schwestern in der Kantine versammelt, als Hanna und Kay Martens mit Michael Küsters eintraten.

Lächelnd sagte Kay: »Hiermit möchte ich Ihnen allen unseren neuen Assistenzarzt Michael Küsters vorstellen. Er nimmt ab heute den Platz von Dr. Frerichs ein.«

Halb verdeckt von Oberschwester Elli und Schwester Tina standen die beiden Operationsschwestern Barbara und Christina. Schon als der Chefarzt und seine Schwester mit dem jungen Arzt eintraten, weiteten sich Schwester Christinas Augen entsetzt. Sie starrte auf den jungen Arzt, als wäre dieser ein Geist, und ihre Gestalt wankte.

Barbara, die als einzige die Fassungslosigkeit der Kollegin und Freundin bemerkte, flüsterte ihr, für die vor ihnen Stehenden nicht verständlich, zu: »Haltung, Christina! Haltung…, und immer lächeln!«

Schon lag auf Christinas Gesicht wieder ein Lächeln, wenn auch ein sehr gezwungenes.

Schwester Christina war die zweite Operationsschwester. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt, hatte eine schlanke Figur. Dunkle, große Augen, die immer sehr ernst blickten, verliehen dem schmalen, ebenmäßigem Gesicht einen besonderen Reiz. Während der Dienststunden trug sie ihr dunkelbraunes, halblanges Haar meistens zusammengebunden oder hochgesteckt unter ihrem Schwesternhäubchen verborgen.

Nicht einmal Barbara, mit der sie sich in der Zeit, in der sie nun schon in der Kinderklinik arbeitete, sehr angefreundet hatte, konnte ahnen, was in diesen Minuten in ihr vorging. Mit dem jungen Arzt hatte sie eine Vergangenheit eingeholt, der sie vor mehr als fünf Jahren, als sie sich noch in der Ausbildung befand, entflohen war.

Nimm dich zusammen, raunte eine mahnende Stimme in ihrem Innern… Willst du, daß dir jeder gleich ansieht, was mit dir los ist?

Während Michael Küsters zur Begrüßung Hände schüttelte, gelang es Christina, wenigstens nach außen hin ihre Fassung zurückzuerlangen.

Dann stockte sekundenlang auch der Schritt des jungen Arztes.

Das ist doch Christina, schoß es ihm gedankenschnell durch den Kopf, und ebenfalls nur mit größter Mühe wahrte er seine Fassung.

Wie aus weiter Ferne drang die Stimme seiner jungen Vorgesetzten an sein Ohr, die in diesem Augenblick lächelnd sagte: »Und das, Dr. Küsters, sind unsere Oberschwestern Elli und Tina und unsere Operationsschwestern Barbara und Christina.«

Christina sah Michael Küsters nicht an, als sie ihm ihre Hand reichte, aber bei der kurzen Begrüßung durchzuckte es sie wie ein elektrischer Schlag. Als habe sie sich verbrannt, zog sie schnell ihre Hand zurück.

Hanna kam das Benehmen der beiden ein wenig sonderbar vor, da sie aber noch die übrigen Schwestern vorstellen mußte, machte sie sich zunächst darüber keine Gedanken.

Christina atmete erst auf, als sie mit Barbara und den anderen Schwestern die Kantine verlassen konnte. Sie wollte loslaufen, aber Barbara hielt sie am Kittel fest und zischte ihr leise zu: »Nimm dich zusammen, Christina. Du tust ja gerade so, als würde dich der Neue fressen wollen. Ich finde, er ist ein sehr netter und sympathischer Mensch.«

Während Barbara neben Christina den anderen Schwestern über den Gang folgte, wollte sie wissen: »Woher kennst du ihn, Christina? Sag jetzt nicht, daß es nicht stimmt.«

»Ich habe ihn vor etlichen Jahren kennengelernt. Aber bitte, frag mich nicht, ich will und kann nicht darüber reden. Wenn du wirklich meine Freundin bist, erfüllst du mir diese Bitte. Die Sache geht nur mich allein etwas an.«

»Wie du willst, Christina. Nur, wenn wir Freundinnen sind, dann solltest du mir auch ruhig ein wenig mehr Vertrauen entgegenbringen.«

»Ich kann nicht, nicht jetzt, Barbara. Vielleicht werde ich dir später einmal meine ganze Geschichte erzählen. Aber noch bin ich nicht soweit. Die unverhoffte Begegnung, mit der ich nie im Leben gerechnet hätte, hat alles wieder aufgewühlt. Wenn doch dieser Tag nur schon vorbei wäre.«

»Da mußt du schon noch so einige Stündchen durchhalten, liebe Christina, denn unser Tag beginnt erst. Denk daran, es steht heute noch eine Operation auf dem Plan. Da müssen wir fit sein. Gerade jetzt darfst du dir auch nicht den kleinsten Fehler erlauben.«

»Keine Angst, Barbara, ich werde mich schon zusammennehmen. Ich werde Beruf und private Angelegenheiten schon nicht durcheinanderbringen. Laß uns in den OP gehen und mit unseren Vorbereitungen beginnen.«

Erst als sie nach Dienstschluß oben in dem kleinen Zimmer war, das sie mit Schwester Barbara teilte, wurde Christina sehr still und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Da die Freundin noch einmal in die Kantine hinuntergegangen war, um eine Kleinigkeit zu essen, war sie ungestört.

Sie dachte an die unverhoffte Begegnung mit dem Mann, mit dem ihre Vergangenheit sie eingeholt hatte.

Ein Mädchen von neunzehn Jahren war sie gewesen und noch in der Ausbildung, als sie vor über fünf Jahren Michael Küsters in Erlangen kennengelernt hatte. Er hatte dort in ihrer Heimatstadt studiert. Es war eine glückliche, aber kurze Zeit gewesen, bis sie jäh aus ihren glücklichen Träumen gerissen worden war. Es war Christina plötzlich zumute, als wäre es erst gestern gewesen, als sie den Mann, den sie über alles liebte, mit dieser anderen Frau gesehen hatte. Zutiefst getroffen hatte sie sich zurückgezogen, sich sogar verleugnen lassen, ohne eine Erklärung zu fordern.

Kurz darauf hatte sie selbst aus bestimmten Gründen ihre Heimatstadt verlassen, ohne Michael noch einmal zu sprechen. So vieles war in der Folgezeit geschehen. Und nun, aus heiterem Himmel, führte das Schicksal sie einander wieder über den Weg. Sollte alles wieder von vorn beginnen? Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, traten ihr die Tränen in die Augen.

Erst als sie Schritte hörte, die sich draußen der Tür näherten, fuhr sie sich mit einer unwilligen Geste über die Augen. Sie wollte nicht, daß Barbara sah, wie es in Wirklichkeit in ihr aussah. Wenn sie inzwischen auch schon sehr lange und sehr gut mit ihrer Kollegin befreundet war, so gab es doch in ihrem Leben Dinge, die nur sie allein etwas angingen, von denen niemand wissen durfte.

*

Michael Küsters erging es an seinem ersten Tag in der Kinderklinik Birkenhain genauso wie Schwester Christina. Auch er mußte seine Gedanken an private Dinge ausschalten, bis er nach Dienstschluß in seinen Wagen stieg und zur Pension »Haus Daheim« fuhr, wo er tatsächlich ein freies Zimmer bekommen hatte.

Christina, das Mädchen, das er in all den Jahren nicht vergessen konnte… Ausgerechnet hier in der Heide traf er sie wieder. Er hatte nie begriffen, warum sie damals so plötzlich nichts mehr von ihm wissen wollte und so ohne Angabe von Gründen aus seinem Leben verschwunden war. Obwohl er zu dieser Zeit noch nicht fertig war, stand für ihn damals schon ernsthaft fest, daß er in Christina das Mädchen gefunden hatte, mit dem er sich eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollte. Es war doch für sie beide die erste große Liebe ihres Lebens gewesen. So hatte er es gewußt und auch in seinem Herzen gefühlt. Es hatte ihn dann um so härter getroffen, als sie so spurlos aus seinem Leben verschwand. Sein zukünftiger Beruf war es dann, der ihm half, den ersten Schmerz zu vergessen und langsam zu verwinden. Aber von diesem Tag an hatte es für ihn keine andere Bindung zu einer Frau gegeben. Denn trotz allem hatte er Christina nie vergessen können. Nun war sie hier, und er konnte sie jeden Tag sehen. Er würde sie, wenn er sie einmal allein antraf, fragen, warum sie ihn vor Jahren verlassen hatte, warum sie spurlos aus seinem Leben verschwunden war.

Noch immer tief in Gedanken, betrat er wenig später die Pension und wäre fast mit der Pensionswirtin Anne Buschen zusammengeprallt.

»Einen schönen ersten Tag in der Klinik gehabt, Herr Doktor?« fragte Anne Buschen, nachdem er sich höflich bei ihr entschuldigt hatte.

»Ja, ich habe sehr nette Kolleginnen und Kollegen kennengelernt, Frau Buschen. Die Kinderklinik ist alles in allem, wie ich schon heute am ersten Tag erkennen konnte, ein ausgezeichnet geführtes Haus. Ich werde mich wohl fühlen und gern dort arbeiten.«

»Ja, es stimmt. Dr. Martens und seine Schwester sind hier bei uns in der Gegend auch sehr beliebt. Es sind tüchtige Menschen, vor deren Können man Hochachtung haben muß. Wenn meine Jüngste, die Babsi, einmal krank werden sollte, kommt für uns auch nur Birkenhain in Frage. Aber ich will Sie mit meinen Reden nicht aufhalten. Der erste Tag ist immer der anstrengendste. Wann zu Abend gegessen wird, das wissen Sie ja.«

Mit einem freundlichen Lächeln verschwand Anne Buschen hinter der nächsten Tür.

Michael Küsters ging hinauf in sein Zimmer. Er mußte eine Weile mit seinen Gedanken allein sein. Zuviel war mit der kurzen Begegnung mit Christina an diesem Tag auf ihn eingestürmt und hatte alle Fragen aufs neue wieder aufwachen lassen. Er wußte, nur eine Aussprache mit Christina konnte Aufklärung bringen. Er mußte nur den Augenblick abwarten, wenn er Christina allein antraf. Eine Aufklärung war ihm Christina ganz einfach schuldig.

Michael Küsters Erwartungen, Christina allein zu treffen, erfüllten sich gleich am nächsten Tag, kurz nachdem er seinen Dienst in der Klinik angetreten hatte. Es kam für ihn völlig überraschend.

Er kam gerade aus der Röntgenabteilung, als er ihr plötzlich gegenüberstand.

Während Christinas Gesicht die Farbe verlor und sie einen Schritt zurückwich, stieg ihm eine dunkle Röte ins Gesicht. Sekundenlang starrten sie sich an. Bevor Christina jedoch die Flucht ergreifen konnte, Michael sah es ihrem Gesicht an, griff er nach ihrer Hand und bat: »Lauf bitte nicht davon, Christina. Ich bin so froh, dich endlich wiedergetroffen zu haben. Laß uns miteinander reden. Wir können doch nicht so tun, als ob wir uns nicht kennen. Ich muß mit dir reden.«

Mit einem heftigen Ruck entzog Christina ihm ihre Hand. Ihr Gesicht verschloß sich noch mehr, und mit tonloser Stimme entgegnete sie: »Tut mir leid, ich wüßte nicht, worüber es zwischen uns noch etwas zu reden gibt.« Ihr Kinn reckte sich in die Höhe, und ohne ein weiteres Wort zu sagen wandte sie sich ab und ließ ihn einfach stehen.

»Christina, bitte, du kannst doch nicht einfach so gehen«, rief Michael Küsters der jungen Schwester mit gedämpfter Stimme nach, jedoch ohne Erfolg, denn im nächsten Augenblick schon war Christina hinter einer Tür verschwunden.

Michael starrte auf die Tür, die sich hinter Christina geschlossen hatte. Er begriff überhaupt nichts mehr. Warum nur war Christina ihm gegenüber so eigenartig? Man konnte es sogar feindselig nennen. Was hatte er ihr getan, daß sie so reagierte? Er war sich keiner Schuld bewußt. Sie war es doch auch gewesen, die vor über fünf Jahren auf einmal nicht mehr für ihn zu sprechen gewesen war und danach spurlos verschwand. Und dabei war er selbst ihrer Liebe so sicher gewesen. Er hatte sich wohl getäuscht. Was für ihn die große Liebe war, war für Christina nur ein Spiel gewesen. Aber selbst wenn es so gewesen sein sollte, war das auf keinen Fall ein Grund, sich jetzt ihm gegenüber so feindselig zu verhalten.

Michael Küsters ahnte nicht, daß Christina nur nach außen hin so feindselig wirkte, daß sie sich damit stärken wollte. Auf der einen Seite glaubte sie, ihn zu hassen, und hatte eine furchtbare Angst davor, daß er etwas herausfinden könnte, was sie ihm niemals freiwillig preisgeben würde. Doch auf der anderen Seite zog es sie mit allen Fasern ihres Herzens erneut zu ihm hin. So wie es vor all den Jahren gewesen war.

Mit wild pochendem Herzen stand sie hinter der Tür, beide Hände vor die Brust gepreßt. Sie konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten, die ihr in die Augen schossen.

»Was ist denn mit dir los, Christina? Was ist passiert?« Die Stimme ihrer Kollegin Barbara ließ Christina zusammenzucken.

Nur mit Mühe gelang es ihr, sich zu fassen, und mit spröder Stimme entgegnete sie: »Es ist nichts, Barbara. Ist schon wieder alles in Ordnung.«

»Um nichts weint man nicht, Christina. Bin ich nun deine Freundin, oder bin ich es nicht? Warum willst du mir nicht sagen, was auf einmal mit dir los ist?«

»Bitte, Barbara, wenn du meine Freundin bist, dann frage bitte nicht. Ich kann dir nichts sagen. Ich kann es doch einfach nicht. Und bitte nicht böse sein.«

»Ich bin dir nicht böse, Christina. Ich bin nur ein wenig enttäuscht, daß du so gar kein Vertrauen zu mir hast. Ich sehe doch, daß dich etwas quält, dir schwer zu schaffen macht. Du weißt, wie sehr ich dich mag. Ich möchte dir doch nur helfen. Du weißt, daß ich mich nicht in dein Vertrauen drängen will. Du kennst mich, denn ich habe dich bisher auch nie gefragt, warum du deine freien Tage und Wochenenden immer allein verbringen willst. Ich habe deinen Wunsch in dieser Hinsicht immer respektiert, obwohl ich mich immer und immer wieder gefragt habe, warum du gerade aus diesen Tagen ein solches Geheimnis machst. Ich werde dich auch jetzt nicht bedrängen. Du sollst jedoch wissen, daß, wann immer dir danach ist, du mit mir über alles reden kannst.«

»Es gibt Dinge, über die ich mit niemandem reden kann, Barbara. Bitte verzeih mir, aber ich kann nicht, noch nicht. Wenn es einmal der Fall sein sollte, wirst du die erste sein, die alles erfährt. Jetzt laß uns an unsere Arbeit denken, sonst kommt der Chef und findet nichts vorbereitet vor.«

»Wie du willst, Christina. Also dann, auf geht’s, an die Arbeit.«

*

Es kam zwar selten vor, doch an diesem Morgen hatte Hanna doch wahrhaftig verschlafen. Erst lautes Pochen an ihrer Schlafzimmertür und eine helle Frauenstimme ließen sie hochschrecken.

»Es ist gleich halb sieben, Frau Doktor. Aufstehen, es wird allerhöchste Zeit.«

Mit einem Ruck sprang Hanna aus dem Bett und rief: »Ich komme sofort, Füchsin. Gießen Sie mir ruhig schon den Kaffee ein!«

Keine zehn Minuten später betrat Hanna den kleinen, gemütlich eingerichteten Eßraum in ihrem neuen Heim.

Der Duft des Kaffees stieg ihr in die Nase, und auf dem Teller lagen die zwei Hälften eines knusprigen Brötchens, mit Käse und rohem Schinken belegt.

»Guten Morgen, Füchsin«, wünschte Hanna und sah lächelnd auf die rot­haarige, etwas vollschlanke junge Frau, die sich mit den Blumen auf der Fensterbank beschäftigte.

»Guten Morgen, Frau Doktor. Ich wünsche Ihnen einen guten Appetit. Ich habe in der Küche noch frisch ausgepreßten Orangensaft. Darf ich Ihnen ein Glas davon bringen?«

»Gern, Füchsin, aber ein halbes Brötchen reicht heute. Danke, daß Sie alles schon vorbereitet haben. Wenn ich noch einmal verschlafen sollte, bitte wecken Sie mich dann ruhig eine Viertelstunde früher. Es ist nur gut, daß heute am Sonnabend der Tag drüben in der Klinik ruhig sein wird.«

Während des kurzen Gespräches trank Hanna ihren Kaffee und aß dazu eine Brötchenhälfte.

Jolande Rilla, von Hanna auf ihren eigenen Wunsch seit kurzem nur Füchsin genannt, holte den Orangensaft aus der Küche, und danach wurde es für Hanna auch höchste Zeit, hinüber in die Klinik zu gehen, denn die Uhr zeigte ein paar Minuten vor sieben.

Rasch zog sich Hanna eine warme Strickweste über, schlüpfte in ihre gefütterten Stiefeletten und verließ das Haus. Mit raschen Schritten, denn es war auch an diesem Februarmorgen draußen sehr kalt, eilte sie durch den Park hinüber ins Klinikgebäude.

Hanna war gerade dabei, in bequeme Schuhe zu schlüpften, als es an die Tür klopfte und kurz darauf Kay in das Zimmer trat.

»Guten Morgen, Hanna, ich habe dich schon vermißt«, sagte er neckend.

»Guten Morgen. Mein Bett war so mollig, daß ich wahrhaftig verschlafen habe. Wenn die Füchsin mich nicht geweckt hätte, würde ich wohl jetzt noch in den Federn liegen. Zum Glück kann ich mich auch in solchen Fällen auf sie verlassen. Es hat ja auch gerade noch mit der Zeit geklappt.«

»Es war nur ein Scherz von mir, Hanna. Der Grund, warum ich zu dir komme, ist ein anderer. Du hast doch neulich gesagt, daß du wegen des Jungen, ich meine den Peter König, etwas unternehmen willst, weil dir einiges unklar ist. Hast du das noch immer vor, oder hast du deine Absicht inzwischen geändert? Ich wollte dich schon gestern abend danach fragen, aber du warst so plötzlich verschwunden.«

»Ich habe meine Absicht keineswegs geändert, Kay. Mir lag aber zunächst daran, abzuwarten, bis es dem Jungen etwas bessergeht. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich versuchen, den Jungen behutsam anzuforschen. Erst wenn da etwas zutage kommt, werde ich mich mit der Leiterin des Städtischen Kinderheimes in Celle in Verbindung setzen.«

»Städtischen Kinderheim, Hanna? Ich war bis jetzt in dem Glauben, daß der Junge in dem privaten Heim ›Haus Maria‹, lebt. Gehört das nicht auch zu Celle?«

»Schon, Kay, aber Peter König lebt im Städtischen Heim, das sehr streng geführt wird.«

»Ach, so ist das, dann wundert es mich ja eigentlich nicht, daß der Junge verschüchtert ist. Ich habe Herrn Tönnis, den Heimleiter, einmal persönlich kennengelernt. Er ist nicht gerade ein überall beliebter Zeitgenosse. Ein strenger Mann.«

»Manchmal geht es wohl nicht anders, Kay. Ich selbst bin auch nicht für übermäßige Strenge. Doch wenn in einem solchen Heim viele Kinder leben, wird es für die Betreuer auch nicht immer leicht sein. Man muß in solchen Dingen immer beide Seiten sehen. Nun, ich werde diesen Herrn sicherlich bald persönlich kennenlernen. Bis jetzt glaubte ich, daß das Heim auch von einer Frau geleitet würde, so wie es im Heim ›Haus Maria‹ der Fall ist.«

»So war es bis vor einem Jahr, als Herr Tönnis die aus Altersgründen ausscheidende Leiterin ablöste.«

»Ach, so ist das, das wußte ich nicht. Spielt ja auch keine Rolle. Da müssen wir eben sehen, wie wir mit diesem Herrn Tönnis in Zukunft klarkommen.«

Als Hanna auf die Uhr sah, sagte Kay lächelnd: »Ich weiß, es wird Zeit für uns, die Pflichten rufen. Du gehst ja bestimmt zuerst hinauf auf die Station. Ich habe ebenfalls zu tun und will dich nicht länger aufhalten.«

*

Das Wochenende und auch die ersten Tage der neuen Woche gingen ohne besondere Vorkommnisse vorüber.

Michael Küsters hatte zwar noch ein paarmal versucht, Christina allein zu sprechen, doch wie beim ersten Mal hatte sie ihn einfach stehen lassen. Es war ihm jedoch schon aufgefallen, daß Christina sich in den wenigen Tagen, in denen er nun in der Klinik arbeitete, sehr verändert hatte. Ihr Gesicht war schmaler geworden, und sie war jetzt immer sehr blaß. Sie wirkte irgendwie fahrig und nervös. Michael Küsters registrierte diese Tatsachen mit Besorgnis, sogar mit leichtem Befremden. War es allein seine Anwesenheit in der Klinik, die diese Veränderung hervorgerufen hatte? Seiner Meinung nach konnte das nicht der Grund sein, und er konnte ihr Verhalten nicht verstehen. Er wußte inzwischen, daß Christina mit ihrer Kollegin, der zweiten Operationsschwester, in einem gemeinsamen Zimmer in der Klinik wohnte, so wie es auch bei einigen anderen Schwestern der Fall war. Vielleicht konnte er durch Schwester Barbara herausbekommen, wann Christina ihren freien Tag hatte. Aufgeben würde er auf keinen Fall. Dazu war ihm alles, was mit Christina zusammenhing, viel zu wichtig.

Am Mittwochmorgen, er assistierte dem Chef bei einer Blinddarmoperation, konnte er Christina nirgendwo entdecken. Es waren nur Schwester Barbara und zwei weitere junge Schwestern anwesend.

Nach Beendigung der Operation, als er einen Moment mit Schwester Barbara allein war, fragte er: »Wo haben Sie denn heute Ihre Kollegin Schwester Christina gelassen?«

»Christina hat heute ihren freien Tag, Herr Dr. Küsters«, antwortete die junge Schwester und sah ihn abwartend an, ob er vielleicht noch weitere Fragen stellen würde. Aber Michael sagte nur: »So, sie hat heute ihren freien Tag. Vielen Dank für die Auskunft, Schwester Barbara.«

Gegen elf sah Michael zufällig aus dem Fenster des Ärztezimmers, in dem er sich gerade aufhielt, wie Christina das Klinikgebäude verließ und auf den Parkplatz zuging, auf dem das Pflegepersonal und die Ärzte ihre Wagen abstellten. Von seinem Standort aus konnte er beobachten, daß sie sich immer wieder umschaute. Es sah so aus, als habe sie Angst davor, daß ihr jemand folgte. Eigenartig, dachte Michael und verharrte auf seinem Platz. Er würde so wenigstens feststellen können, welchen Wagen Christina fuhr. Zu gern wäre er ihr in diesem Augenblick gefolgt, um sie endlich einmal allein und außerhalb der Klinik zu treffen und sie zu einem Gespräch zu zwingen.

So mit seinen Gedanken beschäftigt, sah er einen kleinen weißen Golf vom Parkplatz kommen und in Richtung des hohen, schmiedeeisernen Torbogens davonfahren. Wo mag sie nur hinfahren? dachte er und sah dem Wagen nach, bis er seinen Blicken entschwunden war.

Michael Küsters ahnte nichts davon, daß es in Christinas Leben ein großes Geheimnis gab, das sie noch niemandem preisgegeben hatte, nicht einmal ihrer einzigen Freundin, Barbara.

»So in Gedanken, Dr. Küsters?«

Es wag Kay, der ins Ärztezimmer getreten war. Michael Küsters, der das Eintreten des Chefs völlig überhört hatte, fuhr erschrocken herum.

