Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Box 6 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6
Оглавление»Tag, Mutti, darf ich nach dem Mittagessen zu Sascha fahren? Wir wollen zusammen unsere Schularbeiten machen.«
Bittend sah der zwölfjährige, blondhaarige Junge seine Mutter an und stellte seine Schultasche ab.
»Langsam, langsam, mein Junge. Kaum bist du zur Tür herein, und schon zieht es dich wieder zu Sascha. Bitte, erzähle mir doch erst einmal, wie es heute in der Schule gelaufen ist. Für deinen Freund hast du noch den ganzen Nachmittag Zeit.«
Mit einem nachsichtigen Lächeln sah Dagmar Biesinger auf ihren Ältesten.
»Dann darf ich also? Sascha wartet auf mich.«
»Natürlich darfst du, doch jetzt möchte ich zuerst wissen, wie es heute in der Schule gelaufen ist. Habt ihr eure letzte Arbeit geschrieben?«
»Na klar doch, Mutti, ich habe auch alle Aufgaben gewußt. Es war aber noch nicht unsere letzte Arbeit. Herr Fiedler hat gesagt, daß wir in der nächsten Woche noch einen Aufsatz schreiben. Sascha und ich wollen üben, weil der Sascha ja in Deutsch nicht so gut ist.«
»Fein, Jörg, du kannst dann noch etwas mit dem Nicki spielen, bis ich mit dem Mittagessen soweit bin. Vati wird auch jeden Moment kommen. Sei aber lieb zu deinem kleinen Bruder, er ist nicht ganz in Ordnung.«
»Weiß ich doch, Mutti. Nicki ist ja meistens krank. Ich paß schon auf.«
Lächelnd sah Dagmar Biesinger dem Jungen nach, der nun eilig die Küche verließ. Ihr Ältester war ein lieber Junge. Nur war er meistens sehr still und schüchtern. Man konnte sogar sagen, gehemmt. Ihre große Sorge war, daß sich das einmal ungünstig für Jörg auswirken könnte. Er wurde eigentlich nur lebhafter, wenn es um seinen Schulfreund Sascha Wengers ging. Er war der einzige Junge aus seiner Schulklasse, mit dem er sich näher angefreundet hatte, seitdem sie vor drei Jahren nach Falkenberg gekommen waren und hier ein kleines Einfamilienhaus gekauft hatten.
Während Dagmar Biesinger die letzten Vorbereitungen für das Mittagessen traf, gingen ihre Gedanken eigene Wege. Bis vor drei Jahren hatten sie in einer Großstadt gelebt, sie, ihr Mann Uwe und ihre beiden Jungen. Da aber Dominik, der zu dieser Zeit gerade zwei Jahre alt war, von Geburt an immer kränkelte, hatten sie beschlossen, in eine ländliche Gegend zu ziehen. Sie hatten die Hoffnung gehabt, daß die Landluft für den Kleinen heilsam wäre. Uwe, von Beruf Buchhalter, hatte Glück. Auf seine Bewerbung hin wurde er in Celle von einer großen Bekleidungsfirma als Buchhalter eingestellt. Auch die Suche nach einem kleinen Familienhaus hatte Erfolg, und so waren sie nach Falkenberg übergesiedelt, einem kleinen Ort, zwischen Celle und Ögela gelegen.
Drei Jahre lebten sie nun schon hier und hatten es noch nicht einen Tag bereut. Nur ein Wermutstropfen blieb. Dominik, von allen liebevoll Nicki genannt, war noch genauso krankheitsanfällig wie vor diesen drei Jahren. Er brauchte ihre Liebe und Fürsorge noch am meisten mit seinen fünf Jahren.
Dagmar war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie völlig überhörte, daß vor dem Haus ein Wagen vorgefahren war. Erst als eine fröhliche Männerstimme hinter ihrem Rücken sagte: »Hallo, Liebling, da bin ich«, fuhr sie überrascht herum.
Mit leuchtenden Augen ließ sie sich in die Arme ihres Mannes ziehen und erwiderte seinen zärtlichen Kuß. Sich sanft aus seinen Armen lösend, sagte sie: »Ich habe dich gar nicht kommen gehört, Uwe. Schön, daß du endlich da bist. Der freie Nachmittag wird dir guttun. Wir können auch in wenigen Minuten zu Mittag essen, ich bin gleich soweit.«
»Wo sind unsere Jungen? Ist Jörg schon aus der Schule zurück?«
»Ja, er ist schon daheim und spielt oben mit Nicki im Kinderzimmer. Mach du es dir bequem, ich decke nur rasch den Tisch.«
»Ich helfe dir dabei, Liebling, dann geht es schneller. Gegessen habe ich heute wohl genug. Ich brauche Bewegung. Wir könnten ja heute nachmittag alle gemeinsam etwas unternehmen. Was hältst du von meinem Vorschlag?«
Dagmar holte die Teller aus der Anrichte, und während Uwe das Besteck dazulegte, antwortete sie: »Daraus wird wohl nichts, Uwe. Mit Jörg können wir heute nachmittag nicht rechnen. Der Junge hat mich gebeten, zu Sascha zu dürfen, und ich habe es ihm schon erlaubt.«
*
Mathilde Wengers, eine hagere Frau von zweiundfünfzig Jahren, sah ungeduldig auf die Uhr. Es war doch fast jeden Tag das gleiche. Statt von der Schule aus erst ins Haus zu kommen, um zu Mittag zu essen, lief Sascha immer erst zu seinem Vater ins Sägewerk hinüber und vergaß dabei die Zeit. Sie mußte doch mal ein ernstes Wort mit ihrem Bruder Leo reden, damit das geändert werden konnte. Es war schon manchmal ein Kreuz mit dem Jungen, an dem sie Mutterstelle vertrat, seitdem Leos Frau vor sieben Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen war. Obwohl Sascha ein sehr aufgeweckter und kluger Junge war, brachte er sie mit seiner Wildheit manchmal an den Rand der Verzweiflung. Durch seinen Leichtsinn würde der Junge noch einmal Schaden nehmen. Er war nur sehr schwer zu bändigen. Wenn sie dabei an Saschas Schulfreund dachte, wie still und schüchtern dieser Jörg Biesinger doch war, wünschte sie sich, daß davon etwas mehr auf Sascha abfärbte.
Wenn der Junge nicht bald kommt, werde ich ihn eigenhändig holen, dachte Mathilde, da stürmte der Zwölfjährige auch schon völlig außer Atem ins Haus.
»Nicht schon wieder böse sein, Tante Tilly, ich habe Vati noch etwas geholfen. Jetzt habe ich aber einen riesengroßen Hunger.«
Mathilde Wengers konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie dem Zwölfjährigen nachsah. Nein, richtig böse konnte sie dem Jungen einfach nicht sein. Er war ja nicht mit böser Absicht ungezogen. Es war ganz einfach sein ungezügeltes Wesen, das ihn manchmal so unbedacht handeln ließ. Vielleicht war sie dem Jungen gegenüber von Anfang an viel zu nachgiebig gewesen. Sie war eben nur die Tante und nicht die Mutter. Dazu kam außerdem noch, daß sich Leo viel zu wenig um den heranwachsenden Jungen kümmerte, kaum Zeit für ihn hatte.
Sascha setzte sich an den Tisch und ließ sich das herzhafte Eintopfgericht, Grünkohl mit Mettwürstchen, gut schmecken. Dazu trank er fast einen halben Liter frische Milch.
Nachdem er fertig war, wollte Mathilde Wengers wissen: »Und deine Hausaufgaben, Sascha? Wann gedenkst du die zu machen? Du weißt ja, daß du mir vorher nicht aus dem Haus kommst.«
»Der Jörg kommt nachher zu mir, Tante Tilly. Wir machen heute unsere Hausaufgaben gemeinsam, weil wir nächste Woche noch eine Arbeit schreiben. Heute haben wir eine Mathearbeit geschrieben.«
»Hoffentlich hast du auch gut aufgepaßt und machst deinem Vati keinen Ärger?«
»I wo, Tante Tilly, ich glaube, ich habe nur einen oder zwei Fehler gemacht. Eine Zwei kriege ich bestimmt.«
»Wir wollen es hoffen, Sascha. Was meinst du, soll ich nachher für dich und den Jörg einen Kuchen backen?«
»Au ja, prima, Tante Tilly. Einen mit ganz viel Rosinen drin. Den mögen Jörg und ich noch am liebsten. Du bist auch meine liebe Tante Tilly.«
»Und du bist ein kleiner Schmeichler, Sascha«, entgegnete Mathilde lächelnd. »Aber ich will mal nicht so sein. Wenn ihr beiden fleißig lernt, mach ich euch euren Rosinenkuchen. Hat Vati gesagt, wann er heute fertig wird?«
»Hat er nicht. Er hat nur gesagt, daß er auf den Riederbauern warten muß, der einen großen Auftrag für ihn hat. Danach will Vati auch noch in die Stadt fahren. Darf ich jetzt aufstehen und in mein Zimmer gehen?«
»Lauf schon, Sascha. Ich schick dir den Jörg hinauf, wenn er nachher kommt. Erst wird gelernt, und anschließend habt ihr beide dann noch genug Zeit zum Spielen. Einverstanden?«
»Einverstanden, Tante Tilly, und vergiß den Kuchen nicht?«
Mathilde Wengers hatte später gerade den Kuchen in die Backröhre geschoben, da tauchte Jörg Biesinger auf.
»Guten Tag, Frau Wengers. Ich möchte gern zu Sascha. Ist er nicht daheim?« fragte Jörg schüchtern.
»Guten Tag, Jörg. Du sollst mich doch nicht immer Frau Wengers nennen. Sag einfach Tante Tilly zu mir, so wie es Sascha auch tut. Er ist oben in seinem Zimmer und wartet auf dich. Geh nur hinauf, du kennst ja den Weg. Und in Zukunft sagst du Tante Tilly, sonst backe ich euch keinen Kuchen mehr. Verstanden?«
»Ja, Tante Tilly«, antwortete Jörg mit rotem Kopf und lief die Treppe ins Obergeschoß hinauf.
Eine ganze Weile blieb es oben ruhig. Die beiden Jungen waren wohl mit ihren Hausaufgaben beschäftigt. Es war für Mathilde Wengers eine wohltuende, ruhige Zeit.
Erst gegen sechzehn Uhr kamen Sascha und Jörg erneut hinunter in die Küche. Da hatte Mathilde jedoch schon den Tisch für sich und die beiden Jungen gedeckt, und ein herrlich duftender Rosinenguglhupf stand auf dem Tisch.
»Toll, Tante Tilly, hast du für uns auch Kakao dazu gemacht?« wollte Sascha wissen.
»Habe ich, ist doch klar, mein Junge. Greift tüchtig zu, und anschließend hinaus mit euch an die frische Luft. Da könnt ihr euch noch so richtig austoben. Aber macht keinen Unsinn. Einverstanden?«
»Tante Tilly, wo denkst du denn hin? Wir machen doch nie Unsinn«, kam es treuherzig über Saschas Lippen.
»Eben, Sascha, darum sage ich es ja auch«, entgegnete Mathilde Wengers und hob mahnend den Finger. Sie konnte jedoch ein leichtes Schmunzeln wieder nicht unterdrücken.
Später liefen Jörg und Sascha, jeder noch ein dickes Stück Kuchen in der Hand, nach draußen, und an den hellen Stimmen, die durch das geöffnete Fenster drangen, erkannte Mathilde, daß sich die beiden Jungen wie immer ganz prächtig verstanden.
*
Während sich Jörg bei Sascha aufhielt, war Uwe Biesinger mit seiner Frau und dem fünfjährigen Nicki hinaus ins Grüne gefahren. Dem langen Spaziergang in der Heide, bei dem Uwe seinen Jüngsten die meiste Zeit huckepack getragen hatte, schloß sich ein Besuch in einem gemütlichen Gasthaus an.
Zu Hause, als die beiden Jungen schliefen, kam Dagmar noch einmal auf den Nachmittag zu sprechen.
»Eigentlich schade, daß Jörg nicht dabei war.«
»An mir hat es nicht gelegen, Liebling. Du hattest dem Jungen ja schon erlaubt, zu seinem Freund zu gehen. Ich freue mich, daß sich die beiden Jungen gut vertragen.«
»Ich doch auch, Uwe. Nur, manchmal ist mir bei dieser Freundschaft nicht so ganz wohl zumute. Die beiden sind wie Feuer und Wasser. Sascha ist eigentlich viel zu wild und leichtsinnig. Die beiden vertragen sich so blendend, weil Jörg immer alles tut, was Sascha von ihm verlangt. Ich habe das schon einige Male beobachten können.«
»Es sind doch noch Kinder, Liebling. Du weißt doch, daß Gegensätze sich anziehen. Wichtig allein ist, daß sich die beiden gut vertragen. Du weißt ja selbst, daß unser Junge hin und wieder mal einen kleinen Anstoß nötig hat. Er ist ziemlich lahm. Mach dir also keine unnötigen Gedanken.«
»Du hast leicht reden, Uwe. Ich sehe das Ganze etwas anders. Ich wünschte mir nur, daß er nicht ganz so abhängig von Sascha ist. Er müßte sich Sascha gegenüber mehr behaupten und seine eigene Meinung vertreten. So gerne ich diese Freundschaft mit Sascha Wengers auf der einen Seite sehe, so bin ich doch besorgt darüber, daß unser Junge dem Sascha wie ein Hündchen nachläuft.«
»Ich bitte dich, Liebling. Deine Vergleiche hören sich recht ungewöhnlich an. Abhängig, wie ein Hündchen hinterherlaufen, das alles ist doch völlig absurd. Wir haben so viel Sorgen mit unserem Kleinen, da sollten wir froh sein, daß sich die beiden Buben so gut verstehen. Oder hast du schon etwas davon bemerkt, daß Sascha einen schlechten Einfluß auf Jörg ausübt?«
»Nein, habe ich nicht, Uwe.«
Uwe zog Dagmar in seine Arme und küßte sie zärtlich, bevor er das Zimmer verließ.
Dagmar räumte noch die Gläser vom Tisch und brachte sie in die Küche.
Dort brachte sie auch noch einiges in Ordnung und ging dann hinauf ins Kinderzimmer, um nach ihrem Jüngsten zu sehen. Liebevoll strich sie dem Fünfjährigen über den blonden Wuschelkopf. War es eigentlich genug, was sie und Uwe für den Jungen taten? Hatte der Umzug hier in die ländliche Gegend, dazu eine gesunde Ernährung mit viel Obst und frischem Gemüse, gereicht? Was konnte man noch tun, damit er kräftiger und widerstandsfähiger wurde? Einmal mußte es mit ihm doch besser werden. Auch jetzt, da er tief und ruhig schlief, sah man ihm an, daß er nicht gerade gesund war. Wenn sie nicht gut aufpassen würde, würde er bald wieder krank werden.
Noch einmal fuhr Dagmar dem Jungen über den Wuschelkopf, dann ging sie mit sorgenvollem Gesicht aus dem Zimmer.
Nachdem sie auch einen kurzen Blick in Jörgs Zimmer geworfen hatte, der jedoch auch fest schlief, suchte sie das Schlafzimmer auf, wo Uwe auf sie wartete.
»Alles in Ordnung, Liebes? Warst du noch einmal bei unserem Kleinen?«
»Ja, er schläft, doch ich muß ehrlich sagen, er gefällt mir nicht so recht. Manchmal denke ich, wir sollten den Jungen einmal in eine Klinik geben, daß er unter Beobachtung gründlich untersucht werden kann.«
»Geh, Liebling, waren wir denn noch nicht oft genug mit Nicki bei den verschiedensten Ärzten? Er ist eben so zart und empfindlich, und damit müssen wir uns abfinden. Wenn wir noch mehr Ärzte aufsuchen, ändern wir auch nichts daran.«
»Trotzdem geht mir der Gedanke an eine Untersuchung in einer guten Kinderklinik nicht aus dem Kopf. Die Kinderklinik Birkenhain liegt doch so nah. Wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen.«
»Nein, davon möchte ich nichts hören. Ich mache mich doch nicht lächerlich. Komm jetzt lieber schlafen. Ich will nicht, daß du dir zuviel Sorgen um Nicki machst. Es wird mit der Zeit von ganz allein besser mit ihm werden. Wenn wir einen Arzt für ihn brauchen, werden wir einen zu uns ins Haus kommen lassen.«
Dagmar konnte an diesem Abend noch lange nicht einschlafen, denn mit dem, was Uwe gesagt hatte, war sie nicht einverstanden. Aber ein Mann sah alles wohl viel nüchterner als sie.
Es ging schon auf Mitternacht zu, als die Natur ihr Recht forderte und Dagmar in einen unruhigen Schlaf fiel.
*
»Wo ist eigentlich Nicki, Liebes?«
»Er spielt hinten im Garten. Ich sehe rasch nach ihm, danach brühe ich dir frischen Kaffee auf.«
»Laß dir ruhig Zeit, den Kaffee übernehme ich schon.«
Während Dagmar die Küche verließ, setzte Uwe schon in der Kaffeemaschine den Kaffee an und holte das Geschirr aus dem Schrank. Er war noch nicht ganz damit fertig, als Dagmar mit dem fünfjährigen Nicki ins Haus zurückkam.
»Hallo, mein Kleiner, guten Tag. Hast du draußen schön gespielt?«
Liebevoll begrüßte Uwe seinen Jüngsten und sah dann prüfend in das blasse Kindergesicht.
»Stimmt mit dem Jungen etwas nicht?« Fragend sah Uwe von dem Jungen zu Dagmar. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, meinte Nicki lustlos: »Ich mag nicht spielen, Vati. Mein Kopf tut heute so weh. Darf ich zu Jörg gehen?«
»Geh nur, Nicki, Jörg ist in seinem Zimmer.«
Uwe wartete, bis der kleine Knirps die Küche verlassen hatte, dann sagte er besorgt: »Irgendetwas stimmt doch nicht mit unserem Nicki, Dagmar. Wir sollten doch mal einen Arzt aufsuchen oder kommen lassen.«
»Er hat leichte Temperatur, darum habe ich ihn jetzt gleich mit ins Haus gebracht. Ich werde den Jungen heute früher ins Bett stecken und in Abständen kontrollieren, ob die Temperatur womöglich weiter ansteigt. Sollte sich sein Befinden verschlechtern, bin ich auch dafür, einen Arzt kommen zu lassen.«
»Einverstanden, machen wir es so«, antwortete Uwe.
Es war für Dagmar und Uwe eine große Erleichterung, als sie im Laufe des Abends feststellen konnten, daß sie sich um den Kleinen keine zusätzlichen Sorgen machen mußten. Für den Augenblick schien alles in Ordnung zu sein, denn die Temperatur war wieder völlig normal.
*
In der Kinderklinik Birkenhain ging alles seinen gewohnten Gang. Großen Zulauf hatte Hanna Martens’ ambulante Sprechstunde. Die Sommerferien hatten begonnen, und es gab doch einige Mütter, die ihre Kinder vor Antritt einer Urlaubsreise noch einmal gründlich untersuchen ließen.
Dazwischen kamen auch kleine Patienten mit kleinen und größeren Wehwehchen. Hanna, die sehr beliebt war, behandelte all ihre kleinen Patienten mit gleichbleibender Fröhlichkeit und viel Geduld.
Die junge Kinderärztin sah auf die Uhr. Schon fast halb zehn, stellte sie fest.
»Wie viele sind noch im Wartezimmer, Schwester Jenny?« fragte Hanna, als in diesem Augenblick eine junge Schwester den Raum betrat.
»Frau Lehrte mit der kleinen Susi und eine junge Frau mit einem Jungen, die zum ersten Mal hier bei uns sind. Ich habe Namen und Anschrift schon notiert, Frau Doktor.«
»Fein, lassen Sie die Karte gleich bei mir und bringen Sie mir zuerst Susi und ihre Mutter.«
»Sehr wohl, sofort, Frau Doktor.«
Schwester Jenny legte eine Karteikarte vor Hanna hin und ging danach in den angrenzenden Warteraum, um Susi Lehrte, ein zierliches Mädchen, sowie ihre Mutter in Hannas Sprechzimmer zu bitten. Susi hatte sich vor gut sechs Wochen einen Arm gebrochen und kam an diesem Tag zur letzten Nachuntersuchung.