»Entschuldigen Sie, Herr Dr. Martens, ich war wirklich einen Moment mit meinen Gedanken woanders.«

»Und sonst, alles in Ordnung? Fühlen Sie sich hier bei uns auf Birkenhain wohl?«

Prüfend sah Kay seinen neuen Mitarbeiter an, der einen winzigen Augenblick zögerte und dann entgegnete: »Ich fühle mich hier in der Klinik wohl, Herr Dr. Martens, und auch in der Pension ›Haus Daheim‹ bin ich gut untergekommen. Es ist ein sehr ruhiges Haus.«

Kay hatte das kurze Zögern wohl bemerkt und dachte bei sich: Scheint also doch nicht alles in Ordnung zu sein. Irgendwie kam ihm der sympathische junge Mann auch ein wenig verändert vor. Er ging jedoch nicht weiter auf diesen Punkt ein, sondern sagte freundlich lächelnd: »Es ist mir klar, daß die Pension für Sie nur eine Übergangslösung sein kann. Ich werde mich zwischenzeitlich auch umhören, ob wir für Sie nicht in der Nähe eine kleine Appartementwohnung finden. Kümmern Sie sich jetzt bitte darum, daß das Mädel von Zimmer vierzehn nach unten zum Röntgen gebracht wird. Werten Sie die Aufnahmen anschließend gleich aus, und bringen Sie mir die Ergebnisse in mein Sprechzimmer hinüber.«

Als Christina gegen Abend in die Klinik zurückkam, war Barbara schon in ihrem gemeinsamen Zimmer.

»Nun, Christina, hast du den Tag gut verlebt?« Fragend sah sie Christina an.

»Ich bin zufrieden, Barbara. Und wie ist es für dich heute hier gelaufen? War viel zu tun?«

»Eine Blinddarmoperation, mehr nicht. Aber unser Neuer, Dr. Küsters hat nach dir gefragt.«

»Er hat nach mir gefragt?« Erschrocken sah Christina die Freundin an.

»Ja, sag ich doch.«

»Und, was hast du ihm geantwortet?«

»Na, was schon. Natürlich, daß du heute deinen freien Tag hast.«

»Sonst nichts, Barbara?« Ein fremder Ausdruck flackerte in Christinas Augen.

»Nein, sonst nichts. Ich weiß ja selbst nicht, wo du deine freien Tage verbringst. Ich möchte sowieso gern wissen, was in den letzten Tagen eigentlich mit dir los ist. Es geht mich zwar nichts an, was da zwischen dir und dem Neuen spielt. Aber ich würde mich an deiner Stelle mehr zusammennehmen, damit nicht noch am Ende der Chef oder die Chefin etwas merken.«

»Ich versuche schon, mich zusammenzunehmen, Barbara. Ich kenne Michael Küsters. Es ist sechs Jahre her, als ich ihn damals in meiner Heimatstadt Erlangen kennengelernt hatte. Michael war meine erste große Liebe. Wir waren so glücklich, daß ich dumme Gans geglaubt habe, es würde auch so bleiben. Oft hatte Michael mir gesagt, wie sehr er mich liebt, daß wir, wenn er sein Studium abgeschlossen hätte, heiraten würden. Alles habe ich ihm geglaubt. Alles, bis zu dem Tag, an dem ich ihn mit einer anderen sah, die ihm gerade um den Hals fiel. Ich habe mich so gedemütigt gefühlt, daß ich ihn weder wiedersehen noch mit ihm sprechen wollte. Kurze Zeit nach diesem Zwischenfall habe ich Erlangen für immer verlassen. Es war ein schlimmer Schock für mich, als ich ihm plötzlich wieder gegenüber stand. Jetzt will er immer mit mir sprechen. Aber ich kann und will es einfach nicht.«

Mit einer hastigen Bewegung fuhr Christina sich über die Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten.

»Das habe ich ja nicht ahnen können, Christina. Warum hast du nicht schon eher zu mir darüber gesprochen?«

»Ich konnte nicht, Barbara.«

»Du liebst ihn doch aber noch immer, nicht wahr? Deine ganze Reaktion läßt überhaupt keinen anderen Schluß zu.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen, Barbara? Ich hasse ihn, und ich wollte ihm nie wieder im Leben begegnen. Warum muß er gerade bei uns auf Birkenhain arbeiten? Warum gerade hier?«

»Wo Haß ist, da ist auch noch Liebe, Christina. Du hättest ihn damals fragen sollen, wer diese Fremde war. Mit deiner Flucht hast du gerade das Falsche getan. Wenn er unbedingt mit dir reden will, dann willige doch ein. Schafft die alte Geschichte aus der Welt. Er arbeitet nun mal hier bei uns auf Birkenhain.«

»Ich kann nicht, Barbara. Ach, es ist alles so verfahren. Am liebsten möchte ich einfach davonlaufen.«

»Spinnst du, Christina, willst du etwa dein ganzes Leben lang vor etwas davonlaufen? Redet miteinander, schafft die alte Geschichte aus der Welt, damit wenigstens eine gute Basis für ein gemeinsames Arbeiten entsteht.«

»Du hast gut Reden, du bist nicht betroffen. Aber lassen wir das jetzt. Ich bin müde und möchte mich gleich schlafen legen, damit ich für morgen früh wieder ausgeruht und munter bin. Wenn ich überhaupt schlafen kann. Du bist doch nicht böse, Barbara, oder? Mich hat das Reden über Vergangenes innerlich erneut aufgewühlt.«

»Dafür wirst du dich morgen bestimmt besser fühlen, Christina. Wenn man erst einmal mit einem Menschen über seine Probleme reden kann, so werden sie gleich kleiner. Schlaf, oder versuch zu schlafen. Ich bin auch ganz leise, wenn ich wieder zurückkomme.«

Christina nickte nur und wich den Blicken der Freundin aus, die nun aus dem Zimmer ging. Sie fühlte sich in diesem Moment überhaupt nicht gut, weil sie Barbara immer noch nicht vollständig ins Vertrauen gezogen hatte. Sie schämte sich, denn sie spürte, daß sie in Barbara eine wahre Freundin gefunden hatte.

*

Als Hanna am nächsten Morgen den Gang entlang ging, der zum Operationsbereich führte, hörte sie hinter der Tür zum Waschraum laute Stimmen. Eine Männerstimme, in der sie sofort die des neuen Mitarbeiters Michael Küsters’ erkannte, sagte: »Wie lange willst du dich eigentlich noch dagegen wehren, mit mir zu reden? Habe ich dir etwas getan, was dich veranlaßt, mich wie den letzten Menschen zu behandeln? Ich will doch nur mit dir reden, sonst nichts. Du arbeitest hier in der Klinik und ich nun auch. Sag mir, was ich dir getan habe, aber rede endlich mit mir.«

»Laß mich in Ruhe, Michael. Ich will nicht. Laß mich endlich in Frieden.«

Es war die Stimme der Operationsschwester Christina.

Überrascht sah Hanna auf die Tür. Damit, daß sich die beiden kannten, hatte sie nicht gerechnet.

Bevor Hanna irgendwie einschreiten konnte, öffnete sich die Tür, und Schwester Christina kam aus dem Waschraum gestürzt. Sie lief an der verdutzten Ärztin vorbei und verschwand hinter einer Tür.

»Aber Christina, renn doch nicht schon wieder einfach davon«, hörte Hanna erneut die Stimme Michael Küsters, und plötzlich stand er vor ihr, prallte fast mit ihr zusammen.

»Oh, Verzeihung, Frau Dr. Martens«, murmelte Michael erschrocken, während eine dunkle Röte in sein Gesicht stieg.

»Schon gut, Dr. Küsters, es ist ja nichts passiert. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, daß wir uns hier in einer Klinik befinden. Was immer Sie und Schwester Christina zu bereden haben, tun Sie es in Zukunft bitte mit geringerer Lautstärke. Sollte es um ernste Probleme gehen, so sind mein Bruder und ich jederzeit bereit, zu vermitteln.«

»Ich muß noch einmal um Entschuldigung bitten, Frau Dr. Martens. Es war allein meine Schuld, aber es gibt da zwischen Schwester Christina und mir etwas zu klären. Ich möchte aber im Augenblick nicht näher darauf eingehen. Ich werde versuchen, es außerhalb des Hauses zu regeln.«

»In Ordnung, Dr. Küsters. Aber wie ich schon sagte, haben mein Bruder und ich immer ein offenes Ohr für die Probleme und Sorgen unserer Mitarbeiter.«

»Vielen Dank, ich werde es zu gegebener Zeit nicht vergessen.«

Ein kurzes Nicken, und etwas zu hastig nach Hannas Ansicht entfernte sich Michael Küsters.

Hanna sah ihm einen Moment nachdenklich nach und dachte bei sich: Also doch, er und Schwester Christina kennen sich demnach von früher.

Ihr war schon aufgefallen, daß sich die junge Operationsschwester in den letzten Tagen sehr zum Nachteil verändert hatte. Sie war nervös und zerfahren, irgendwie immer auf der Hut. Wenn das mit dem neuen Mitarbeiter im Zusammenhang stehen sollte, wurde es Zeit für eine Regelung der Angelegenheit, da sowohl Schwester Christina als auch Michael Küsters gebraucht wurden. Doch zunächst wurden Hannas Gedanken an die Schwester und den jungen Arzt in den Hintergrund gedrängt. Sie mußte pünktlich ihre Sprechstunde beginnen. Die kleinen Patienten warteten schon mit ihren Müttern oder Omis auf sie.

Hanna hatte gerade den letzten der ambulant zu behandelnden kleinen Patienten versorgt, als Schwester Regine nach kurzem Anklopfen das Untersuchungszimmer betrat und sagte: »Die Oberschwester schickt mich, Frau Dr. Martens. Sie möchten doch bitte, wenn es Ihre Zeit erlaubt, hinauf auf die Krankenstation kommen. Es geht um den kleinen Peter König.«

»Der Peter, was ist denn mit dem Jungen?«

»Er weint die ganze Zeit und läßt sich von niemandem beruhigen.«

»In Ordnung, Schwester Regine. Ich muß nur noch ein paar Eintragungen erledigen, dann komme ich sofort hinauf. Ich wollte mich ohnehin heute eingehend mit dem Jungen befassen.«

Knapp zehn Minuten später betrat Hanna das Krankenzimmer, in dem man den neunjährigen Peter König untergebracht hatte.

»Hallo, Peter.« In gewollt fröhlichem Ton, ein aufmunterndes Lächeln auf den Lippen, begrüßte Hanna den Buben, dessen Gesicht vom vielen Weinen ganz verquollen war.

Der neunjährige Junge sah mit einem kläglichen Lächeln zu ihr hoch, und erneut begannen die Tränen zu fließen.

»Wer wird denn so traurig sein, mein Junge. Es ist doch alles so gut verheilt, daß du uns bald verlassen kannst. Tut dir vielleicht etwas anderes weh?«

»Nein, aber, aber ich will doch nicht zurück, nie mehr will ich in das Heim zurück«, stammelte der Junge nun unter Tränen.

»Du hast doch dort alle deine Freunde im Heim. Warum willst du denn nicht zurück?«

»Es sind nicht meine Freunde. Böse sind sie alle. Böse und ganz gemein. Wenn ich zurück muß, dann, dann lauf ich ganz weit fort. Es stimmt nämlich überhaupt nicht, daß ich…, daß ich mich beim Spielen verletzt habe. Eingesperrt haben sie mich in den Schuppen und dann haben sie, dann haben sie ihn ganz einfach angezündet. Ich konnte doch nichts dafür.«

»Ist das wirklich wahr, Peter? Du darfst mich nun nicht anschwindeln.«

»Ich lüge nicht, es ist wirklich wahr. Ganz großes Ehrenwort, Frau Doktor«, brachte der Junge unter Schluchzen hervor.

»Aber warum denn nur? Warum haben die Jungen das denn getan?«

»Ich sollte, ich sollte, nur weil ich der Marina kein Geld aus dem Portemonnaie genommen habe, als ich es fand. Aber man darf doch nicht stehlen, man muß doch ehrlich sein.«

»Natürlich, man muß immer ehrlich sein, mein Junge. Du hast das schon richtig gemacht. Aber wenn deine Freunde so böse waren, warum hast du es nicht eurem Heimleiter gesagt?«

»Weil, weil mich die anderen dann auch noch verhauen hätten. Das Feuer war auch so furchtbar, ich hatte solche entsetzliche Angst. Jetzt fürchte ich mich davor, daß sie es noch einmal tun.«

»Ich werde dafür sorgen, daß dir niemand mehr weh tut, mein Junge. Du brauchst keine Angst mehr zu haben. So, und jetzt möchte ich dich wieder lächeln sehen. Heute und morgen wirst du ja noch nicht entlassen. Ich werde mich auch mit eurem Heimleiter unterhalten. Einverstanden…?«

Etwas zaghaft nickte der Neunjährige, und allmählich versiegten die Tränen.

Liebevoll fuhr Hanna dem Jungen über das Haar und ließ ihn wieder allein. Sie war innerlich doch sehr erschüttert über die Dinge, die sie von dem Jungen erfahren hatte. Was er ihr da geschildert hatte, war kaum zu glauben. War es möglich, konnten Kinder wirklich so grausam sein? Sie würde mit Kay darüber reden und sich seine Meinung zu der Angelegenheit anhören. Danach würde sie versuchen, einen Termin bei dem Heimleiter zu bekommen.

*

Noch am gleichen Tag ergab sich für Hanna Martens eine gute Gelegenheit, mit Schwester Christina zu sprechen.

Als diese an diesem Tag ihren Dienst beenden wollte, traf sie zum zweiten Mal mit Hanna zusammen.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit, Schwester Christina? Ich möchte mich gern mit Ihnen unterhalten.«

Christinas Gesicht wurde noch blasser. Die junge Schwester wußte sofort, daß es um sie und Michael ging, denn sie hatte am frühen Morgen mitbekommen, daß die Chefärztin Zeugin ihrer Auseinandersetzung mit Michael geworden war.

»Ich stehe Ihnen zur Verfügung, Frau Dr. Martens«, kam es leise über ihre Lippen.

Schweigend folgte sie Hanna ins Sprechzimmer.

Erst als sie Hanna gegenüber Platz genommen hatte, fragte diese: »Sie können sich sicher denken, warum ich Sie zu diesem Gespräch gebeten habe, Schwester Christina?«

»Ja, Frau Dr. Martens«, gab die junge Schwester mit gesenktem Kopf zu. Sie wagte nicht, ihrer Chefin in die Augen zu sehen.

Doch Hanna übersah das, und direkt auf den Punkt kommend, fragte sie mit ernster Stimme: »Seit wann kennen Sie Dr. Küsters, Schwester Christina? Normalerweise gehen mich Ihre privaten Angelegenheiten nichts an, wenn es sich außerhalb dieser Mauern abspielt. Aber Ihr Wortwechsel mit Dr. Küsters war leider nicht zu überhören.«

»Ich kenne Dr. Küsters aus meiner Heimatstadt Erlangen, Frau Dr. Martens. Wir waren einmal sehr eng befreundet. Mehr als befreundet, denn er war meine erste große Liebe. Er hatte durch sein Verhalten alles zwischen uns zerstört, und ich verließ Erlangen ziemlich überstürzt. Für mich war es sehr hart, ihm so plötzlich nach über fünf Jahren gegenüberzustehen. Er will mit mir reden, aber ich kann es nicht.«

»Sie lieben ihn also immer noch, Schwester Christina?«

»Ja, aber ich will um keinen Preis der Welt das Gleiche noch einmal durchmachen. Ich möchte gern weiter hier in der Klinik arbeiten. Mehr möchte ich zu dieser Angelegenheit nicht sagen.«

»Ich kann Sie gut verstehen, Schwester Christina. Da Sie und Dr. Küsters zusammen hier arbeiten, würde ich Ihnen dazu raten, mit ihm zu reden. Ein klärendes Gespräch bereinigt vielleicht alles, und es entsteht zwischen Ihnen beiden eine erträgliche Zusammenarbeit. So, wie es im Augenblick läuft, kann es nicht weitergehen. Sie brauchen in Ihrem Beruf Ihre ganze Konzentration. Wenn das nicht mehr gegeben ist, sollten Sie ein paar Wochen Urlaub machen. Überlegen Sie es sich in aller Ruhe und sagen Sie mir dann Bescheid. Sind wir uns in dieser Frage einig?«

»Ja, Frau Dr. Martens, ich weiß, was Sie damit sagen wollen, und ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.«

»Nichts zu danken, Schwester Christina. Wenn ich Ihnen helfen kann, lassen Sie es mich wissen. Sie können zu jeder Zeit bei mir vorsprechen.«

»Danke, Frau Dr. Martens. Kann ich jetzt gehen?«

»Natürlich. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Feierabend.«

Schwester Christina war sichtlich froh, den forschenden Blicken der jungen Chefärztin entkommen zu können. Aber gerade das machte diese noch nachdenklicher.

Das Gespräch zwischen Kay und Michael Küsters fand zum gleichen Zeitpunkt statt, aber es verlief ein wenig anders. Zwar erfuhr Kay von Michael auch, daß er und Schwester Christina sich schon lange kannten, und auch, daß zwischen ihnen einmal mehr als Freundschaft bestanden hatte. Kay fragte: »Und warum geraten Sie und Schwester Christina nach dieser langen Zwischenzeit hier so heftig aneinander? Meine Schwester hat mir davon berichtet.«

»Unsere Trennung damals muß durch ein Mißverständnis entstanden sein. Ich liebe Christina immer noch, und mir liegt sehr daran, die Angelegenheit endlich zu klären. Christina war damals so plötzlich verschwunden, daß ich nie den Grund erfuhr. Ich habe sie lange Zeit vergeblich gesucht. Ist es nicht verständlich, daß ich versuche zu erfahren, warum sie mich damals verlassen hat und für mich unauffindbar blieb, bis ich sie hier bei Ihnen in der Klinik unverhofft wiedersah? Ich bin mir auch heute noch keiner Schuld bewußt. Dabei lag unsere gemeinsame Zukunft klar vor uns. Wir liebten uns sehr.«

Kay glaubte dem jungen Arzt, denn er war ein guter Menschenkenner. Einen Augenblick sah er seinen neuen Mitarbeiter prüfend an, und als dieser seinen Blick offen zurückgab, sagte er: »Versuchen Sie, die Angelegenheit bald zu klären, Dr. Küsters. Sie werden sicher verstehen, daß mir und meiner Schwester sehr daran liegt, daß die bis jetzt bestehende Harmonie hier in der Klinik erhalten bleibt. Mehr kann ich im Augenblick nicht raten. Und noch etwas, erledigen Sie alles außerhalb der Klinik. Vielleicht ist Schwester Christina da auch Ihnen gegenüber ein wenig zugänglicher. Ich wünsche Ihnen, daß Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit regeln können. Und denken Sie nicht, daß ich mich aus Neugierde in Ihre Privatangelegenheiten mische. Es geht mir, wie ich Ihnen schon sagte, um das gute Klima zwischen uns allen.«

»Das habe ich schon verstanden, Herr Dr. Martens. Ich würde es gern außerhalb der Klinikmauern regeln. Vielleicht können Sie mir dabei helfen. Wäre es möglich, meinen freien Tag mit dem von Schwester Christina zusammenzulegen?«

»Das läßt sich machen, Dr. Küsters. Ich werde mich darum kümmern. Beenden wir für heute dieses Thema. Ich möchte Sie nicht um Ihren wohlverdienten Feierabend bringen.«

Ein freundliches Nicken von Kay, und kurz darauf war er allein. Er sah noch einmal auf die Uhr, die anzeigte, daß auch er für diesen Tag die Klinik verlassen konnte.

*

Für Michael Küsters vergingen die folgenden Tage quälend langsam. Er schöpfte erst ein wenig Hoffnung, als ihm Kay am Wochenende sagte, daß er in der kommenden Woche seinen freien Tag am Mittwoch nehmen sollte. Genau an dem Tag, an dem auch Christina frei hatte.

Dann brach der Mittwochmorgen an. Schon als Michael nach dem Aufwachen aus dem Fenster sah, fühlte er, daß es ein schwieriger Tag werden würde. Zu allem Überfluß war der Winter noch einmal mit all seiner Kraft ins Land gebrochen. Es schien draußen lausig kalt zu sein, denn an den Fenstern hatten sich Eiskristalle gebildet, und Schneeflocken wirbelten durch die Luft.

Michael sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr vorbei, eine Zeit, zu der er an den anderen Tagen schon seinen Dienst in der Klinik antrat. Trotzdem wurde es langsam Zeit für ihn, hinunter zum Frühstück zu gehen. Bei dem schlechten Wetter war es außerdem recht ungewiß, ob Christina die Kinderklinik auch an diesem Mittwoch wieder verlassen und wegfahren würde. Was er vorhatte, war demnach schon eine unsichere Angelegenheit.

Kurz vor acht Uhr fuhr er los, Richtung Birkenhain.

Trotz des leichten Schneegestöbers entdeckte Michael, daß Christinas Wagen noch auf dem Parkplatz stand. Er bezog mit seinem Wagen unweit des hohen, schmiedeeisernen Torbogens Warteposition. Jetzt konnte er nur hoffen, daß Christina irgendwann die Klinik verließ, um wie jeden Mittwoch fortzufahren. So hatte er es jedenfalls von einer der Schwestern in der Klinik in Erfahrung gebracht. Er hatte die Absicht, Christina nachzufahren, um endlich eine Gelegenheit zu bekommen, ungestört mit ihr zu reden.

Während er wartete, mußte er darüber nachdenken, warum er das eigentlich tat. Hatte es überhaupt einen Sinn, sich so nach einer Aussprache zu drängen? Jagte er damit nicht einem Traum nach, der sich nie erfüllen würde? Was immer er für Christina empfand, was hatte er davon, wenn sie nicht das Gleiche fühlte? Machte er sich nicht selber zum Narren, wenn er ihr nachlief?

Doch Michaels Gedanken kehrten immer wieder zum Ausgangspunkt zurück. Etwas war in ihm, das ihn dazu trieb zu klären, warum Christina vor über fünf Jahren so sang- und klanglos aus seinem Leben verschwunden war.

Fröstelnd zog er die Schultern hoch, denn im Wagen war es empfindlich kalt.

Er konnte schließlich nicht gut den Motor laufen lassen, damit die Heizung ihn wärmte. Als er nahe daran war aufzugeben, sah Michael, daß der weiße Golf Christinas durch den Torbogen gefahren kam. Rasch duckte er sich tiefer, damit sie ihn nicht erkannte, wenn sie seinen Wagen passierte. Es war inzwischen neun Uhr. Michael hatte Glück, denn Christina konzentrierte ihre Aufmerksamkeit auf die Fahrbahn. So konnte er ihr in einem gewissen Abstand folgen, zumal immer noch vereinzelte Schneeflocken vom Himmel herabfielen.

In mäßigem Tempo fuhr Christina vor ihm her in Richtung Celle. Während er ihr weiterhin folgte, fragte sich Michael erneut nach dem Sinn seines Tuns. Wenn Christina an jedem Mittwoch die Klinik verließ, um in die Stadt zu fahren, konnte es doch auch bedeuten, daß sie in den vergangenen Jahren eine neue Bindung eingegangen war, denn ihre Heimatstadt war doch Erlangen, und von Verwandten in dieser Ecke Deutschlands hatte sie nie gesprochen. Fünf Jahre waren eine lange Zeit. Es konnte in diesen Jahren viel geschehen sein. Aber so oder so, er würde wenigstens Klarheit erhalten und nicht weiter einem unerfüllten Traum nachjagen.

Nach gut einer Stunde Fahrtzeit mit dem Wagen erreichten sie die Stadt. Michael mußte nunmehr aufpassen, um Christina nicht aus den Augen zu verlieren.

Ganz plötzlich hielt Christina ihren Wagen in einer Parkzone an und stieg aus.

Michael war gezwungen, ein Stück weiterzufahren, um gleichfalls seinen Wagen parken zu können.