Hanna untersuchte Susis Arm und sagte dabei lächelnd: »Ist doch alles ganz wunderbar, Susi. Wenn du die nächste Zeit noch sehr vorsichtig mit deinem Arm umgehst, kannst du bald alles wie früher machen.«
»Es tut auch überhaupt nicht mehr weh, Frau Doktor.«
»Fein, ich hatte dir ja gesagt, daß alles wieder gut wird.«
»Ich brauche also mit Susi nicht mehr zur Klinik zu kommen, Frau Dr. Martens?« fragte die Mutter des Mädchens.
»Nein, das ist erst einmal vorbei. Nur wenn Susi Beschwerden bekommen sollte, was ich jedoch nicht annehme, bringen Sie das Mädel noch einmal zu uns. Der Bruch ist sehr gut verheilt, es liegt also kein Anlaß zur Sorge vor.«
»Das freut mich, Frau Doktor, denn die vielen Besuche hier in der Klinik waren in den letzten Wochen ein wenig viel für mich. Gott sei Dank, daß das jetzt erst einmal vorbei ist. Ich werde schon darauf achten, daß Susi sich mit dem Arm noch nicht zuviel zumutet. Ich darf mich dann verabschieden.«
Hanna wandte sich nun mit fröhlicher Stimme und einem verschmitzten Augenblinzeln dem neunjährigen Mädchen zu und sagte scherzend: »Paß schön auf dich auf, Susi. Wenn wir dich hier auch alle sehr mögen, wollen wir dich doch so bald nicht wiedersehen. Nur, wenn du mit deiner Mutter mal in der Nähe bist, darfst du uns gern besuchen. Aber nur, wenn du magst.«
»Ich komme ganz bestimmt einmal, Frau Doktor.«
Lächelnd sah Hanna Susi und ihrer Mutter nach, dann sagte sie freundlich zu der jungen Schwester: »Führen Sie jetzt bitte unseren letzten Patienten für heute herein, Schwester Jenny.«
Einen Augenblick später sah Hanna eine hübsche, blondhaarige Frau, so um die fünfunddreißig herum, mit einem zierlichen kleinen Jungen an der Hand, ihr Sprechzimmer betreten. Es war ein niedlicher Junge mit einem blonden Wuschelkopf.
»Guten Morgen, Frau Dr. Martens. Ich komme wegen meines Buben. Mein Mann und ich machen uns große Sorgen um unser Kind. Nicki ist gerade erst fünf Jahre alt, aber er ist schon von Geburt an überaus anfällig. Wir sind seinetwegen sogar vor ungefähr drei Jahren hierher nach Falkenberg gezogen, damit es in der Landluft besser mit ihm wird. Es hat jedoch bis jetzt noch keinen Erfolg gebracht. Seit einigen Tagen klagt er erneut über Kopfweh, und ständig wechselt seine Temperatur. Können Sie sich Nicki nicht einmal ansehen?«
»Selbstverständlich, Frau Biesinger. Dafür bin ich ja da.«
Mit einem sanften Lächeln beugte sich Hanna zu dem Fünfjährigen und fuhr ihm über den blonden Wuschelkopf.
»Nicki heißt du also, mein Kleiner. Ein hübscher Name. Du hast doch keine Angst, wenn ich dich jetzt untersuche, nicht wahr?«
Zaghaft schüttelte Nicki den Kopf und antwortete scheu: »Nein, ich habe keine Angst. Darf meine Mutti denn bei mir bleiben?«
»Sicher doch, Nicki, deine Mutti darf zuschauen, wenn ich dich untersuche.«
Während sich Hanna nun mit Hilfe der jungen Schwester um den kleinen Knirps bemühte, wollte sie von Dagmar wissen: »Haben Sie denn schon einen anderen Arzt mit dem Jungen aufgesucht, Frau Biesinger?«
»Einen, Frau Doktor? Wir haben mit Nicki schon sehr viele Ärzte aufgesucht.«
»Und was ist dabei festgestellt worden?«
»Nichts Außergewöhnliches, Frau Dr. Martens. Uns wurde nur immer wieder gesagt, daß Nicki sehr zart und daher besonders anfällig für Erkältungskrankheiten sei. Etwas, was wir selbst nur zu genau wissen. Es hilft uns jedoch nicht weiter. Es muß doch etwas geben, was unserem Kind helfen kann. Es kann doch so nicht weitergehen. Wir sind schon ganz verzweifelt.«
Hanna konnte jedoch auch nur eine leichte Erkältung bei dem kleinen Jungen feststellen. Um vielleicht mehr zu erfahren, würden umfangreichere Untersuchungen notwendig sein. Dazu gehörte jedoch auch, daß der Junge in der Kinderklinik bleiben mußte.
Als Hanna mit Nicki fertig war, sagte sie zu Dagmar, die sie mit ängstlichen Blicken beobachtete: »Eine leichte Erkältung, mehr kann ich im Augenblick nicht feststellen. Ich möchte Ihnen jedoch einen Vorschlag unterbreiten. Ich gebe Ihnen jetzt ein Medikament gegen die Erkältung des Jungen. Sobald diese abgeklungen ist, bringen Sie uns Ihren Jungen für ein paar Tage in die Klinik, damit wir einige umfangreiche Untersuchungen durchführen können. Besprechen Sie es mit Ihrem Mann und geben Sie uns dann Bescheid.«
»Muß das unbedingt sein?«
»Es muß nicht, doch es könnte von Vorteil für die Gesundheit des Kleinen sein. Nur so können wir etwas herausfinden. Wir haben hier hervorragende Mitarbeiter in allen Fachbereichen, und auch die erforderlichen Geräte. Sie dürfen glauben, daß der Kleine bei uns gut aufgehoben sein wird.«
»Ich weiß nicht, Frau Dr. Martens, aber ich werde die Angelegenheit mit meinem Mann besprechen.«
»Tun Sie das umgehend, Frau Biesinger, und lassen Sie anschließend von sich hören. Sollte sich jedoch das Befinden des Jungen zwischenzeitlich verschlechtern, rufen Sie mich an. Ich komme selbstverständlich zu jeder Zeit zu einem Hausbesuch zu Ihnen.«
Hanna gab Schwester Jenny einige Anweisungen, und ein paar Minuten später brachte diese ihr ein Medikament.
»So, mein Junge, diese Tropfen mußt du jetzt ganz brav jeden Tag dreimal schlucken, dann bist du bald wieder gesund und hast auch kein Kopfweh mehr.«
Noch einmal fuhr Hanna mit ihrer Rechten leicht über Nickis blonden Wuschelkopf, reichte danach Dagmar das Fläschchen mit der Medizin und verabschiedete sich mit einem beruhigenden Lächeln.
»Wenn wir Ihrem Kleinen helfen können, werden wir es auch tun, Frau Biesinger.«
Nachdem sich die Tür hinter Dagmar Biesinger und ihrem kleinen Sohn geschlossen hatte, sagte Schwester Jenny mitfühlend zu Hanna: »Ein sehr zartes Kind, der Kleine, nicht wahr, Frau Doktor? Ich hätte nie gedacht, daß er schon fünf Jahre alt ist. Werden Sie ihm helfen können?«
»Das wird sich zeigen, wenn die Eltern uns den Kleinen anvertrauen. Doch ich denke schon, allerdings erst dann, wenn wir herausgefunden haben, was ihm eigentlich fehlt. Sie können jetzt wieder hinauf auf die Station gehen. Hier unten sind wir ja fertig.«
»Gut, Frau Doktor«, erwiderte die junge Schwester und ließ Hanna allein.
Hanna machte sich noch ein paar Notizen auf dem Krankenblatt von Nicki, danach verließ auch sie den Raum, um anderen Aufgaben nachzugehen.
*
»Nun, Dagmar, was hat die Ärztin in der Kinderklinik gesagt?« war Uwe Biesingers erste Frage, als er am Nachmittag von seinem Dienst nach Hause kam.
Dagmar erzählte ihm alles, auch von dem Vorschlag der Ärztin, Nicki für ein paar Tage in die Kinderklinik zu bringen.
»Was hältst du davon, Uwe?«
»Ich finde den Vorschlag gut. Wir sollten darauf eingehen, Liebes. Schaden wird es unserem Kleinen ganz gewiß nicht. Da jedoch die Erkältung erst einmal abklingen soll, bleiben uns ja noch ein paar Tage, um uns zu entscheiden. Wo ist Nicki jetzt?«
»Er schläft oben im Kinderzimmer.«
»Und Jörg, wo ist er?«
»Jörg? Wo kann der wohl sein? Er steckt natürlich wieder mit dem Sascha zusammen. Da die Jungen morgen ihren letzten Schultag vor den großen Ferien haben, habe ich ihn auch gleich nach dem Mittagessen gehen lassen. Ich hoffe doch, daß beide keine Dummheiten machen. Im Augenblick kann ich mich ja sowieso nicht so viel um Jörg kümmern, da mich Nicki sehr beansprucht. Wir müssen eben darauf vertrauen, daß Jörg alt genug ist, um auf sich selbst achtzugeben. Ich habe ihm erlaubt, bis neunzehn Uhr bei Sascha zu bleiben. Wie sieht es mit dir aus, du hast bestimmt Hunger? Mach es dir bequem, ich hole dir dein Essen.«
»Ich habe wirklich großen Appetit. Bring mir bitte auch etwas Erfrischendes zum Trinken mit. Am liebsten wäre mir jetzt eine Flasche Helles. Ist noch welches im Haus?«
»Natürlich, Uwe, ich bringe es dir sofort.«
»Soll ich nicht inzwischen nach Nicki sehen?«
»Das mache ich, wenn ich dir dein Essen gebracht habe.«
Nachdem Uwe versorgt war, ging Dagmar ins Kinderzimmer hinauf, um nach Nicki zu sehen. Er war inzwischen erwacht und spielte mit seiner Eisenbahn.
»Möchtest du nicht mit hinuntergehen und Vati einen guten Tag sagen, Nicki?«
»Ist er denn schon da?«
»Ist er, mein Junge. Er sitzt gerade beim Essen.«
»Ich habe auch Hunger und Durst, Mutti.«
»Fein, dann komm mit mir zu Vati.«
Dagmar war darüber erfreut, daß der Kleine von sich aus nach Essen und Trinken verlangte. Selten genug kam es in der letzten Zeit vor. Zu den meisten Mahlzeiten mußte sie ihm die Speisen regelrecht aufdrängen. Auch an diesem Spätnachmittag freute sie sich zu früh. Nicki trank wohl ein Glas Milch, stocherte jedoch lustlos auf seinem Teller herum und sagte weinerlich: »Ich mag nicht, Mutti, mein Bauch tut mir weh.«
Obwohl Dagmar zu diesem Zeitpunkt glaubte, Nicki würde das Bauchweh nur als Ausrede vorschieben, zwang sie ihn nicht, sondern ließ ihn gewähren.
Als er bettelte, wieder ins Kinderzimmer zum Spielen zu dürfen, ließ sie ihn gehen.
»Bist du Nicki gegenüber nicht zu nachgiebig, Liebes? Der Junge muß doch mehr essen. Er hat ja überhaupt nichts zuzusetzen, sollte er einmal ernsthaft erkranken. In diesem Punkt verstehe ich dich nicht.«
»Was soll ich denn machen, Uwe? Soll ich die Speisen mit einem Trichter in ihn hineinzwingen?« entgegnete Dagmar aufgebracht.
»So drastisch habe ich es nun auch nicht gemeint. Du brauchst dich nicht gleich aufzuregen. Ich mache mir doch nur Sorgen um den Jungen. Kannst du das nicht verstehen?«
»Ich verstehe dich, kann es aber nicht ändern. Ich versuche es im Guten und mit Strenge. Du hast doch eben erlebt, mit welchen Ausreden er uns kommt. Je mehr ich darüber nachdenke, um so mehr komme ich zu dem Schluß, daß es für Nicki wirklich nur von Vorteil sein kann, wenn wir ihn in der Kinderklinik gründlich untersuchen lassen, obwohl ich ihn nur ungern aus dem Haus gebe. Sobald er einigermaßen in Ordnung ist, bringe ich ihn zu Frau Dr. Martens in die Klinik.«
»Ja, sicher, das war ja schon so abgesprochen.«
Die Unterhaltung zwischen Uwe und Dagmar wurde unterbrochen, denn in diesem Moment kam Jörg in die Küche gestürmt.
»Tag, Vati, Tag, Mutti. Ich hab vielleicht einen Kohldampf.«
»Jörg, was ist denn das für ein Ausdruck«, sagte Dagmar tadelnd.
»Wieso, Mutti? Das sagen doch alle in unserer Klasse. Ich habe eben mächtigen Hunger. Wann gibt es Abendbrot?«
»Immer langsam, mein Sohn, es ist gerade erst siebzehn Uhr vorbei. Bis zum Abendbrot dauert es schon noch ein Weilchen. Wie kommt es, daß du heute schon so früh daheim bist?«
»Der Sascha mußte mit seiner Tante noch in die Stadt fahren, darum bin ich schon hier. Machst du mir ein Butterbrot?«
»Selbstverständlich, Junge. Verhungern sollst du uns ja nicht. Zuerst gehst du aber ins Bad und wäscht dir die Hände und das Gesicht. Ich möchte nur wissen, wo ihr zwei wieder den ganzen Nachmittag herumgeturnt seid.«
»Sascha und ich bauen uns doch ein Baumhaus. Saschas Vati hat es erlaubt«
»Soso, er hat es erlaubt. Trotzdem gehst du dich erst einmal waschen, bevor du dich an den Tisch setzt. Also, marsch ab mit dir, Jörg.«
»Ich geh ja schon, Mutti«, brummte Jörg vor sich hin und verließ den Raum.
»Ich kann über Jörg nur staunen, Liebes. Die Freundschaft mit Sascha Wengers hat ihn verändert. Er ist nicht mehr so scheu und still. Bist du nicht auch meiner Meinung?«
»Schon, Uwe, doch es hält meistens nicht lange an. Meine Bedenken kennst du ja. Wichtig ist, daß der Junge gesund ist. Ich wünsche mir so sehr, daß es mit unserem Nicki auch einmal so sein wird.«
»Es wird schon, du mußt nur Geduld haben, darfst nicht ständig daran denken. Ich gehe ein bißchen hinauf und beschäftige mich mit Nicki.«
»Du hast mir überhaupt noch nicht gesagt, ob es mit deinem eingereichten Urlaub klappt.«
»Ich weiß auch noch nichts Genaues, Liebes. Erst am kommenden Montag werde ich Bescheid erhalten. Ich habe ihn etwas zu spät angemeldet. Du kannst aber davon ausgehen, daß ich für die letzten vier Wochen der großen Ferien meinen Urlaub bekomme. Wir brauchen also nur um zwei Wochen zu verschieben. Wir reden kommenden Montag weiter darüber. Es wird schon schiefgehen.«
»So, Mutti, sauber genug?«
Jörg kam in die Küche zurück und hielt seiner Mutti die geöffneten Handflächen hin.
»Bekomme ich jetzt ein Butterbrot? Und Durst habe ich auch.«
»Setz dich, dann mach ich dir etwas zurecht, Jörg«, entgegnete Dagmar, während Uwe die Küche verließ, um hinauf ins Kinderzimmer zu gehen.
Dagmar belegte für Jörg eine Doppelschnitte Brot und füllte ihm ein großes Glas mit Orangensaft. Während er mit gutem Appetit aß und trank, setzte sie sich ihm gegenüber und fragte: »Du bist wohl gern mit Sascha zusammen, Jörg?«
»Ist doch klar, Mutti. Der Sascha ist mein Freund. Wenn wir Ferien haben, wollen wir seinem Vati helfen. Er nimmt uns dann bestimmt mit zum Angeln. Du erlaubst es doch, nicht wahr? Du hast ja sowieso keine Zeit für mich, und Vati muß arbeiten.«
»Wenn es Nicki bessergeht, habe ich auch wieder Zeit für dich, Jörg. Nicki ist noch zu klein. Du bist dagegen ein großer und vernünftiger Junge und verstehst das sicher. Wenn Vati seinen Urlaub doch noch bekommt, fahren wir für vier Wochen in den Urlaub an die See, wir haben dann viel Zeit füreinander.«
»Wir fahren an die See, Mutti? Das ist ja ganz toll. Wohin fahren wir denn? Nun sag es doch schon.«
»Genaues haben Vati und ich noch nicht herausgesucht. Wir werden das mit dir besprechen, wenn es feststeht, wann Vati seinen Urlaub bekommt. Alles klar, mein Junge?«
»Ja, Mutti, ihr seid doch die liebsten und besten Eltern der Welt. Ich habe euch beide sehr lieb.«
»Wir dich auch, mein Junge. Und jetzt beschäftige dich noch etwas in deinem Zimmer, denn ich muß nach Nicki schauen. Es geht ihm heute nicht so gut, und ich war schon mit ihm beim Arzt.«
»Warum ist Nicki nur immer krank, Mutti?«
»Ich weiß es nicht, Jörg. Geh jetzt in dein Zimmer. Wenn es Zeit fürs Abendbrot ist, rufe ich dich schon. Du kannst ja in deinem neuen Buch lesen oder etwas Musik hören.«
»Mach ich, Mutti.« Jörg trank den Rest seines Orangensaftes aus und ging danach in sein Zimmer hinauf.
Dagmar folgte Minuten später, um zu sehen, was Nicki und ihr Mann machten.
Uwe spielte mit dem Kleinen, der jedoch matt und lustlos wirkte. An Uwes besorgten Blicken erkannte Dagmar, daß auch er wußte, daß mit dem Jungen überhaupt nichts stimmte. Wie sollte das alles nur in Zukunft weitergehen? Es war gut, daß sie Jörg während der nächsten Zeit gut aufgehoben wußte.
*
»Hoffentlich bleibt das Wetter während der nächsten Wochen so schön und sonnig«, sagte Bea Martens zwei Tage später am Frühstückstisch zu Hanna.
»Wir wollen es für die Kinder wünschen, Mutti. Doch in vielen Fällen bringen die Sommerferien für uns auch ein Mehr an Arbeit in der Kinderklinik. Wir werden sehen, ob es in diesem Jahr auch der Fall ist. Die großen Ferien haben ja gerade erst begonnen. Was hast du für heute vor?«
»Ich fahre heute vormittag mit der Füchsin in die Stadt. Es bleibt doch dabei, nicht wahr?« wandte sich die zierliche Frau an Jolande, die lächelnd erwiderte: »Selbstverständlich.«
»Fein, dann geh ich jetzt in die Klinik hinüber, wir haben für den heutigen Vormittag zwei Operationen angesetzt.«
»Ich weiß, Hanna. Kay hat gestern nachmittag darüber gesprochen. Ich wünsche euch, daß alles klappt.«
»Wird schon, Mutti, es sind ja beides keine schwierigen Eingriffe. Ich wünsche euch einen schönen Vormittag mit euren Einkäufen und gehe jetzt. Wir sehen uns ja zum Mittagessen wieder. Also, macht’s gut, bis dahin.«
Leichtfüßig verließ Hanna das Doktorhaus und eilte durch den Park zum Klinikgebäude hinüber. Bevor sie das Gebäude erreicht hatte, rief hinter ihrem Rücken Kay mit fröhlicher Stimme: »Warum so eilig, Schwesterherz? Du kannst es wohl kaum erwarten, an deine Aufgaben zu kommen?«
Hanna drehte sich um und sah Kay, der mit ausgreifenden Schritten auf sie zukam, lächelnd entgegen: »Guten Morgen, Kay. Ich glaubte dich schon längst in der Klinik. Sagtest du gestern abend nicht, daß du eine halbe Stunde früher an die Arbeit wolltest? Da war wohl der Geist wieder einmal williger als das Fleisch, oder?« neckte Hanna ihren Bruder.
»Wenn du recht hast, hast du recht, Hanna. Doch Spaß beiseite, so wichtig war die halbe Stunde auch wieder nicht. Komm, gehen wir den Tag an.«
»Wer kommt zuerst an die Reihe, Kay? Bleibt es so wie vorgesehen?« wollte Hanna wissen, während sie das Klinikgebäude betraten.