Inzwischen hatte es aufgehört zu schneien, und der Himmel hellte sich etwas auf. Als er die Wagentür öffnete, um auszusteigen, sah er Christina in einem Geschäft verschwinden. Mit raschen Schritten strebte er diesem Geschäft zu und sah zu seinem Erstaunen, daß es sich um ein Spielwarengeschäft handelte. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Wagen zurück, stieg wieder ein und beobachtete durch den Seitenspiegel das Stück Bürgersteig vor dem Spielwarengeschäft, bis er Christina mit einem Paket herauskommen und auf ihren Wagen zugehen sah. Obwohl er seine Hoffnung, sie vielleicht doch irgendwo allein sprechen zu können, schwinden sah, trieb ihn ein Gefühl, ihr auch weiterhin zu folgen. Einmal würde sie ihr endgültiges Ziel ja wohl erreichen.

Michael wartete, bis Christina erneut mit ihrem Wagen den seinen passierte, und folgte ihr wieder in einem gewissen Abstand. Er wunderte sich, daß sie die Stadt verließ.

Dann sah er, daß Christina etwas außerhalb der Stadt auf ein großes, einsam gelegenes Gebäude zusteuerte, das von einem halbhohen Zaun eingefriedet war. Er ließ den Abstand größer werden, fuhr langsamer. Er konnte beobachten, daß sie ihren Wagen vor dem breiten Eingangstor zum Halten brachte. Sie stieg aus und betrat mit ihrem Paket das Grundstück.

Langsam näherte sich nun Michael. Er war doch neugierig geworden. Was mochte das wohl für ein Gebäude sein?

Er hielt seinen Wagen an, um auszusteigen. Als er die Wagentür öffnete, drangen fröhliche, rufende Stimmen vieler Kinder an sein Ohr. Zielstrebig ging Michael auf den Zaun zu. Durch eine breite Lücke sah er eine Schar Kinder verschiedenen Alters im Schnee herumtoben. In diesem Moment entdeckte er über dem Eingang des Gebäudes ein Schild, auf dem in großen Buchstaben stand: »Kinderheim, Haus Maria«.

Da wurden Michaels Blicke auf einmal magisch von etwas anderem angezogen. Es war Christina, die auf die Gruppe der Kinder zuging. Ein niedliches, kleines Mädchen löste sich plötzlich aus der Gruppe und lief mit ausgestreckten Armen auf Christina zu. Dabei rief es hellauf jauchzend: »Mami, Mami, meine Mami!«

Wie zu einer Salzsäule erstarrt mußte Michael mit ansehen, wie Christina dieses niedliche Mädchen, das kaum älter als vier Jahre schien, herzte und küßte und zärtlich an sich preßte.

So war das also. Deswegen war Christina ihm gegenüber so seltsam und abweisend. Also war da in ihrem Leben ein anderer Mann gewesen? Deshalb hatte sie ihn damals so ohne ein Wort verlassen? Was war er doch für ein Narr gewesen. Während er sich vor Sehnsucht nach ihr verzehrte, sie gesucht hatte, war sie mit einem anderen Mann zusammen gewesen. In Michael war eine riesengroße Enttäuschung. Unbemerkt konnte er sich wieder entfernen.

Während er die Rückfahrt nach Ogela antrat, fragte er sich wiederholt, warum ihm Christina auf seine Bitte nach einem Gespräch nicht einfach die Wahrheit gesagt hatte. Nun hatte er die Klarheit, die er haben wollte, wenn sie auch anders ausgefallen war, als er sie sich gewünscht hatte. Es war nur gut, daß dieser Tag sein freier Tag war und er nicht in die Klinik mußte. Er brauchte Zeit, um das, was er an diesem Tag entdeckt hatte, auch innerlich zu verarbeiten. Er brauchte Zeit, um zu einem Entschluß zu kommen, wie er sich nun weiter Christina gegenüber verhalten sollte. Dabei verstand er allerdings nicht, warum Christina nicht geheiratet und statt dessen ihr Kind in einem Kinderheim untergebracht hatte.

*

Als Hanna an diesem Morgen gerade am Frühstückstisch saß, klingelte das Telefon in der Diele. Hanna hörte, daß Jolande Rilla den Hörer abnahm, etwas sagte und dann zu ihr kam.

»Nun, wer war dran, Füchsin? War es drüben die Klinik?«

»Nein, Frau Doktor, es war Herr Schriewers. Er läßt Ihnen bestellen, daß er heute später kommt, er bringt seine Frau in die Klinik nach Celle. Es ist endlich soweit.«

»Danke, Füchsin. Es hat aber auch lange genug gedauert. Marike wird froh sein, wenn alles vorbei ist. Hat Martin gesagt, daß er sich melden wird, wenn seine Frau es überstanden hat?«

»Ja, er wird dann sofort in der Klinik anrufen.«

»Fein, Füchsin, dann muß ich mich jetzt beeilen, damit ich hinüberkomme, es muß jemand Martins Aufgaben in der Aufnahme übernehmen. Ich bin ohnehin fertig.«

»Aber Sie haben ja kaum etwas gegessen, Frau Doktor.« Vorwurfsvoll sah Jolande Rilla auf Hannas Teller, auf dem noch ein halbes Brötchen lag.

»Es reicht trotzdem«, erwiderte Hanna lächelnd und schob ihren Stuhl zurück.

»Kommen Sie heute mittag zum Essen ins Doktorhaus?«

»Wenn nichts dazwischen kommt, auf jeden Fall, Füchsin. Sollte sich Martin Schriewers zwischenzeitlich bei mir melden, sage ich Ihnen Bescheid. Sie besorgen mir dann bitte im Ort einen schönen Blumenstrauß. Mein Bruder und ich sind schon sehr lange mit Martin und Marike befreundet, da werde ich noch heute einen Besuch in der Klinik in Celle machen.«

Augenblicke später eilte Hanna, eingehüllt in einen warmen Mantel, durch das leichte Schneetreiben hinüber ins Klinikgebäude.

Kay, der einige Minuten später kam, sah erstaunt, daß anstelle Martin Schriewers Schwester Jenny hinter dem Aufnahmeschalter saß.

»Nanu, Schwester Jenny, wo ist denn Herr Schriewers? Er ist doch wohl nicht krank?« Besorgt sah Kay die junge Schwester an.

»Frau Doktor sagte, daß er seine Frau ins Krankenhaus bringen mußte, Herr Dr. Martens.«

»Ach so, dann befindet sich meine Schwester schon im Haus?«

»Ja, Herr Dr. Martens, sie ist schon zur Station hochgegangen. Es soll heute während der Nacht einen Zwischenfall gegeben haben.«

»Einen Zwischenfall? Und warum weiß ich davon nichts?« Unmutig sah Kay die junge Schwester an.

»Mir ist nichts genaues bekannt, ich habe auch erst vor einer Viertelstunde meinen Dienst angetreten. Die Frau Doktor erwartet Sie oben auf der Station.«

»Es ist gut, Schwester Jenny.«

Er fand Hanna im Schwesternzimmer, im Gespräch mit Schwester Elli.

Er wünschte beiden einen guten Morgen und fragte interessiert: »Ich hörte gerade von Schwester Jenny, daß es einen Zwischenfall gegeben haben soll. Was ist passiert?«

»Nichts im medizinischen Bereich, Kay. Gott sein Dank. Es hat wieder einmal mit Peter König zu tun. Der Junge wollte uns ausbüchsen. Er ist jedoch nur bis zur Eingangstür gekommen, dort hat ihn Schwester Maria erwischt. Hinaus in die Nacht hätte er ja sowieso nicht kommen können, da die Türen verschlossen waren.«

»Und konnte schon jemand den Jungen nach seinen Gründen fragen?«

»Nein, Herr Dr. Martens, Schwester Maria hat ihm ein leichtes Schlafmittel verabreicht, da er ziemliches Theater gemacht hat. Bis vor wenigen Minuten schlief er noch«, antwortete Schwester Elli mit ernstem Gesicht.

»Was machen wir nur mit dem Jungen? So geht es ja schließlich nicht. Scheint mir langsam ein Fall für Frau Dr. Andergast zu sein. Vielleicht gelingt es ihr, die Angst des Jungen abzubauen.«

Bevor Hanna antworten konnte, sagte Schwester Elli: »Wenn Sie mich im Augenblick nicht benötigen, schaue ich mal nach, was der Peter macht.«

»Gehen Sie nur, Schwester Elli«, erwiderte Hanna, und die Schwester verließ den Raum.

Kaum mit Kay allein, sagte Hanna mit ruhiger, ernster Stimme: »So, wie die Dinge mit dem Jungen liegen, kann ich es nicht verantworten, ihn in das Kinderheim zurückzuschicken. Es muß da eine andere Lösung gefunden werden. Ich werde das diesem Herrn Tönnis heute nachmittag auch unmißverständlich klarmachen. Sollte er darauf bestehen, werde ich mich gleich morgen früh mit dem Jugendamt in Celle in Verbindung setzen.«

»Da ist deine Entscheidung, Hanna. Ich habe keine Sorge, daß du die Sache nicht richtig zu Ende führst.«

»Worauf du dich verlassen kannst, Kay. Vielleicht besteht ja auch die Möglichkeit, den Jungen bei Pflegeeltern unterzubringen. Er ist doch im Grunde ein lieber kleiner Bub, nur sehr aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Ich werde jedoch auch mit Frau Dr. Andergast sprechen. Sie soll sich mit Peter befassen.«

Gleich im Anschluß an die Frühbesprechung wollte Hanna mit Wenke Andergast sprechen. Sie selbst würde erst mit Peter reden, wenn sie das Gespräch mit Rupert Tönnis hinter sich gebracht hatte.

Wenke Andergast war sofort bereit, sich um den Neunjährigen zu kümmern, nachdem Hanna ihr die Krankengeschichte und die dazugehörigen Ereignisse, die zu den Verletzungen geführt hatten, genau dargelegt hatte. Zum Schluß ihres Berichtes sagte sie zu Wenke: »Im Grunde könnte der Junge bald entlassen werden, aber ich fahre heute nachmittag nach Celle in das Städtische Kinderheim, um mich mit dem Heimleiter über die ganze für mich unverständliche Angelegenheit zu unterhalten. Es widerstrebt mir sehr, Peter in die Obhut des Heimes zurückzugeben.«

»Wenn es sich so verhält, wie Sie es mir berichtet haben, halte auch ich es nicht für gut, Frau Dr. Martens. Kann man da nichts tun? Es gibt doch viele nette Familien, die gern ein Pflegekind aufnehmen würden. Ich kenne sogar ganz persönlich ein Ehepaar, dessen Bemühungen in dieser Hinsicht bisher leider erfolglos verlaufen sind. Ich könnte Ihnen Name und Anschrift notieren.«

»Tun Sie das, Frau Dr. Andergast, ich wäre Ihnen sehr dankbar für Ihre Bemühungen. Es könnte hilfreich sein, in diesem Fall eine geeignete Familie in Bereitschaft zu haben. Wir unterhalten uns noch einmal darüber, bevor ich heute nachmittag nach Celle fahre. Jetzt muß ich mich beeilen, meine kleinen Patienten werden sonst ungeduldig. Meine Sprechstunde ist immer gut besucht und hätte schon vor fünf Minuten beginnen müssen.«

*

Gegen vierzehn Uhr verließ Hanna in ihrem Wagen das Gelände der Klinik, um nach Celle zu fahren. Ein weiches Lächeln lag auf ihrem schmalen Gesicht, als ihr Blick den Strauß mit roten Nelken streifte, der hübsch verpackt auf dem Beifahrersitz lag. Sie wollte zuerst Marike in der Klinik in Celle einen Besuch abstatten, bevor sie sich auf den weniger erfreulichen Weg zum Kinderheim machte.

Seit zehn Uhr am Vormittag wußte sie, daß Marike einem kleinen Mädchen das Leben geschenkt hatte. Da sie in der Klinik um diese Zeit unabkömmlich war, hatte sie sich kurzerhand dazu entschlossen, den Besuch bei Marike vorzuziehen.

Die strahlenden Augen Marikes zeigten ihr später, wie glücklich die junge Mutter darüber war, daß ihr Wunsch in Erfüllung gegangen war.

Hanna wünschte der jungen Mutter alles Gute und wollte dann lächelnd wissen: »Wie soll der kleine Schatz denn heißen, Marike?«

»Wir werden sie Annika nennen. So haben Martin und ich es schon vorher beschlossen.«

»Annika, ein sehr hübscher Name. Er gefällt mir. Dann will ich mir die kleine Annika jetzt anschauen.«

Hanna lächelte Marike herzlich zu und verließ für einige Minuten das Zimmer.

Die Kleine war wirklich allerliebst, zwar wie alle Neugeborenen noch ein wenig runzelig, aber auf dem Köpfchen zeigten sich schon die ersten schwarzen Härchen.

Einen Moment dachte Hanna ein wenig sehnsüchtig: Ob ich wohl auch jemals ein so winziges Etwas mein eigen nennen kann?

Als sie wieder zu Marike ins Zimmer zurückging, war diese fest eingeschlafen, und es gab für Hanna keinen Grund, es nicht dabei zu belassen. Um sie nicht zu stören, verließ sie das Zimmer wieder und beauftragte eine Schwester, der jungen Mutter zu bestellen, daß sie ihren Besuch an einem der nächsten Tage wiederholen würde. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es für sie auch langsam Zeit wurde, ihre nächste Aufgabe in Angriff zu nehmen.

Rupert Tönnis war ein großer, hagerer Mann, den Hanna auf gut fünfzig Jahre schätzte, nervös und mit kalten grauen Augen, wie Hanna feststellen konnte. Leicht fröstelnd zog sie die Schultern hoch.

»Sie wollten mich wegen des kleinen König sprechen, Frau Dr. Martens?« Etwas von oben herab betrachtete er Hanna.

»Ja, und ich danke Ihnen, daß Sie sich die Zeit für dieses Gespräch nehmen«, erwiderte Hanna höflich lächelnd.

Sie betrachtete Rupert Tönnis prüfend und brachte das Gespräch direkt auf die wesentlichen Dinge über die Ursachen von Peters Verletzungen, wie sie selbst es von dem neunjährigen Buben gehört hatte.

»Der Junge lügt, so kann es sich nicht abgespielt haben, Frau Dr. Martens!« fuhr der hagere Mann sie erregt an, nachdem Hanna ihren Bericht beendet hatte. Befremdet zog Hanna die Augenbrauen hoch.

»Das glaube ich nicht, Herr Tönnis. Wenn Sie seine Furcht miterlebt hätten, wüßten Sie, daß Peter die Wahrheit gesagt hat. In der vergangenen Nacht wollte er sogar fortlaufen, so sehr fürchtet er sich davor, wieder hierher zurückkehren zu müssen. Ohne einen gewichtigen Grund kann ein Junge in seinem Alter sich nicht so verhalten. Es tut mir leid, daß ich Ihnen widersprechen muß.«

»Das kann ich mir einfach nicht vorstellen, Frau Dr. Martens. Der Peter befindet sich nun seit über drei Jahren bei uns im Kinderheim, und er hat sich immer nur von den Jungen abgesondert. Es ist daher wohl ganz normal, daß sich die anderen von ihm zurückgewiesen fühlen und böse reagieren. Aber ich halte sie trotzdem nicht für fähig, einen Kameraden so zu quälen. Ich werde versuchen, dieser Sache auf den Grund zu gehen. Und wenn es wahr ist, werde ich etwas unternehmen, das dürfen Sie mir glauben.« Zorn schwang in seiner Stimme mit, und seine kalten Augen blitzten.

»Ich glaube Ihnen, Herr Tönnis, dem Jungen ist damit jedoch nicht geholfen. Ich möchte etwas anderes vorschlagen.«

Der hagere Mann lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Und was für ein Vorschlag wäre das, Frau Dr. Martens?« fragte er mit seiner schneidenden Stimme.

»Nun, Herr Tönnis, man könnte den Jungen nach seiner Genesung zu netten Pflegeeltern geben. Ich setze mich da gern mit dem Jugendamt in Verbindung. Wenn es um das Wohl eines Ihnen anvertrauten Kindes geht, so werden Sie sich dem wohl nicht in den Weg stellen, nicht wahr?«

»Der kleine König ist, wie ich schon sagte, ein Kind, das sich nicht leicht anschließt. Eine Integration in eine Familie dürfte nicht ganz einfach sein. Ich halte davon überhaupt nichts, Frau Dr. Martens.«

Hanna schwieg einen Augenblick, danach sah sie ihr Gegenüber offen an und erwiderte mit ernster Stimme: »Ich würde sagen, lassen wir das Jugendamt entscheiden. Ich habe meinen Worten ansonsten nichts mehr hinzuzufügen. Das Gespräch mit Ihnen war für mich sehr aufschlußreich. Ich möchte Ihre Zeit jedoch nicht länger in Anspruch nehmen und mich jetzt verabschieden. Sie hören weiteres in dieser Angelegenheit vom Jugendamt.«

»Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, kam es kalt über die Lippen des hageren Mannes, und in seinen Augen sah Hanna einen Ausdruck, der sie innerlich noch mehr gegen ihn aufbrachte. Ihr Urteil über ihn stand fest. Für sie war er nicht der Mensch, dem sie freiwillig Kinder anvertraute. Er mochte seine Qualitäten in anderen Bereichen haben, aber ein Herz für Kinder hatte er ihrer Ansicht nach nicht. Sie würde alles tun, damit der empfindsame Junge, der von so großer Angst erfüllt war, nicht in die zweifelhafte Obhut dieses Mannes zurück mußte. Hanna wußte, daß es ihr letztlich auch gelingen würde. Wenn Rupert Tönnis sie für eine schwache, nachgiebige Frau halten sollte, so hatte er sich gewaltig getäuscht.

Hanna atmete erst wieder auf, als sie das Büro und auch das Kinderheim selbst wieder verlassen hatte.

*

Seit ihrem freien Tag war Christina noch stiller geworden. Schwester Barbara, die Freundin und Kollegin, sah sich das ein paar Tage mit zunehmender Sorge an.

Als Christina dann am Samstagabend, als Barbara, die an diesem Tag längeren Dienst verrichteten mußte, ins gemeinsame Zimmer kam, in Tränen aufgelöst auf ihrem Bett lag, fragte Barbara betroffen: »Was ist nur in der letzten Zeit mit dir los, Christina? Du bist ja kaum wiederzuerkennen. Jedes Mal, wenn du deinen freien Tag hattest, wird es schlimmer mit dir. Und in den letzten Tagen kenne ich mich mit dir überhaupt nicht mehr aus. Ich weiß, daß du mir etwas verheimlichst, und ich will dich ja auch nicht bedrängen. Doch glaubst du nicht auch, daß du endlich einmal über die Dinge reden solltest, die dich zu quälen scheinen? Hattest du vielleicht an deinem letzten freien Tag Dr. Küsters getroffen? Er hatte nämlich auch am Mittwoch frei. Ich habe ganz zufällig gesehen, daß er dir hier von der Klinik aus mit seinem Wagen folgte. Habt ihr euch jetzt ausgesprochen?«

»Was sagst du da, Barbara, er ist mir mit seinem Wagen gefolgt?«

Christinas Augen hatten sich entsetzt geweitet, und jeder Blutstropfen wich aus ihrem Gesicht.

Barbara schien es so, als sei die Freundin mit einemmal völlig außer sich. Es befremdete und bestürzte sie zugleich. Kopfschüttelnd fragte sie nun: »Sag bloß, du hast nichts davon bemerkt? Dabei hatte ich angenommen, daß ihr euch irgendwo verabredet hättet, um euch auszusprechen. Ich sage das, weil auch er sich verändert hat. Er läuft dir nicht mehr hinterher, er schaut nur noch mit traurigen Augen nach dir, wenn er dich zufällig sieht. Hast du vielleicht eine Erklärung dafür?«

»Er…, er ist mir am Mittwoch gefolgt? O nein, Barbara, das kann…, das darf einfach nicht sein.«

Christina begann plötzlich am ganzen Körper zu zittern, und sie schlug beide Hände vor das Gesicht.

»Du benimmst dich reichlich komisch, Christina. Gut, du hast ihn nicht bemerkt. Na und, was ist schon dabei, daß er hinter dir her fuhr? Vielleicht war es ja auch nur ein Zufall. Deswegen brauchst du nicht sofort so zu tun, als ginge die Welt unter.«

»Du hast ja keine Ahnung«, kam es tonlos über Christinas Lippen, und mit gequälten Blicken sah sie zu Barbara hoch.

»Sieht so aus. Aber bitte, du kannst mich ja aufklären. Ich höre dir gern zu.«

»Ja, Barbara, ich weiß, daß du mir eine aufrichtige Freundin bist. Ich habe dich überhaupt nicht verdient. Es gibt in meinem Leben ein Geheimnis, das ich bis zum heutigen Tag noch keinem Menschen anvertraut habe. Es quält mich, und es fällt mir von Tag zu Tag schwerer, es für mich zu behalten. Ich glaube, jetzt muß ich endlich reden, muß mir einmal alles von der Seele reden. Jetzt muß ich befürchten, daß Michael hinter dieses Geheimnis gekommen ist. Und gerade er sollte es niemals erfahren. Was mach ich jetzt bloß? Hilf mir, Barbara.«

»Wie kann ich dir helfen, wenn ich überhaupt nicht weiß, um was es dabei geht? Wenn ich dir helfen soll, mußt du mir schon etwas mehr sagen. Nun gib deinem Herzen einen Stoß. Ein Verbrechen wirst du ja nicht begangen haben, oder?«

»Du mußt mir aber dein Wort geben, daß es niemand von dir erfährt.«

»Du kannst dich darauf verlassen. Christina, du hast mein Wort.« Schwester Barbaras Gesicht war sehr ernst geworden.

Einen Moment druckste Christina noch herum und wußte nicht recht, wie sie beginnen sollte. Barbara half ihr und fragte: »Wohin fährst du an deinen freien Tagen, Christina?«

»Ich fahre immer nach Celle. Das heißt, etwas außerhalb der Stadt, zum Kinderheim Haus Maria. Eine Cousine von mir arbeitet dort schon seit Jahren. In dem Kinderheim lebt auch Michaela. Michaela, mein kleines Mädchen. Sie ist gerade fünf Jahre alt. So, nun kennst du mein Geheimnis.«

Fast trotzig sah Christina Barbara an. »Nein, das glaube ich nicht, das ist doch nicht möglich, Christina.«

Völlig entgeistert sah Barbara die Freundin an.

»Es ist aber so.«

»Du hast eine kleine Tochter und läßt sie in einem Heim aufwachsen? Warum nur? Es ist doch in der heutigen Zeit kein Verbrechen, ein Kind zu haben.«

»Was sollte ich denn machen, Barbara? Ich mußte doch arbeiten und für mich und Michaela den Unterhalt verdienen. Glaubst du vielleicht, daß man mich hier auf Birkenhain eingestellt hätte, wenn ich zugegeben hätte, ein uneheliches Kind zu haben?«

»Ich weiß nicht, du hättest es zumindest versuchen können. Frau Dr. Martens ist doch eine patente Frau.«

»Erst habe ich mich nicht getraut, und dann war es zu spät, Barbara.«

»Und wer ist der Vater, Christina?«

»Muß ich das wirklich noch sagen? Michael Küsters ist der Vater. Oh, Barbara, er darf es nie erfahren. Michaela gehört mir, mir ganz allein. Er hat sich jedes Recht selber verscherzt, indem er mit dieser anderen… Bitte, Barbara, du hast es versprochen. Ich habe dein Wort.«

Flehend sah Christina ihre Freundin an, und ihre Augen füllten sich plötzlich wieder mit Tränen.