»Ja, natürlich, Hanna. Ich habe, zwar mit dem Gedanken gespielt, beide Eingriffe auf kommenden Dienstag zu verschieben, bin jedoch im Endeffekt davon abgegangen. Auch wenn heute Freitag ist, was wir hinter uns haben, ist geschafft. Man weiß ja nie, was uns die nächsten Tage noch bringen. Du führst sicher in der Zwischenzeit die Visite durch, nicht wahr? Es sind ja relativ leichte Eingriffe, dabei kann, wie vorgesehen, Dr. Küsters assistieren.«
»Mir ist das heute nur lieb, denn ich habe außer der Visite auch so reichlich zu tun. Du weißt ja, daß ich die Nackengeschwulst bei der kleinen Mia Sickers punktieren werde.«
»Stimmt ja, daran hatte ich im Augenblick nicht gedacht. Hoffentlich bestätigt die Untersuchung des punktierten Sekrets, daß es sich um eine harmlose Angelegenheit handelt.«
»Ich bin da ganz sicher«, entgegnete Hanna und hob lächelnd ihre Rechte in Richtung Martin Schriewers, der sie in diesem Augenblick freundlich begrüßte.
Kay erwiderte den Morgengruß ebenfalls und fragte aufgeräumt: »Daheim alles in Ordnung, Martin?«
»Alles bestens, Kay«, entgegnete Martin und wandte sich wieder seiner Arbeit in der Aufnahme zu.
Da zwischen Martin und Marike Schriewers und dem Geschwisterpaar Martens ein sehr freundschaftliches Verhältnis bestand, meinte Hanna, bevor sie und Kay auseinandergingen: »Wir sollten Marike und Martin wieder einmal zu einem gemütlichen Abend ins Doktorhaus einladen, Kay. Mutti würde sich bestimmt auch über etwas mehr Gesellschaft am Wochenende freuen.«
»Das denke ich auch. Du kannst ja etwas in der Richtung arrangieren.«
»Mach ich, doch jetzt muß ich erst hinauf auf die Station. Wir sehen uns dann in einer halben Stunde bei der Frühbesprechung. Bis dann.«
Kay nickte und verschwand hinter der Tür zum medizinischen Bereich, während Hanna den Treppenaufgang benutzte, um zur Krankenstation zu gelangen.
Die Schwestern, die für den Tagdienst eingeteilt waren, hatten schon damit begonnen, die kleinen Patienten frisch zu betten und zu versorgen.
Hanna ging zuerst zur Oberschwester ins Schwesternzimmer, um den Bericht der Nachtschwestern einzusehen.
»Fein, daß die Nacht einigermaßen ruhig verlaufen ist, Schwester Elli«, sagte Hanna zufrieden.
»Ich bin da ganz Ihrer Meinung«, stimmte Schwester Elli ihrer Vorgesetzten zu. Sie fügte jedoch einschränkend hinzu: »Ich möchte noch darauf hinweisen, daß die kleine Sickers heute morgen sehr unruhig ist. Das Mädel verlangt laufend nach seiner Mutter. Im Augenblick ist Schwester Laurie bei dem Kind.«
»Ich werde mich sofort darum kümmern, zumal ich ja später sowieso mehr mit dem Mädel zu tun habe. Es bleibt dabei, daß mir das Kind gegen neun Uhr heruntergebracht wird.«
»Die Kleine wird pünktlich unten sein, Frau Dr. Martens. Die beiden kleinen Patientin für den Eingriff müssen ja auch vorbereitet werden.«
Hanna sah kurz auf die Uhr. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr bis zur Frühbesprechung. Freundlich sagte sie: »Alles Weitere werden wir später noch besprechen, Schwester Elli. Ich kümmere mich jetzt noch um die kleine Mia, danach wird es für mich Zeit, daß ich wieder hinunterkomme.«
Während Hanna das Schwesternzimmer verließ, war sie in Gedanken schon bei dem kleinen Mädchen, nach dem sie sehen wollte. Eine sehr ängstliche kleine Person war die achtjährige Mia Sickers, die vor vier Tagen in die Kinderklinik eingewiesen worden war. Eine taubeneigroße Geschwulst im Nacken behinderte die Kleine doch recht erheblich, und Hannas Tests hatten bis zu diesem Zeitpunkt keinen Aufschluß darüber gegeben, ob es sich um eine harmlose Angelegenheit handelte. Hanna war trotzdem davon überzeugt, daß dem so war. Den letzten Beweis sollte eine Punktion bringen.
Schwester Laurie war gerade damit fertig, der Achtjährigen bei der Morgenwäsche behilflich zu sein, als Hanna das Krankenzimmer betrat, in dem zwei Betten belegt waren.
»Guten Morgen, Kinder«, sagte sie mit fröhlicher Stimme und trat zuerst zu der achtjährigen Mia. Sie fuhr dem Mädel über das flachsblonde, naturkrause Haar und fragte: »Alles in Ordnung, Mia? Wie fühlst du dich heute? Du hast doch keine Schmerzen, nicht wahr?«
Mit aufmerksamen Blicken sah Hanna in das schmale Kindergesicht, in dem die Mundwinkel ängstlich zuckten.
»Nein, ich habe keine Schmerzen, Frau Doktor. Meine Mutti soll aber kommen. Sie hat doch gesagt, daß Sie mich heute schneiden wollen. Ich mag aber nicht, ich fürchte mich so.«
»Geh, Mia, wer wird sich denn fürchten? Du bist doch schon ein großes Mädchen. Ich werde dir jetzt genau erklären, was ich heute bei dir mache. Du möchtest doch den Knubbel in deinem Nacken weghaben, oder?«
»Ja, das möchte ich gern.«
»Na, siehst du, und dabei möchte ich dir helfen. Also, hör mir gut zu, Mia.«
Hanna setzte sich auf die Bettkante, umschloß die schmalen Kinderhände mit sanftem Druck und sagte weich: »Du bekommst erst eine Spritze, die etwas größer ist, dann hole ich etwas aus dem Knubbel heraus. Das ist alles, und es wird heute ganz bestimmt nicht geschnitten. Das hat deine Mutti bestimmt falsch verstanden. Du glaubst mir doch, nicht wahr.«
Die blauen Mädchenaugen sahen Hanna einen Moment eindringlich an. Dann legte sich ein zaghaftes Lächeln um Mias Mund, und sie sagte leise: »Ja, ich glaube Ihnen, Frau Doktor. Jetzt habe ich auch keine Angst mehr.«
»Das ist fein, Mia, dann bin ich ja beruhigt. Schwester Laurie bringt dich später zu mir herunter.«
Hanna ging nun noch zum zweiten Bett, in dem ein vierjähriges Mädchen lag, und sprach auch da ein paar liebevolle Worte. Dann wurde es aber allerhöchste Zeit, denn Kay und die anderen Kollegen würden sicher schon auf sie warten.
*
Dagmar Biesinger sah auf die Uhr. Sie hatte für sich und ihre beiden Jungen den Frühstückstisch schon gedeckt und wartete darauf, daß beide wach wurden. Es ging inzwischen auch schon auf neun Uhr zu. Sie selbst fühlte sich müde und zerschlagen, denn sie hatte eine unruhige Nacht mit ihrem Jüngsten hinter sich. Wenn es mit Nicki, um den sie sich wieder größere Sorgen machen mußte, nicht im Verlauf des Vormittags besser würde, blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als die Kinderärztin kommen zu lassen. Dagmar stellte die Kaffeemaschine an, und nach einem erneuten Blick auf die Uhr ging sie hinauf ins Kinderzimmer, um nach Nicki zu sehen.
Zuerst warf sie einen Blick in Jörgs Zimmer, doch der Junge schlief noch tief und fest, und so, wie sie es sah, würde er wohl noch ein Weilchen schlafen.
Bei ihrem Kleinen sah das schon anders aus. Dagmar erschrak, als sie an Nickis Bett trat. Es war nicht besser geworden, denn mit weinerlicher Stimme klang es ihr entgegen: »Mein Bauch tut mir schon wieder so weh, Mutti.«
Mit raschen Griffen zog Dagmar das Rollo am Fenster hoch und war auch schon wieder bei dem Kleinen. Sie sah sofort an Nickis Gesicht, daß er schon wieder erhöhte Temperatur haben mußte. Als sie es mit dem Thermometer prüfte, wurde es ihr bestätigt. Zwar war das Fieber noch nicht beängstigend hoch, doch immerhin betrug es schon achtunddreißig Grad.
»Mutti holt dir eine Tasse Tee, und wenn du den getrunken hast, geht dein Bauchweh ganz bestimmt bald vorbei, mein Junge.« Zärtlich fuhr Dagmar dem Fünfjährigen über die Stirn.
»Ich mag keinen Tee, Mutti, es rummelt so komisch in meinem Bauch. Ich muß…«
Im nächsten Moment war Nicki mit einem Satz aus dem Bett und an Dagmar vorbei aus dem Zimmer geeilt.
Also noch immer Durchfall, dachte Dagmar besorgt. Es war wohl doch das beste, wenn sie später in der Kinderklinik anrief und Frau Dr. Martens bat, einen Besuch bei ihnen zu machen. Die Ärztin hatte ja gesagt, daß sie jederzeit anrufen könnte.
Nicki kam wieder ins Zimmer zurück und kroch unter seine Bettdecke.
»Ich möchte schlafen, Mutti, bin ganz müde.«
»Gut, schlaf noch etwas, doch nachher trinkst du deinen Tee, damit dein Bauchweh besser wird.«
»Ja, Mutti, erst nachher«, kam es mit matter Stimme über Nickis Lippen, und schloß die Augen.
Mit sorgenvollem Gesicht ging Dagmar aus dem Zimmer und schloß leise die Tür hinter sich zu.
Genau in diesem Augenblick kam Jörg aus seinem Zimmer. Er rieb sich verschlafen die Augen und fragte: »Wie spät ist es schon, Mutti? Ich habe Hunger.«
»Gleich halb zehn, Jörg. Geh ins Bad und zieh dich an. Der Frühstückstisch ist unten schon gedeckt. Aber sei bitte leise, dem Nicki geht es nicht so gut. Er hat sich wohl eine Darminfektion geholt. Jetzt schläft er wieder.«
»Dann darf ich doch nach dem Frühstück bestimmt zum Sascha gehen, nicht wahr?«
»Darüber reden wir gleich, Jörg. Beeile dich, ich weiß nicht, wie lange Nicki schlafen wird.«
Jörg öffnete schon die Badezimmertür und sagte im Hineingehen: »Ich mach ganz schnell, Mutti.«
»Gut, aber das Zähneputzen nicht vergessen, hörst du? Ich warte unten in der Küche auf dich.«
Ein Brötchen und eine Tasse Milch war alles, was Jörg zum Frühstück zu sich nahm. Noch mit dem letzten Bissen im Mund wollte er wissen: »Darf ich denn gleich gehen, Mutti?«
»Meinetwegen, Jörg. Ich muß mich heute sowieso mehr um Nicki kümmern. Du kannst bleiben, bis Vati heute nachmittag vom Dienst kommt. Er wird gegen fünf zu Hause sein. Und mach mir mit dem Sascha keine Dummheiten.«
»Machen wir doch nie, Mutti«, erwiderte Jörg und sah seine Mutter dabei treuherzig an.
»Dein Wort in Gottes Ohr, mein Junge, ich will es hoffen. Du weißt auf jeden Fall Bescheid, wann du wieder daheim sein mußt. Meinetwegen kannst du jetzt gehen.«
Nachdem Jörg das Haus verlassen hatte und mit seinem Fahrrad zu seinem Schulfreund abgefahren war, brachte Dagmar zuerst die Küche in Ordnung und verrichtete noch einige andere Hausarbeiten, bevor sie wieder ins Kinderzimmer ging. Inzwischen war es auch fast elf Uhr geworden.
Als Dagmar das Kinderzimmer betrat, war sie sekundenlang fassungslos vor Schreck. Nicki glühte ja förmlich. Das konnte doch nicht möglich sein.
»Mutti, ich habe solchen Durst, mein Mund ist ganz trocken«, murmelte der Kleine weinerlich.
»Mein armer Liebling, ich hole dir sofort etwas.«
Dagmar eilte hinunter in die Küche und nahm gleich die ganze Kanne Tee mit nach oben.
Ich muß sofort die Temperatur messen, dachte sie in aufkommender Panik.
Wenig später mußte sie entsetzt feststellen, daß das Fieber inzwischen auf über neununddreißig Grad gestiegen war.
»Hast du noch immer Bauchweh, mein kleiner Liebling?« fragte sie weich und strich dem Jungen das feuchte Haar aus der Stirn.
»Ja, Mutti, mein Bauch tut wieder so weh.«
»Dann bleibst du fein liegen, und Mutti ruft die Frau Doktor an. Die Ärztin, bei der wir in der vergangenen Woche in der Klinik waren. Das war doch eine sehr liebe Frau Doktor, nicht wahr?«
»Ich will aber nicht ins Krankenhaus, ich will doch bei dir und Vati und Jörg bleiben.«
»Du brauchst auch nicht in die Kinderklinik, Nicki. Frau Dr. Martens kommt bestimmt zu uns in die Wohnung, um nach dir zu sehen. Ich rufe sie sofort in der Klinik an.«
Wenn doch nur Uwe schon zu Hause wäre, dachte Dagmar, als sie nun erneut hinuntereilte, um die Kinderklinik Birkenhain anzurufen.
*
Die Hauptarbeit für diesen Vormittag war getan. Die Punktion bei Mia war ohne Probleme verlaufen, und im Augenblick lag das Mädchen zufrieden in seinem Bett.
Eigentlich könnte ich heute früher hinüber ins Doktorhaus zum Mittagessen gehen, überlegte Hanna. Sie gestand sich ein, daß sie doch ein wenig neugierig darauf war, welche Einkäufe die Mutter mit der Füchsin in der Stadt getätigt hatte.
»Woran denkst du so intensiv, Hanna?« fragte Kay und trat zu ihr ans Fenster. »Gibt es etwas Besonderes zu sehen?«
»Du, Kay, ich habe dein Kommen völlig überhört. Es gibt nichts Besonderes zu sehen. Ich überlege nur gerade, ob ich heute eine halbe Stunde eher in die Mittagspause gehen soll. Im Augenblick ist alles ruhig im Haus.«
»Warum nicht, Hanna? Du bist sowieso die meiste Zeit eine der letzten, die zu Tisch geht. Mutti wird sich bestimmt freuen, wenn sie dich etwas länger um sich haben kann. Wenn etwas für dich anfallen sollte, weiß ich ja, wo du zu finden bist.«
»Gut, ich geh dann ins Doktorhaus hinüber. Ist ja auch gleich halb zwölf.«
Hanna hatte noch nicht richtig ausgesprochen, als das Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich.
Es war Martin Schriewers, der sagte: »Hier ist ein Gespräch für Sie, Hanna. Eine Frau Biesinger, die Sie dringend sprechen möchte. Kann ich durchstellen?«
»Selbstverständlich, Martin, stellen Sie durch.«
Im nächsten Augenblick hörte Hanna die sich vor Aufregung fast überschlagende Stimme Dagmar Biesingers in der Leitung.
»Bitte, beruhigen Sie sich, Frau Biesinger, und sagen Sie mir noch einmal, was wirklich mit dem Jungen los ist«, unterbrach Hanna schon nach wenigen Sekunden.
»Es geht um meinen Nicki, Frau Dr. Martens. Sie wissen ja, daß er schon seit einiger Zeit wieder kränkelt. Ich bin in sehr großer Sorge um meinen Jungen. Die letzte Nacht verlief sehr unruhig, und schon seit ein paar Tagen klagte er immer wieder über Bauchweh. Heute ist es ganz schlimm, und starken Durchfall hat er auch. Was mir aber so große Angst macht, ist, daß seine Temperatur so stark ansteigt. Bitte, könnten Sie nicht vorbeikommen und nach meinem Jungen schauen?«
»Wie hoch ist die Temperatur?«
»Vor einigen Minuten über neununddreißig Grad, Frau Doktor. Was soll ich nur machen?«
»Geben Sie dem Jungen von den Penizillintropfen, die ich Ihnen mitgegeben habe, und sorgen Sie dafür, daß der Kleine viel Flüssigkeit zu sich nimmt. Am besten leichten Kamillentee. Ich habe heute nach der Mittagszeit noch einen Hausbesuch zu machen und komme dann zuerst zu Ihnen nach Falkenberg. Ich denke, daß sich der Junge eine Darminfektion zugezogen hat. Regen Sie sich bitte nicht auf, wir bekommen das schon wieder hin. Bis ich da bin, kontrollieren Sie bitte auch die Temperatur weiter. So in einer bis eineinhalb Stunden bin ich bei Ihnen. Sollte hier in der Klinik noch ein Notfall eintreten, komme ich trotzdem auf jeden Fall noch zu Ihnen.«
Kay, der das Gespräch mitverfolgt hatte, sah Hanna fragend an, als sie den Hörer wieder auflegte.
»Geht es um den kleinen Jungen, von dem du mir vor ein paar Tagen erzählt hast?«
»Ja, genau um den handelt es sich, Kay. Ein sehr zartes und empfindliches Kind. Soweit ich es nach dem Gespräch mit Frau Biesinger heraushören konnte, hat es den Fünfjährigen jetzt doch wieder härter erwischt. Ich vermutete eine Darminfektion. Du hast ja mitbekommen, daß ich mir den Jungen auf jeden Fall heute noch ansehen werde. Ich gehe jetzt zum Mittagessen hinüber ins Doktorhaus und fahre anschließend sofort zu meinen Hausbesuchen los. Ich muß noch zu den Kellermanns, das liegt auf einem Weg. Erst wenn ich beide Besuche durchgeführt habe, komme ich wieder hierher in die Klinik.«
»Alles klar, Hanna, du kannst ja noch einmal versuchen, Herrn Kellermann zu überreden, seinen Sohn doch endlich zu uns in die Klinik zu bringen. Wir können hier doch viel mehr für den Jungen tun. Ist es nicht genauso, wie damals bei der kleinen Tinni? Auch bei der kam die Einsicht des Vaters fast zu spät.«
»Ich weiß, ich muß gerade in den letzten Tagen oft daran denken. Nur, es ist wie damals, wir können die Eltern nicht zwingen. Wir können nur immer wieder darauf hinweisen, was auf den Jungen zukommen kann. Eine rechtliche Handhabe, mehr zu fordern, die haben wir leider nicht. Doch wozu das Ganze noch zerreden? Es bringt uns nichts. Ich gehe jetzt, mal sehen, ob ich heute mehr erreichen kann.«
»Grüß Mutti von mir«, sagte Kay noch, bevor sich die Tür Sekunden später hinter Hanna schloß.
Hannas Lächeln verschwand, als sie das Doktorhaus betrat und Jolandes Gesicht sah. Es wirkte irgendwie betreten, man konnte es sogar leicht verstört nennen.
Bevor sie eine Frage stellen konnte, kam Jolande ihr zuvor und sagte: »Gut, daß du früher kommst, Hanna. Ich wollte gerade drüben die Klinik anrufen.«
»Was ist los, Füchsin? Ich habe doch gleich bemerkt, daß etwas nicht in Ordnung ist. Wo ist meine Mutter? Ist etwas mit ihr?«
»Ja, darum wollte ich anrufen. Sie wollte etwas aus dem Keller holen und hat wohl die letzte Stufe verpaßt. Sie hat sich dabei den Fuß verstaucht. Ich hoffe wenigstens, daß es sich nur um eine Verstauchung handelt.«
»Wo ist sie?« kam es besorgt von Hannas Lippen.
»Im Wohnzimmer auf der Couch. Ich habe schon einen Umschlag mit essigsaurer Tonerde gemacht. Sie hat jedoch starke Schmerzen.«
Schon bei den letzten Worten Jolandes hatte Hanna das Wohnzimmer betreten.
»Du machst vielleicht Sachen, Mutti. Du solltest doch nicht in den Keller gehen. Laß mich deinen Fuß ansehen. Die Füchsin hat mir schon alles gesagt. Wir werden den Fuß röntgen, dann wissen wir Bescheid.«
»So schlimm ist es auch nicht, Hanna, es tut nur höllisch weh. Aber gebrochen ist nichts, das kannst du mir ruhig glauben. Ich weiß bloß nicht, wie das passieren konnte.«
Während Hanna behutsam den verletzten Fuß untersuchte, sagte sie beruhigend: »So etwas passiert manchmal sehr schnell, trotzdem werde ich drüben in der Klinik Bescheid geben, daß man eine Schwester mit einem Rollstuhl schickt.«
»Soll ich das machen, Hanna?« fragte Jolande von der Tür her.
»Ja, bitte, Füchsin, sag meinem Bruder Bescheid.«
Jolande eilte ans Telefon, und Bea Martens fragte: »Muß das wirklich sein, Hanna? Du kannst doch sicher auch feststellen, daß mein Fuß nicht gebrochen ist.«
»Bitte, Mutti.«
»Ist ja schon gut, Hanna, ich sag ja schon nichts mehr. Tu, was du für richtig hältst.«
Hanna legte den Umschlag wieder um das ziemlich angeschwollene Fußgelenk und meinte dann: »Auf jeden Fall hast du dir damit ein paar Ruhetage eingehandelt, Mutti. Kannst dich so richtig verwöhnen lassen.«
»Das sagst du, dabei würde ich liebend gern verzichten, denn ich kann ja in diesen Ruhetagen auch nicht zu den kleinen Patienten hinübergehen.«
Hanna entgegnete darauf nichts, denn man hörte, daß die Haustür geöffnet wurde.
Es war Kay persönlich, der mit einem Rollstuhl kam, um seine Mutter zum Röntgen zu holen.
»Soll ich mitkommen, Kay?« fragte Hanna.
»I wo, Schwesterherz. Iß du ruhig inzwischen zu Mittag und mach dann wie vorgesehen deine Hausbesuche. Ich werde mich inzwischen schon um Mutti kümmern und sie gut versorgen.«
»So, Mutti, ab mit dir in den Rennwagen«, kam es scherzend von seinen Lippen, um die sich ein verschmitztes Lächeln legte.
»Ist mir direkt peinlich, daß ich euch auch noch Arbeit mache«, konterte Bea bedrückt.
»Geh, Mutti, das ist doch für uns keine Arbeit. Du bist nicht mehr die Allerjüngste, da wollen wir doch vorsichtig sein. Ich gebe dir drüben auch gleich etwas gegen die Schmerzen.«
Wie eine Puppe hob Kay die zierliche Mutter hoch, setzte sie in den Rollstuhl und fuhr sie ins Klinikgebäude hinüber.
Hanna wandte sich Jolande zu und wollte wissen: »Ist das Mittagessen denn schon fertig, Füchsin?«
»Ja, selbstverständlich, ich gieße nur rasch die Kartoffeln ab. Dann kannst du sofort essen.«
»Richte mir nur eine Kleinigkeit, Füchsin. Viel Hunger habe ich nicht.«
»Du hast doch nichts dagegen, wenn ich warte und später mit deiner Mutter zu Mittag esse, nicht wahr?«
»Warum sollte ich, Füchsin? Mach es so, wie du willst.«
Noch bevor Kay die Mutter wieder ins Doktorhaus zurückbrachte, machte sich Hanna auf den Weg, um ihre beiden Hausbesuche zu erledigen.
*
Egon Wengers, ein großer hagerer Mann von zweiundvierzig Jahren, sah ärgerlich auf seine Schwester Mathilde.
»Ich verstehe dich nicht, Tilly. Kannst du nicht dafür sorgen, daß Sascha wenigstens pünktlich zum Mittagessen ins Haus kommt? Du weißt doch, wie ich diese ewige Warterei hasse. Ich werde wohl ein ernstes Wort mit dem Jungen reden müssen. Eine Schlamperei ist das. Wo steckt der Bursche eigentlich?«
»Sascha ist mit seinem Freund unterwegs. Die beiden sind sicher so mit ihrem Baumhaus beschäftigt, daß sie darüber die Zeit vergessen haben. Und was das andere betrifft, mein Lieber, muß ich dir leider sagen, daß du dich ruhig mehr um den Jungen kümmern könntest. Du bist schließlich sein Vater. Du überläßt Sascha viel zu oft sich selbst. Er ist doch noch ein Kind.«
»Ich kann nicht alles zugleich tun, Tilly. Wofür habe ich denn dich? Du bist doch eine gute Ersatzmutter für ihn. Bis jetzt bist du immer gut mit dem Jungen ausgekommen.«
»Ja, das stimmt zwar. Aber wie du so treffend gesagt hast, bin ich nur eine Ersatzmutter. Du solltest dich langsam nach einer Frau umsehen, die Sascha eine gute Mutter sein kann.«
»Nicht schon wieder dieses Thema, Tilly. Der Junge hat dich, und ich brauche keine Frau. Bring endlich das Essen auf den Tisch, ich warte nicht länger. Wer nicht kommt zur rechten Zeit, der muß sehn, was übrigbleibt, und damit basta. Ich muß nachher noch einmal hinüber ins Sägewerk. Noch eine Stunde, dann können auch die Männer für heute Feierabend machen. Du weißt ja, daß heute abend im Ort das Sommerfest stattfindet. Da will ich eine Ausnahme machen.«
»Und du, gehst du auch zum Fest?«
»Wenn du mich begleitest, warum nicht? Ich muß jedoch noch nach Celle fahren. Ich habe dort eine wichtige Besprechung. Also, du hast genug Zeit, dir zu überlegen, ob du mich heute abend begleiten möchtest. Du kommst dadurch auch ein wenig unter Menschen.«
»Und Sascha?«
»Wie, und Sascha? Der Junge ist doch kein Kleinkind mehr, das man nicht einen Abend allein lassen kann. Genug jetzt mit dem langen Reden, ich habe Hunger und möchte endlich essen.«
Da der Tisch im Eßzimmer schon gedeckt war, brauchte Tilly nur noch das Essen aufzutragen. Sie hatte sich gerade ihrem Bruder gegenüber gesetzt, als Sascha und Jörg kamen. Strafend sah Egon Wengers seinen Sohn an und sagte ärgerlich: »Und, Sascha, hast du mir nichts zu sagen?«
»Entschuldige bitte, Vati, ich habe ganz vergessen, auf meine Uhr zu schauen«, antwortete Sascha kleinlaut.
»Gut, für einmal will ich das noch durchgehen lassen, Junge. Beim nächsten Mal bitte ich mir mehr Pünktlichkeit aus. Verstanden…?«
»Ja, Vati.«
»Dann wascht euch rasch eure schmutzigen Gesichter und die Hände, damit ihr essen könnt. Beeilung, wenn ich bitten darf.«
Sascha und Jörg stoben davon, und als sie außer Hörweite der Erwachsenen waren, sagte Jörg: »Dein Vati ist jetzt sehr böse, nicht wahr? Soll ich nicht lieber nach Hause gehen?«
»Spinnst du, Jörg? Mein Vati ist nicht böse. Er mag nur nicht, wenn ich nicht pünktlich zum Essen nach Hause komme. Deswegen brauchst du dir nicht gleich vor Angst in die Hosen zu machen. Komm, beeilen wir uns lieber.«
Als die beiden Jungen wenig später am Tisch saßen, griff Jörg nur recht zaghaft zu und traute sich nicht so recht, Saschas Vater anzusehen.
»Schmeckt es dir nicht, Jörg?« schreckte ihn plötzlich die Stimme von Saschas Vater auf.
Erschrocken sah Jörg hoch und sagte: »Doch, es schmeckt mir sehr gut, Herr Wengers.«
»Dann greif mal tüchtig zu, Junge, hast sowieso viel zu wenig auf deinen Rippen. Vor mir brauchst du keine Angst, zu haben, ich will dich nicht verspeisen, wenn ich mal mit Sascha schimpfen muß. Wie weit seid ihr mit eurem Baumhaus?«
»Fast fertig, Vati«, erwiderte Sascha mit strahlenden Augen. »Ich sage dir Bescheid, wenn du es dir ansehen kannst.«
»Da bin ich aber gespannt.«
»Vielleicht Montag oder Dienstag, Vati. Doch sag, dürfen wir dir nach dem Essen im Sägewerk helfen? Für heute waren wir lange genug bei unserem Baumhaus.«
»Heute gibt es da nicht mehr viel zu helfen, wir machen nachher alle wegen des Sommerfestes Feierabend.«
»Och, schade, Vati.«
»Halt, da fällt mir ein, daß ihr vor der großen Halle etwas aufräumen und danach fegen könnt. Habt ihr dazu Lust?«
»Klar, Vati, das machen wir gern. Stimmt doch, Jörg, nicht wahr?«
Als auch Jörg zustimmend nickte, sagte Egon Wengers abschließend: »Ich verlasse mich auf euch. Da ich selbst noch in die Stadt muß, seid ihr allein. Ich bitte mir aus, daß ihr keinen Unsinn macht. Und jetzt weiterhin guten Appetit, ich muß hinüber und den Leuten Bescheid sagen, daß sie für heute Feierabend machen können. Anschließend fahre ich dann nach Celle.«
»Nimmst du uns denn am Sonntag mit zum Angeln, Vati? Du hast es mir versprochen!«
»Wenn ich es versprochen habe, werde ich dieses Versprechen auch einhalten, Sascha. Doch nur, wenn ihr vernünftig seid.«
Egon Wengers ging hinaus.
»Na, ihr zwei, wie wäre es denn mit einer großen Portion Schokoladenpudding?« fragte Tilly lächelnd.
»Au, ja, prima, Tante Tilly, da sind wir dabei«, antwortete Sascha mit strahlenden Augen, und Jörg stimmte zu.
Zufrieden lächelnd sah Tilly den beiden Jungen wenig später zu, als diese auch noch den Schokoladenpudding verspeisten.
»Mann, bin ich jetzt voll, ich glaube, ich platze bald«, verkündete Sascha und schob die geleerte Schale von sich. Er wandte sich Jörg zu und sagte: »Komm, Jörg, wir gehen hinauf auf mein Zimmer, eine kleine Pause einlegen, bevor wir draußen aufräumen. Wir dürfen doch, nicht wahr, Tante Tilly?«
»Meinetwegen, Sascha. Macht schon, daß ihr fortkommt, ich habe jetzt sowieso in der Küche zu tun.«
Das ließen sich die beiden nicht zweimal sagen, und sie hatten es auf einmal sehr eilig, hinauf in Saschas Zimmer zu kommen.
*
Es war so gegen vierzehn Uhr, als Tilly die beiden Jungen das Haus verlassen hörte. Als sie einmal kurz im Wohnzimmer war, konnte sie durch das Fenster die beiden beobachten, wie sie fleißig mit dem Aufräumen beschäftigt waren. Da die Jungen gut aufgehoben waren, ging sie beruhigt wieder an ihre Arbeit zurück.
Aufräumen und fegen, das dauerte nicht lange. Mit zwei Mann war das schnell geschafft.
»Was machen wir jetzt?« fragte Jörg seinen Freund.
»Komm, wir klettern auf die Holzstöße. Mal sehen, wer von uns am schnellsten oben ist.«
Einige Minuten kletterten beide auf den verschieden hohen Holzstößen herum, und es machte beiden großen Spaß.
Doch plötzlich entdeckte Sascha, daß die große Halle nicht abgeschlossen war.
»Mensch, Jörg, Klasse. Komm mit, ich zeige dir, was hier in der Halle alles gemacht wird.«
»Dürfen wir denn allein da hinein? Wird dein Vater nicht böse?«
»Quatsch, warum soll er denn böse werden? Ich will dir doch nur alles zeigen. Komm schon und sei kein Spielverderber.«
Jörg gab nach und folgte seinem Freund, und bald war auch seine Neugierde erwacht. Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie alles untersuchten, überall ein wenig herumspielten. So auch an der großen Kreissäge.
»Ich stell die Säge an, dann können wir ein Brett durchsägen«, sagte Sascha, und Jörg wich ängstlich zurück.
»Tu das nicht, Sascha, das ist viel zu gefährlich.«
»Pah, gefährlich. Du bist ein richtiger Angsthase und Feigling. Was ist denn schon dabei, wenn wir beide ein einziges Brett durchsägen? Das machen Vatis Arbeiter und mein Vati selbst doch jeden Tag. Du brauchst ja nur das Brett festzuhalten, den Motor stelle ich schon allein an. Los, sei kein Frosch.«
Jörg zögerte. Er wußte, daß Sascha mit seinem Vorhaben etwas Verbotenes tun wollte. Er selbst wollte jedoch auch nicht als Feigling gelten. Immer, wenn er etwas nicht wollte, sagte Sascha, er sei ein Feigling. Er fand das richtig gemein von Sascha, so etwas zu sagen.
»Machst du nun mit oder nicht?« drängte Sascha erneut, und Jörg gab wieder einmal nach. Die beiden legten gemeinsam ein Brett quer vor das große, für Jörg bedrohlich wirkende Sägeblatt, und Sascha sagte: »Hier mußt du festhalten. Ich schalte nur die Maschine an, dann helfe ich dir.«
Etwas zu zaghaft, zu ängstlich, hielt Jörg das lange Brett fest, während Sascha nach vorn ging, um die große Kreissäge einzuschalten. Mit lautem kreischenden Geräusch begann sich das Sägeblatt zu drehen. Jörg erschrak so heftig, daß ihm das Brett abrutschte. Hastig griff er danach, und da geschah etwas Unfaßbares.
Ein irrer, markerschütternder Schrei ließ Sascha herumfahren. Er sah gerade noch etwas durch die Luft zur Seite fliegen. Es sah aus wie eine Hand, und der Zwölfjährige war wie gelähmt vor Entsetzen und starrte auf seinen Freund, der zur Seite gesunken war.
Der helle, irre Aufschrei war bis zu Tilly ins Wohnzimmer gedrungen. Sie ließ alles stehen und liegen, stürzte aus dem Wohnhaus und sah sofort die weit offenstehende Tür zur großen Werkshalle.
O Gott, was ist denn da bloß passiert, durchfuhr es sie in jäh aufsteigender Panik, und sie hastete vorwärts.
Im nächsten Augenblick erkannte sie, daß etwas Furchtbares geschehen war.
»Stell endlich das verdammte Ding ab«, herrschte sie Sascha an, der immer noch wie gelähmt auf seinen bewußtlosen Freund starrte.
Er zuckte zusammen, und nun erst kam Leben in ihn. Er stürzte zum Schalter der Kreissäge, um den Schalter herunterzudrücken.
Tilly, die etwas Ähnliches schon einmal erlebt hatte, behielt trotz des Entsetzens einen klaren Kopf. Geistesgegenwärtig riß sie sich ihre weiße Schürze ab. Mit einem der langen Bänder band sie den Arm des verletzten Jungen ab, dem die rechte Hand glatt oberhalb des Handgelenks abgetrennt worden war, um den großen Blutverlust zu stoppen. Dabei rief sie Sascha zu: »Nun renn schon los und hol meinen Autoschlüssel. Bring mir aus dem Kühlschrank die Eiswürfelschale und einen Plastikbeutel. Los, nun mach doch schon«, herrschte sie erneut den Jungen an, der schon wieder mit weitaufgerissenen Augen auf seinen bewußtlosen Freund starrte.
Sascha lief davon und war nur wenige Minuten später zurück.
Tilly schüttelte die Eiswürfel in den Beutel, legte die abgetrennte Jungenhand hinzu und verknotete den Beutel.
»Hier, bring das zum Wagen, ich muß Jörg so schnell wie möglich in die Kinderklinik bringen. Du gehst dann ins Haus und rührst dich nicht eher aus deinem Zimmer, bis ich oder dein Vati zurückkommen.«
»Ich wollte es doch nicht, Tante Tilly. Wir wollten doch nur…«
»Schweig, das kannst du später alles deinem Vati erzählen. Jetzt bleibt keine Zeit«, fuhr Tilly den Jungen, an und hob Jörg hoch. Mit ihrer Last eilte sie so rasch es ihr möglich war zu ihrem Wagen.
Sascha öffnete die Wagentür, und behutsam bettete Tilly den verletzten Jungen hinten in den Fond des Wagens.
Mit besorgten Blicken sah sie dabei, daß der mit ihrer weißen Schürze dick umwickelte Armstumpf immer noch blutete, denn der Stoff begann sich rot zu färben.
»Was ist mit Jörg, Tante Tilly? Wird er sterben?« fragte Sascha mit zitternden Lippen.
»Ich weiß es nicht. Geh jetzt ins Haus und warte, hast du verstanden? Ich halte auf dem Weg zum Krankenhaus bei Jörgs Eltern und sage Bescheid.«
»Ja, Tante Tilly.«
Mit gesenktem Kopf trottete Sascha auf das Wohnhaus zu, während Tilly sich mit dem Wagen in Bewegung setzte und sich in raschem Tempo entfernte.
Während sie sich dem Elternhaus des verletzten Jungen näherte, schickte sie ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel.
»Lieber Gott«, murmelte sie halblaut vor sich hin, »laß es nicht zu spät sein. Hilf diesem Jungen, er hat doch noch sein ganzes Leben vor sich. Hilf, wie du es schon einmal getan hast.«
Tilly dachte an den ähnlich gelagerten Fall, der vor Jahren im Sägewerk passiert war. Damals war einem der Arbeiter der Daumen abgesägt worden, der in Celle in einem Krankenhaus wieder angenäht werden konnte. Ob es wohl möglich war, daß das auch mit einer ganzen Hand gemacht werden konnte? Es schien ihr unmöglich, trotzdem hoffte sie es von ganzem Herzen.
Vor dem Grundstück der Familie Biesinger brachte sie den Wagen zum Stehen. Im gleichen Moment sah sie Jörgs Mutter und eine andere junge Frau aus dem Haus treten und sich voneinander verabschieden.
Das war doch die junge Chefärztin der Kinderklinik. Ja, sie war es tatsächlich.
Tilly hupte wild und machte heftige Bewegungen mit den Armen, um die beiden Frauen auf sich aufmerksam zu machen. Den aufgeregten Gebärden Tillys entnahmen Hanna Martens und Dagmar ganz folgerichtig, daß etwas passiert sein mußte, und sie eilten mit hastigen Schritten auf den Wagen zu.
*
Nachdem Hanna das Doktorhaus verlassen hatte, um ihre beiden Krankenbesuche durchzuführen, fuhr sie zuerst zum Hof der Familie Kellermann, der zwischen Ögela und Falkenberg lag. Joachim Kellermann, der achtjährige Bub, war auch so ein Sorgenkind von ihr. Der Junge wurde immer hinfälliger, und das Schlimme daran war, daß Joachims Vater nicht das nötige Einsicht besaß, ihn für ein Weilchen in die Obhut der Klinik zu geben. Otto Kellermann war ein richtiger Despot. Nur sein Wort, das, was er bestimmte, hatte Geltung. Das mußte vor allen Dingen die Mutter des Jungen erfahren, die vergeblich ihren Mann bedrängte, doch an sein Kind, an seine Gesundheit zu denken. Hanna war sich darüber klar, daß es so auf die Dauer nicht weitergehen konnte. Nur mit den Hausbesuchen allein konnte sie dem Jungen auf die Dauer nicht helfen.
Heute wollte sie bei Joachim noch einmal eine Blutprobe entnehmen, um sie in der Klinik im Labor analysieren zu können.
Als sie das Haus betrat, kam ihr Luise Kellermann schon entgegen. Die verhärmt aussehende Frau, von der Hanna wußte, daß sie noch nicht einmal vierzig Jahre alt war, sah sehr verweint aus.
»Geht es Ihnen nicht gut, Frau Kellermann?« Fragend sah Hanna die Mutter ihres kleinen Patienten an.
»Mit mir ist alles in Ordnung, Frau Doktor Martens. Mir geht es um meinen Jungen, um Joachim. Ihm geht es heute überhaupt nicht gut. Ich mache mir sehr große Sorgen. Ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Der Junge ist heute so eigenartig, so anders als in den letzten Tagen. Sie müssen sich Joachim sofort ansehen.«
»Darum bin ich ja gekommen, Frau Kellermann. Wo ist übrigens Ihr Mann? Ist er zufällig auch im Haus?«
»Nein, das ist er nicht, er kommt erst in ungefähr einer Stunde zurück.«
»Das ist sehr bedauerlich, doch zuerst möchte ich jetzt zu dem Jungen.«
»Bitte, kommen Sie, ich bringe Sie zu Joachim, Frau Doktor.«
Hanna folgte Luise Kellermann ins Kinderzimmer und fragte sich, was diese wohl damit gemeint haben konnte, als sie gesagt hatte, daß der Kleine an diesem Tag so anders sei.