»Nicht weinen, du hast mein Wort.« Tröstend legte Schwester Barbara einen Arm um Christina. Leise sagte sie: »Ich weiß nicht, ob ich auf mein Kind verzichten könnte, wenn ich mich in so einer Lage befinden würde. Ein Kind braucht doch seine Mutter. Du hättest es ihm sagen müssen. Sicher, er hat dich verletzt, aber ich bin nicht sicher, ob du recht gehandelt hast, ihn über euer gemeinsames Kind im unklaren zu lassen. Soll das denn so weitergehen, bis dein Töchterchen groß ist?«

»Glaubst du vielleicht, daß es mir leicht fällt, meine Kleine nur jede Woche einmal sehen zu dürfen? Ich lege schon jeden Cent an die Seite, um Michaela einmal zu mir nehmen zu können. Es fällt mir von Woche zu Woche schwerer, mich von ihr zu verabschieden. Wenn Cordula sich nicht ganz besonders um sie kümmern würde, wüßte ich nicht, was dann wäre.«

»Und all die Jahre hast du das alles allein mit dir herumgetragen? Warum hast du mir nicht schon viel früher vertraut?«

»Ich konnte nicht, Barbara. Ich war so manches Mal nahe daran und ich habe es dann doch nicht geschafft. Jetzt habe ich entsetzliche Angst. Vielleicht weiß Michael schon etwas, wenn er mir wirklich gefolgt ist, als ich am Mittwoch zum Kinderheim fuhr. Er geht mir nämlich seit diesem Tag ganz offensichtlich aus dem Weg. Es ist mit einemmal keine Rede mehr davon, daß er mich unbedingt sprechen muß. Was soll ich nur machen, Barbara?«

»Vielleicht bildest du dir das nur ein. Er wird es leid geworden sein, dir ständig nachzulaufen. Wenn er etwas entdeckt hätte, hätte er dich sicher daraufhin angesprochen. Laß den Kopf nicht hängen. Mach ein fröhliches Gesicht, besonders, wenn er dir über den Weg laufen sollte. Oder willst du, daß er dir anmerkt, daß du ihn immer noch liebst?«

»Ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn«, kam es leidenschaftlich über Christinas Lippen.

»Du bist ein Dummchen, Christina. Was Michael Küsters anbetrifft, bist du so voller Widersprüche, daß ein Blinder bemerkt, wie es um dich steht. Leg dich jetzt schlafen, für heute haben wir genug geredet. Um sechs Uhr morgen früh ist für uns beide die Nacht vorbei.«

»Du hast recht, Barbara. Aber ich bin froh, daß du jetzt alles weißt. Es hat mir schon viel geholfen, einmal mit einem vertrauten Menschen über alles zu reden. Du bist eine gute Freundin, ich mag dich sehr. Wenn ich dich nicht hätte!«

»Ich mag dich auch, Christina. Auch ich bin froh, daß du mir alles gesagt hast. Ich habe mir in den letzten Wochen immer mehr Gedanken gemacht. Jetzt weiß ich wenigstens, was dir so zu schaffen macht.«

*

Christina lag an diesem Abend noch lange wach, während Barbara rasch eingeschlafen war. Ihre Gedanken gingen zum vergangenen Mittwoch zurück. Wie glücklich war ihr kleines Mädchen doch gewesen, als sie gekommen war. Dann aber flossen wie immer in den letzten Wochen die Tränen beim Abschied. Das flehende Betteln, sie doch mitzunehmen. Wie hatte Cordula, ihre Cousine, die seit Jahren dieses Kinderheim leitete, gesagt: »Einmal mußt du dich entscheiden, Christina. Wir alle hier haben Michaela sehr lieb, sie macht uns nur Freude. Wir versuchen, den Kindern, die sich bei uns im Haus befinden, mit viel Liebe und Verständnis das Leben so schön wie möglich zu machen. Doch eine Mutter, das ist etwas anderes. Deine Michaela ist ein sehr sensibles Kind. Sie kommt jetzt in das Alter, in dem sie immer mehr Fragen stellt. Michaela braucht ein richtiges Zuhause. Wir brauchen immer Tage, bis sie wieder einigermaßen normal reagiert, wenn du hier gewesen bist. Auf die Dauer gesehen kann es so nicht weitergehen.«

Das waren Cordulas Worte gewesen, und sie hatten ihre Wirkung auf sie hinterlassen.

Christina wußte selber, daß es nicht gut für Michaela war, wenn sie nur einmal in der Woche Besuch kam. Aber sie liebte ihr kleines Mädchen mehr als alles andere. Auf diese Besuche zu verzichten, nein, das brachte sie nicht übers Herz. Wie schön, wie wunderschön hätte alles werden können, wenn mich Michael damals… Bei den Gedanken an die Vergangenheit stieg es Christina heiß in die Augen. Sie erkannte, wie sehr sie sich noch immer nach Michael sehnte. Nach seiner Liebe, seiner Zärtlichkeit, nach seiner jungenhaften Fröhlichkeit, die sie immer so angezogen hatte. Ob er wenigstens noch etwas für sie fühlte? Sie hatte die ganze Zeit, seitdem Michael in der Kinderklinik war, nicht verstanden, warum ihm so viel an einem Gespräch lag. Er war es doch schließlich gewesen, der damals alles selbst durch sein Verhalten zerstört hatte. Um sich davor zu schützen, ihre wahren Gefühle preiszugeben, hatte sie immer hart reagiert. Sie wollte nicht noch einmal so sehr verletzt werden wie vor Jahren. Es war schon Mitternacht, irgendwo in der Ferne schlug eine Kirchturmuhr zwölf, als Christina endlich in den ersehnten Schlaf fiel.

Der Mann aber, dem ihre letzten Gedanken vor dem Einschlafen galten, hatte in dieser Nacht die Bereitschaft übernommen.

Michael hatte die große Enttäuschung, die der Anblick von Christina und ihrem Kind bei ihm ausgelöst hatte, noch nicht überwunden. Für ihn stand fest, daß Christina ihn vor über fünf Jahren wegen eines anderen Mannes verlassen und mit diesem ein Kind hatte. Immer wieder fragte er sich, warum sie ihm damals nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er hätte es doch verstanden und hätte nicht Jahre damit vertan, ihren Aufenthaltsort herauszufinden.

Auf den Gedanken, vielleicht selbst einen Fehler gemacht zu haben, kam Michael erst gar nicht. Seitdem er jedoch von Christinas Kind wußte, schwankte er, ob es ihm auf die Dauer möglich sein würde, weiterhin mit ihr unter einem Dach zu arbeiten. Er würde es versuchen. Wenn es jedoch nicht klappte, würde er Dr. Martens darum bitten, ihn aus seinem Vertrag zu entlassen, so bedauerlich es auch sein würde. Doch merkwürdig – je länger Michael über Christina und ihr Kind nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, daß sie diesen anderen Mann wirklich geliebt hatte. Hätte sie sonst wohl ihr Kind in ein Heim gegeben und würde dem anstrengenden Beruf einer Krankenschwester, einer Operationsschwester nachgehen? Und überhaupt, warum sollte er nun aufgeben? Er liebte sie noch immer, und seit er sie wiedergesehen hatte, eher noch mehr, noch inniger. Dem kleinen Mädchen, das er dort vor dem Kinderheim gesehen hatte, würde er ein guter Vater werden können, wenn er die Gelegenheit dazu bekäme. Er liebte Kinder, und er hatte sich immer gewünscht, einmal eine große Familie zu haben. Wenn es für Christina und ihn noch einmal einen neuen Anfang geben könnte, wäre das alles möglich.

Während dem jungen Arzt diese Gedanken durch den Kopf gingen, fühlte er sich mit einem Mal viel besser, viel leichter. Er war plötzlich erfüllt von neuer Hoffnung, und ein weiches und zärtliches Lächeln legte sich um seine Lippen. Christina war und blieb die einzige Frau für ihn, mit der er sich eine gemeinsame Zukunft wünschte.

Als Michael nach einer ruhigen Nacht seinen Dienst beendete und die Klinik verlassen wollte, begegnete ihn die, an die er unentwegt denken mußte. Neben Schwester Barbara kam Christina gerade die Stufen der Treppe herunter.

»Guten Morgen, die Damen«, grüßte er fröhlich, aber seine Blicke ruhten dabei nur auf Christina, deren Gesicht sich mit einer dunklen Röte überzog.

Während Schwester Barbara den Gruß lächelnd erwiderte, nickte Christina nur und ging überhastet weiter, um seinen Blicken zu entfliehen. Erst als sich die Tür zum Behandlungstrakt hinter ihr und Barbara geschlossen hatte, sah sie die Freundin mit klopfendem Herzen an und sagte leise: »Ich verstehe bald überhaupt nichts mehr, Barbara. In den vergangenen Tagen wirkte er so kühl, so abweisend, und heute…«

»Nimm es, wie es kommt, Christina. Du hast dir vielleicht ganz unnötig Sorgen gemacht, daß er vielleicht hinter dein Geheimnis gekommen sein könnte. So, wie er dich eben angesehen hat… Ich an deiner Stelle würde mich darüber freuen. Es zeigt doch, daß er dich noch immer mag.«

»Trotzdem fühle ich mich dadurch nicht besser, Barbara. Aber reden wir jetzt nicht mehr davon. Für heute sind zwei Operationen angesetzt, und ich muß einen klaren Kopf behalten. Ich möchte mich nicht noch einmal vom Chef tadeln lassen. Ich will mich nur auf meine Arbeit konzentrieren.«

*

Wieder waren Tage vergangen. Die junge Chefärztin, Hanna Martens, hatte sich mit dem Jugendamt in Celle in Verbindung gesetzt und den Fall Peter König dargelegt. Da sie den Leiter des Amtes schon durch andere Fälle persönlich kannte, wußte sie die Angelegenheit bei ihm in guten Händen. Sie vergaß dabei auch nicht, die von Schwester Elli erhaltene Anschrift des Ehepaares zu übermitteln, das sich so sehnlichst ein Pflegekind wünschte.

Oskar Sittka legte noch im Beisein Hannas eine Akte an und sagte lächelnd zu ihr: »Ich werde persönlich dafür sorgen, daß diese Angelegenheit so rasch wie möglich überprüft wird, Frau Dr. Martens. Sollte sich herausstellen, daß das Ehepaar Hilpert für die Aufnahme eines Pflegekindes in Frage kommt, sehe ich keine großen Schwierigkeiten, ihnen den Jungen anzuvertrauen. Es ist im übrigen sehr gut, daß Sie uns auf Herrn Tönnis aufmerksam gemacht haben. Wir werden diesen Herrn, über den uns schon einige Klagen zu Ohren gekommen sind, ein wenig im Auge behalten. Ich weiß ja inzwischen, daß ich mich immer darauf verlassen kann, daß alles der Wahrheit entspricht, was Sie mir über eine Sache berichten.«

»Mir liegt nur das Wohl der mir anvertrauten kranken Kinder am Herzen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich auch wieder dieser Angelegenheit annehmen wollen. Ich höre dann also von Ihnen?«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens. Das Ehepaar Hilpert wird sich bei Ihnen in der Kinderklinik melden.«

Zufrieden verabschiedete sich Hanna, und sie wußte schon in diesen Minuten, daß der kleine Peter König nicht wieder in das städtische Kinderheim in Celle würde zurückkehren müssen.

Es war zwei Tage später, als Hanna in der Mittagszeit von Martin Schriewers gemeldet wurde: »Ein Ehepaar Hilpert möchte Sie sprechen, Hanna.«

»Danke, Martin, schicken Sie die beiden zu mir ins Sprechzimmer.«

Einen Augenblick später betraten ein Mann und eine Frau Hannas Sprechzimmer, die Hanna so um die fünfunddreißig herum schätzte.

Die beiden stellten sich ihr als Beate und Ernst Hilpert vor.

»Herr Sittka schickt uns zu Ihnen, Frau Dr. Martens. Wir dürfen hier bei Ihnen einen Jungen besuchen. Peter König heißt er, ich bin schon ganz aufgeregt«, sagte Beate Hilpert mit leuchtenden Augen.

»Ich weiß, worum es geht, und ich freue mich, Sie beide kennenzulernen.« Prüfend sah Hanna die beiden an, die einen sehr guten Eindruck auf sie machten.

»Sie möchten also den Peter als Pflegekind bei sich aufnehmen?«

»Ja, wenn er uns mag, Frau Dr. Martens. Ich selbst kann nach einer frühen Operation keine eigenen Kinder bekommen. Der Junge würde es gut bei uns haben und nichts vermissen. Ich kann es kaum erwarten, ihn endlich kennenzulernen«, erwiderte Beate Hilpert.

»Ich will Sie beide dann nicht länger auf die Folter spannen. Bitte, wenn Sie mir folgen würden, ich bringe Sie zu dem Jungen. Ich habe ihn schon darauf vorbereitet, daß er in den nächsten Tagen Besuch bekommt. Es freut mich für ihn, daß es schon so bald der Fall geworden ist.«

Hanna führte das Ehepaar hinauf auf die Krankenabteilung und brachte sie in Peters Krankenzimmer.

Mit fröhlicher Stimme sagte sie zu dem Neunjährigen: »Schau nur, Peter, hier bringe ich dir Herrn und Frau Hilpert. Sie möchten dich gern kennenlernen.«

Sie ließ Beate und Ernst Hilpert an sich vorbei das Zimmer betreten und sagte lächelnd: »Ich lasse Sie mit Peter allein und schaue etwas später noch einmal herein.«

Sie zog von außen die Tür zu und hörte noch, wie Beate Hilpert mit warmer Stimme sagte: »Hallo, Peter, ich freue mich, dich kennenzulernen.«

Zufrieden ging Hanna zu Schwester Elli ins Schwesternzimmer und sagte zu dieser: »Die Hilperts sind gerade zu Peter gekommen, Schwester Elli. Es sind, wie Sie sagten, sehr nette und sympathische Leute. Jetzt können wir nur die Daumen drücken, daß sich Peter und die beiden auch mögen.«

»Ich weiß, daß Beate Hilpert eine liebe Person ist. Sie hat sehr darunter gelitten, keine eigenen Kinder bekommen zu können. Der Peter wird dort gut aufgehoben sein. Ernst Hilpert hat einen Beruf, in dem er gut verdient. Sie besitzen ein Einfamilienhäuschen mit einem großen Garten. Es ist also alles da, um einen Jungen wie den Peter glücklich zu machen. Ich bin davon überzeugt, daß er die beiden liebgewinnen wird.«

»Wir wollen es für ihn wünschen, Schwester Elli. Heute ist ja erst ein Beginn. Was liegt sonst auf der Station an? Gibt es Probleme?«

»Nein, im Augenblick ist alles ruhig. Die kleinen Patienten erwarten, wie immer um diese Zeit, die Besuche ihrer Angehörigen.«

»Gut, Schwester Elli, dann werde ich jetzt mal in die Kantine hinuntergehen. Mir ist nach einem Kaffee.«

»Ich habe gerade von Schwester Laurie frischen aufbrühen lassen, Frau Doktor. Trinken Sie doch eine Tasse mit uns.«

»Gern, Schwester Elli«, erwiderte Hanna lächelnd.

Wie schon so oft, zierte Hanna sich auch dieses Mal nicht, gemeinsam mit den beiden Schwestern in gemütlicher Runde den Kaffee zu genießen.

*

Helle und zum größten Teil fröhliche Kinderstimmen zeigten einen neuen Tag im Kinderheim »Haus Maria« an. Kleine und größere Gruppen kamen aus den Zimmern und strebten in die Waschräume. Jeder wollte zu den ersten gehören, die fertig wurden, denn das anschließende Frühstück lockte die kleinen, fröhlichen Geister. So hatten die Betreuerinnen alle Hände voll zu tun.

Anneliese Kunz, einundzwanzig Jahre alt, war für eine Gruppe der jüngeren verantwortlich. Es waren die drei- bis fünfjährigen Mädchen. Lächelnd sah sie auf die Kinder, die lärmend auf den Waschraum zuliefen. Sie war gern im Kinderheim tätig, um den zum größten Teil elternlosen Kindern ein wenig Wärme und Geborgenheit zu vermitteln. Sie hatte es am eigenen Leib erfahren müssen, was es heißt, ohne die Liebe der Eltern aufzuwachsen, und schon von klein an war es ihr Wunsch gewesen, anderen Kindern in der gleichen Lage zu helfen. So hatte sich ihr Wunsch dann auch erfüllt. Immer zehn Kinder waren zu Gruppen zusammengefaßt, und so war es ein schönes Arbeiten.

Doch plötzlich blieb Anneliese stehen, sah sich suchend um. Da fehlte doch eines ihrer kleinen Schäfchen.

»Gitti, Bärbel, so wartet doch einmal. Wo ist denn die Michaela geblieben? Ist sie schon vorgelaufen?«

»Aber Tante Anneliese, weißt du es denn nicht? Die Michaela wollte heute nicht aufstehen«, gab eines der kleinen Mädchen, die nach Annelieses Ruf stehengeblieben waren, zur Antwort.

»Nein, das wußte ich nicht, Gitti. Nun geht euch brav waschen und helft den Kleinen, ich muß rasch nach Michaela schauen. Ich komme sofort nach. Und zankt euch nicht, habt ihr verstanden?«

»Ja, Tante Anneliese, wir sind ganz bestimmt brav«, beteuerte die Kleine und eilte mit dem zweiten kleinen Mädchen den anderen nach.

Besorgt eilte Anneliese Kunz zurück und betrat das Zimmer, in dem die kleine Michaela Faller mit vier weiteren Mädchen schlief. Ihre Besorgnis steigerte sich, als sie sah, daß das kleine Mädchen wirklich noch in seinem Bett lag.

»Michaela, Schätzchen, warum liegst­ du noch im Bett? Hast du denn überhaupt keinen Hunger auf Frühstück?«

Mit einer liebevollen Geste beugte sie sich zu der Kleinen und fuhr ihr über die Wange.

Erschrocken zuckte Anneliese zurück, denn die Wangen der Fünfjährigen glühten förmlich.

»Mein Hals tut mir weh, und mein Kopf auch, Tante Annelise«, kam es mit belegter Stimme über die Lippen des Kindes.

»Dann bleibst du schön liegen, Schätzchen. Ich sage nur rasch Frau Wittmer Bescheid, damit sie einen Doktor kommen läßt. Wenn die anderen beim Frühstück sind, dann komme ich sofort wieder zu dir zurück. Einverstanden…?«

»Ja, Tante Anneliese. Bringst du mir auch etwas zu trinken mit? Ich habe solchen Durst.«

»Natürlich bekommst du etwas zu trinken, Schätzchen. Ich bringe dir eine große Limonade mit.«

Noch einmal fuhr Anneliese sanft über Michaelas Stirn, die ebenso heiß war wie die Wangen, und lächelte beruhigend. Danach eilte sie mit raschen Schritten aus dem Zimmer, um Cordula Wittmer aufzusuchen.

Eine dunkle Frauenstimme forderte zum Eintreten auf, als Anneliese an die Tür des Büros klopfte.

»Sie, Frau Kunz? Sollten Sie um diese Zeit nicht bei den Kindern sein? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Es geht um Michaela Faller. Die Kleine ist nicht in Ordnung und kann das Bett nicht verlassen. Sie hat Temperatur und klagt über Kopf- und Halsschmerzen. Ich wollte Ihnen nur rasch Bescheid geben, damit Sie einen Arzt kommen lassen.«

»Michaela ist krank, Frau Kunz? Ich werde mich sofort darum kümmern. Haben Sie die Temperatur schon gemessen?«

»Nein, Frau Wittmer.«

»Gut, dann werde ich es sofort nachholen. Kümmern Sie sich nur um die anderen Kinder Ihrer Gruppe.«

»Michaela hat über großen Durst geklagt, und ich habe ihr versprochen, ihr eine Limonade zu bringen.«

»In Ordnung, ich werde ihr etwas mitnehmen, Frau Kunz. Danke, daß Sie mir sofort Bescheid gegeben haben.«

Gleichzeitig mit Anneliese Kunz verließ auch Cordula ihr Büro. Sie holte aus dem kleinen Verbandszimmer das Fieberthermometer und aus der Küche ein Glas Limonade, danach betrat sie mit raschen Schritten das Zimmer, in dem Michaela in ihrem Bett lag.

»Michaela, Kleines, was machst du nur für Sachen? Hier, deine Limonade, danach werden wir mal Fieber messen. Du kennst das ja, es tut nicht weh.«

Cordula Wittmers Stimme war weich und beruhigend. Sie ließ sich dem Kind gegenüber nichts von der Betroffenheit anmerken, die sie beim Anblick der Kleinen befallen hatte. Sie nahm das geleerte Glas an und schob das Thermometer unter die Achselhöhle der Kleinen.

»So, Schatz, nun mußt du mir ganz genau sagen, wo es dir überall weh tut. Ich muß es wissen, damit ich es Dr. Gürtler sagen kann.«

»Meine Mutti soll kommen, Tante Cordula. Ich möchte meine Mutti haben.«

»Die Mutti kommt in ein paar Tagen wieder, Schatz. Jetzt sag mir erst einmal, was dir alles weh tut.«

»Mein Kopf und mein Hals, Tante Cordula. Überhaupt alles, wenn ich mich anders legen will.«

»Der Doktor wird dir etwas geben, dann wirst du auch recht bald wieder gesund, Schatz. Du hast dir eine ganz schöne Grippe geholt. So, und nun schauen wir uns einmal das Fieber­thermometer an.«

Mit einem weichen Lächeln zog Cordula Wittmer das Thermometer unter Michaelas Achselhöhle hervor. Sie erschrak noch mehr, denn es zeigte neununddreißig Grad an. Da mußte sie sofort Dr. Gürtler anrufen, einen Kinderarzt aus der Stadt, der die Kinder hier im Heim betreute.

»Versuch ein wenig zu schlafen, Kleines, ich muß jetzt den Doktor anrufen«, sagte Cordula und verließ das Zimmer.

Eine halbe Stunde später war Dr. Gürtler da, ein älterer, schon grauhaariger, aber sehr netter Arzt, zu dem die Heimkinder großes Vertrauen hatten. Das war schließlich auch sehr wichtig.

Als er nach der Untersuchung Michaelas zu Cordula Wittmer trat, die vor dem Zimmer auf ihn wartete, sagte er auf ihre fragenden Blicke: »Alle Anzeichen sprechen dafür, daß es sich um eine starke Grippe handelt, Frau Wittmer. Ich denke, daß die Kleine die Erkrankung in einigen Tagen überstanden haben wird. Ich verschreibe Ihnen einige Medikamente, die Sie bitte laut Packungsbeilage verabreichen. Ich komme auf jeden Fall morgen früh noch einmal vorbei.«

»Danke, Herr Dr. Gürtler. Soll ich die Mutter der Kleinen informieren?«

»So schlimm ist es noch nicht, Frau Wittmer. Wir wollten da nicht vorzeitig für Aufregung sorgen. Wenn sich der Zustand des Kindes wider Erwarten verschlimmern sollte, ist es immer noch früh genug. Vielleicht sieht morgen früh alles schon wieder ganz anders aus. Also, warten Sie den Tag noch ab. Wir werden diesen Punkt morgen früh noch einmal erörtern. Einverstanden…?«

»Natürlich, Herr Dr. Gürtler. Ich verlasse mich ganz auf Ihr Urteil.«

Cordula Wittmer war erleichtert. Wenn der Arzt so zuversichtlich war, konnte sie nicht nachstehen. Als der Arzt fort war, sorgte sie als erstes dafür, daß jemand zur Apotheke fuhr, um die Medikamente zu holen, damit Michaela schnell wieder gesunden konnte.

*

In der Kinderklinik Birkenhain herrschte am nächsten Morgen reger Betrieb. Nach einem Autounfall auf glatter eisbedeckter Fahrbahn waren zwei Kinder in die Klinik eingeliefert worden. Eines der Kinder hatte zum Glück nur leichtere Verletzungen davongetragen. Aber das zweite Kind, ein elfjähriges Mädchen, mußte sofort operiert werden.

So waren alle Mitarbeiter des Operationsteams um Hanna und Kay gefordert, zu denen auch die beiden Operationsschwestern Barbara und Christina gehörten.

Während der Operation, es handelte sich um einen Milzriß, warf Michael Küsters, der gleichfalls assistierte, ab und zu einen kurzen Blick zu Christina, die hervorragend arbeitete. Doch für private Gedanken war keine Zeit, denn auch sein ganzer Einsatz war gefordert.

Nach der erfolgreich durchgeführten Operation sagte Hanna anerkennend: »Sie haben ausgezeichnet gearbeitet, Dr. Küsters. Nur immer weiter so, und Sie werden einmal ein sehr erfolgreicher Kinderchirurg werden.«

Michael erwiderte verlegen: »Ich habe nicht viel dazu beigetragen, Frau Dr. Martens. Unter Ihnen und Ihrem Bruder zu arbeiten macht sehr viel Freude. Ich versuche immer, mein Bestes zu geben. Ich habe noch nie so ein gutes Klima vorgefunden wie hier auf Birkenhain. Ich bin sehr gern hier.«

»So soll es auch weiterhin bleiben, Herr Küsters«, gab Hanna lächelnd zurück. Neben Kay, der schweigend dem kurzen Gespräch gefolgt war, verließ sie den Operationssaal.