Als Hanna einen Augenblick später an Luise Kellermann vorbei das Zimmer betrat, war sie sehr betroffen, als sie auf den achtjährigen Jungen sah. Bei ihren anderen Besuchen hatte er sie trotz allem immer angelächelt. Doch nun lag er völlig apathisch in den Kissen. Er schien ihr Eintreten überhaupt nicht wahrzunehmen.
»Was hat er heute nur? So geht das schon den ganzen Vormittag. Bitte, können Sie nicht helfen?« sagte die Mutter des Jungen mit bedrückter Stimme.
Hanna war mit ein paar Schritten neben dem Bett und beugte sich über Joachim. Behutsam untersuchte sie ihn und stellte vorsichtig einige Fragen, auf die sie jedoch keine Antwort bekam.
»Reichen Sie mir doch bitte aus meiner Tasche das Thermometer, Frau Kellermann. Ich befürchte, daß die Temperatur sehr stark angestiegen ist.«
Wie Hanna dann auch feststellen konnte, war das Fieber tatsächlich erschreckend hoch. Sie zog eine Spritze auf und injizierte sie mit sicherer Hand. Als sie auch noch eine Blutprobe entnommen hatte, richtete sie sich mit ernstem Gesicht auf und sagte entschlossen: »Ich kann die Verantwortung für das Leben Ihres Jungen nicht mehr übernehmen, wenn Ihr Mann nicht endlich bereit dazu ist, den Jungen in die Klinik zu geben. Wenn er kein Vertrauen zu uns hat, kann er ihn auch in eine andere Klinik bringen lassen. Es darf allerdings keine Zeit mehr verloren werden. Wie ich Ihnen und Ihrem Mann schon in der vergangenen Woche sagte, besteht der Verdacht einer Geschwulst im Nierenbereich. Genaues kann nur in einer Klinik festgestellt werden. Ihr Mann kann doch nicht ernsthaft wollen, daß das Leben seines Jungen noch mehr in Gefahr gerät. Die erhöhte Temperatur gefällt mir überhaupt nicht.«
Das Gesicht Luise Kellermanns veränderte sich. Es zeigte einen so entschlossenen Ausdruck, wie ihn Hanna bei der verhärmten Frau niemals erwartet hätte.
»Es gibt also nur eine Rettung für mein Kind, wenn es sofort in die Klinik gebracht werden könnte? Habe ich das so richtig verstanden, Frau Doktor?«
Luise Kellermanns Stimme klang rauh und fremd.
»Ja, genau das wollte ich sagen«, entgegnete Hanna, und sie wich dem forschenden Blick Luise Kellermanns nicht aus.
»Dann leiten Sie bitte sofort alles Erforderliche in die Wege, Frau Dr. Martens. Wenn ich meinen Jungen jemandem anvertraue, dann sind Sie es und Ihr Herr Bruder.«
»Und Ihr Mann?«
»Ich bin die Mutter, und mit meinem Mann werde ich schon fertig, wenn es unbedingt sein muß. Er wird nicht mehr allein über das Wohl meines Jungen bestimmen, wenn sein Leben in Gefahr ist. Jetzt habe ich es satt. Bitte, handeln Sie rasch.«
»Kann ich telefonieren?«
»Selbstverständlich, das Telefon steht unten in der Diele. Kann ich in der Zwischenzeit etwas tun?«
»Ja, packen Sie einige Sachen für Joachim zusammen. Es wird nicht lange dauern, bis der Krankenwagen hier ist.«
»Ja, mach ich, Frau Doktor«, erwiderte Luise Kellermann.
Hanna, die das Kinderzimmer verließ, hörte die letzten Worte schon nicht mehr. Für sie zählte im Augenblick nur, dem kranken Jungen zu helfen, dafür zu sorgen, daß er auf dem schnellsten Weg in die Kinderklinik geholt wurde.
In der Diele unten wählte sie die Nummer von Birkenhain und ließ sich mit ihrem Bruder verbinden, den sie auch schon einen Moment später in der Leitung hatte.
»Was liegt an, Hanna, von wo aus rufst du an?«
»Ich bin noch bei den Kellermanns. Bitte, sorge dafür, daß sofort der Krankenwagen geschickt wird. Das Befinden des Jungen hat sich rapide verschlechtert. Frau Kellermann möchte, daß der Kleine sofort in die Klinik geholt wird.«
»Und Herr Kellermann, Hanna?«
»Herr Kellermann ist nicht da. Aber es sollte uns in diesem Fall wohl auch das Wort der Mutter reichen. Die Temperatur ist schon auf fast vierzig Grad angestiegen. Es besteht höchste Lebensgefahr.«
»Gut, Hanna, ich werde sofort alles Notwendige veranlassen. Kommst du mit zurück?«
»Nein, Kay, ich werde hier warten, bis Herr Kellermann nach Hause kommt, und anschließend fahre ich noch bei Familie Biesinger vorbei. Auch der Besuch ist sehr wichtig.«
»In Ordnung, Hanna. Du kannst so in knapp zehn Minuten mit dem Krankenwagen rechnen. Nur noch rasch eines: Mutti geht es gut, es ist nur eine Prellung mit einem Bluterguß im Fuß. Du brauchst dir also um Mutti keine Sorgen zu machen.«
»Danke, daß du mir das noch gesagt hast, Kay. Bis später also.«
»Wann wird der Krankenwagen hier sein?« wollte Luise Kellermann wissen, als Hanna erneut das Kinderzimmer betrat.
»In knapp zehn Minuten«, antwortete Hanna.
»Gut, Frau Doktor. Mein Mann wird zwar toben, aber das spielt für mich keine Rolle mehr.«
»Sie sollten nicht so negativ denken, Frau Kellermann. Ich bleibe bei Ihnen, bis er heimkommt. Ich werde ihm schon das Richtige sagen. Vielleicht hat er endlich auch ein Einsehen, daß dem Jungen in der Klinik geholfen werden kann. Wenn er den Jungen liebt, wird er endlich einsehen, daß Sie nicht anders handeln konnten.«
»Mir ist das völlig egal, Frau Doktor. Zum ersten Mal seit vielen Jahren fühle ich mich stark. Ich werde niemals wieder vor meinem Mann kuschen. Mit unserem Jungen ist er zu weit gegangen. Ich werde es ihm niemals verzeihen, wenn der Junge die Sache nicht überlebt.«
»Warum ist Ihr Mann so halsstarrig? Es muß doch für seine Halsstarrigkeit einen Grund geben.«
»Das gibt es für ihn auch. Vor genau sieben Jahren, als es die Kinderklinik Birkenhain noch nicht gab, verloren wir unseren ersten Sohn in Celle in der Klinik. Mein Mann gibt heute noch den Ärzten die Schuld daran, obwohl niemand unserem Kind hätte helfen können. Es war ein Verkehrsunfall, und unser Junge war zu schwer verletzt.«
»Das tut mir leid, davon hatte ich keine Ahnung, Frau Kellermann.«
»Schon gut, ich habe es schon lange überwunden. Mein Joachim hat mir dabei geholfen. Man muß hinnehmen, was das Schicksal einem abverlangt.«
In diesem Augenblick hörten sie beide das Martinshorn des Krankenwagens.
Es vergingen nur wenige Minuten, und der Krankenwagen fuhr mit dem Jungen wieder vom Hof.
»Am liebsten wäre ich ja mit zur Klinik gefahren, Frau Doktor.«
»Das kann ich gut verstehen. Sie dürfen aber zu jeder Zeit in die Klinik kommen, um nach Joachim zu sehen.«
»Ist das wirklich wahr?«
»Selbstverständlich, Frau Kellermann, Sie können kommen, wann immer es Ihre Zeit erlaubt.«
Für Sekunden huschte ein dankbares Lächeln über das schmale verhärmte Gesicht Luise Kellermanns.
Sie wollte noch etwas sagen, da näherten sich feste Schritte der Wohnstube.
»Habe ich das richtig gesehen, Luise? War der Krankenwagen etwa bei uns auf dem Hof?« fuhr Otto Kellermann seine Frau an, bevor er noch Hanna bemerkt hatte.
»Was hat das alles zu bedeuten, Frau Dr. Martens? Sie haben meinen Jungen doch wohl nicht gegen meinen Willen in Ihre Kinderklinik bringen lassen?«
»Sei still, Otto, ich habe Frau Dr. Martens gebeten, den Krankenwagen kommen zu lassen. Joachim ging es sehr schlecht, und er hatte zudem noch hohes Fieber. Ich kann doch nicht tatenlos zusehen, wie du so halsstarrig das Leben unseres Kindes aufs Spiel setzt. In der Klinik werden sie unserem Jungen helfen, das weiß ich.«
»Helfen, wenn ich das schon höre. Hast du unseren Klausi denn ganz vergessen? Ihm hat man im Krankenhaus auch nicht geholfen. Wenn sich das gleiche noch einmal wiederholt, trägst du ganz allein die Schuld daran.«
»Bitte, Herr Kellermann, es ist nicht gut, wenn zwischen Ihnen und Ihrer Frau so harte Worte fallen. Ich verspreche Ihnen, daß wir alles tun werden, damit Ihr Junge wieder ganz gesund wird. Ihre Frau hat die einzig richtige Entscheidung getroffen. Morgen wäre es vielleicht schon zu spät gewesen. Ihr Sohn befindet sich in Lebensgefahr. Sie lieben Ihr Kind doch, nicht wahr?«
»Gerade weil ich mein Kind liebe, fürchte ich mich davor, es auch noch zu verlieren. Können Sie das denn nicht verstehen?« herrschte Otto Kellermann Hanna an.
»Nein, denn die Sorge um das Leben und die Gesundheit eines Kindes müssen immer an erster Stelle stehen. Sie dürfen mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß wir Ihrem Jungen in der Klinik viel besser helfen können. Uns stehen mit unseren Apparaturen ganz andere Möglichkeiten zur Verfügung.«
»Es ist ja sowieso nicht mehr zu ändern, Frau Doktor. Ich werde Ihnen auch keine weiteren Steine mehr in den Weg legen. Ich werde für mein Kind beten. Entschuldigen Sie mich bitte.«
Die letzten Worte kamen rauh über die Lippen des breitschultrigen Mannes, der nun mit gesenktem Kopf die Wohnstube verließ.
Erstaunt sah seine Frau ihm nach, weil ihm plötzlich die Kampflust verlassen hatte.
Hanna wartete einen Moment, dann sagte sie: »Sehen Sie, Frau Kellermann, Ihr Mann hat endlich ein Einsehen. Ich möchte mich nun auch von Ihnen verabschieden, da ich noch zu einem anderen kranken Kind fahren muß. Ich sehe Sie und Ihren Mann ja sicher in der Klinik wieder. Und Kopf hoch, es wird mit Ihrem Jungen ganz bestimmt alles wieder in Ordnung kommen, denn jetzt können wir ja etwas für ihn tun.«
*
Dagmar Biesinger erwartete Hanna schon voller Ungeduld und Sorge.
»Gott sei Dank, daß Sie endlich da sind, Frau Dr. Martens. Ich habe schon befürchtet, daß Sie nicht kommen können.«
»Ich habe Ihnen doch am Telefon gesagt, daß ich auf jeden Fall komme, Frau Biesinger. Ich bin nur durch einen anderen Patienten etwas länger aufgehalten worden«, antwortete Hanna beruhigend.
»Ich habe alles so gemacht, wie Sie es mir am Telefon gesagt haben. Es ist jedoch mit Nicki noch nicht besser geworden.«
»So rasch geht es auch nicht. Sie müssen Geduld haben. Bringen Sie mich zu Ihrer Kleinen.«
»Bitte, wenn Sie mir folgen würden. Nicki liegt oben in seinem Zimmer.«
Wie Hanna wenig später feststellen konnte, war es so, wie sie es vermutet hatte. Der Fünfjährige hatte sich eine fieberhafte Darminfektion zugezogen.
Als sie mit der Untersuchung fertig war und sich wieder aufrichtete, fragte Dagmar Biesinger angstvoll: »Ist es sehr schlimm? Muß mein Kleiner in die Klinik?«
»Es ist, wie ich schon vermutet hatte, eine Darminfektion, eine Darmgrippe. Wenn Sie meine Anweisungen genau befolgen, muß der Kleine nicht in die Klinik. Nur, wenn sich sein Zustand doch noch verschlechtert. Ich gebe ihm jetzt Antibiotika, das wird die Temperatur senken und der Infektion entgegenwirken. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden bitte keine festen Speisen, aber sehr viel Flüssigkeit. Am bekömmlichsten ist in seinem Alter Fencheltee. Nach diesen vierundzwanzig Stunden beginnen Sie am besten mit kleinen Portionen Reisschleim. Das Pulver bekommen Sie in jedem Reformhaus. Kein Fett, keine scharfen Gewürze. Zwieback und auch Haferflocken sind zu empfehlen. Ich komme morgen noch einmal vorbei und schaue mir den Kleinen an. Und kontrollieren Sie bitte weiter die Temperatur.«
»Ist es wirklich nicht gefährlich?«
»Wenn Sie alles genauestens befolgen, nein. Kinder erkranken sehr häufig an diesen Infektionen. Bei Ihrem Kleinen sieht es gefährlicher aus, da er eine sehr schlechte körperliche Konstitution hat. Doch sehr viel Ruhe und gute Pflege bringen das schon wieder in Ordnung. Haben Sie denn schon mit Ihrem Mann über die andere Sache gesprochen? Ich meine damit, uns den Kleinen für ein paar Tage zu einer gründlichen Untersuchung in die Klinik zu bringen?«
»Ja, ich habe mit meinem Mann schon darüber gesprochen, Frau Dr. Martens. Wir sind beide mit Ihrem Vorschlag einverstanden, denn so wie bisher, so kann es einfach nicht mehr weitergehen. Ich hoffe doch, daß wir uns richtig entschieden haben.«
»Es ist genau die richtige Entscheidung, Frau Biesinger, denn nur so kann mit einiger Sicherheit herausgefunden werden, warum Ihr Nicki so anfällig ist. Sobald diese Sache jetzt ausgestanden ist, erwarte ich Sie mit dem Kleinen auf Birkenhain.«
Hanna schrieb noch ein Rezept auf, das sie Dagmar reichte, und sagte abschließend: »Also, ich komme morgen noch einmal vorbei. Jetzt möchte ich mich verabschieden, ich muß in die Klinik zurück.«
»Ich bringe Sie noch zur Tür, Frau Doktor. Und vielen Dank für Ihren Hausbesuch.«
»Keine Ursache, das bringt mein Beruf mit sich, Frau Biesinger. Machen Sie sich keine allzugroßen Sorgen. Wir bekommen Ihren Kleinen schon wieder hin.«
Dagmar brachte Hanna vor die Haustür und reichte ihr verabschiedend die Hand. Im gleichen Augenblick näherte sich ein Wagen und hielt hinter Hannas abgestelltem Wagen.
Hannas und Dagmar Bissingers Aufmerksamkeit wurde durch plötzliches, anhaltendes Hupen auf den Wagen gelenkt. Wie Hanna sofort erkannte, war es eine Frau, die hinter dem Steuer des Wagens saß und nun aufgeregte Bewegungen mit beiden Armen machte.
»Es sieht aus, als will diese Fahrerin unbedingt mit einem von uns sprechen, nicht wahr? Vielleicht ist irgendwo ein Autounfall passiert?« sagte Hanna und lief eilig durch den Vorgarten auf den haltenden Wagen zu. Nicht weniger schnell folgte Dagmar der jungen Ärztin.
Inzwischen war Tilly schon aus dem Wagen ausgestiegen.
Hanna erkannte sie sofort, und auf halbem Wege rief sie: »Was ist passiert, Frau Wengers?«
»Schnell, Frau Dr. Martens, es ist etwas Schreckliches passiert. Was für ein Glück, daß Sie gerade hier sind. Ich wollte eigentlich nur Frau Biesinger…«
»Um Gottes willen, nein, nein, das ist ja mein Jörg«, schrie im gleichen Moment Dagmar voller Entsetzen auf. »Mein Junge, was ist mit meinem Jungen passiert?«
Dagmar wollte Hanna beiseite schieben, um in den Wagen zu kommen, doch diese hatte den Ernst der Situation sofort erkannt und sagte: »Bitte, Frau Biesinger, da bin ich jetzt gefragt, lassen Sie mich zu dem Jungen. Was ist passiert, Frau Wengers?«
»Die beiden Jungen haben verbotenerweise an der großen Kreissäge herumgespielt, dabei ist das Furchtbare geschehen. Die ganze Hand, es ist die ganze Hand. Ich habe mit meiner Schürze einen Notverband angelegt. Die Hand, die habe ich hier im Wagen in einem Beutel mit Eiswürfeln. Es war doch das Richtige, was ich getan habe, nicht wahr, Frau Dr. Martens?«
Hanna antwortete nicht sofort, sondern sie sagte stattdessen zu Dagmar Biesinger, die immer noch mit entsetzt geweiteten Augen auf ihren verletzten Jungen sah: »Rufen Sie bitte sofort die Klinik an. Man soll alles für eine Notoperation vorbereiten. Sagen Sie dazu, daß es sich um eine Reimplantation handelt, dann weiß mein Bruder Bescheid.«
Während ihrer Worte hatte Hanna schon eine Ampulle aufgeschnitten und den Inhalt in eine Spritze aufgezogen. Es handelte sich um ein Herz- und Kreislaufmittel. Sie kontrollierte die Abbindung und verabreichte zusätzlich ein blutstillendes Medikament. Als nächstes legte sie noch einen fachgerechten Notverband über den Armstumpf. Erst als sie sich danach aufrichtete, sagte sie zu Tilly: »Mit Ihrem geistesgegenwärtigen Handeln haben Sie dem Jungen wahrscheinlich das Leben gerettet, Frau Wengers. Auch der Eisbeutel war richtig.«
»Ich habe vor Jahren ähnliches erlebt, Frau Dr. Martens. Dabei ging es damals jedoch um einen Männerdaumen. Wird man dem Jungen auch mit der Hand helfen können?«
»Die Entwicklung in der Medizin ist in den vergangenen Jahren nicht stehengeblieben, Frau Wengers. Mehr kann ich dazu im Augenblick jedoch nicht sagen. Der Junge muß sofort in die Klinik gebracht werden. Jede Sekunde ist kostbar. Bitte fahren sie vor mir her, ich folge Ihnen mit meinem eigenen Wagen, ich kann hier im Augenblick nicht mehr für den verletzten Jungen tun.«
Dagmar Biesinger kam aus dem Haus und rief schon von der Tür her: »Es wird alles vorbereitet, Sie sollen sich beeilen.«
Tränen der Verzweiflung rannen über das Gesicht der jungen Frau, als sie bei Hanna anlangte.
»Wird er es überstehen, wird er leben?«
»Ja, er wird leben, Frau Biesinger. Bitte benachrichtigen Sie auch Ihren Mann. Wir müssen jetzt los.«
Voller Mitleid sah Hanna auf die junge Frau. Sie konnte mitfühlen, wie es jetzt in ihr aussah. Dabei blieb ihr noch nicht einmal die Möglichkeit, mit zur Kinderklinik zu fahren, da sie ja im Haus noch ein krankes Kind zu versorgen hatte.
Tilly hatte inzwischen ihren Wagen angelassen und fuhr los.
Hanna setzte sich nun ebenfalls hinter das Lenkrad ihres Wagens und folgte der Davonfahrenden.
Mit brennenden Augen sah Dagmar den beiden Wagen hinterher, bis diese ihren Blicken entschwunden waren. Erst dann ging sie mit schleppenden Schritten ins Haus zurück, um ihren Mann in der Firma anzurufen.