Michael folgte etwas langsamer und warf noch einen Blick auf Christina, die mit Barbara begann, den großen Raum wieder in Ordnung zu bringen.

Christina und Barbara waren allein im OP, und Barbara sagte lächelnd: »Hast du mitbekommen, wie lobend sich die Chefin Michael Küsters gegenüber geäußert hat?«

»Habe ich, Barbara. Wenn er sein Berufsziel erreichen will, muß er auch gut arbeiten. Was meinst du, hat das Mädchen Chancen, es zu überstehen?« lenkte Christina jedoch sofort auf ein anderes Thema ab.

Bevor Barbara, die das Ablenkungsmanöver der Freundin verstand, etwas antworten konnte, betrat Schwester Dorte den Raum und sagte: »Da ist ein Telefongespräch für dich, Christina. Am Apparat ist eine Frau Wittmer. Es scheint sich um eine wichtige Angelegenheit zu handeln. Ich habe das Gespräch ins kleine Ärztezimmer legen lassen.«

Christina starrte ihre Kollegin mit aufgerissenen Augen an. Eine Schale mit Instrumenten entfiel ihren Händen, und klirrend schlugen die Instrumente auf dem gekachelten Fußboden auf. Bevor jemand etwas sagen konnte, stürzte sie davon.

Als Schwester Dorte den Operationssaal verlassen hatte, dachte Barbara besorgt: Da wird doch wohl nicht etwas mit Christinas kleiner Tochter passiert sein?

Schwester Barbara wurde noch besorgter, als Christina nicht zurückkam. Es mußte wohl wirklich etwas passiert sein. Sie unterbrach ihre Beschäftigung, um nachzusehen, wo Christina blieb. Sie fand die Freundin im kleinen Ärztezimmer, das noch zum Operationsbereich gehörte.

»Um Gottes willen, Christina, was ist denn mit dir los?«

Christina saß vor dem Telefonapparat, die Hände vor das Gesicht gepreßt und schluchzte hemmungslos vor sich hin.

»Christina, bitte, so sag mir doch, was passiert ist?«

Mit einer freundschaftlichen Geste legte sie einen Arm um die Freundin.

»Es geht um Michaela, mein kleines Mädchen. Ich muß hin, Barbara. Michaela ist schwer erkrankt.«

»So beruhige dich erst einmal, Christina. Frau Dr. Martens wird dir ganz bestimmt zusätzlich frei geben. Soll ich sie holen?«

»Dann muß ich ja… Dann muß ich ja alles sagen, Barbara.« Christina begann noch heftiger zu schluchzen.

»Und was spielt das in diesem Moment für eine Rolle, Christina? Einmal mußt du es unserer Chefin doch sagen. Sie ist eine verständnisvolle Frau.«

»So, bin ich das?« kam eine nur zu bekannte Stimme von der Tür her, die sich hinter dem Rücken der beiden Schwestern geöffnet hatte.

Hanna sah verständnislos auf die völlig aufgelöste Schwester Christina.

*

Hanna, die Unterlagen aus dem kleinen Ärztezimmer holen wollte, hatte die letzten Worte Schwester Barbaras gehört. Als sie jedoch die völlig in Tränen aufgelöste Kollegin Schwester Barbaras sah, sagte sie: »Lassen Sie mich bitte einen Augenblick mit Schwester Christina allein, Schwester Barbara.«

»Selbstverständlich, Frau Dr. Martens.«

Mit einem mitleidigen Blick auf die Freundin ging Barbara aus dem Zimmer.

»Was ist passiert, Schwester Christina? Was ist der Grund für Ihre Fassungslosigkeit?« fragte Hanna behutsam, nachdem sich die Tür hinter Schwester Barbara geschlossen hatte.

Christina senkte den Kopf, und ihre Tränen tropften auf ihre Hände hinab.

»Fällt es Ihnen so schwer, mir Ihr Vertrauen zu schenken, Schwester Christina? Vielleicht kann ich Ihnen helfen. Ist es so schlimm?«

Hannas warme, wohltuende Stimme brach schließlich die letzten Schranken in Christina. Schluchzend stammelte sie: »Mein Kind, mein kleines Mädchen, es ist sehr krank, und ich kann nicht bei ihm sein.«

»Ihr Kind, Schwester Christina? Sie haben eine Tochter?« entfuhr es Hanna, und verblüfft sah sie auf die noch immer in Tränen aufgelöste junge Schwester. Was sie da gehört hatte, schien ihr für einen Moment unfaßbar. Da lebte und arbeitete diese junge Schwester seit ein paar Jahren in der Klinik, und niemand hatte bis jetzt erfahren, daß sie…

Nun hob Christina den Kopf, sah ihre Vorgesetzte mit schwimmenden Augen an und sagte mit brüchiger Stimme.

»Ja, ich habe eine kleine Tochter, Frau Dr. Martens. Meine Michaela ist gerade fünf Jahre alt. Ich habe sie in einem Kinderheim in der Nähe von Celle untergebracht, das eine Cousine von mir leitet.«

»Ich verstehe aber nicht, warum Sie mir nie etwas von Ihrem Kind gesagt haben.«

»Ich hatte nicht den Mut, und ich hatte Angst, daß Sie mich aus diesem Grund vielleicht nicht einstellen würden.«

»Sie sind ein Kindskopf, Schwester Christina. Wir leben doch nicht mehr im vorigen Jahrhundert. Bei Ihrer Einstellung kam es auf Sie, auf Ihre Zeugnisse an. Natürlich hätte ich es auch akzeptiert, wenn ich von Ihrem Kind gewußt hätte. Aber Sie sagten, daß Ihre Kleine erkrankt ist. Was fehlt ihr denn?«

In Hanna war das ärztliche Interesse erwacht.

»Ich weiß es nicht genau, Frau Dr. Martens. Meine Cousine hat mir nichts gesagt. Sie hat mich nur dringend gebeten zu versuchen, so schnell wie möglich zu kommen. Ich habe solche Angst um mein Kind.«

Am liebsten hätte Hanna in diesem Moment nach dem Vater des Mädchens gefragt. Aber sie wollte die junge Schwester nicht mit einer solchen Frage in die Enge treiben. Ohne ihr Gegenüber aus den Augen zu lassen, fragte sie: »Würde es Ihnen helfen, wenn ich mich darum kümmere und dafür sorge, daß Ihr Töchterchen hierher zu uns nach Birkenhain gebracht wird?«

Christina starrte einen Moment sprachlos auf Hanna, dann fragte sie stockend: »Das würden Sie wirklich für mich tun, Frau Dr. Martens?«

»Natürlich, wenn ich es doch sage«, erwiderte Hanna aufmunternd.

»Das wäre ja wunderbar, Frau Dr. Martens. Ich hätte danach doch etwas mehr Zeit für mein krankes Mädchen.«

»Eben, Schwester Christina. Also, jetzt Schluß mit den Tränen, ich werde mich umgehend darum kümmern. Mit dem Kinderheim außerhalb von Celle meinen Sie doch bestimmt das Kinderheim ›Haus Maria‹, nicht wahr?«

»Ja, Frau Doktor, das ist es. Ich bin Ihnen ja so dankbar.« Hastig wischte Christina die letzten Tränen von den Wangen, und ein dankbares Lächeln leuchtete in ihren dunklen Augen auf.

Hanna wandte sich schon der Tür zu, als hinter ihrem Rücken ein erstickter Laut erklang. Rasch wandte sie sich noch einmal um und sah, daß die junge Schwester plötzlich wankte, ihr Gesicht bleich geworden war.

»Um Himmels willen, Schwester Christina, was ist mit Ihnen? Ist Ihnen nicht gut?«

Betroffen sah Hanna die plötzliche Veränderung der jungen Schwester und trat rasch zu ihr.

»Es geht nicht, Frau Dr. Martens. Es ist, Dr. Küsters, er…« Christina schwieg abrupt.

»Was ist mit Dr. Küsters? Ich weiß, daß Sie beide vor über fünf Jahren sehr eng miteinander befreundet waren. Er ist der Vater Ihres Kindes, nicht wahr?«

»Ja, aber ich will nicht, daß er es erfährt. Michaela gehört mir, mir allein.«

»Bitte, regen Sie sich jetzt nicht auf, Mädchen. Wenn Sie es nicht wollen, wird er es gegen Ihren Willen nicht von mir erfahren. Machen Sie sich über diesen Punkt nicht zusätzliche Sorgen. Sie dürfen ganz beruhigt sein. Wenn ich auch nicht ganz verstehe, warum Sie ihm diese Tatsache verschweigen wollen.«

»Ich möchte über die Gründe nicht sprechen, Frau Dr. Martens«, antwortete Christina tonlos.

»Nun, es geht mich ja auch nichts an. Also, es bleibt dabei, daß Ihr kleines Mädchen zu uns in die Kinderklinik gebracht wird. Wir werden hier alles tun, damit das Kind wieder gesund wird.«

Hanna wartete keine Erwiderung ab, sondern verließ nun mit raschen Schritten das Zimmer, um ihr eigenes Sprechzimmer aufzusuchen. Von dort aus wollte sie sofort alles in die Wege leiten, damit Schwester Christinas Kind nach Birkenhain gebracht werden konnte. Dabei gingen Hanna die verschiedensten Gedanken durch den Kopf. Sie verstand wirklich nicht, daß die junge Schwester dem Vater des Kindes gegenüber ihr Geheimnis nicht preisgeben wollte. Was spielte sich zwischen Schwester Christina und dem jungen Arzt ab? Soweit sie sich erinnern konnte hatte er doch zu Kay gesagt, daß er Schwester Christina noch immer sehr liebte. Schien ja wirklich eine komplizierte Angelegenheit zu sein. Doch wie auch immer alles zusammenhing, es spielte für den Augenblick keine Rolle. Jetzt hatte das Kind den Vorrang vor allen anderen.

Hanna mußte nicht lange nach der Telefonnummer des Kinderheimes suchen und ließ sich dort mit der Leiterin verbinden.

»Wittmer, Kinderheim ›Haus Maria‹«, hörte Hanna einen Augenblick später eine angenehme Frauenstimme.

»Mein Name ist Martens, Dr. Martens, Frau Wittmer. Ich rufe aus der Kinderklinik Birkenhain an. Es geht um einen Ihrer Schützlinge, um die kleine Michaela Faller.«

»Entschuldigen Sie, ich verstehe nicht ganz. Hat Schwester Christina Sie informiert? Weiß Sie von Ihrem Anruf, Frau Dr. Martens?«

»Ja, gewiß, sonst könnte ich mich ja nicht mit Ihnen in Verbindung setzen. Ich bin so ziemlich informiert. Es geht um folgendes: Wie schwer ist Schwester Christinas Töchterchen erkrankt, und ist das Mädchen transportfähig? Ich habe Schwester Christina vorgeschlagen, das Kind zu uns in die Kinderklinik bringen zu lassen.«

»Das Kind hat eine schwere Angina, und unser Dr. Gürtler vermutet noch etwas anderes, hat darüber jedoch noch nicht gesprochen. Ob Michaela transportfähig ist, müßte ich bei Dr. Gürtler erfragen. Es wäre natürlich wünschenswert für Michaela, wenn sie ihre Mutter jetzt häufiger um sich hätte«, hörte Hanna die angenehme Stimme sagen.

Einen Moment überlegte sie, dann sagte sie freundlich: »Ich werde mich selbst mit Dr. Gürtler in Verbindung setzen, Frau Wittmer. Ich kann dann auch sofort alles für die Überführung der Kleinen hierher nach Birkenhain mit ihm besprechen. Er wird Sie danach sofort informieren.«

»Möchten Sie, daß ich Ihnen die Telefonnummer von Herrn Dr. Gürtler durchgebe, Frau Dr. Martens?«

»Nicht notwendig, ich habe die Nummer in meinem Verzeichnis, Frau Wittmer. Ich wünsche Ihnen für Ihre anderen Schützlinge alles Gute. Wir hören sicher noch voneinander.«

Nach ein paar höflichen Worten beendete Hanna das Gespräch.

Schon kurze Zeit später war ihr nächster Gesprächspartner in der Leitung, der Kinderarzt Dr. Gürtler.

*

Es war Mittagszeit, und Kay wollte gerade in die Kantine gehen, um eine Kleinigkeit zu essen, da seine Haushälterin an diesem Tag frei hatte, als Hannas Stimme hinter ihm herklang.

»Hast du ein paar Minuten Zeit für mich, Kay? Ich möchte gern etwas mit dir besprechen.«

»Ich wollte zwar gerade in die Kantine gehen, aber für dich verschiebe ich es gern. Was hast du auf dem Herzen, Hanna?«

»Das läßt sich nicht in ein paar Worten erledigen. Ich mach dir einen Vorschlag. Statt in die Kantine geh doch mit zu mir. Die Füchsin kocht immer reichlich, da wirst du auch noch satt. Es bleibt dann mehr Zeit für unser Gespräch.«

Kay war einverstanden, und einen Augenblick später verließen sie das Klinikgebäude, um hinüber ins Doktorhaus zu gehen.

Jolande Rilla war zwar leicht erstaunt, als Hanna mit Kay die Wohnung betrat. Es war jedoch so, wie es Hanna vorher zu Kay gesagt hatte. Die Füchsin hatte reichlich gekocht, und so aß Kay gemeinsam mit Hanna und der Füchsin zu Mittag.

Nach der Mahlzeit saßen sich Hanna und ihr Bruder bei einem Mocca gegenüber, und Kay fragte interessiert: »Du wolltest etwas mit mir besprechen, Hanna? Worum dreht es sich?«

»Besprechen ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck, Kay. Es geht um unsere Schwester Christina. Ich habe heute so einiges von ihr erfahren. Wohl der Not gehorchend, hat sie mir gegenüber ein bislang wohlgehütetes Geheimnis preisgegeben. Ein Geheimnis, das für uns für einige Zeit Zuwachs bedeutet.«

»Ein Geheimnis, für uns Zuwachs?« Verständnislos sah Kay seine Schwester an, dann sagte er kopfschüttelnd: »Sag schon endlich was los ist, Hanna. Du hast mich neugierig gemacht.«

Hanna berichtete nun, wie sie Schwester Christina im kleinen Ärztezimmer vorgefunden hatte, und von ihrem anschließenden Gespräch mit der jungen Operationsschwester.

»Ich habe schon alles in die Wege geleitet, damit das kleine Mädchen zu uns nach Birkenhain gebracht wird. Ich fürchte aber, daß damit einiges auf uns zukommt.«

»Was meinst du damit, Hanna?«

»Nun, Dr. Gürtler ließ durchblicken, daß der Verdacht besteht, daß die Kleine an Polio erkrankt sei. Es beständen bestimmte Verdachtsmomente. Natürlich hat er sich über diesen Verdacht noch niemandem gegenüber geäußert.«

»Kinderlähmung, das würde uns hier gerade noch fehlen, Hanna. Aber ich bin der Letzte, der Einwände erhebt. Sollte es wirklich der Fall sein, werden wir das gemeinsam schon in den Griff bekommen. Eine große Überraschung ist es jedoch für mich, daß es um das Kind Schwester Christinas geht. An die Möglichkeit, daß sie ein Kind hat, hätte ich nie gedacht. Wann, sagst du, kommt unsere neue Patientin?«

»Heute, am Spätnachmittag, wird die kleine Michaela gebracht. Dr. Gürtler wird alles veranlassen.«

»Michaela, der Name allein läßt eigentlich schon tief blicken. Wenn Dr. Küsters nicht völlig blind ist, wird er sicher selbst seine Schlüsse daraus ziehen können, oder?«

»Sollte man meinen, Kay. Aber damit müssen sich die beiden schon allein auseinandersetzen. Von mir erfährt er nicht, wie die Dinge liegen. Ich habe Schwester Christina mein Wort gegeben. Und du, misch dich bitte auch nicht ein.«

»Ich werde mich schwer hüten«, beteuerte Kay.

»Möchten Sie beide noch einen Kaffee?« wollte Jolande Rilla in diesem Augenblick wissen und sah fragend von Hanna auf deren Bruder.

Kay schüttelte verneinend den Kopf, und Hanna sagte lächelnd: »Danke, Füchsin, wir müssen sowieso wieder in die Klinik hinüber.«

»Tatsächlich, es wird Zeit. Wie rasch doch die Mittagspause immer vorübergeht.«

Kay erhob sich, verabschiedete sich freundlich von Hannas Haushälterin, und gemeinsam gingen sie zur Klinik zurück.

Auf dem kurzen Weg durch den Klinikpark wollte Kay noch wissen: »Wie geht es mit deinem anderen Sorgenkind, dem Peter König? Hat er sich inzwischen schon mit dem Ehepaar Hilpert angefreundet? Ich habe sie gegen elf Uhr kommen sehen.«

»Ich glaube doch, daß sich die drei mögen, Kay. Gestern, gleich am ersten Tag, waren die Hilperts bis zur Abendbrotzeit bei dem Jungen. Als ich heute morgen bei ihm war, hatte er richtig leuchtende Augen. Ich sehe nachher noch einmal zu Peter ins Zimmer hinein, um mich genauer zu informieren. Mir sind Frau und Herr Hilpert sehr sympathisch. Ich habe ihnen freigestellt, wann sie dem Jungen sagen, daß er nicht mehr ins städtische Kinderheim zurückkehren muß.«

»Dann könnte man ja jetzt schon sagen, Ende gut, alles gut, nicht wahr?«

»Könnte man sagen, aber ich bin da lieber vorsichtig. Erst wenn der Junge mit dem Ehepaar Hilpert unser Haus verläßt, weiß ich, daß für ihn alles gut wird. Was hast du jetzt vor?«

Hanna und Kay waren inzwischen in der Eingangshalle der Klinik angelangt, und Hanna sah ihren Bruder fragend an.

»Ich werde in der Intensivabteilung nach unserem kleinen Unfallopfer sehen. Schwester Margret macht ihre Sache auf dieser Abteilung übrigens ausgezeichnet. Wir hätten keine bessere Kraft für diesen Posten bekommen können.«

»Ich weiß, das habe ich schon sehr bald bemerkt. Sie arbeitet sehr gewissenhaft, man kann sich hundertprozentig auf sie verlassen. Ich habe schon einige Male gedacht, daß sie eigentlich ihren Beruf verfehlt hat. Schwester Margret hätte Ärztin werden müssen. Ich weiß jedoch auch, daß sich nicht jeder seinen Traum erfüllen kann. Wir zwei hatten Glück und die Hilfen, die andere nicht haben. So, und nun muß ich wieder und will dich nicht länger aufhalten.«

Kay nickte zustimmend und war gleich darauf hinter der hohen Glastür verschwunden, die zum Behandlungstrakt führte.

*

Hanna war gerade im Begriff, an die Tür des Krankenzimmers zu klopfen, in dem Peter König sich mit seinem Besuch aufhielt, als sie aufhorchte. Helles Kinderlachen und das dunkle Lachen einer Männerstimme drangen an ihr Ohr. Sie war darüber so erleichtert, daß sich ein zufriedenes Lächeln um ihren Mund legte. Daß es in dem Krankenzimmer so lustig zuzugehen schien, war für die junge Ärztin ein Zeichen dafür, daß sich für den neunjährigen Jungen wohl alles zum Besten entwickelte. Konnte sie in diesem Fall mehr erwarten?

Einen Moment dachte Hanna daran, die fröhliche Runde hinter der Tür nicht zu stören, aber dann siegte doch die Neugierde in ihr.

Sie klopfte kurz an und betrat das Krankenzimmer. Gerade klatschte Peter erfreut in die Hände und rief lachend: »Ätsch, ich habe gewonnen, Onkel Ernst.«

In diesem Augenblick sah Peter sie und rief mit leuchtenden Augen: »Frau Doktor, Frau Doktor, ich muß Ihnen etwas ganz Tolles erzählen.«

»Hallo, Peter, dir scheint es ja heute besonders gut zu gehen. Was willst du mir denn so Tolles erzählen? Es muß ja wohl etwas sein, worüber du dich freust.«

Hanna sah kurz zu Beate und Ernst Hilpert, die beide lächelten, dann wandte sie sich wieder an den Jungen und sagte: »Nun schieß schon los, Peter, ich bin schon richtig neugierig geworden.«

»Tante Beate und Onkel Ernst wollen mich zu sich nach Hause nehmen. Ich muß nicht mehr ins Heim zurück.«

»Und darüber bist du so glücklich, Peter?«

»Ja, Frau Doktor, ich finde es einfach prima. Wenn es mir gefällt, darf ich auch ganz lange bleiben. Ich bekomme ein eigenes Zimmer, hat Tante Beate gesagt.«

»Fein, Peter, das freut mich für dich. Dann laß ich dich jetzt wieder mit deiner neuen Tante und deinem neuen Onkel allein.«

»Darf ich Sie einen Augenblick sprechen, Frau Dr. Martens?« fragte Beate Hilpert.

»Selbstverständlich, Frau Hilpert. Hier, oder…?« Nun sah Hanna fragend auf die junge Frau.

»Nicht hier«, erwiderte Beate Hilpert mit einem Blick auf den Jungen, der schon wieder in das Brettspiel vertieft war.

Hanna verstand, und gefolgt von der jungen Frau verließ sie das Krankenzimmer. Erst als sie die Tür von außen zugezogen hatte, sagte sie lächelnd: »Was haben Sie auf dem Herzen, Frau Hilpert? Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Es ist alles in Ordnung, Frau Doktor. Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob es vielleicht noch zu früh war, dem Peter alles zu sagen. Aber er gefiel uns auf Anhieb, wir waren einander sofort sympathisch, da konnten wir nicht anders und haben ihm heute mittag gesagt, daß wir ihn gern mit zu uns nach Hause nehmen möchten. Er war darüber überglücklich.«

»Warum machen Sie sich dann noch darüber Gedanken«, sagte Hanna mit einem herzlichen Lächeln.

»Ich mache mir aber Gedanken, weil ich noch immer nicht fassen kann, daß sich auch für uns alles so zum Guten wendet.«

»Wenn der Junge glücklich ist, ist doch alles in Ordnung, Frau Hilpert. Ich freue mich auch, wenn der Peter in Ihnen und Ihrem Mann gute und liebevolle Pflegeeltern bekommt. Und nun gehen Sie wieder zu den beiden hinein. Es sind nur noch ein paar Tage, dann wird Peter entlassen, und Sie haben ihn ganz für sich. Er hat es verdient, ein schönes Zuhause zu bekommen. Und das wird er bei Ihnen und Ihrem Mann ja erhalten. Wir sehen uns bestimmt noch, solange Peter bei uns sein wird.«

Beate Hilpert ging ins Krankenzimmer zu Peter und ihrem Mann zurück.

Hanna begab sich ins Schwesternzimmer, um Schwester Elli ein paar Anweisungen zu geben, die die Ankunft von Schwester Christinas Töchterchen betrafen.

»Bereiten Sie Zimmer sieben vor und sorgen Sie bitte dafür, daß für die Liege, die in dem Zimmer steht, noch Kissen und Decken bereitgelegt werden. Ich möchte der Mutter des kleinen Mädchens die Gelegenheit geben, in der Nähe ihres Kindes bleiben zu können. Es ist im übrigen Schwester Christina.«

»Wie bitte, Frau Dr. Martens, habe ich Sie gerade richtig verstanden?«

»Haben Sie, Schwester Elli. Die Mutter unseres Neuzuganges ist Schwester Christina.«

»Das darf doch nicht wahr sein!« entfuhr es der Oberschwester aufgebracht. »Dann hat Schwester Christina Sie die ganzen Jahre, die sie hier in der Klinik arbeitet, angelogen. Ich verstehe nicht, wie so etwas geschehen konnte.«

»Urteilen Sie nicht zu hart, Schwester Elli. Schwester Christina hat uns nicht angelogen. Nennen wir es anders, sie hat uns einfach etwas verschwiegen, und das ist doch irgendwie auch verzeihlich. Seien wir nicht päpstlicher als der Papst. Schwester Christina hatte ihre Gründe.«

»Und Sie schicken Sie jetzt nicht fort, Frau Dr. Martens?«

»Warum sollte ich, Schwester Elli? Es handelt sich doch um Schwester Christinas Privatleben. Sie hat sich nichts zuschulden kommen lassen, was eine Kündigung rechtfertigen könnte. Für Schwester Christina war es ganz bestimmt nicht einfach, ihr Kind in ein Heim geben zu müssen.«

»Ich meine ja nur, Frau Doktor«, kam es kleinlaut über die Lippen der sonst so resoluten Oberschwester.

»Schon gut, Schwester Elli, dann sind wir uns ja einig. Für mich und auch für meinen Bruder bleibt Schwester Christina das, was sie bis jetzt war, eine ausgezeichnete Operationsschwester. Ich kann mich darauf verlassen, daß alles nach meinen Wünschen läuft, nicht wahr?«

»Das ist doch selbstverständlich«, beeilte sich Schwester Elli, ihrer Vorgesetzten zu versichern.

Während Hanna die Krankenstation wieder verließ, war sie sehr froh, der äußerst korrekten Oberschwester sofort den Wind aus den Segeln genommen zu haben. Sie wollte nicht, daß Schwester Christina durch unbedachte Worte verletzt wurde.

Hanna fand Schwester Christina in der Intensivabteilung, in der sie Schwester Margret zur Hand ging.

Hanna gab ihr einen kurzen Wink, und sofort folgte sie ihrer Chefin auf den Gang. »Haben Sie schon etwas erreichen können, Frau Dr. Martens?« fragte sie mit ängstlichen Augen.

»Das, was wir wollten, Schwester Christina. Ich habe alles mit dem Arzt, der die Kinder des Heimes betreut, abgesprochen. Er wird alles in die Wege leiten, damit man ihr Töchterchen noch heute zu uns nach Birkenhain bringen kann. Und damit Sie Bescheid wissen: Außer, wenn Sie bei Operationen gebraucht werden, stelle ich Sie für die Pflege Ihrer kleinen Tochter frei. Also, wie schon gesagt, nur wenn Sie nicht im Operationssaal gebraucht werden. Größeres Entgegenkommen kann ich Ihnen nicht bewilligen. Sind Sie damit zufrieden?«

»Ob ich damit zufrieden bin, Frau Dr. Martens? Was Sie für mich und mein Kind tun, kann ich nie wiedergutmachen. Für mich ist es wunderbar, in der Nähe meines Kindes zu sein, wenn es krank ist und mich am dringendsten braucht. Wird meine Kleine mit dem Krankenwagen oder privat gebracht?«

»Mit dem Krankenwagen, Schwester Christina. Schließlich ist die Kleine krank.«

»Und wann wird sie kommen, Frau Doktor?«

»Es wird bestimmt nicht mehr allzulange dauern. Wenn der Krankenwagen kommt, bin ich in meinem Sprechzimmer. Da Ihr Tagesdienst sowieso bald beendet ist, können Sie ja ein wenig auf die Ankunft des Krankenwagens achten.«

Noch ein aufmunterndes Lächeln von Hanna, und Schwester Christina war allein mit ihrem Herzklopfen.

*

Es war gegen siebzehn Uhr, als der Krankenwagen, der die kleine Michaela Faller in die Klinik Birkenhain brachte, an der Ambulanz vorfuhr.

Vor Aufregung, gepaart mit Angst um die kleine Tochter, hatte Christina rote Flecken im Gesicht, als sie Hanna in deren Sprechzimmer Bescheid sagte und danach so rasch sie konnte zur Ambulanz eilte, um dabeizusein, wenn Michaela ins Untersuchungszimmer gebracht werden würde.

»Mami, meine Mami.« Das fünfjährige Mädchen sah Christina sofort und streckte verlangend die Arme nach ihr aus.

»Mein Schätzchen, mein Engelchen, die Mami ist ja bei dir.« Liebevoll beugte Christina sich über die zierliche Kindergestalt, die jetzt mit der fahrbaren Trage ins Innere der Klinik gebracht wurde, wo Hanna Martens sie in Empfang nahm. Um dem Kind an diesem Tag nicht zuviel zuzumuten, da die Temperatur ziemlich hoch war, sagte Hanna zu Schwester Christina: »Die Kleine wird sofort nach oben auf die Station in Zimmer sieben gebracht. Es wird zuviel, wenn wir heute noch Untersuchungen durchführen. Wir werden gleich morgen früh beginnen.«

»Und ich darf wirklich bei meinem Kind bleiben, Frau Dr. Martens?«

»Ja, das habe ich doch gesagt. Ich habe extra zu diesem Zweck noch Kissen und Decken für die Liege ins Zimmer bringen lassen. Kommen Sie, sorgen wir erst dafür, daß das kleine Schätzchen ins mollige Bett kommt.«

»Wie kann ich Ihnen nur danken, Frau Doktor?«

»Danken Sie mir, wenn Ihr Töchterchen wieder gesund ist. Noch ist es nicht soweit. Noch wissen wir überhaupt nicht, was ihm überhaupt richtig fehlt.«

»Aber es ist doch nur eine schwere grippale Infektion, wie mir meine Cousine sagte.« Aus angstvoll geweiteten Augen sah Christina ihre Chefin an.

»Wir wollen uns wünschen, daß es nur das ist. Aber darüber unterhalten wir uns morgen früh«, gab Hanna mit einem beruhigenden Lächeln zurück.

»Mami, bitte hierbleiben, nicht fortgehen«, kam es leise über die Lippen des fiebernden Kindes. Mit einer unendlich zärtlichen Geste fuhr Christina ihrer kleinen Tochter über die Wange und sagte weich: »Ich bin ja hier, mein Kleines, du kannst ganz beruhigt sein. Du wirst jetzt in ein feines Bett gebracht, und ich bleibe bei dir. Du kannst es mir glauben.«

»Ganz ehrlich, Mami? Immer gehst du wieder fort, und ich bin dann so allein. Ich will aber nicht allein sein. Du sollst doch immer bei mir bleiben.«

»Pst, nichts mehr sagen, mein kleiner Liebling. Bis du wieder gesund bist, bin ich jeden Tag ganz lange bei dir.«

Das kleine Mädchen ließ die Hand seiner geliebten Mami nicht mehr los, bis sie oben im Krankenzimmer waren. Das Herz tat Christina weh, wenn sie an die Zukunft dachte. Da war das ständige Betteln ihrer Kleinen, doch für immer bei ihr zu bleiben. Sie wußte bald nicht mehr, was sie noch sagen sollte, mit welchen Gründen sie ihr Mädchen noch hinhalten sollte und konnte. Es waren und blieben doch alles nur Versprechungen, die sie nie würde einhalten können. Dabei gäbe sie mit Freuden alles her, um mit ihrem Kind zusammen sein zu dürfen.

Später saß Christina am Bett ihres kleinen Mädchens und beobachtete es besorgt. Michaela warf sich unruhig in den Kissen hin und her, und Christina konnte nichts anderes tun, als hin und wieder die feinen Schweißperlen abzutupfen, die sich auf der Kinderstirn bildeten. Ihre Medikamentendosis hatte die Kleine bekommen, und ein Mehr war nicht ratsam und auch nicht zu verantworten. Dabei war auch die Temperatur noch um ein paar Grade gestiegen.

Sanft streichelte Christina über die Stirn der Kleinen. Wie lange war es nun schon her, daß sie so neben dem Bett Michaelas gesessen und ihren Schlaf bewacht hatte? Wenn der Anlaß nicht so traurig wäre, wie glücklich könnte sie mit ihrem kleinen Mädelchen sein.

Die Zeit, die Christina am Bett ihres Kindes saß und es schweigend beobachtete, verging unendlich langsam. Es wurde draußen schon dunkel, als es an die Tür klopfte und gleich darauf Barbara auf Zehenspitzen das Zimmer betrat.

»Ich habe dir Nachtwäsche und einen frischen Kittel herunter gebracht. Frau Dr. Martens sagte mir, daß ich dir diese Sachen bringen soll, da du auch über Nacht bei deinem kleinen Mädchen bleiben darfst. Das ist dein Töchterchen, nicht wahr?«

Leise trat die junge Schwester ans Bett und sah einen Moment schweigend auf das kleine Mädchen hinunter.

»Ja, Barbara, das ist meine kleine Michaela. Ist sie nicht ein niedliches Persönchen?«

»Ja, gewiß, das ist sie, Christina. Weiß man denn inzwischen schon genau, was ihr fehlt?« flüsterte Barbara, um den Schlaf der Kleinen nicht zu stören.

»Nein, noch nicht genau. Michaela wird erst morgen früh noch einmal gründlich untersucht. Ich bin ja so froh, daß ich sie für einige Tage um mich haben kann«, gab Christina genauso leise zurück.

»Es wird schon wieder werden, Christina. Kinder überstehen eine Erkältung meistens sehr rasch. Freu dich, daß du sie jetzt wenigstens ein Weilchen bei dir haben kannst. Ich muß wieder. Mach’s gut, bis morgen früh.«

Einen Augenblick später war Christina erneut mit ihrer kleinen Tochter allein.

Schwester Barbara ging, sehr nachdenklich geworden, hinauf in ihr und Christinas gemeinsames Zimmer. Gleich als ihre Blicke auf das erkrankte kleine Mädchen gefallen waren, war ein anderes Gesicht vor ihrem inneren Auge aufgetaucht. Sie hatte es der Freundin zwar nicht gesagt, aber Michaelas Ähnlichkeit mit ihrem Vater war ganz offensichtlich. Wenn dieser die Kleine zum ersten Mal so dicht vor sich sähe, würde auch er es erkennen, wenn er nicht völlig blind war. Die Kleine hatte das gleiche blonde Haar des Vaters. Christinas Haar war dunkelbraun. Nein, wie auch immer, Christina würde es so oder so nicht mehr lange vor ihm geheimhalten können. Sie konnte das Kind hier in der Klinik ja nicht gut vor ihm verbergen. So waren die Gedanken Schwester Barbaras.

Christina aber blieb noch Stunden am Bett ihres Töchterchens sitzen, sah es nur an, bis sie sich schließlich übermüdet auf die Liege legte und einschlief.

Irgendwann in der Nacht wurde Christina durch die ängstliche Stimme der Kleinen geweckt.

»Mami, Mami, wo bist du, ich muß Pipi machen.«

Sofort war Christina hellwach und half der Kleinen aus dem Bett, damit sie aufs Nachttöpfchen konnte. Wie groß war aber ihr Schreck, als die Fünfjährige fast gestürzt wäre, hätte Christina nicht in letzter Sekunde zugegriffen.

»O Gott, Schätzchen, was ist denn nur auf einmal mit dir?« entfuhr es Christina bestürzt.

»Weiß nicht, Mami, es ist so komisch, ich kann nichts dafür. Ich glaube, mein Bein ist eingeschlafen«, kam es weinerlich über die Lippen der Kleinen.

Christina war schon dabei, ihr Kind wieder in die Kissen zu legen. Beruhigend sagte sie: »Warte einen Augenblick. Mami schiebt dir das Töpfchen jetzt unter deinen kleinen Po, dann brauchst du überhaupt nicht aus deinem Bett. Wir hätten das gleich machen sollen. Dein eingeschlafenes Beinchen werde ich dir gleich wach streicheln. Du mußt keine Angst haben. Wir bekommen das schon wieder hin, und du kannst sofort weiterschlafen.«

Die Kleine verrichtete ihr Geschäftchen, und Christina massierte mit sanften Händen das linke Bein ihres Töchterchens, obwohl Michaela schnell wieder eingeschlafen war.

Als eine der Nachtschwestern eine Viertelstunde später ins Zimmer sah, war alles ruhig, und beide, Christina und ihre kleine Tochter, schliefen fest.

*

Als am nächsten Morgen bei der Frühbesprechung alle in Frage kommenden Fälle der kleinen Patienten durchgesprochen waren, sagte Hanna zu ihren Mitarbeitern: »Da ist noch ein Neuzugang von gestern nachmittag, zu dem ich einige Worte sagen möchte, meine Damen und Herren. Es handelt sich bei dem Neuzugang um ein fünf­jähriges Mädelchen. Der Verdacht des einweisenden Arztes geht auf spinale Kinderlähmung hin. Sie wissen alle, daß es sich, falls sich der Verdacht durch unsere Untersuchungen bestätigen sollte, um eine meldepflichtige Infektionserkrankung handelt. Die Mutter des Kindes, es ist unsere Operationsschwester Christina, wird zum größten Teil die Pflege des Kindes übernehmen. Das war es fürs erste, was ich Ihnen zu diesem Fall sagen wollte. Hat jemand von Ihnen dazu noch Fragen?«

»Ja, ich, Frau Dr. Martens«, meldete sich Michael Küsters zu Wort, und es schien Hanna, als sei sein Gesicht sehr blaß geworden.

»Bitte, Dr. Küsters.«

»Ist das Kind denn nicht gegen Kinderlähmung geimpft worden? Es ist doch ganz selten, daß in der heutigen Zeit noch diese Erkrankung auftritt, soweit ich informiert bin.«

»Ob eine Impfung erfolgt ist, ist mir im Augenblick nicht bekannt, Dr. Küsters. Aber es treten immer noch vereinzelt Fälle auf. Sollte sich der Verdacht Dr. Gürtlers bestätigen, wir werden es ja bald wissen, dann haben wir es im Fall der Kleinen mit der selten auftretenden Erkrankung zu tun. Wir können nur hoffen, daß die Sache für das Mädelchen nicht zu schwer wird. Wir alle wissen, daß es keine spezielle Behandlungsmethode gibt, sondern nur das übliche. Wir können nur versuchen, alles unter Kontrolle zu halten.«

Michael Küsters zögerte ein paar Sekunden. Er wollte noch eine Frage stellen, ließ es jedoch dann sein und verließ mit den anderen Kollegen und Kolleginnen die Besprechung.

Allein mit Kay, der in den letzten Minuten nur aufmerksam zugehört hatte, sagte Hanna nachdenklich: »Ich bin ja nun wirklich gespannt auf den Moment, in dem unser Dr. Küsters das kleine Mädelchen aus der Nähe sieht. Es ist da eine ganz deutliche Ähnlichkeit zu erkennen. Du wirst mir recht geben, wenn du das Mädchen siehst. Ich habe eben bei der Besprechung mit voller Absicht nicht den Vornamen des Kindes genannt, weil ich Dr. Küsters nicht vorwarnen wollte. Wirst du die Untersuchungen durchführen?«

»Nein, Hanna, das überlasse ich dir, es ist dein Fall. Ich schaue mir das Mädchen später an. Wenn du aber meine Hilfe brauchen solltest, stehe ich dir selbstverständlich sofort zur Verfügung.«

»Gut, Kay, wir sehen uns später. Ich werde mich jetzt sofort um das Kind kümmern. Du bist sicher einverstanden, wenn ich Schwester Christina für einige Tage vom Dienst befreie, sollte sich der Verdacht Dr. Gürtlers bestätigen, nicht wahr?«

»Natürlich, was sollte ich dagegen haben? Ich wünsche mir, daß das kleine Mädchen Glück im Unglück hat und die Erkrankung sich nicht als die gefürchtete Kinderlähmung herausstellt. Du informierst mich ja, wenn ich das Gesundheitsamt einschalten muß.«

»Natürlich, es müssen auch schnellstens die anderen Kinder des Heimes untersucht werden. Aber das weiß Dr. Gürtler auch und wird handeln.«

Ein ernstes Lächeln huschte über Hannas Gesicht, als sie ihrem Bruder noch einmal zunickte und danach mit raschen Schritten den Raum verließ. Da an diesem Morgen für sie keine Sprechstunde stattfand, waren die Untersuchungen an der kleinen Michaela Faller das Dringlichste.

Noch am Vormittag stand fest, daß der Verdacht von Dr. Gürtler durch die Untersuchungsergebnisse erhärtet worden war. Hannas abschließende Diagnose lautete auf Kinderlähmung. Es war schon das zweite Stadium eingetreten, das Lähmungsstadium. Betroffen davon war zunächst das linke Bein des kleinen Mädchens. Hanna informierte Kay und bat ihn, zugegen zu sein, wenn sie es Michaelas Mutter mitteilte.

Telefonisch bat Hanna Schwester Elli, Schwester Christina zu sich und Kay hinunter in ihr Sprechzimmer zu schicken.

Das Gesicht der jungen Operationsschwester war bleich, als sie wenige Minuten später nach kurzem Anklopfen Hannas Sprechzimmer betrat.

»Sie wollten mich sprechen, Frau Dr. Martens?«

»Ja, Schwester Christina, bitte, nehmen Sie zuerst Platz. Es läßt sich dann besser reden.«

Christina setzte sich auf die Kante eines Stuhles. Ihr Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als sie die ernsten Gesichter ihrer Vorgesetzten sah. Sie fühlte förmlich das Unheil auf sich zukommen.

»Wie Sie sich sicher denken können, handelt es sich um Ihr Töchterchen, Schwester Christina. Dr. Gürtler hatte einen ganz bestimmten Verdacht geäußert, dem wir natürlich sofort nachgegangen sind. Leider ist es keine gute Nachricht, die ich Ihnen geben kann. Ihre Kleine ist an der selten gewordenen Kinderlähmung erkrankt. Sie sind selbst Krankenschwester und wissen, was das für Ihr Kind bedeuten kann.«

Christinas Augen weiteten sich entsetzt. Panik kam in ihr hoch, und das Blut begann in ihren Adern zu rauschen.

Mit zitternden Lippen und tonloser Stimme stieß sie hervor: »Meine Michaela hat Kinderlähmung? Nein, nein, ich glaube es nicht. Das kann doch nur ein Irrtum sein. Mein kleines Mädchen! Es hat doch noch sein ganzes Leben vor sich.«

Fassungsloses Entsetzen in den Augen, starrte Christina die junge Chefärztin an. Was sie nicht glauben wollte und konnte, stand nur zu deutlich in den ernsten Gesichtern der Ärztin und ihres Bruders geschrieben. Es war die Wahrheit, sie mußte es hinnehmen. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

»Sie dürfen nicht so verzweifelt sein, Schwester Christina. Sie müssen jetzt Willensstärke zeigen, denn Ihr Kind braucht Sie und Ihre ganze Liebe und Zuwendung. Meine Schwester hat entschieden, Sie für die nächste Zeit vom Dienst zu befreien. Sie werden im großen und ganzen die Pflege Ihrer Kleinen in die Hand nehmen«, sagte nun Kay mit warmer Stimme, und Hanna bestätigte seine Worte, indem sie sagte: »Es ist so, Schwester Christina.«

»Wie schlimm ist es denn, Frau Dr. Martens?«

»Im linken Bein sind schon Lähmungserscheinungen aufgetreten, Schwester Christina. Aber das besagt in keinem Fall, daß es noch schlimmer kommen muß. Manchmal klingen die Anzeichen schon nach fünf Tagen wieder ab. Wir wollen also nicht das Gegenteil wünschen. Nun gehen Sie zu Ihrer Kleinen zurück und achten Sie auf die kleinsten Veränderungen. Wir können nur mit den üblichen Mitteln wie Antibiotika und so weiter behandeln. Aber das muß ich ja nicht ausdrücklich betonen. Ich werde mich sehr um die Kleine bemühen und alles versuchen, damit sie es bald ohne großen Schaden überstanden hat.«

Nur wenig beruhigt verließ Christina ihre Vorgesetzten und ging wieder hinauf auf die Krankenstation.

»Ich hoffe, daß es so kommt und sich das Befinden des Kindes nicht noch mehr verschlechtert, Kay. Aber ich konnte Schwester Christina das Herz einfach nicht noch schwerer machen«, sagte Hanna ernst zu ihrem Bruder, nachdem sich die Tür hinter Schwester Christina geschlossen hatte.

»Nun, hoffen wir das Beste, Hanna.«

»Wirst du mit Schwester Barbara auskommen, Kay?«

»Ich denke doch, Hanna. Ich bin jedoch sicher, daß Schwester Christina einspringen wird, wenn größere und schwierige Sachen anstehen, bei denen wir alle gefordert werden.«

*

Einen Arzt gab es an diesem Vormittag, der sich nur mit Mühe auf seine Arbeit konzentrieren konnte. Es war Michael Küsters, dessen Gedanken immer wieder abschweiften. Die Worte der jungen Chefärztin wollten ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ein fünfjähriges Mädchen, hatte sie gesagt. Heiß und kalt zugleich war es ihm dabei geworden. Wenn das kranke Kind fünf Jahre alt war, so fragte er sich selbst, wer war dann der Vater? Er konnte rechnen, aber seine Rechnung ging einfach nicht auf. Denn er war es doch, der für die Zeit der Zeugung in Frage kam, da er zu dieser Zeit doch noch mit Christina zusammen gewesen war. Jetzt war eine Aussprache mit Christina unausweichlich geworden.

Der Zufall kam ihm zu Hilfe.

Michael Küsters kam gerade aus dem Labor, wo er ein Untersuchungsergebnis abgeholt hatte. Als er die Tür aufziehen wollte, die zum Behandlungsraum führte, kam die in Tränen aufgelöste Christina aus dem Sprechzimmer der Chefärztin und lief ihm direkt in die Arme.

Rasch hielt er sie fest und sagte mitfühlend: »Du darfst doch nicht so verzweifelt weinen, Christina. Dein kleines Mädchen wird wieder gesund werden. Komm, ich bringe dich einen Moment ins Ärztezimmer. In dieser Verfassung kannst du nicht zu deinem Kind. Es würde sich doch erschrecken.«

Willenlos, als würde ihr nicht richtig bewußt, mit wem sie in diesem Augenblick sprach, ließ sich Christina in das kleine Ärztezimmer führen, das von den Ärzten nach Operationen benutzt wurde.

Dort drückte Michael sie mit sanfter Gewalt in einen Sessel.

»Jetzt beruhige dich bitte, Christina. Wer ist der Vater deiner Tochter? Sag es mir, ich muß es wissen, wenn ich nicht daran verzweifeln soll, ob du mich jemals geliebt hast. Bitte, Christina.«

Beschwörend sah Michael Christina an.

Christina aber war mit einem Schlag wie erstarrt. Ehe er es verhindern konnte, sprang sie hoch und wich vor ihm zurück.

»Es ist mein Kind, ganz allein mein Kind, hörst du. Es geht dich nichts an. Du warst es doch, der damals unsere Liebe verraten und alles zerstört hat. Du, du allein trägst die Schuld an dem Leben, das ich seitdem führe. Und du stellst meine Liebe auf einmal in Frage? Was bist du nur für ein Mensch?«

»Christina, was sagst du da?«

Michael starrte sie plötzlich an, in seinen Blicken lag Verständnislosigkeit. Doch wieder war sie schneller. Ehe er es verhindern konnte, lief sie zur Tür und stürzte davon.

»Christina, Christina, so warte doch, so lauf doch nicht schon wieder einfach davon«, rief er ihr nach, aber sie schien es nicht mehr zu hören.

Das gab es doch überhaupt nicht. Wie kam Christina dazu, zu behaupten, daß er damals mit einer anderen Frau…? Zu der Zeit war er doch nur einmal mit seiner älteren Schwester zusammengetroffen, die gerade auf der Durchreise war. Er hatte Christina nichts davon sagen können, weil alles so plötzlich und unerwartet geschah. O Gott, sie wird mich doch damals nicht mit Eva gesehen haben und zu diesem Trugschluß gekommen sein, daß ich sie mit einer anderen Frau betrüge, schoß es Michael durch den Kopf. Und wenn, warum hatte sie ihn dann nicht einfach zur Rede gestellt? Er mußte es unbedingt klären, und zwar so schnell wie irgend möglich.

Ein Blick auf die Uhr zeigte Michael, daß es nur noch eine knappe Viertelstunde bis zu seiner Mittagspause war.

Völlig außer Atem kam Christina oben auf der Krankenstation an, wo Schwester Barbara vor der Tür zum Schwesternzimmer stand und auf sie wartete.