*
An diesem Tag sah Martin Schriewers ab der Mittagszeit öfter auf die Uhr. Er, dem es sonst nicht darauf ankam, ein paar Stunden länger in der Klinik zu arbeiten, wollte an diesem Tag pünktlich seinen Dienst beenden. Marike hatte am Sonntag Geburtstag, und er mußte noch in die Stadt, um ein passendes Geschenk zu besorgen. Er war in Gedanken bei Marike und seinem Töchterchen Annika, als plötzlich neben ihm das Telefon läutete. Er nahm rasch den Hörer ab.
»Kinderklinik Birkenhain, Aufnahme«, meldete er sich.
Eine vor Aufregung heisere Frauenstimme stammelte: »Mein Name ist Biesinger. Es geht, ich muß unbedingt sofort einen Arzt sprechen. Wenn möglich Herrn Dr. Martens persönlich. Ich rufe im Auftrag von Frau Dr. Martens an. Es geht um einen Notfall.«
Da gerade Kay die Eingangshalle durchquerte, sagte Martin: »Einen kleinen Moment, Frau Biesinger.«
Martin legte eine Hand auf die Sprechmuschel und rief Kay zu: »Ein Gespräch für Sie, Kay, es scheint sehr wichtig zu sein.«
»Bin schon da«, entgegnete Kay und kam mit langen Schritten in die Aufnahme.
»Wer ist es denn?« wollte er wissen, während er von Martin Schriewers den Telefonhörer entgegennahm.
»Eine Frau Biesinger, Kay«, flüsterte Martin ihm leise zu.
Biesinger, Biesinger, war nicht Hanna dorthin gefahren? ging es ihm kurz durch den Sinn, dann fragte er: »Frau Biesinger? Hier ist Dr. Martens. Sie wollten mich sprechen? Ist meine Schwester denn noch nicht bei Ihnen gewesen?«
»Darum geht es nicht. Es ist etwas Furchtbares passiert. Ich rufe Sie im Namen Ihrer Schwester an. Sie sollen sofort alles für eine Notoperation vorbereiten. Eine, eine Reim… Ich habe den Namen vergessen, o Gott«, kam es stammelnd vom anderen Ende der Leitung.
»Bitte, ganz ruhig, Frau Biesinger. Sagen Sie mir nur, um was für eine Verletzung es sich handelt. Ich werde daraus meine Schlüsse ziehen und entsprechend meine Vorbereitungen treffen«, sagte Kay mit beruhigender Stimme.
»Es ist, es geht um meinen älteren Sohn. Seine Hand, seine ganze Hand ist ab. O Gott, es ist furchtbar.«
»Beruhigen Sie sich, Frau Biesinger, und sagen Sie meiner Schwester, das alles bereit sein wird, sobald der verletzte Junge hier in der Klinik eintrifft. Jetzt müssen wir das Gespräch beenden, die Zeit drängt.«
»Etwas Ernstes, Kay?«
»Ja, Martin, sehr ernst. Es müssen jetzt schnell einige Vorbereitungen für eine äußerst schwierige Operation getroffen werden. Ich gehe in die Operationsabteilung. Sorgen Sie also als erstes dafür, daß Dr. Mettner sofort zu mir kommt, danach die übrigen Kollegen. Dr. Mettner ist für die nächsten Stunden die wichtigste Person.«
»Es wird alles erledigt, Kay. Sie können sich voll darauf verlassen.«
»Das weiß ich. Gehen wir es also an.«
Ernst nickte Kay Martin zu und ging mit langen, ausholenden Schritten davon. Er wußte, was mit der bevorstehenden Operation auf ihn und sein Team, vor allen Dingen auch auf Dr. Mettner, den Neurologen, zukam. Eine abgerissene Hand, eine schlimme und schwierige Angelegenheit.
Keine zehn Minuten nach dem Anruf Dagmar Biesingers, waren in der Kinderklinik alle Vorbereitungen getroffen, und Kay hatte seine Mitarbeiter um sich versammelt, um schon einige Punkte mit ihnen durchzugehen.
»Wie schwierig die Sache wird, hängt noch davon ab, auf welche Art und Weise die Hand abgerissen wurde«, gab Klaus Mettner, der Neurologe, mit ruhiger Stimme zu bedenken.
»Wir werden es bald wissen, der Patient müßte jeden Augenblick hier eintreffen. Näheres ist mir noch nicht bekannt. Die Mutter des Verletzten, es ist ihren Worten nach ein Junge, war am Telefon sehr durcheinander. Ist so weit alles klar, oder hat noch jemand von Ihnen Fragen?« Aufmerksam sah Kay der Reihe nach seine Mitarbeiter an.
Da für den Augenblick niemand mehr Fragen stellte, wußte Kay, daß alle genau wußten, worauf es in den nächsten Stunden ankommen würde. Alle waren bereit und warteten.
Keine fünf Minuten später wurde der verletzte Junge von Hanna und einer Schwester auf einer fahrbaren Trage in den Vorraum zum Operationssaal gefahren, in dem nur noch Kay und eine Schwester warteten. Alle anderen hatten inzwischen ihre Plätze eingenommen.
Mit knappen Worten informierte Hanna ihren Bruder, was in der Sägemühle passiert war und von dem geistesgegenwärtigen Handeln Mathilde Wengers.
Während Kay den Notverband entfernte, um die Wunde zu säubern, kümmerte sich Hanna um die Hand in dem mit Eiswürfeln gefüllten Beutel.
»Werdet ihr es schaffen?« fragte sie.
»Ich hoffe doch, Hanna. Es wird uns die Arbeit etwas erleichtern, daß es sich um eine relativ glatte Abtrennung handelt. Schlimmer wäre es, wenn der Knochen wer weiß wie zersplittert wäre. Wie du hier selbst sehen kannst, ist das um den Schnitt liegende Gewebe nicht übermäßig beschädigt. Die Kreissäge muß die Hand mit großer Wucht abgetrennt haben. Gehen wir die Aufgabe also an.«
»Brauchst du meine Hilfe, Kay?«
»Wenn du jetzt abkömmlich bist, immer, Hanna. Du könntest für mich übernehmen, wenn später Dr. Mettner fertig ist. Du hast also mindestens noch eineinhalb bis zwei Stunden Zeit.«
»In Ordnung, ich werde bereit sein.«
»Gut, dann kann der Junge jetzt in den Operationssaal geschoben werden.«
Kay gab Schwester Regine ein Zeichen, und sie schob die Trage durch die breite Tür.
Kay bürstete noch einmal seine Hände, danach betrat auch er den Operationssaal.
Kurz darauf leuchtete über der Tür die rote Lampe auf. Das bedeutete, für alle Unbefugten war der Eintritt verboten.
*
Der erste Teil der Operation hatte begonnen. Die junge Anästhesistin, die die letzten Wochen in der Klinik arbeiten würde, nickte Kay zu.
Es war so weit. Die Stille, die über dem Raum lag, wurde nur hin und wieder durch das feine Klirren eines abgelegten Instrumentes unterbrochen. Alle Beteiligten arbeiteten mit äußerster Konzentration. Die Knochen des Stumpfes und der Hand wurden zuerst etwas freigelegt und danach durch sehr dünne Silbernägel und Drähte wieder miteinander verbunden. In mühsamer Kleinarbeit mußten die Blutgefäße des Armstumpfes wieder mit den Hauptadern des Amputats verbunden werden.
Für Kay und seine Mitarbeiter schien die Zeit stehengeblieben zu sein, als endlich, nach einer kleinen Ewigkeit, der erste Teil der Operation beendet werden konnte. Das Blut pulsierte wieder durch die miteinander verbundenen Adern. Der Körper des Jungen brauchte nur eine kleine Pause, bevor der schwierigste Teil der Operation begonnen werden konnte. Eine schwere Aufgabe für Dr. Klaus Mettner, den Neurologen im Operationsteam. Es war das Miteinanderverbinden der Nervenstränge.
Doch zunächst wurden dem Körper des Jungen weitere Blutplasmainfusionen verabreicht. Dazu Mittel für die Herz- und Kreislaufstabilität. Alles wurde getan, um die Lebenskraft in dem Jungenkörper zu erhalten.
Für Kay stand zu diesem Zeitpunkt schon fest, daß man auf jeden Fall das Leben des Jungen erhalten konnte. Ob er jedoch seine rechte Hand jemals wieder würde voll belasten können, das würde der zweite Teil der Operation zeigen.
Diesen zweiten, sehr schwierigen Teil übernahm der Neurologe Dr. Mettner, der eine ähnlich gelagerte Operation schon einmal durchgeführt hatte.
Dr. Mettner stand eine besondere Apparatur zur Verfügung, die es ihm ermöglichte, unter dem Mikroskop zu arbeiten. Es mußten nämlich alle Nervenstränge, die durchtrennt worden waren, wieder so miteinander verbunden werden, daß sie ihre Funktion erfüllen konnten. Ein schwieriges Unterfangen, das eine absolut ruhige Hand des Neurologen erforderte, für die er selbst das höchste Feingefühl benötigte. Mit der Assistenz des Chefarztes und Dr. Küsters sowie der konzentrierten Mithilfe der übrigen Kollegen, einschließlich der Operationsschwestern, konnte Dr. Mettner die schwierige Aufgabe bewältigen. Er konnte das Ganze nur in mehreren Etappen bewerkstelligen, denn das leichteste Zittern seiner Hände konnte alles zunichte machen. Schließlich war es geschafft, und Hanna stand bereit, den letzten Teil zu übernehmen.
Als die letzte Naht der Oberhaut beendet und die Wundversorgung abgeschlossen war, waren alle Mitarbeiter voller Hoffnung, daß der verletzte Junge seine Hand einmal wieder voll belasten konnte.
Lange Stunden waren inzwischen vergangen, als das Operationsteam erschöpft, aber zufrieden, die Operationsabteilung verlassen konnte.
»Meine Hochachtung, Herr Dr. Mettner, Sie haben großartige Arbeit geleistet. Wenn der Eingriff ein Erfolg wird, verdanken wir es zum größten Teil Ihnen«, sagte Kay anerkennend, als er neben seinem Neurologen im Waschraum stand.
»Allein schafft es niemand, Chef. Wir sind inzwischen alle so eingespielt, daher kann nur die gemeinsame Arbeit Erfolg bringen. So sehe ich es. Einer für alle und alle für einen.«
»Es ist ein schönes Gefühl zu wissen, daß es bei uns in der Klinik so ist, Herr Doktor«, mischte sich Hanna nun ein, die auch in den Waschraum gekommen war.
»Ist von den Angehörigen jemand mit zur Klinik gekommen, Hanna?« Fragend sah Kay seine Schwester an.
»Nein, das war leider nicht möglich. Frau Biesinger konnte ihren erkrankten Jüngsten nicht allein lassen, zu dem ich ja gerufen worden war, und der Vater war noch nicht zu Hause. Ich denke mir jedoch, daß einer von beiden inzwischen schon im Wartezimmer wartet. Ich glaube auch, daß Frau Wengers, die den Jungen zur Klinik gebracht hat, noch auf eine gute Nachricht wartet. Immerhin passierte der Unfall im Betrieb ihres Bruders. Möchtest du Auskunft geben, oder soll ich das für dich übernehmen?«
»Übernimm du das, Hanna. Du findest als Frau bestimmt die besseren Worte. Ich kümmere mich inzwischen darum, daß wir alle einen starken Kaffee bekommen. Einverstanden…?«
»Einverstanden, Kay. Ich möchte nachher auch noch mit dir über den kleinen Joachim Kellermann reden. Durch den Zwischenfall hatten wir ja noch keine Gelegenheit dazu. Also, bis gleich.«
Im Hinausgehen hörte Hanna Dr. Mettner sagen: »Ein heißer, starker Kaffee, den haben wir uns wohl alle verdient. Ich für meinen Fall kann ihn jetzt vertragen.«
Zwei Personen warteten im Gang vor der Operationsabteilung auf die jungen Ärzte. Mathilde Wengers, die am Fenster stand, und ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann, den Hanna so um die fünfunddreißig Jahre herum schätzte. Der junge Mann ging aufgeregt hin und her und stürzte förmlich auf Hanna zu, als diese auf den Gang trat.
Es war wie ein heiseres Krächzen, als er vor ihr stehend hervorstieß: »Mein Junge, Frau Doktor, was ist mit meinem Jungen? Ich warte schon seit Stunden, und niemand war bisher bereit, mir eine genaue Auskunft zu geben. Ich möchte sofort meinen Jungen sehen.«
»Beruhigen Sie sich, Herr Biesinger. Niemand konnte Ihnen bis zu diesem Zeitpunkt eine Auskunft geben. Ihr Junge befand sich bis vor wenigen Minuten im Operationssaal. Außerdem ist außer uns Ärzten niemand befugt, Auskunft über unsere Patienten zu geben, da es so zu Mißverständnissen kommen könnte. Sie werden das sicher verstehen, nicht wahr?«
»Sie sind Ärztin, bitte, sagen Sie mir endlich, was mit meinem Jungen ist.«
»Konnte dem Jungen geholfen werden?« fragte nun auch Tilly, die neben Uwe Biesinger getreten war, und ihre Blicke saugten sich förmlich in Hannas Gesicht fest.
An den Vater des Jungen gerichtet, sagte Hanna nun mit ruhiger, zuversichtlicher Stimme: »Es war eine sehr schwierige Operation, Herr Biesinger. Wir haben getan, was in unseren Kräften stand. Wir konnten die abgetrennte Hand wieder mit dem Arm verbinden. Ob es ein Erfolg war und die Hand wieder voll funktionsfähig sein wird, das können wir im Augenblick nicht mit Sicherheit sagen. Das werden uns die kommenden Wochen oder sogar die kommenden Monate zeigen. Wir müssen alle Geduld haben. Doch eines kann ich Ihnen mit Bestimmtheit sagen: Wenn Frau Wengers nicht gewesen wäre, die mit ihrem klaren Kopf sofort das Richtige getan hat, wäre alles nicht so gut abgelaufen. Ihr verdanken Sie, daß Ihr Sohn noch lebt. Er wäre im anderen Fall wahrscheinlich verblutet.«
»Ich weiß es schon, Frau Dr. Martens, meine Frau hat es mir gesagt. Auch Frau Wengers weiß, daß mein Leben nicht ausreicht, um ihr zu danken.«
»Ich habe nur getan, was getan werden mußte. Es war ein großes Glück, daß ich sofort am Unfallort war«, wandte Tilly abwehrend ein.
»Darf ich meinen Jungen sehen?«
»Selbstverständlich, Herr Biesinger. Ich möchte Sie aber bitten, nur ein paar Minuten zu bleiben, da er heute noch nicht ansprechbar ist. Morgen sieht vielleicht alles schon ganz anders aus. Wir haben ihn vorsichtshalber in der Intensivabteilung untergebracht, dort wird er die nächsten zwölf Stunden unter ständiger Aufsicht sein. Wenn Sie einen Moment warten würden, eine Schwester wird Sie zur Intensivabteilung bringen.«
»Ich möchte mich schon jetzt verabschieden, Frau Dr. Martens. Mein Bruder wird sicher schon voller Ungeduld auf mich warten. Ganz abgesehen von Sascha, für den das Geschehen ein großer Schock gewesen sein wird. Es ging ja nicht anders, ich mußte den Jungen allein zu Hause zurücklassen. Ihnen, Herr Biesinger, wünsche ich für Jörg alles Gute. Ich werde ihn in den nächsten Tagen mit Sascha besuchen. Mein Bruder wird sich sicherlich noch heute bei Ihnen melden.«
Tilly reichte zuerst Hanna, danach Uwe Biesinger verabschiedend ihre Rechte und ging dann langsam davon.
Hanna winkte Schwester Dorte herbei und bat diese, Jörgs Vater zur Intensivabteilung zu führen.
Als sie langsam auf das Ärztezimmer zuging, merkte auch sie die Müdigkeit, die sich in ihr ausbreitete. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, daß es inzwischen auch schon zwanzig Uhr vorbei war. Alles in allem lag ein langer, anstrengender Tag hinter ihr, der noch nicht beendet war.
*
Kay befand sich mit Dr. Küsters und Dr. Mettner im Ärztezimmer, als Hanna eintrat. Die übrigen Kollegen waren inzwischen schon gegangen. Michael Küsters sagte gerade: »Ich werde mich jetzt auch auf den Heimweg machen, Herr Dr. Martens. Christine wird schon auf mich warten. Zum Glück habe ich mit ihr eine Frau bekommen, die den Betrieb hier in der Klinik aus eigener Erfahrung kennt.«
»Ja, sie war eine ausgezeichnete Operationsschwester. Grüßen Sie sie recht herzlich von uns. Sie freut sich sicher schon sehr auf ihr zweites Kind, nicht wahr? Wann wird es denn soweit sein?«
»In ungefähr vier Monaten. Unsere Kleine kann es auch kaum erwarten.«
»Das kann ich mir vorstellen«, warf nun Hanna lächelnd ein und sagte, sich Kay zuwendend: »Weißt du eigentlich, wie spät es schon ist?«
»Natürlich, Hanna, aber wir haben die hinter uns liegende Operation noch einmal durchgesprochen und die, die morgen vormittag vor uns liegt. Wir waren gerade damit fertig.«
Dr. Klaus Mettner und Michael Küsters verabschiedeten sich und ließen die Geschwister allein.
Kaum hatte sich die Tür hinter den beiden Ärzten geschlossen, fragte Hanna interessiert: »Willst du mich nicht auch aufklären, Kay? Von welcher Operation war denn die Rede?«
»Möchtest du nicht zuerst eine Tasse Kaffee trinken? Noch ist er frisch und heiß.«
»Was für eine Frage. Natürlich möchte ich. Ich kann so einen Muntermacher jetzt gut vertragen.«
»Das dachte ich mir schon.«
Kay stand auf, holte eine Tasse und die Warmhaltekanne und füllte die Tasse, die er Hanna reichte.
»Das tat gut«, sagte Hanna, nachdem sie ihre geleerte Tasse zur Seite gestellt hatte.
»So, nun sag, was anliegt«, forderte sie ihren Bruder auf. »Es geht doch bestimmt um den Joachim Kellermann, nicht wahr?«
»Ja, in der Tat, Hanna. Ich möchte da keine unnötige Zeit mehr verlieren. Gleich nach der Einlieferung habe ich eine Aufnahme gemacht, die für mich sehr aufschlußreich ist. Ich habe das Krankenblatt und die Aufnahme in meinem Sprechzimmer. Du möchtest dir doch sicher ansehen, was ich feststellen konnte, oder?«
»Ist ja wohl klar, mein Lieber. Obwohl ich schon ahne, was es ist. Ich denke, daß sich mein Verdacht bestätigt hat, denn alle Anzeichen sprachen dafür.«
»Ja, Hanna, du hast wieder einmal recht behalten. Es ist einfach großartig, daß du dich zu einer so ausgezeichneten Diagnostikerin entwickelt hast. Es fehlen nur noch die Laborergebnisse, die jedoch bis zur Frühbesprechung vorliegen werden. Die genaue Uhrzeit werde ich dann bekanntgeben. Wenn es dir recht ist, wirst du die Operation durchführen, und ich werde dir dabei assistieren.«
»Natürlich bin ich einverstanden, Kay. Je mehr Erfahrungen ich auf diesem Gebiet sammeln kann, um so besser ist es für mich.«
»Eben. Dazu kommt auch noch, daß es dein Werk ist, daß der Junge endlich in unserer Obhut ist und wir überhaupt helfen können. Was macht denn der Jüngste der Familie Biesinger?«
»Eine Darmgrippe. Wenn er die gut überstanden hat, kommt er für ein paar Tage in die Klinik. Ich werde morgen noch einmal hinfahren und ihn mir anschauen. Für heute werde ich mir nur noch die Aufnahmen des kleinen Kellermann ansehen, danach gehe ich nach Hause. Ich muß mich auch um Mutti kümmern. Sie wird zwar von der Füchsin prima versorgt, doch du kennst sie ja, wenn ihr etwas fehlt.«
»Ich werde heute hier auch nicht mehr alt. Ich schaue noch einmal in die Intensivabteilung und rede auch ein paar Worte mit Dr. Dornbach, der ja die Nachtbereitschaft übernommen hat, und anschließend ziehe ich mich auch zurück. Ich werde mit Frau Sanders zu Abend essen und komme dann noch für ein paar Minuten zu Mutti und dir hinüber. Ansonsten ist heute für mich Feierabend.«
»Komm, Kay, ich möchte mir rasch noch die Aufnahmen ansehen, damit ich nach Hause komme.«
Es war so, wie Kay es gesagt hatte. Die Aufnahme, die Kay nach Einlieferung von Joachim Kellermann in die Klinik gemacht hatte, zeigte klar und deutlich den genauen Sitz des Nierentumors.