»Was ist denn mit dir los, Christina?« fragte sie bestürzt, als sie in das aufgewühlte Gesicht der Freundin sah.

»Es ist furchtbar, Barbara, aber mein kleines Mädchen ist an Kinderlähmung erkrankt. Ich bin völlig fertig. Und nun, und nun hat mich Michael auch noch gefragt, wer der Vater der Kleinen ist. Ich konnte es ihm einfach nicht sagen. Was soll ich nur machen, Barbara?«

»Du mußt dich überwinden, Christina. Wenn deine Kleine so schwer erkrankt ist, so muß er doch Bescheid wissen. Ich versteh dich nicht. Komm, gehen wir noch ein paar Minuten ins Schwesternzimmer, dort ist im Augenblick niemand. Schwester Elli ist in die Mittagspause gegangen, und Schwester Laurie ist bei deiner Kleinen. Die anderen sind hinunter in die Küche gefahren und holen den Essenswagen.«

Im Schwesternzimmer füllte Schwester Barbara eine Tasse mit Kaffee und reichte sie ihrer Freundin.

»Hier, trink, der Kaffee wird dich ein bißchen aufmöbeln.«

»Ich muß zu Michaela, ich kann doch nicht noch länger fortbleiben«, erwiderte Christina niedergeschlagen, nahm aber doch den Kaffee an.

»Du mußt überhaupt nichts. Wenn dich die Kleine so sieht, ist es auch nicht gut für sie. Und überleg es dir noch einmal, sag Dr. Küsters, daß er der Vater ist. Zu zweit lassen sich die Sorgen leichter tragen, schafft ihr alles viel besser. Du darfst jetzt nicht mehr an deinen verletzten Stolz denken, sondern nur an dein Kind.«

Langsam beruhigte Christina sich und gewann ihre Fassung zurück. Leise sagte sie zu Barbara: »Ich bin froh, dich zur Freundin zu haben. Ich weiß nicht, wie ich die letzten Tage ohne dich überstanden hätte. Seit meinem letzten Besuch im Kinderheim weiß ich erst, was es bedeutet, einen Menschen zu haben, bei dem man sich aussprechen kann. Ich werde dir das niemals vergessen.«

»Rede nicht so viel über Dinge, die doch wohl selbstverständlich sind, Christina. Ich bin sicher, daß auch für dich wieder glücklichere Tage kommen werden. Und was unsere Freundschaft betrifft, so wünsche ich mir, daß sie auch die nächsten Jahre überdauern wird.«

»Das wird sie ganz bestimmt, Barbara. Doch jetzt möchte ich nach meiner Kleinen sehen.«

Bevor Barbara etwas darauf erwidern konnte, kam Schwester Laurie ins Schwesternzimmer. Lächelnd sagte sie: »Hier bist du, Christina. Ich wollte dir sagen, daß deine kleine Tochter eingeschlafen ist. Du kannst also noch in die Kantine gehen und zu Mittag essen. Weißt du, eigentlich müßten wir dir ja alle böse sein. Wie konntest du es nur übers Herz bringen, uns deinen kleinen Schatz so lange vorzuenthalten? Die Kleine ist ja ein zu niedliches Persönchen. Doch Schwamm drüber, jetzt werden wir alle für die Kleine dasein und uns um sie kümmern. Du bist nun nicht mehr allein.«

»Es gab so viele Gründe für mein Schweigen, Laurie. Aber wenn alle so denken wie du, würde es mich sehr froh machen.«

»Es denken alle so, Christina. Du weißt doch, daß wir hier in der Klinik fast wie eine große Familie sind.«

Es berührte Christina eigenartig, wie freundschaftlich Laurie sich gab, und es half ihr ein wenig über die schweren und angstvollen Gedanken hinweg.

»Nun, wie ist es, Christina, gehst du mit hinunter in die Kantine? Solange deine Kleine schläft, kannst du die Zeit nutzen, um dich zu stärken. Der Tag ist noch lang«, schlug Barbara vor.

Zuerst wollte Christina abwehren, doch dann gab sie nach und entgegnete: »Gut, ich geh mit, Barbara, aber ein paar Minuten mußt du noch warten. Ich möchte zuerst in den Waschraum, mein Gesicht etwas frisch machen. Es muß ja nicht gleich jeder sehen, was mit mir los ist.«

»In Ordnung, ich warte hier solange auf dich.«

Wenig später, unten in der Kantine, mußte Barbara wieder drängen, denn Christina stocherte nur lustlos in den Speisen herum. Sie fand einfach nicht die innere Ruhe, um etwas essen zu können.

*

Mit ernstem Gesicht betrat Michael Küsters die Krankenstation.

Schwester Laurie, die mit Schwester Tina das Essen für die kleinen Patienten ausgeteilt hatte, kam gerade aus der kleinen Küche.

»Ist Schwester Christina im Augenblick bei dem kleinen Mädchen, Schwester Laurie? Ich möchte sie gern einen Augenblick sprechen.«

»Tut mir leid, Dr. Küsters, aber da die Kleine schläft, ist Schwester Christina mit Schwester Barbara in die Kantine hinunter zum Essen gegangen.«

»Danke, Schwester Laurie, ich werde mir die Kleine einmal anschauen und im Zimmer auf Schwester Christina warten.«

Michael nickte Schwester Laurie mit ernstem Lächeln zu, danach trat er an die Tür mit der Nummer sieben. Er drückte vorsichtig die Klinke hinunter und schob die Tür auf. Sein Herz begann zu klopfen, als er die Tür hinter sich zuschob und auf Zehenspitzen die wenigen Schritte auf das Bett zuging, in dem das kranke Mädchen lag.

Als er Christina nachgefahren war, hatte er das Kind in dem Schneegestöber nur undeutlich gesehen. Aber nun, in diesem Moment, als er das kleine Mädchen vor sich in den Kissen liegen sah, traf es ihn wie ein Schlag. Obwohl das zierliche Persönchen vom Fieber gerötete Wangen hatte, war es, als sähe er ein Kinderbild von sich selbst. Auch er hatte als Kind, obwohl er ein Junge war, blondes lockiges Haar gehabt und war deswegen viel von anderen Kindern gehänselt worden. Wie gebannt starrte er auf das schlafende Kind hinunter. Der Gedanke, der ihm plötzlich kam, verwirrte ihn. Sollte es möglich sein, daß dieses niedliche Persönchen…?

Michael wagte nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Da glaubte er, einen leichten Luftzug im Nacken zu spüren. Langsam drehte er sich um und sah direkt in die entsetzt geweiteten Augen Christinas.

»Was willst du hier, Michael? Willst du mich quälen?« kam es tonlos über ihre Lippen.

»Christina, warum sagst du das? Erstens will ich dich nicht quälen, und zweitens vergißt du, daß ich Arzt bin und Zutritt zu jedem Krankenzimmer habe. Ich weiß überhaupt noch nicht, wie deine Tochter heißt.«

Michael mußte sich bei dieser Frage zur Ruhe zwingen.

»Sie heißt Michaela.«

»Christina, ich will jetzt und hier die Wahrheit wissen. Wer ist der Vater Michaelas?«

Erregt griff Michael nach Christinas Armen und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Laß mich, du tust mir weh, Michael.« Mit einem heftigen Ruck befreite sich Christina aus seinem Griff und trat einen Schritt zurück.

»Mami, Mami«, erklang in diesem Augenblick eine weinerliche Kinderstimme auf.

»Ja, mein kleiner Liebling, ich bin ja hier bei dir.«

Wie sanft und zärtlich Christinas Stimme auf einmal klang. Fast schmerzlich fühlte Michael die Sehnsucht nach Christina in sich.

Christina schien völlig vergessen zu haben, daß er auch noch da war, so liebevoll bemühte sie sich um die Kleine, die immer unruhiger wurde.

»Darf ich mal, Christina?« Michael war nur noch Arzt. Die privaten Dinge mußten für den Augenblick zurückstehen. Mit weicher Stimme, dabei den Puls der Kleinen prüfend, fragte er: »Willst du mir nicht sagen, wo es dir weh tut, kleines Mädchen?«

»Mein Kopf tut mir so weh, Mami! Mami mir ist auf einmal so komisch…« An Michael vorbei, streckte sie beide Arme nach Christina aus und begann zu schlucken.

Christina wußte sofort, was es bedeutete. Sie griff schnell nach der Brechschale und hielt sie dem Kind unter das Kinn, während Michael den Kopf der Kleinen anhob und festhielt.

Völlig erschöpft lag das kleine Mädchen wenig später wieder in den Kissen.

»Was ist mir ihr? So hilf ihr doch, Michael.«

Eine dumpfe Angst befiel Christina.

»Bitte, du mußt dich zusammennehmen. Du bist doch auch lange genug Krankenschwester. Du mußt doch wissen, daß es alles Symptome ihrer Krankheit sind. Die Kleine bekommt ihr Medikament, mehr können wir nicht tun. Auch wenn es um dein eigenes Kind geht, mußt du Geduld haben und darfst die Hoffnung nicht aufgeben.«

»Ich habe aber Angst um mein Kind, Michael, ich habe doch sonst niemand. Ich kann Michaela nicht auch noch verlieren. Du bist Arzt, du mußt ihr helfen. Sie ist doch auch dein Kind.« Bei den letzten Worten senkte Christina den Kopf, um Michael nicht ansehen zu müssen.

»Christina, ist das wahr? Sag es noch einmal.«

»Michaela ist dein Kind.«

»Also doch, ich habe es geahnt, als ich sie vorhin sah. Warum, Christina. Warum hast du mir das so lange verschwiegen?«

»Du weißt warum, und du solltest es nie erfahren. Frag mich jetzt nichts, ich kann sowieso keinen klaren Gedanken fassen.«

»Ich will dich jetzt nicht bedrängen, Christina, aber ich warte heute abend im Klinikpark auf dich. Ich denke, daß es zwischen uns einiges zu klären gibt. Du kannst dich um acht Uhr von einer Kollegin für eine halbe Stunde ablösen lassen. Ich werde auf dich warten. Jetzt muß ich dich mit dem Kind allein lassen, ich habe noch andere Pflichten wahrzunehmen.«

Michael sah noch einmal schweigend auf das kleine Mädchen. Ein unbeschreibliches Gefühl nahm von ihm Besitz. Sein Kind, sein eigen Fleisch und Blut und fünf verlorene Jahre. Fünf Jahre, wie glücklich hätten sie in diesen Jahren sein können.

»Sie schläft wieder, paß gut auf sie auf«, sagte Michael mit rauher Stimme und ging aus dem Zimmer.

*

Obwohl es ziemlich kalt war, ging Michael Küsters schon vor acht Uhr unruhig im Klinikpark auf und ab. Würde Christina tun, worum er sie gebeten hatte? Würde sie herunterkommen, um sich endlich mit ihm auszusprechen?

Er mußte bis kurz vor halb neun warten, als er in der mittlerweile hereingebrochenen Dunkelheit einen schmalen Schatten auf sich zukommen sah. Leise rief er: »Christina?«

»Ja, ich bin es, Michael. Entschuldige, daß es etwas später geworden ist, aber es geht der Kleinen nicht gut, und ich wollte sie nicht allein lassen. Im Augenblick ist Schwester Regine bei ihr.«

»Komm, Christina, laß uns laufen, es ist kalt.«

Christina ließ es zu, daß Michael ihren Arm nahm. So gingen sie ein Stück schweigend nebeneinander dahin. Ohne Übergang fragte Michael auf einmal leise: »Hast du wirklich geglaubt, ich hätte dich damals zu irgendeiner Zeit mit einer anderen Frau betrogen, Christina? Ich gebe dir mein Wort, daß ich immer nur dich geliebt habe.«

»Bitte, Michael, keine Lüge mehr. Es ist doch schon so lange her. Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie du diese andere Frau umarmt und geküßt hast. Wir waren an jenem Tag, ich weiß noch, daß es ein Freitag war, verabredet, aber du warst nicht gekommen. Ich habe dann noch Post zum Bahnhof gebracht, da sah ich dich. Es hatte damals sehr weh getan, denn an diesem Abend wollte ich dir gestehen, daß ich ein Kind erwartete.«

»O Gott, Christina, es war alles ein Irrtum. Es war alles so ganz anders. Warum bist du nicht zu mir gekommen und hast mich gefragt?«

»Ich fühlte mich gedemütigt und zutiefst verletzt. In mir war nur noch ein Gedanke. Ich wollte dich niemals im Leben mehr wiedersehen.«

»Die Frau, mit der du mich gesehen hast, war meine Schwester Eva. Sie war auf der Durchreise und hatte mich angerufen, weil sie mit mir reden wollte. Es war also nur ein Mißverständnis, das unser Glück zerstört hat. Ein unseliger Irrtum. Als ich dich am nächsten Tag anrufen wollte, um dir zu erklären, warum ich verhindert gewesen war, warst du für mich nicht mehr zu sprechen, und einige Zeit später warst du mit einemmal spurlos verschwunden. Ich konnte es nicht begreifen und habe lange nach deinem Aufenthaltsort geforscht. Oh, Christina, was haben wir uns damit nur angetan?«

»Die Zeit läßt sich nicht mehr zurückdrehen, Michael. Es läßt sich nicht mehr ändern.«

»Wir könnten einen neuen Anfang machen und die Vergangenheit vergessen, Christina. Willst du, daß unser Kind die Hälfte seines Lebens im Heim verbringt? Jetzt, da ich endlich die Wahrheit kenne, werde ich das nicht zulassen, hörst du?«

»Laß mir Zeit, Michael. Ich kann dir im Augenblick keine Antwort darauf geben. Für mich zählt nur, daß Michaela wieder gesund wird. Weiter kann ich einfach noch nicht denken. Oh, Michael, warum muß nur alles so kompliziert sein? Ich kann doch die ganzen Jahre nicht einfach fortwischen, als habe es sie nie gegeben.«

»Aber ich liebe dich noch genauso, als hätte es diese verlorenen Jahre nie gegeben. Und du, Christina, was ist mit dir?«

»Ich habe geglaubt, dich zu hassen, Michael. Aber durch unser Kind bin ich immer wieder an dich erinnert worden. Ich weiß, daß ich in Wirklichkeit nie aufgehört habe, dich zu lieben. Ein neuer Anfang, das wäre schön. Aber ich kann nicht an ein neues Glück denken, solange Michaela nicht gesund ist. Kannst du das nicht verstehen?«

»Ich versteh dich, und ich werde dich nicht drängen. Du sollst jedoch schon jetzt eines wissen: Was auch immer geschehen mag, an meinen Gefühlen für dich wird sich niemals etwas ändern. Wir haben uns endlich ausgesprochen und alles geklärt. Es macht mich glücklich, daß Michaela mein Kind ist. Du wirst sehen, sie wird wieder gesund.«

»Ich muß zurück ins Haus, Michael. Ich habe unser Kind schon viel zu lange allein gelassen.«

»Ich bringe dich noch zur Tür.« Schweigend legten sie den Weg zur Klinik zurück.

Als Michael sich an der Tür von Christina verabschiedete, zog er sie sanft an sich und hauchte einen zarten Kuß auf ihre Lippen.

»Gute Nacht, Christina, und denk immer daran, daß ich zu jeder Zeit für dich und unser Kind dasein werde. Bitte, laß mich nicht zu lange warten.«

Als Christina kurz darauf das Krankenzimmer betrat, fand sie zu ihrer Überraschung ihre Kollegin und Freundin Barbara dort vor, die an Michaelas Bett saß und den Schlaf der Kleinen bewachte.

»Du, Barbara, so spät noch?«

»Ich wollte dir noch ein wenig Gesellschaft leisten und fand nur Regine hier im Zimmer. Ich habe sie abgelöst. Jetzt bist du ja wieder da. Wo warst du?«

»Ich habe mich mit Michael getroffen, unten im Klinikpark. Michael weiß jetzt, daß er eine Tochter hat, und wir haben uns über alles ausgesprochen. Ich war ja so dumm, Barbara. Es war alles nur ein Mißverständnis.«

Leise, um die kleine Michaela nicht aufzuwecken, erzählte Christina Barbara, warum es zu dem Mißverständnis gekommen war, und trotz der Sorge um ihr Kind leuchteten ihre Augen.

»Siehst du, Christina. Habe ich dir nicht gesagt, daß du dich viel besser fühlst, wenn erst alles geklärt ist? Er liebt dich also noch immer?«

»Ja, und wenn mein kleines Mädchen nicht so krank wäre, würde es mich überaus glücklich machen. So muß ich nur immerzu an Michaela denken.«

»Ich kann dich gut verstehen, und ich laß dich jetzt auch wieder allein, damit du dich hinlegen und etwas schlafen kannst.«

»Ja, ich bin auch von den Sorgen und Aufregungen ziemlich geschafft, Barbara. Ich bin froh, daß Michaela schläft und die Temperatur heute gegen Abend wieder etwas gesunken ist. Ich werde versuchen, auch etwas zu schlafen. Ich bin Frau Dr. Martens sehr dankbar, daß sie mich für ein paar Tage vom Dienst freigestellt hat und daß ich sogar bei Michaela im Zimmer schlafen darf.«

»Dann laß ich dich jetzt allein und wünsche dir eine gute und vor allen Dingen ruhige Nacht.«

*

Die Tage reihten sich aneinander und waren voller Sorgen um das kleine Mädchen auf Zimmer sieben.

Nach dem fünften Tag stieg die Temperatur noch einmal über neununddreißig Grad an, und Hanna befürchtete das Schlimmste für die kleine Patientin, die keinen Augenblick mehr unbeobachtet bleiben durfte. Wenn Christina dem Verzweifeln nahe war, war Michael an ihrer Seite, richtete sie wieder auf und half ihr über die schwersten Stunden hinweg. Doch ganz plötzlich, zum Ende der zweiten Woche, trat eine Veränderung auf, und die Temperatur sank. Die Erkrankung trat in das Stadium des Rückganges ein.

Nun ordnete Hanna Bäder und Unterwassermassagen an, um die geschwächte Muskulatur der kleinen Patientin zu stärken.

Bei einem Gespräch wollte Christina wissen: »Wird die Lähmung des linken Beines wieder völlig abklingen, oder wird ein Schaden zurückbleiben?«

»Die Lähmung war zwar nicht zu gravierend, Schwester Christina, aber es wird trotzdem eine Weile dauern, bis sie völlig behoben sein wird. Massagen und immer wieder Elektrobäder werden notwendig sein. Es muß nicht sein, daß ein Schaden zurückbleibt.«

Hanna, die schon lange gemerkt hatte, daß die Spannungen zwischen Christina und dem jungen Assistenzarzt Michael Küsters verschwunden waren, lächelte Christina bei ihren Worten beruhigend an und sagte abschließend: »Dr. Küsters wird die Anwendungen persönlich durchführen. Er weiß ja inzwischen, daß er der Vater der Kleinen ist, nicht wahr?«

»Ja, zwischen uns ist alles geklärt, Frau Dr. Martens. Es wird für uns einen neuen Anfang geben, wenn unsere Tochter wiederhergestellt ist«, antwortete Christina mit leuchtenden Augen.

»Das freut mich für Sie beide und vor allen Dingen für das Kind, Schwester Christina. Aber ich befürchte, daß wir Sie dann verlieren, nicht wahr?«

»Wenn es soweit ist, ja, Frau Dr. Martens. Aber Sie werden sicher verstehen, daß für mich kein anderer Weg in Frage kommen kann. Erstens wird meine Kleine mich ja nach der Krankheit mehr denn je brauchen, und zweitens soll sie nicht einen Tag länger als nötig auf ihre Mutter und ein richtiges Zuhause verzichten müssen. Heute noch soll sie endlich erfahren, daß sie auch einen Vati hat, und wer ihr Vati ist.«

»Ich verstehe Sie nur zu gut, Schwester Christina. So sehr ich es auch bedauern werde, Sie zu verlieren, weiß ich, daß eine Mutter zu ihrem Kind gehört.«

Als Hanna nach diesem Gespräch mit Schwester Christina mit ihrem Bruder zusammentraf, sagte sie: »Wir werden uns schon mal nach Ersatz für Schwester Christina umsehen müssen, Kay. Sie wird uns wohl in der nächsten Zeit verlassen.«

»Ich habe es nicht anders erwartet, Hanna, weil ja zwischen ihr und Dr. Küsters alles in Ordnung zu sein scheint. Die beiden werden bestimmt in Kürze heiraten. Ich habe da im übrigen in den letzten Tagen gehört, daß in Wintorf ein Haus zum Verkauf steht. Ein kleines Einfamilienhaus, meiner Meinung nach genau das Richtige für eine junge Familie. Ich habe da schon meine Fühler ausgestreckt. Dr. Küsters kann sich das Haus ja einmal anschauen.«

»Du denkst aber auch an alles für unsere Mitarbeiter, Kay.«

»Ich habe ihm bei seinem Dienstantritt zugesagt, mich nach einer geeigneten Wohnung für ihn umzusehen. Nun ist es eben ein ganzes Häuschen. Ich bin aber nicht aus diesem Grund zu dir gekommen. Es geht heute noch einmal um den Peter. Du weißt ja, wie unruhig er in den vergangenen Tagen war. Vor einer Viertelstunde sind die Hilperts gekommen, um den Jungen endgültig in ihr Heim zu holen. Die Einwilligung vom Jugendamt ist schon vorhanden. Ich habe die Entlassungspapiere schon fertig. Wenn du so lieb wärest und sie Herrn und Frau Hilpert übergeben könntest? Du willst dich ja sicher von dem Jungen verabschieden?«

»Und ob ich das möchte, Kay. Er war immerhin fast sieben Wochen in unserer Obhut. Ich gehe dann mal hoch zur Krankenstation.«

Hanna nahm von ihrem Bruder die Entlassungspapiere für den neunjährigen Peter König entgegen, danach ging sie eilig aus dem Raum und eilte hinauf auf die Station. Als sie das Krankenzimmer betrat, in dem der Junge die letzten langen Wochen verbracht hatte, kam er ihr schon mit strahlenden Augen entgegengelaufen.

»Frau Doktor, Frau Doktor! Tante Beate und Onkel Ernst sind gekommen, um mich abzuholen. Ist das nicht wunderschön? Jetzt erst kann ich glauben, daß ich nicht mehr zurück ins Heim muß.«

»Soso, du willst uns also heute verlassen, Peter. Ich hoffe doch, du kommst mich einmal besuchen. Es interessiert mich doch sehr, ob es dir bei deiner Tante Beate und dem Onkel Ernst auch gut gefällt.«

»Es wird ganz große Klasse, Frau Doktor. Tante Beate hat mir Bilder gezeigt. Es wird mir ganz bestimmt gefallen. Und besuchen werde ich euch natürlich auch. Onkel Ernst hat es mir versprochen.«

»Fein, Peter, dann wünsche ich dir alles Gute für dein neues Zuhause. Und zeig, daß du schon ein großer und vernünftiger Junge sein kannst.«

»Das will ich auch, Frau Doktor. Ich muß dann auch nicht mehr ins Kinderheim zurück?«

»Ich glaube, Sie dürfen da ganz beruhigt sein«, mischte sich Beate Hilpert ein. »Peter ist ein lieber Junge, und wir werden schon gut miteinander auskommen. Was meinst du, Peter?«

Mit einer liebevollen Geste legte Beate Hilpert einen Arm um die schmalen Schultern des Jungen, der sie selig anstrahlte.

»Und wir zwei sind schon jetzt gute Freunde«, meldete sich nun auch Ernst Hilpert zu Wort, und auch über sein Gesicht lief ein heller Schein.

Zufrieden lächelnd sah Hanna wenig später dem Ehepaar mit dem Jungen nach. Für diesen Buben begann eine schönere Zukunft, als es noch vor Wochen den Anschein hatte.

*

»So, kleines Mädchen, jetzt bringt dich deine Mami gleich wieder zum Baden. Du möchtest doch sicher bald wieder mit den anderen Kindern herumtollen können, nicht wahr?«

Behutsam hob Michael Küsters die zierliche Gestalt aus dem Bett und setzte sie in den Rollstuhl. Liebevoll lächelte er der Kleinen zu.

»Ich will aber nicht wieder laufen«, kam es fast heftig über die Lippen der zierlichen Person.

Erschrocken sah Michael auf Christina, dann fragte er weich: »Aber warum denn nicht, Kleines? Du willst doch nicht immer im Bett liegen bleiben, oder doch?«

»Doch, das will ich, dann darf ich hier bei der Mami bleiben. Ich will nicht wieder allein sein«, sagte das kleine Mädchen ganz ernsthaft.

Der junge Assistenzarzt wechselte erneut einen kurzen Blick mit Christina, die sofort begriff, was ihr kleines Mädchen damit sagen wollte.

Eine dunkle Röte stieg in ihre Wangen. Michael sah, daß sie sich einen innerlichen Ruck gab und sich etwas überhastet zu der Kleinen hinunterbeugte. Mit zärtlicher Stimme sagte sie: »So etwas möchte ich nicht mehr hören, mein Kleines. Wir fahren jetzt in die Bäderabteilung, damit dein Bein massiert wird. Wenn du danach wieder in deinem Bett liegst, wird Mami dir etwas sehr Schönes erzählen.«

»Willst du ihr endlich von mir berichten, Christina?« flüsterte Michael Christina zu.

»Ja, das werde ich, Michael. Aber ich möchte zuerst allein mit ihr reden«, gab Christina genauso leise zurück.

»Ich bin einverstanden. Ich komme dann in der Mittagsstunde hierher zu euch, dann werde ich ja wissen, wie das Kind auf all das Neue reagiert hat. Ich werde die Minuten bis dahin zählen.« Christina hatte es nun mit einemmal eilig, mit dem Kind das Zimmer zu verlassen. Aber sie wußte auch, daß es jetzt nur diesen einen Weg gab. Ihre kleine Tochter sollte nun endlich erfahren, daß sie auch einen Vati hatte. Einen Vati und eine Mami, die in Zukunft für sie dasein würden.

Sie selbst war glücklich, daß alle Mißverständnisse zwischen ihr und dem Mann, dem noch immer ihre ganze Liebe gehörte, aus dem Weg geräumt waren. Es war daher nur zu verständlich, daß ihre gemeinsame Tochter auch glücklich werden sollte.

Christina wußte, daß noch eine lange Zeit vergehen würde, bis die Lähmung in Michaelas linkem Bein völlig verschwunden sein würde. Sie würde alles tun, um niemals die Geduld zu verlieren, bis es endlich soweit war.

Nach der Massage, die dem kleinen Mädchen spürbar guttat, brachte Christina Michaela wieder zurück in ihr Zimmer. Sie half ihr aus dem Rollstuhl ins Bett und deckte sie liebevoll zu.

»Bist du müde, möchtest du jetzt schlafen, Liebling?«

»Nein, Mami, erst erzählen. Du hast es mir doch versprochen.«

Bittend sahen die Augen des Mädchens Christina an.

»Ja, ich habe es versprochen. Es ist wirklich etwas Schönes für dich, mein Liebling. Was würdest du denn dazu sagen, wenn du auch einen Vati hättest, der dich sehr lieb hat?«

»Ich habe auch einen Vati, Mami? Wo ist er denn? Ist er auch so lieb wie der Doktor, der mich jetzt so viel besuchen kommt?«

»Magst du ihn denn, den Doktor Küsters, Liebling?«

»Ja, Mami, er ist lieb und erzählt manchmal ganz lustige Geschichten. Kannst du ihn denn nicht fragen, ob er unser Vati werden kann?«

»Hör deiner Mami jetzt einmal ganz gut zu, mein Kleines. Weißt du, der Doktor, das ist nämlich dein Vati. Er ist dein richtiger Vati, und auch ich habe ihn sehr lieb. Er war so lange nicht bei uns, weil er von dir nichts wußte. Aber wenn du wieder gesund bist und laufen kannst, werden wir immer mit dem Vati zusammenbleiben und eine Familie sein. Würde dir das gefallen?«

»Ist das wirklich wahr, Mami? Ich brauche dann nicht mehr ins Heim zurück?«

»Nein, das brauchst du dann nicht. Wir werden eine kleine Wohnung haben, und ich bin den ganzen Tag bei dir.«

»Mami, meine Mami«, jubelte nun das fünfjährige Mädchen selig auf und schlang die dünnen Arme um Christinas Hals, wollte sie überhaupt nicht mehr loslassen.

Vor lauter Rührung über die selige Freude ihres Kindes traten Tränen in Christinas Augen.

»Aber Mami, du weinst ja. Tut dir etwas weh?«

»Nein, ich freue mich nur so sehr«, erwiderte Christina unter Tränen lächelnd.

»Ich habe einen Vati, ich habe einen Vati, Schwester Laurie!« rief die jubelnde Stimme der Kleinen plötzlich aus, und erst jetzt gewahrte Christina ihre Kollegin Laurie, deren Eintreten sie völlig überhört hatte.

Hastig wischte sich Christina die letzten Tränen von den Wangen, und unter den erstaunten Blicken Schwester Lauries stieg erneut eine dunkle Röte in ihre Wangen. Verlegen senkte sie den Blick, als die Kollegin nun lächelnd sagte: »Das ist ja fein, daß du auch einen Vati hast, Michaela. Da bist du aber sicher froh, nicht wahr?«

»Ja, Schwester Laurie. Weißt du, wer mein Vati ist?«

»Nein, wenn du es mir nicht sagst, mein Kleines?«

»Mein Vati ist der Doktor. Er ist mein ganz richtiger Vati, und ich habe ihn ganz, ganz doll lieb. Meine Mami auch.«

Überrascht sah Schwester Laurie auf Christina, die verlegen, aber mit glücklich strahlenden Augen sagte: »Ja, Laurie, meine Kleine hat die Wahrheit gesagt. Michael Küsters ist ihr Vater. So, nun weißt du es, wie es bald auch alle hier im Haus wissen werden.«

»Jetzt verstehe ich einiges, Christina. Darum also warst du in der letzten Zeit so anders, manchmal so abwesend und dann wieder so durcheinander?«

»Ja, es ist eine lange Geschichte voller Mißverständnisse. Ich bin sehr glücklich, daß endlich alles klar ist zwischen Michael und mir. Wir werden, und nicht nur Michaelas wegen, für immer zusammenbleiben.«

»Ich wünsche dir dazu alles Gute und für eure Zukunft viel Glück, Christina. Wir werden dich ja dann nicht mehr lange hier bei uns in der Klinik haben, nicht wahr?«

»Nein, ich werde dann nur noch für mein Kind da sein, Laurie. Fünf Jahre Kinderheim waren schon fünf Jahre zuviel.«

»Ich glaube, deine Kleine wird gleich einschlafen, Christina.«

Christina sah auf ihr Töchterchen. Es stimmte. Mit geschlossenen Augen, ein seliges Lächeln auf den Lippen, lag das kleine Mädchen in den Kissen. Als Christina es leise ansprach, reagierte es schon nicht mehr.

Auf Zehenspitzen verließen Christina und Laurie das Zimmer.

*

»Kann ich Sie einen Augenblick sprechen, bevor Sie in die Mittagspause gehen, Dr. Küsters?« hielt Kay Martens’ Stimme den jungen Arzt zurück, der im Begriff stand, den Weg zur Kantine einzuschlagen.

»Selbstverständlich, Chef«, antwortete Michael und wandte sich seinem Vorgesetzten zu, der mit raschen Schritten auf ihn zukam.

»Um was handelt es sich?«

»Ich hatte Ihnen ja bei Ihrer Einstellung zugesagt, daß ich mich für Sie wegen einer kleinen Wohnung umsehen werde. Ich glaube, ich habe da etwas geeignetes für Sie.«

»Eine kleine Wohnung reicht jetzt wohl nicht mehr, Herr Dr. Martens. So, wie die Dinge jetzt für mich stehen, brauche ich schon eine größere, geräumige Wohnung. Ich werde Schwester Christina in aller Kürze heiraten, da sind wir dann gleich drei Personen. Es tut mir leid, wenn Sie sich vergebens bemüht haben.«

»Langsam, langsam, Doktor. Sie müssen mich erst zum Ende kommen lassen. Hören Sie sich erst einmal an, was für ein Projekt ich meine. Es handelt sich dabei um ein kleines Einfamilienhaus. Sie könnten es mieten oder aber auch kaufen. Es liegt in Wintorf, das ist, wie Sie inzwischen wissen, hier ganz in der Nähe von Ögela.«

»Ein Einfamilienhaus, Herr Dr. Martens? Das wäre ja wunderbar, und es käme meinen Wünschen sehr entgegen. Kann man es besichtigen?«

»Natürlich, das müssen Sie ja wohl. Und was Schwester Christina betrifft, wünsche ich Ihnen beiden viel Glück für die Zukunft. Dabei müßte ich Ihnen eigentlich böse sein.«

»Wie bitte?« Erstaunt sah Michael seinen Vorgesetzten an. Dieser lächelte jedoch und sagte: »Nun, immerhin muß ich bald auf eine ausgezeichnete Kraft verzichten und mich um Ersatz bemühen. Wann soll es denn soweit sein?«

»Darüber habe ich mit Schwester Christina noch nicht geredet. Erst einmal müssen wir der Kleinen beibringen, welche Rolle ich in ihrem jungen Leben spielen werde. Aber ich werde es Sie und Frau Dr. Martens rechtzeitig wissen lassen. Wann kann man denn nun das Häuschen besichtigen?«

»Wann immer Sie wollen, Dr. Küsters. Die Besitzerin zieht zu ihren Kindern nach Lüneburg, schon in vierzehn Tagen. Ich würde da an Ihrer Stelle nicht lange zögern. Es ist ein sehr gepflegtes Haus mit einem großen Garten. Es liegt in Wintorf in der Rosselgasse und hat die Nummer fünfzehn. Die Besitzerin heißt Clement, Rosa Clement.«

»Vielen Dank, daß Sie sofort an mich gedacht haben, Herr Dr. Martens. Ich spreche gleich mit Schwester Christina, und wenn nichts dazwischenkommt, werden wir noch heute hinfahren.«

»Nichts zu danken, man tut, was man kann. Ich freue mich, wenn ich zufriedene und glückliche Mitarbeiter um mich habe. Wenn Sie und Schwester Christina das Häuschen sehen, es wird Ihnen beiden gefallen. Vor allen Dingen der große Garten mit den Obstbäumen hat schon seinen besonderen Reiz, da er viel Raum zum Herumtollen für Kinder bietet. Nun aber will ich Sie nicht länger aufhalten.«

Zufrieden entfernte sich Kay Martens. Michael aber hatte keine Ruhe mehr, jetzt in die Kantine zu gehen. Ihn zog es mit Gewalt hinauf zur Krankenstation. Was würde wohl Christina zu der guten Nachricht wegen des Häuschens sagen?

Als er ein paar Minuten später die Station betrat, sah er Christina mit Schwester Laurie am Ende des Ganges am Fenster stehen. Sie kam ihm sofort entgegen, als sie ihn sah und sagte: »Michaela ist eingeschlafen. Das Baden und die Massage haben sie sehr ermüdet. Lassen wir sie schlafen.«

»Hast du ihr gesagt… Weiß sie jetzt, daß ich ihr Vater bin? Wie hat sie es aufgenommen und reagiert?«

»Sie weiß es, Michael, und sie ist überglücklich, endlich auch einen Vati zu haben. Wir dürfen sie nicht enttäuschen.«

»Das weiß ich, Christina, und an mir soll es bestimmt nicht liegen. Möchtest du in die Kantine zum Mittagessen, oder sollen wir draußen im Park ein paar Minuten laufen? Ich möchte gern noch etwas mit dir besprechen.«

»Hunger habe ich nicht, Michael, gehen wir lieber an die Luft.«

»Gut, dann komm, gehen wir.«

Langsam, Hand in Hand gingen Michael und Christina wenig später über den Hauptweg des Klinikparkes. Doch schon nach wenigen Metern blieb Michael plötzlich stehen. Er legte Christina seine Hände auf die Schultern und sagte bittend: »Wann wirst du endlich meine Frau, Christina? Ich kann und will nicht länger warten. Fünf verlorene Jahre waren lange genug. Unser Kind soll endlich ein Zuhause bekommen. Ich verspreche dir, daß du es niemals bereuen wirst. Ich liebe dich und ich brauche dich und unser kleines Mädelchen.«

Ihrer beider Blicke tauchten ineinander, als würden sie sich bis auf den Grund der Seele sehen wollen. Christina wurde es leicht und frei ums Herz. Leise erwiderte sie, und ihre Augen leuchteten hellauf: »Ich hab dich lieb, Michael, ich bin mit allem einverstanden. Ich weiß, daß uns nichts mehr trennen wird. Ich will deine Frau werden. Ich will versuchen, die verlorenen Jahre gutzumachen, denn ich…«

»Pst, nichts mehr davon sagen, Liebling. Wir haben beide Fehler gemacht, und wir wollen sie vergessen. So Gott will, wird unser Mädelchen noch ein Geschwisterchen bekommen, das wir mit jedem Tag aufs neue aufwachsen sehen können. Es wird für uns eine herrliche Zukunft werden.«

Wie von selbst trafen sich ihre Lippen zu einem sanften, zärtlichen Kuß. Als sie sich voneinander lösten, sagte Christina leise mit verhaltener Stimme: »Wenn uns jemand sieht, Michael. Was soll man denn von uns denken?«

Michael zog sie ein paar Sekunden noch enger an sich und lachte dunkel auf.

»Was schon, Liebling?« sagte er dann mit fröhlicher Stimme. Er legte einen Arm um ihre Schulter, und sie gingen langsam weiter.

»Weißt du, die ganze Welt kann es wissen, daß ich dich liebe, daß ich sehr glücklich bin.«

Eine Weile schwiegen beide, dann erzählte Michael Christina von dem, was ihm der Chefarzt kurz zuvor berichtet hatte.

»Nun, was sagst du dazu, Liebling?«

»Ich kann das alles gar nicht fassen, Michael. Nach all den Jahren der Einsamkeit ist es fast zuviel des Glückes auf einmal, und ich habe Angst, daß alles plötzlich wie eine große Seifenblase zerplatzen könnte. Kneif mich mal, damit ich weiß, daß alles Wirklichkeit ist und ich nicht nur träume.«

»Du träumst nicht, Liebling, es ist alles herrliche Wirklichkeit. Wir werden noch heute, wenn mein Dienst beendet ist, nach Wintorf fahren und uns alles ansehen. Wenn es uns beiden gefällt, werde ich das Haus für uns kaufen, damit wir unser Heim für die Zukunft gesichert haben. Jetzt aber gehen wir zuerst zu unserem kleinen Mädelchen hinauf. Ich möchte endlich als Vater mein Kind in die Arme nehmen dürfen. Eine wunderschöne Zukunft liegt jetzt vor uns. Ich kann es kaum noch erwarten, bis es endlich soweit ist. Und du, mein Liebling?«

»Ich freue mich auch auf die Zeit, Michael. Unser Kind immer um mich haben zu dürfen, nicht nur zu Besuchen in einem Kinderheim, mit dem Kind gemeinsam jeden Tag auf dein Kommen zu warten, ich stelle es mir wunderschön vor.«

»Das wird es auch werden. Komm, laß uns jetzt rasch hinaufgehen und es unserem Mädelchen sagen.«

*

Oben auf der Krankenstation in Zimmer sieben schlug das fünfjährige Mädchen die Augen auf.

»Mami?« kam es leise fragend über seine Lippen, und suchend gingen die Blicke durchs Zimmer.

Wo war die Mami geblieben? Plötzliche Angst erfüllte das kleine Kinderherz, daß die geliebte Mami es wieder allein gelassen hätte. Dabei hatte die Mami doch fest versprochen, immer bei ihm zu bleiben.

»Mami, Mami, wo bist du!« rief das kleine Mädchen aus, und es begann zu weinen. Von plötzlicher Panik ergriffen, nicht daran denkend, daß es ja nicht laufen konnte, nur den einen Gedanken in sich, die Mami suchen zu müssen, richtete sich das kleine Mädchen auf. Es schob etwas mühsam die Beine aus dem Bett, über die Bettkante hinaus. Es ließ sich hinuntergleiten, um sich hinzustellen. Da aber gab das noch immer gelähmte Bein nach. Ehe das Mädelchen reagieren konnte, mit einem Aufschrei auf den Lippen und die Arme abwehrend ausgestreckt, stürzte es hin. Es blieb mit dem Gesicht auf dem Boden regungslos liegen.

Schwester Laurie, die sich mit ihrer Kollegin Regine im Schwesternzimmer aufhielt, hob auf einmal lauschend ihren Kopf.

»Hast du es auch gehört, Regine? Da war doch gerade etwas. Es war doch… Klang das nicht wie der Schrei eines Kindes?«

»Ich habe nichts gehört, Laurie. Was sollte auch schon sein? Die Kinder schlafen doch fast alle um diese Mittagszeit, und etwas Außergewöhnliches liegt im Augenblick auch nicht vor. Wenn es dich beruhigt, komm, wir schauen gleich einmal in alle Zimmer und überzeugen uns, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.«

Schwester Laurie achtete schon nicht mehr auf die letzten Worte Regines. Sie hatte sich schon erhoben und eilte mit raschen Schritten aus dem Zimmer. Schon war sie an der ersten Tür, öffnete sie und sah ins Krankenzimmer hinein. Doch auch Schwester Regine war nun auf dem Gang und öffnete eine der Krankenzimmertüren. Es war das Zimmer mit der Nummer sieben.

»Laurie, schnell, komm her, hier ist etwas passiert!« rief sie entsetzt aus.

Schon stürzte Schwester Laurie herbei, und auch sie sagte bestürzt: »Um Gottes willen, Regine. Wie konnte das denn bloß geschehen, wie kommt die Kleine denn nur in diese Lage? Geh, informiere doch bitte sofort die Chefin. Ich kümmere mich inzwischen um das Kind.«

Während sich Schwester Laurie nun über Michaela beugte, sie behutsam hochhob und auf das Bett legte, stürzte Schwester Regine davon ins Schwesternzimmer zum Telefon und wählte die Nummer der Chefärztin, die sich auch sofort meldete.

»Was gibt es, Schwester Regine? Sie klingen so aufgeregt.«

»Die kleine Michaela von Zimmer sieben, Frau Dr. Martens. Wir haben sie gerade auf dem Boden liegend gefunden. Können Sie bitte sofort kommen?«

»Ich bin sofort oben, Schwester Regine«, antwortete Hanna und legte den Hörer auch schon auf.

Was kann da nur passiert sein? schoß es Hanna durch den Kopf. Mit raschen Schritten verließ sie ihr Zimmer.

Im gleichen Augenblick betraten Michael Küsters und Schwester Christina durch den Hintereingang das Gebäude. Auf beiden Gesichtern lag ein glückliches Lächeln.

Hanna sah sie und rief ihnen zu: »Dr. Küsters, Schwester Christina, kommen Sie rasch mit, da ist etwas mit Ihrer Kleinen passiert!«

Im nächsten Augenblick eilten alle drei die Stufen der Treppe hinauf zur Krankenstation und hasteten so schnell sie konnten zum Krankenzimmer Michaelas.

»Was um Himmels willen ist passiert, Frau Dr. Martens?« fragte Michael mit rauher Stimme. »Die Kleine schlief doch fest.«

»Ich weiß es noch nicht, Dr. Küsters. Schwester Regine und Schwester Laurie haben das Kind vor dem Bett auf dem Boden liegend gefunden. Wie es dazu kommen konnte, ist mir noch nicht bekannt.«

»Mein Kind, mein kleiner Liebling. Es darf ihm nichts passiert sein«, kam es gepreßt über Christinas Lippen. Sie bekam keine Antwort, denn in diesem Moment hatten sie alle drei das Zimmer erreicht.

Schwester Laurie stand über das Bett gebeugt und bemühte sich um das fünfjährige Mädchen, das in diesem Moment die Augen aufschlug.

»Gott sei Dank, sie ist wieder zu sich gekommen, Frau Dr. Martens«, kam es erleichtert über die Lippen der Schwester. Sie trat sofort ein paar Schritte zur Seite, um für Hanna Platz zu machen.

»Mami, wo ist meine Mami? Sie soll mich doch nicht allein lassen. Ich muß sie doch suchen. Aber es geht nicht«, kam es weinerlich über die Lippen Michaelas.

»Deine Mami ist hier. Schau nur, Kleines. Du machst aber auch vielleicht Sachen. Du kannst doch nicht einfach aufstehen. Du weißt doch, daß du damit noch ein Weilchen warten mußt.«

Mit vorsichtigen, doch zugleich behutsamen Griffen untersuchte Hanna das Kind. Doch außer der kleinen Platzwunde an der Stirn, die aber kaum blutete, hatte es sich zum Glück keine weiteren Verletzungen zugezogen. Es war noch einmal alles gutgegangen. Hanna versorgte die kleine Wunde, danach gab sie den beiden Schwestern Laurie und Regine einen Wink und verließ mit ihnen das Krankenzimmer. Zu Michael sagte sie noch leise: »Versuchen Sie, dem Kind zu erklären, daß es auf keinen Fall allein das Bett verlassen darf. Nicht immer verläuft ein solcher Sturz so glimpflich.«

Danach ging auch sie hinaus und zog von außen leise die Tür zu.

Allein mit der Kleinen, traten Michael und Christina an das Bett, und Christina sagte weich: »Du mußt doch keine Angst haben, daß ich dich noch einmal allein lasse, mein kleiner Liebling. Wenn ich auch nicht immer bei dir hier im Zimmer sein kann, so bin ich doch in deiner Nähe. Ich habe es dir doch versprochen, daß du nicht mehr zu Tante Cordula brauchst. Und schau nur, wer auch hier ist. Weißt du nicht mehr, was ich dir erzählt habe?«

»Vati? Du bist mein Vati? Ganz wirklich mein richtiger Vati?« kam es da mit andächtigem Staunen über die Lippen der Kleinen, und in ihren Augen glänzte auf einmal ein seliges Leuchten auf.

»Ja, ich bin dein Vati, mein kleines Mädchen, mein Liebling, und ich habe dich sehr lieb.«

Zärtlich beugte sich Michael zu seiner kleinen Tochter hinunter und küßte sanft die Kinderstirn. Zwei dünne, weiche Arme schlangen sich da um seinen Nacken, und eine selige Kinderstimme hauchte: »Mein Vati, mein lieber, lieber Vati. Gehst du nun auch nie mehr fort? Bleibst du jetzt immer bei der Mami und bei mir?«

»Nur immer für kurze Zeit, Kleines. Heute nachmittag müssen deine Mami und ich noch einmal kurz weg. Weißt du, wir wollen uns hier ganz in der Nähe ein kleines Häuschen anschauen, in dem wir alle drei gemeinsam wohnen werden. Aber du mußt mir versprechen, daß du uns nie mehr einen solchen Schrecken einjagen wirst, hörst du?«

»Ja, Vati, ich verspreche es. Ich stehe erst wieder allein auf, wenn du oder die Mami es mir erlaubt.«

»Fein, dann ist ja alles in Ordnung, mein kleines Mädchen.«

*

Von diesem Tag an ging es mit der Genesung Michaelas mit jedem weiteren Tag mit Riesenschritten voran. Als es endlich soweit war, daß die Fünfjährige die Kinderklinik Birkenhain verlassen konnte, konnte sie schon wieder allein laufen. Zwar zog sie das linke Bein noch nach, aber Michael und Christina wußten, daß es nur eine Frage der Zeit war und viel Geduld brauchte, bis auch die letzte Behinderung vorbei und das Bein wieder voll funktionsfähig sein würde.

Die ersten Tulpen blühten in ihrer bunten Farbenpracht, als sich Michael und Christina das Jawort fürs Leben gaben. Sie hatten eine schlichte Trauung gewählt, bei der Kay und Hanna Martens als Trauzeugen fungierten. Eine kleine Feier fand im Anschluß statt, bei der natürlich auch Schwester Barbara nicht fehlte.

Es war der Beginn einer glücklichen Zukunft für drei Menschen, die durch Mißverständnisse so lange auf das Glück hatten warten müssen.

Das kleine Haus in Wintorf sollte der Hort dieser glücklichen Zukunft werden.

Kinderärztin Dr. Martens Box 2 – Arztroman

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