»Jetzt können wir nur noch hoffen, daß es sich um eine gutartige Angelegenheit handelt. Vielleicht haben wir Glück. Es täte mir um den Kleinen sehr leid«, sagte Hanna ernst.
»Vielleicht, Hanna, morgen werden wir mehr wissen.«
»Ich gehe nun, Kay. Wir sehen uns ja später, wenn du noch zu Mutti und mir herüberkommst.«
»Stell mir eine Flasche Helles kalt.«
»Gern, Kay, bis nachher.«
*
Egon Wengers Besprechung bei seinem Geschäftsfreund in Celle war sehr vielversprechend verlaufen. Seine Laune war demnach auch hervorragend, als er sich in mäßigem Tempo seinem Anwesen näherte. Gleich wollte er mit Tilly eine schöne Tasse Kaffee trinken, ein Stück Kuchen dazu essen und sich danach ein Stündchen Ruhe gönnen. Schließlich wollte er am Abend mit Tilly zum Sommerfest und das Tanzbein schwingen. Ein paar fröhliche Stunden in ausgelassener Gesellschaft zu verbringen, darauf freute er sich schon.
Als er vor dem Wohnhaus aus seinem Wagen stieg, legte sich ein zufriedenes Lächeln um seinen Mund. Die beiden Jungens hatten doch wahrhaftig ihr Wort gehalten und aufgeräumt und gefegt.
Irgendetwas war jedoch nicht wie sonst. Einen Moment überlegte er. Richtig, es war Tillys Wagen, der nicht an seinem gewohnten Platz stand.
Kopfschüttelnd ging Egon Wengers ins Wohnhaus, dessen Eingangstür nicht verschlossen war. Laut rief er: »He, ist jemand im Haus? Sascha, Jörg, wo steckt ihr beiden denn?«
Er bekam keine Antwort, und seine vor Minuten noch so gute Laune sank. Das durfte doch wohl nicht wahr sein. Niemand im Haus, und das Haus war unverschlossen? Was sollte er davon halten?
Vielleicht mache ich mir unnötige Gedanken, ging es ihm durch den Kopf. Sascha und Jörg sind bestimmt oben in Saschas Zimmer und so in ihr Spiel vertieft, daß sie mein Rufen überhört haben. Ich werde die zwei eben überraschen.
Der große hagere Mann zog seine Schuhe aus, und auf Socken stieg er die Treppenstufen zum Obergeschoß hinauf. Lautlos schlich er bis an die Kinderzimmertür und horchte.
Nichts war zu hören. Das wurde ja immer sonderbarer. So langsam kroch ein eigenartiges Gefühl in ihm hoch. Mit einem Ruck öffnete er die Tür des Kinderzimmers.
Auf der äußersten Ecke seines Bettes kauerte Sascha und starrte aus erschrockenen Augen auf seinen Vater, der groß und wuchtig in der offenen Tür stand.
»Was ist denn mit dir los, Sascha? Warum hast du auf mein Rufen keine Antwort gegeben? Sieh mich nicht an, als wäre ich ein Geist. Ich bin dein Vater.«
Als Sascha keine Antwort gab und ihn nur weiter aus angstvoll geweiteten Augen anstarrte, fuhr er den Jungen heftiger an und fragte barsch: »Reden kannst du wohl auch nicht mehr. Da merkt doch ein Blinder, daß etwas nicht in Ordnung ist. Wo ist dein Schulfreund? Der Jörg geht doch sonst nicht so früh nach Hause. Und ohne sein Fahrrad, das ich draußen stehen sah, schon gar nicht. Wo ist eigentlich Tante Tilly hingefahren?«
»Ich, Vati, es war doch…«, stammelte Sascha und schwieg wieder.
»Ich will jetzt endlich wissen, was hier los ist, hast du mich verstanden? Laß dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase herausziehen. Also, wird’s bald, Sascha?«
»Der Jörg, der Jörg hat sich doch weh getan und Tante Tilly bringt ihn in die Klinik, Vati. Bitte, Vati, bitte, nicht böse sein. Wir wollten doch nur spielen.«
Während Egon Wengers seinen Sohn sekundenlang entgeistert anstarrte, kullerten diesem plötzlich dicke Tränen über die Wangen, und dann preßte er verzweifelt weinend beide Hände vor sein Gesicht.
Zorn und Mitleid vermischten sich, und hinzu kam plötzlich Angst um seinen Jungen, der wie ein Häuflein Elend auf dem Bett hockte und so verzweifelt weinte. Da war aber auch gar nichts mehr von dem sonst immer so lebhaften, wilden, manchmal leichtfertigen Jungen zu bemerken. Was mochte da wohl geschehen sein? Egon Wengers ging quer durch das Zimmer und setzte sich auf Saschas Bett.
»Ist es so schlimm, mein Junge? Hast du kein Vertrauen mehr zu deinem Vati?«
»Ich habe solche Angst, Vati. Wenn du alles weißt, wirst du sehr böse auf mich sein und mich überhaupt nicht mehr liebhaben.«
»Vielleicht werde ich böse sein, aber liebhaben werde ich dich trotzdem. Nun sag mir endlich, was ist beim Spielen passiert? Du weißt doch, daß man dafür einstehen muß, wenn man Unsinn gemacht hat. Nun sag schon, was habt ihr heute angestellt?«
»Jörg und ich, wir waren in der Halle, wo die große Kreissäge steht. Wir wollten…«
»Ihr wart allein in der Halle? Wie seid ihr denn dort hineingekommen?« unterbrach Egon Wengers seinen Sohn.
»Sie war doch überhaupt nicht abgeschlossen, Vati. Wir wollten uns auch nur alles genau ansehen, ich wollte mit dem Jörg ein Brett durchsägen, dabei ist es dann passiert. Vati, bitte, bitte, glaube es mir, ich wollte es doch nicht. Der Jörg hat nicht richtig festgehalten und ist abgerutscht.«
Mit wachsendem Entsetzen hatte Egon Wengers den immer wieder von Schluchzen unterbrochenen Worten des Elfjährigen zugehört. Sein Herz hämmerte in seiner Brust, und eine dumpfe Ahnung kam in ihm hoch. Mit rauher Stimme fragte er: »Sag schon, was ist mit Jörg passiert? Ich möchte es sofort wissen?«
»Seine Hand, sie war auf einmal ganz ab. Es war so furchtbar. Tante Tilly hat Jörg sofort in die Kinderklinik gebracht. Ich mußte noch einen Plastikbeutel und Eiswürfel holen. Ich habe solche Angst, daß der Jörg jetzt sterben muß, Vati. Tante Tilly kommt überhaupt nicht mehr wieder, sie ist schon so lange fort.«
Egon Wengers war über das Gehörte zutiefst erschüttert. Die Gedanken hinter seiner Stirn vollführten einen wilden Wirbel, und einen Moment lang war er nicht fähig, etwas zu sagen.
Als er wieder klar denken konnte, und in die Augen seines Jungen sah, war er erschüttert über die innere Not, die ihm daraus entgegenbrannte. Es war schlimm, was da passiert war, doch hatte es Sinn, nun auch noch böse zu reagieren? Mit ihren zwölf Jahren waren Sascha und Jörg noch Kinder. Trug er als Erwachsener nicht auch einen Teil der Schuld, weil er sich nicht persönlich davon überzeugt hatte, daß die Werkshalle auch gut verschlossen war? Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewußt, daß seine Schwester Tilly die Wahrheit gesagt hatte, als sie ihm vorwarf, sich viel zu wenig um Sascha zu kümmern.
»Vati, warum sagst du denn nichts?« fragte Sascha ängstlich.
»Was soll ich sagen, Junge? Wie konntet ihr nur an die Kreissäge gehen? Ich habe dir doch immer und immer wieder gesagt, wie gefährlich das ist. Die Halle ist kein Spielplatz für Kinder. Ich wünsche mir sehr, daß du daraus etwas gelernt hast. Wir gehen jetzt hinunter und warten auf Tante Tilly. Später fahre ich zu Jörgs Eltern.«
»Und du bist nicht böse?«
»Nein, ich bin nur sehr traurig. Es ist nun einmal geschehen. Wir müssen darum zum lieben Gott beten, daß er den Jörg wieder gesund werden läßt. Und du hörst jetzt auf zu weinen, hast du gehört?«
Es dauerte noch ein Weilchen, bis sich Sascha einigermaßen beruhigt hatte. Er ging auch wortlos mit seinem Vater in die Küche, wo dieser sich erst einmal einen starken Kaffee aufbrühte, um seine aufgewühlten Nerven ein wenig zu beruhigen.
»Hast du Hunger? Soll ich dir ein paar Brote fertig machen?«
»Nein, Vati, ich mag nichts, ich habe nur Durst. Darf ich mir eine Limonade aus dem Kühlschrank holen?«
»Du weißt ja, wo sie steht, hole sie dir.«
Für Egon Wengers begann ein nervenaufreibendes Warten. Je mehr Zeit verging, um so schlimmer wurde es, denn er wollte auf keinen Fall Jörgs Eltern anrufen oder zu ihnen fahren, bevor er nicht von Tilly wußte, wie es um Jörg stand.
*
Mathilde Wengers fühlte sich müde und erschöpft, als sie die Klinik verließ, um zum Anwesen des Bruders zurückzufahren, auf dem sie nun schon so viele Jahre lebte und Mutterstelle an Sascha vertrat.
Sie kannte Egon, seine leicht aufbrausende Art. Wie mochte er reagiert haben, als er von Sascha alles erfuhr? Sie wünschte sich von ganzem Herzen, daß er seinen Jungen für dessen Leichtsinn nicht zu hart anfaßte. Sie glaubte zu wissen, daß Sascha gerade in dieser Situation den Vater sehr brauchte. Es war auch so schon alles schlimm genug.
An das Sommerfest, das sie ursprünglich mit Egon an diesem Abend besuchen wollte, verschwendete sie nicht einen einzigen Gedanken.
Seinen Wagen sah sie sofort, als sie vor dem Wohnhaus vorfuhr.
Kaum war sie ausgestiegen, öffnete sich auch schon die Haustür, und Egon erschien.
»Endlich, Tilly! Wo warst du nur so endlos lange? Ich habe mir schon Sorgen gemacht.«
»Wo soll ich wohl gewesen sein? Hat Sascha dir denn nicht gesagt, was hier heute passiert ist?«
»Ja, ich weiß alles, Tilly, und es ist schrecklich. Es ist aber doch schon in der Mittagszeit geschehen. Wie ich von Sascha erfahren habe, muß es ungefähr vierzehn Uhr gewesen sein. Jetzt ist es aber schon nach zwanzig Uhr. Was ist nun mit dem Jungen?«
»Laß uns erst ins Haus gehen, Egon. Ich bin ziemlich erschöpft. Du kannst dir sicher vorstellen, daß der Tag für mich nicht leicht war.«
»Natürlich, komm erst nach Haus. Ich habe mir vor zehn Minuten noch einmal frischen Kaffee gemacht. Er ist noch heiß.«
»Das ist gut«, entgegnete Tilly und folgte ihrem Bruder ins Innere des Hauses.
»Tante Tilly, Tante Tilly, was ist mit Jörg? Ist er…?«
»Jörg lebt, Sascha, er hat noch einmal Glück gehabt.«
»Tante Tilly, ich bin so froh darüber.«
Ehe Tilly sich’s versah, fiel Sascha ihr um den Hals, und erneut kullerten Tränen über seine Wangen.
»Na, na, na, ist ja schon gut, Sascha.« Einen Moment drückte Tilly den Jungen an sich, dann schob sie ihn sanft zurück und sagte: »Du solltest dich schlafen legen, Sascha. Morgen schaut auch für dich die Welt wieder ganz anders aus.«
»Ich bin auch müde, Tante Tilly. Ich habe nur noch auf dich gewartet. Ich lege mich sofort ins Bett. Gute Nacht, Tante Tilly, gute Nacht, Vati.«
Egon bekam noch einen Kuß von Sascha auf die Wange gehaucht, danach ließ er die Erwachsenen allein.
Die inzwischen mit Kaffee gefüllte Tasse stellte Egon vor seiner Schwester auf den Tisch.
»Nun, Tilly, was ist jetzt genau mit Jörg? Ich muß es wissen, weil ich noch heute abend zu seinen Eltern fahren möchte. Geht es ihm sehr schlecht?«
»Der Junge ist stundenlang operiert worden, Egon. Die Ärzte in der Kinderklinik haben ihm seine Hand wieder angenäht. Sie nennen es eine Reimplantation. Und was ist mit Sascha? Es ging alles so rasend schnell, um ihn konnte ich mich nicht kümmern. Es war auch für ihn ein großer Schock. Du hast den Jungen doch hoffentlich nicht so hart angefaßt? Du darfst nicht vergessen, es sind noch Kinder.«
»Keine Sorge, Tilly, ich konnte es auch nicht. Er war so ein Häufchen Elend, als ich heute nachmittag heimkam, daß er mir richtig leid tat. Der heutige Nachmittag, die Angst, das alles war schon Strafe genug für ihn. Ich weiß, daß ich in diesem Fall nicht frei von Schuld bin. Ich hätte mich davon überzeugen müssen, daß die Halle verschlossen war. Ich werde außer mit Jörgs Eltern auch mit dem Chefarzt der Kinderklinik sprechen. Was immer es kostet, es soll alles dafür getan werden, daß Jörg seine rechte Hand wieder richtig bewegen kann. Glaubst du, daß ich jetzt schon zu Jörgs Eltern fahren kann, oder soll ich noch etwas warten?«
»Gib noch ein Viertelstündchen zu, Egon. Als ich mich von Frau Dr. Martens verabschiedete, war Herr Biesinger noch dort. Ich denke, ich mache dir erst noch etwas fürs Abendbrot zurecht.«
»Danke, Tilly, es ist nicht nötig. Mir ist der Appetit vergangen. Ich könnte jetzt keinen Bissen hinunterbekommen. So rasch werde ich den heutigen Tag nicht vergessen.«
»Ich auch nicht. Warst du schon drüben in der Halle?«
»Nein, ich werde sie auch heute nicht mehr betreten. Du warst es doch sicher, die abgeschlossen hat, nicht wahr?«
»Ja, der Schlüssel liegt noch in meinem Wagen. Wenn du von den Biesingers zurückkommst, kannst du ihn ja holen und mit ins Haus bringen. Ich gehe mal kurz hinauf und sehe nach, ob Sascha inzwischen eingeschlafen ist.«
»Das wird er ganz bestimmt. Der Junge war doch ziemlich fertig. Weißt du, Tilly, ich habe darüber nachgedacht. Du hattest recht, als du mir vorwarfst, daß ich zu wenig Zeit für Sascha habe. Ich werde versuchen, das zu ändern. Ich werde in Zukunft mehr Zeit für ihn haben.«
»Wenn du es endlich einsiehst, bringt der heutige Tag wenigstens etwas Gutes. Ich werde schon darauf achten, daß es nicht nur bei den guten Vorsätzen bleibt.«
»Geh und schau nach Sascha, und ich mach mich jetzt auf den Weg zu den Biesingers. Ich habe einfach keine Ruhe mehr, hier zu warten und untätig herumzusitzen.«
Noch während Tilly die Treppe hinaufstieg, zog sich Egon seine Jacke über und verließ das Haus.
Tilly aber öffnete leise die Tür zum Kinderzimmer und ging ins Zimmer hinein.
Sascha war inzwischen eingeschlafen, aber es war ein sehr unruhiger Schlaf, wie Tilly sofort erkannte. In den wenigen Minuten, die sie vor seinem Bett stand und auf ihn hinuntersah, wälzte er sich hin und her und murmelte unverständliche Worte. Sanft strich Tilly dem Jungen das dunkle feuchte Haar aus der Stirn. Besorgt mußte sie feststellen, daß sich sein Kopf sehr heiß anfühlte. Es war für den Elfjährigen wohl alles ein wenig zuviel gewesen. Sie würde auf ihn aufpassen müssen.
*
Mit brennenden Augen sah Dagmar Biesinger ihrem Mann entgegen, als er kurz noch zwanzig Uhr dreißig das Haus betrat. Ihre Stimme gehorchte ihr nicht so recht, als sie sagte: »Was ist mit unserem Jungen, Uwe? Du warst so lange fort, ich bin vor lauter Angst bald umgekommen. Jörg ist doch mein Kind, ich will die Wahrheit wissen.«
»Unser Junge war so lange im Operationssaal, Liebes. Es ist den Ärzten gelungen, ihm die Hand wieder anzunähen. Man hat in der Kinderklinik wirklich alles getan, um ihm die Hand zu erhalten. Er liegt jetzt auf der Intensivstation und wird ständig beobachtet. Wir müssen auf Gott vertrauen und viel Geduld haben. Es kommt ganz bestimmt alles wieder in Ordnung. Ich habe ihn sogar kurz sehen dürfen.«
»Und wann darf ich zu ihm? Er braucht mich doch jetzt auch!«
»Und Nicki, Liebes?«
»Du mußt dir ein paar Tage Urlaub nehmen. In diesem besonderen Fall wirst du ihn bestimmt bekommen. Du kannst dann bei unserem Kleinen bleiben, wenn ich zu Jörg in die Klinik fahre. Hätten wir Jörg doch nicht so oft zu Sascha Wengers gelassen.«
»Ich bitte dich, so darfst du nicht denken. Sie sind noch Kinder, und Kinder sind nun mal von Natur aus neugierig. Willst du den Jungen jetzt dafür verantwortlich machen?«
»Natürlich nicht, Uwe.«
»Na, siehst du. Bis jetzt wissen wir noch nicht einmal genau, wie es überhaupt zu diesem furchtbaren Unfall hatte kommen können. Frau Wengers war auch bis vorhin in der Klinik. Sie sagte mir, daß sich ihr Bruder ganz bestimmt noch heute bei uns melden wird. Er wird schon alles aufklären, wenn er wirklich noch heute kommen sollte.«
»Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, Saschas Vater heute gegenüberzutreten, Uwe. Ich habe Angst, etwas zu sagen, was ich später vielleicht bereuen würde.«
»Das wirst du schon nicht. Ich bin ja dabei. Du darfst auch nicht vergessen, daß überall etwas passieren kann. Es bringt nichts ein, wenn du Saschas Vater nun Vorwürfe machst. Wie geht es denn heute abend unserem Nicki?«
»Die Temperatur ist nicht mehr ganz so hoch. Im Augenblick schläft er. Ich habe Frau Dr. Martens heute, als sie hier war, gesagt, daß wir beide einverstanden sind, ihn für ein paar Tage in die Kinderklinik zu bringen. Sobald er die Darmgrippe überstanden hat, werden wir ihn in die Klinik bringen. Ich habe großes Vertrauen in die Fähigkeiten dieser Ärztin. Wenn jemand Nicki helfen kann, ich meine damit, auf lange Sicht helfen kann, dann sind das die Ärzte in Birkenhain. Ich schau jetzt noch einmal nach ihm.«
Bevor Dagmar ihr Vorhaben durchführen konnte, läutete es an der Haustür.
»Ob das Herr Wengers ist, Uwe? Gehst du bitte öffnen?«
»Natürlich, Liebes, und nimm dich zusammen.«
Uwe ging zur Haustür und öffnete. Vor ihm stand ein großer, hagerer Mann, der nicht viel älter als vierzig Jahre schien.
»Guten Abend, Herr Biesinger. Mein Name ist Wengers, ich bin Saschas Vater. Ich möchte gern mit Ihnen und Ihrer Frau reden. Darf ich eintreten?«
»Bitte, Herr Wengers. Ihr Besuch ist schon von Ihrer Schwester angekündigt worden, und wir haben Sie erwartet. Treten Sie ein.« Uwe führte seinen Besucher ins Wohnzimmer und stellte ihn und Dagmar einander vor. Danach bot er ihm Platz an und setzte sich ebenfalls.
»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht unter freundlicheren Umständen kennenlerne. Ich möchte Ihnen beiden versichern, wie leid mir die Sache mit Ihrem Jungen tut, wie sehr ich es bedaure.«
»Ja, es ist schrecklich, was da passiert ist, Herr Wengers. Meine Frau und ich, wir wüßten gern, wie es überhaupt dazu hatte kommen können. Eine Kreissäge ist doch normalerweise nicht zugänglich für Kinder?«
»Da pflichte ich Ihnen bei. Ich muß dazu sagen, daß ich es versäumt hatte, mich davon zu überzeugen, daß die Werkshalle wie an jedem anderen Tag verschlossen worden war. Obwohl die Jungen wußten, daß sie auf keinen Fall ohne einen Erwachsenen in die Halle durften, war die Versuchung und die Neugier, als sie die Halle unverschlossen vorfanden, größer als alle Ermahnungen und Verbote. Das soll keine Entschuldigung sein. Sascha ist zwar ein wenig wild und manchmal auch leichtsinnig, aber er ist nicht böse. Ich sehe die Freundschaft zwischen ihm und Ihrem Jungen gern, denn Jörg übt auf Sascha einen guten Einfluß aus. Ich bin aber nicht zu Ihnen gekommen, um mit Ihnen über die Freundschaft der beiden zu reden. Mir liegt da etwas Bestimmtes am Herzen: Es geht um die Behandlung Ihres Jungen in der Kinderklinik und darüber hinaus. Ich komme selbstverständlich für alle entstehenden Kosten auf. Das Beste soll unternommen werden, um zu helfen und zu heilen. Ich werde das auch mit den Chefärzten von Birkenhain, mit den Geschwistern Martens besprechen. Sie sollen sich nicht auch noch um diesen Punkt Sorgen machen müssen. Es ist wenig genug, was ich noch tun kann.«
»Das können wir nicht annehmen, und außerdem sind wir versichert.«
»Ich möchte aber alles privat erledigen. Verwehren Sie mir diesen winzigen Schritt der Wiedergutmachung nicht. Ich weiß, daß Sie im Augenblick auch mit Ihrem Jüngsten einige Sorgen haben. Ich werde sowieso ewig in Ihrer Schuld stehen.«
»Wir wollen hier nicht von Schuld reden«, gab Uwe ruhig zur Antwort.
»Wenn Ihnen jedoch soviel daran liegt, nehmen wir Ihr Angebot an.«
»Ich danke Ihnen beiden, und ich möchte dazu noch sagen, daß ich von ganzem Herzen hoffe, daß Ihr Jörg wieder ganz gesund wird.«
»Wir haben zu danken, Herr Wengers. Besonders für alles, was Ihre Schwester für Jörg getan hat. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten wir unseren Sohn verloren. Sie ist eine tüchtige Frau.«
»Ja, das ist meine Schwester Tilly. Ich wüßte nicht, was ich ohne sie machen sollte. Sie ist ja die gute Seele meines Hauses und vertritt seit dem Tod meiner Frau Mutterstelle an Sascha. Ich möchte Sie nun auch nicht weiter stören. Ich habe zum Schluß nur noch eine große Bitte.«
»Und die wäre?«
»Zerstören Sie jetzt nicht die Freundschaft zwischen Jörg und Sascha. Mein Junge würde das nicht überstehen. Ich fand ihn heute nachmittag bei meiner Rückkehr in einer fürchterlichen Verfassung vor. Erlauben Sie, daß er Jörg in der Klinik besucht. Es wird ihm sicher helfen, seine Schuldgefühle zu verkraften. Ich möchte auf keinen Fall, daß noch mehr Unheil entsteht.«
Uwe sah seine Frau an. Wie würde sie jetzt reagieren?
Nur einen winzigen Moment zögerte Dagmar, dann sagte sie sehr ernst: »Ich muß ehrlich zugeben, daß ich im ersten Augenblick sehr böse auf Ihren Sascha war. Ich habe jedoch inzwischen erkannt, daß es nie einer allein sein soll, dem man die Schuld gibt. Ich hatte auch meine Bedenken, weil Sascha manchmal so wild ist. Sie können aber versichert sein, daß ich mich nicht in die Freundschaft der beiden einmischen werde. Es kommt auf uns Erwachsene an, dafür zu sorgen, daß eine Freundschaft auch den rechten Weg geht. Sie können also ganz beruhigt sein, Herr Wengers.«
Wie von einer großen Last befreit, verließ Egon Wengers wenig später das Ehepaar Biesinger.
*
Früher als sonst üblich setzte sich Hanna an den gedeckten Frühstückstisch und ließ sich von Jolande den Kaffee einschenken.
Ihre Gedanken gingen zu ihrer Mutter, mit der sie und Kay sich am vergangenen Abend noch fast zwei Stunden angeregt unterhalten hatten. Das einzige, worüber sich die Mutter beklagt hatte, war, daß sie nun ein paar Tage darauf verzichten mußte, sich auf der Krankenstation um die kleinen Patienten zu kümmern. Ansonsten fühlte sie sich schon einigermaßen wohl. Kay hatte ihr den verstauchten Fuß gut bandagiert und ihr dazu noch Tabletten gegen die Schmerzen gegeben.
»Komm, Füchsin, leiste mir ein paar Minuten Gesellschaft. Ich weiß zwar, daß du später mit meiner Mutter frühstücken willst, aber eine Tasse Kaffee wirst du doch sicher nicht abschlagen?«
Jolande gab lächelnd nach, goß sich ebenfalls eine Tasse des aromatisch duftenden Getränks ein und nahm Hanna gegenüber Platz.
»Hast du noch etwas Bestimmtes auf dem Herzen, Hanna?«
»Eigentlich nicht, Füchsin. Ich weiß ja, daß du meine Mutter gut versorgst. Achte bitte darauf, daß sie noch nicht versucht zu laufen. Je ruhiger sie sich verhält, desto weniger Schmerzen verspürt sie. Ich weiß noch nicht, ob ich zum Mittagessen herüberkommen kann. Wir haben erneut einen etwas schwierigen Tag vor uns. Es ist daher wohl angebracht, daß Sie heute nur für sich und meine Mutter sorgen. Wenn ich Hunger verspüre, esse ich eine Kleinigkeit in der Kantine.«
»Du kannst dich ganz auf mich verlassen, Hanna. Darf ich dir noch nachgießen?«
»Nein, danke, Füchsin. Ich möchte heute etwas früher in die Klinik hinüber. Ich möchte mir vor der Frühbesprechung noch zwei unserer kleinen Patienten ansehen.«
»Dann kann ich dir nur noch einen erfolgreichen Tag wünschen. Ich drücke beide Daumen, daß sich recht bald herausstellt, daß man dem Jungen mit der abgetrennten Hand hat helfen können.«
»Ja, ein bißchen Glück könnten wir schon gebrauchen, Füchsin«, antwortete Hanna und sah auf die Uhr.
Es war zwanzig vor sieben, als Hanna durch den gepflegten Park zum Klinikgebäude ging. Tief atmete sie die frische Morgenluft ein, denn es würde wohl wieder etliche Stunden dauern, bis sie wieder dazu kommen würde, an die Luft zu gehen.
Als sie wenige Minuten später die Intensivabteilung betrat, mußte sie erkennen, daß Kay den gleichen Gedanken gehabt hatte wie sie. Kay war schon bei dem elfjährigen Jörg und überprüfte gerade die Infusion.
Er nickte Hanna zu, und sie sagte leise: »Guten Morgen, Kay, was macht unser junger Freund?«
»Ich denke, wir können bis jetzt zufrieden sein. Keine Temperatur, kein anderes Anzeichen für eine Infektion. Es scheint soweit alles in Ordnung zu sein. Der Junge hat sogar schon nach seiner Mutter gefragt. Er ist vor ein paar Minuten wieder eingeschlafen.«
»Wie lange bist du denn schon hier? Ich habe überhaupt nicht gehört, daß du das Doktorhaus verlassen hast.«
»Ich bin schon seit sechs Uhr in der Klinik. Ich habe mich leise verdrückt, damit ich niemanden störe. Außerdem war ich heute schon um fünf Uhr wach und konnte nicht mehr einschlafen. Ich habe schon persönlich die Laborwerte für den kleinen Joachim Kellermann bestimmt. Komm, hier ist im Augenblick für uns nichts zu tun. Wir können uns besser in meinem oder in deinem Sprechzimmer weiter unterhalten.«
»Warst du auch schon auf der Station bei Joachim Kellermann? Wie geht es ihm?« fragte Hanna.
»Auch da bin ich so weit zufrieden, daß ich sagen kann, es bleibt bei dem Termin für heute. Wir werden heute noch wie vorgesehen operieren. Sobald ich das Einverständnis des Vaters oder beider Elternteile vorliegen habe, werde ich den genauen Zeitpunkt festlegen. Bist du einverstanden?«
»Natürlich, Kay. Wir wissen doch beide, daß es für den Eingriff allerhöchste Zeit wird. Ich werde mich jetzt um den Bericht der Nachtbereitschaft und der Nachtschwestern kümmern und einige Dinge für den Tagesverlauf mit Schwester Elli durchgehen. Das heißt, wenn Schwester Elli schon im Haus ist.«
»Ist sie. Ich habe sie schon kurz gesprochen, als ich bei dem kleinen Kellermann war.«
»Fein, dann ist ja alles in Butter. Wir sehen uns bei der Frühbesprechung.«
Eine gute halbe Stunde später ging Hanna hinunter, um an der Frühbesprechung teilzunehmen. Als sie die Besucherecke in der Eingangshalle überblicken konnte, verhielt sie einen Moment überrascht im Weitergehen. Zwei Personen saßen um diese frühe Zeit schon wartend da. Es waren Luise und Otto Kellermann.
In diesem Augenblick sahen die frühen Besucher auch Hanna und erhoben sich sofort von ihren Plätzen.
»Guten Morgen, Frau Dr. Martens. Entschuldigen Sie, daß wir schon so früh zur Klinik gekommen sind. Es ist nur, weil mein Mann so mitten in der Ernte ist und über Tag nicht viel Zeit hat. Bitte, erlauben Sie uns, nach unserem Jungen zu sehen.«
Hanna reichte beiden zur Begrüßung ihre Rechte und entgegnete mit ruhiger Stimme: »Zu so früher Stunde sind Besuche hier in der Kinderklinik eigentlich nicht üblich. Da mein Bruder und ich jedoch sowieso dringend mit Ihnen beiden zu reden haben, kann ich diese Ausnahme gelten lassen. Sie müssen sich nur noch eine Weile gedulden, ich werde zur Frühbesprechung erwartet. Im Anschluß daran – etwa in einer halben Stunde – möchte ich Sie bitten, uns zu einem Gespräch zur Verfügung zu stehen. Haben Sie so lange Zeit? Es geht um eine wichtige Entscheidung.«
»Wenn es wichtig ist, werden wir selbstverständlich warten, Frau Doktor. Dürfen wir denn in der Zwischenzeit zu unserem Buben? Wie geht es ihm heute morgen?«
»Ja, Sie haben meine Erlaubnis. Einen Moment bitte, ich lasse eine Schwester kommen, die sie zu Ihrem Jungen bringen wird.«
Hanna ging zum Aufnahmeschalter und sagte zu Martin Schriewers: »Geben Sie bitte oben auf der Station Bescheid. Man soll Schwester Laurie herunterschicken. Sie kann die Eltern zu dem kleinen Kellermann bringen.«
»Bin schon dabei«, erwiderte Martin und wählte sofort die Nummer der Krankenstation.
»Wir sehen uns dann in einer halben Stunde, Herr Kellermann«, sagte Hanna noch, bevor sie die Eingangshalle verließ. Noch länger konnte sie Kay und die anderen Ärzte nicht warten lassen.
»Du kommst spät, Hanna«, raunte Kay ihr leise zu, als sie neben ihm im kleinen Konferenzraum Platz nahm.
»Entschuldige, es ging nicht anders. Die Eltern von Joachim Kellermann sind schon in der Klinik, um ihren Jungen zu sehen. Wir können nach der Besprechung sofort mit beiden über die Operation sprechen. Ich bin zwar nicht für diese frühen Besuche, doch in diesem Fall bin ich mehr als einverstanden.«
»Würde ich auch sagen. Doch ich denke, daß wir jetzt endlich beginnen. Es wartet heute so einiges auf uns.«
Wie an jedem Morgen wurden zuerst die wenigen wichtigen Fälle behandelt. Andere Therapien, neue Behandlungsmethoden, wurden von den einzelnen Fachärzten angeregt und vieles mehr.
Erst nachdem noch einmal über die Operation des vergangenen Nachmittages gesprochen worden war, kam Kay zum Hauptfall dieses Tages. Er spannte eine Aufnahme vor die Lichtplatte, und sofort versammelten sich alle um ihn, um nichts von seinen Erklärungen zu verpassen. Kay informierte über jede Kleinigkeit, wies auf kritische Punkte hin. Er gab Auskunft auf Fragen, die einzelne Mitarbeiter stellten. Es kam schließlich bei jedem schwierigen Eingriff auf die optimale Zusammenarbeit des gesamten Teams an. Zum Schluß sagte Kay: »Ich möchte den Operationsbeginn auf zehn Uhr dreißig festlegen. Die Zwischenzeit dürfte für die letzten Vorbereitungen ausreichen. Hat noch jemand von Ihnen Fragen, meine Damen und Herren?«
Dr. Olegra meldete sich und wollte wissen: »Liegt denn die Einverständniserklärung der Eltern schon vor, Chef? Wie Sie sagten, ist der Patient doch erst gestern zu uns in die Klinik gebracht worden.«
»Sie liegt noch nicht vor«, beantwortete Kay die Frage des Urologen. »Da jedoch die Eltern schon seit kurz vor sieben in der Klinik sind, dürfte es wohl in dieser Hinsicht kaum Schwierigkeiten geben. Bestehen sonst noch Fragen?«
»Nein, alles andere ist klar«, antwortete Camillo Olegra.
»Gut, dann sehe ich unsere heutige Besprechung als beendet an.«
Es dauerte nun auch nicht lange, und Hanna war mit ihrem Bruder allein.
Mit ernstem Gesicht sagte sie zu ihm: »Hoffentlich gibt es wirklich keine Schwierigkeiten. Komm, lassen wir das Ehepaar Kellermann kommen. Bringen wir es hinter uns.«
*
»Sie wollten mit uns sprechen?« Nur zögernd betraten Luise und Otto Kellermann das Zimmer, in dem Hanna und Kay sie erwarteten. Nichts mehr von Ablehnung und Feindseligkeit war dem Bauern anzusehen.
»Ja, meine Schwester hat es Ihnen ja schon gesagt. Es geht um Ihren Jungen, Herr Kellermann. Sie waren beide bei ihm und konnten sich davon überzeugen, daß sein Befinden nicht gerade gut zu nennen ist. Ich möchte Ihnen gern etwas zeigen. Bitte kommen Sie zu mir auf die Sichtplatte.«
Kay heftete die Aufnahme fest und sagte ernst, dabei auf eine bestimmte Stelle der Aufnahme weisend: »Was Sie hier sehen, ist eine Geschwulst, ein sogenanntes Nierenblastom. Da wir nicht sicher feststellen können, ob es sich um eine gutartige oder eine bösartige Geschwulst handelt, dürfen wir keine Zeit verlieren und müssen schnellstens operieren, wenn wir das Leben Ihres Sohnes erhalten wollen.«
»Sie wollen meinen Jungen operieren? Nein, das lasse ich nicht zu«, begehrte Otto Kellermann heftig auf.
»Gibt es denn keinen anderen Weg, Frau Dr. Martens?« wandte sich Luise Kellermann mit zitternder Stimme hilfesuchend an Hanna.
»Es muß sein, Frau Kellermann. Wir müssen verhindern, daß sich Metastasen bilden. Wenn es nicht schon geschehen ist.«
»Also eine Krebsgeschwulst?«
»Wir vermuten es.«
»Du hörst, was Frau Dr. Martens sagt, Otto. Wir müssen jetzt an unseren Jungen denken und vernünftig und tapfer sein. Wir haben doch nur unseren Joachim.«
»Ist ja schon gut, Luise, ich bin mit allem einverstanden, was unserem Jungen helfen könnte.«
»Würden Sie uns das auch schriftlich geben, Herr Kellermann?«
»Wenn es sein muß, ja.«
»Ich danke Ihnen, daß Sie so vernünftig reagieren, Herr Kellermann. Ich habe schon ein Formular vorliegen, das Sie und Ihre Frau unterzeichnen müssen.«
»Muß es sofort sein?«
»Ja, denn wir möchten noch heute den Eingriff, durchführen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.«
»O Gott, hilf uns«, stammelte Luise Kellermann, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Auch Otto Kellermann wurde blaß und legte beschützend einen Arm um die Schulter seiner Frau. Leise und mit brüchiger Stimme murmelte er: »Verzeih mir, Luise, ich wußte doch nicht, daß es so schlimm um Joachim steht. Ich werde es mir selbst nie verzeihen, wenn wir unseren Sohn durch meine eigene Schuld verlieren. Ich unterschreibe alles, Herr Dr. Martens, aber bitte helfen Sie unserem Kind.« Flehend sah Herr Kellermann auf Kay.
Dieser entgegnete mit beruhigender Stimme: »Wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht. Wenn wir alles entfernen, kann durchaus noch ein langes Leben vor Ihrem Jungen liegen. Nur, allein mit dem Eingriff ist es nicht getan. Wir müssen noch über eine lange Zeit hinweg weiterbehandeln, um ein Tumorrezitiv, also eine Neubildung, zu verhindern. Wenn Sie die Einverständniserklärung unterzeichnet haben, fahren Sie erst einmal heim. Heute nachmittag können wir Ihnen schon mehr sagen.«
»Wir dürfen nicht mehr zu unserem Jungen?«
»Davon muß ich abraten. Das Kind muß für den Eingriff vorbereitet werden, und dazu müssen noch einige Untersuchungen durchgeführt werden. Sie beide würden uns dabei nur unnötig behindern.«
Voller Mitleid sahen Hanna und Kay dem Ehepaar nach, als es nach dem Unterschreiben mit gebeugten Schultern das Sprechzimmer verließ.
»Mein Gott, Kay, warum muß das Leben nur immer so kompliziert sein? Waren wir den beiden Menschen gegenüber nicht zu offen?«
»Es mußte sein, Hanna. Es hat doch keinen Sinn, da etwas zu beschönigen. Geht etwas schief, ist hinterher der Schlag nur um so härter. Wären wir nicht so offen gewesen, wir hätten wohl kaum von Herrn Kellermann die Einwilligung bekommen. Und du weißt, wohin das geführt hätte.«
»Wir werden es schon schaffen, Kay. Wir haben doch schon Schlimmeres gemeistert.«
»Genau, Hanna, das haben wir. Kümmerst du dich bitte darum, daß der Junge gleich nach unten gebracht wird?«
»Natürlich, ich wollte jetzt sowieso zur Krankenstation hinauf.«
In Gedanken noch bei den verzweifelten Eltern des kleinen Joachims, ging Hanna hinauf auf die Krankenabteilung.
Zur festgelegten Zeit befand sich das Team um Kay und Hanna wieder einmal im Operationssaal unter den gleißenden Strahlern der Operationslampe, und mit höchster Konzentration folgten sie den knappen Forderungen Hannas, die, wie mit Kay vorher besprochen, den Eingriff durchführte.
Lautlos arbeiteten die Operationsschwestern, die die Instrumente anreichten oder entgegennahmen. Jeder Handgriff saß, jeder wußte, worauf es ankam.
Hin und wieder ertönte leise: »Herzschlag regelmäßig, Blutdruck, Kreislauf normal.«
Nach einer endlos scheinenden Zeit war Hanna weit genug vorgedrungen. Noch einmal forderte sie: »Tupfer, Klemme, Haken«, dann sagte sie leise und erklärend: »Wir haben es, ich fange an, es herauszulösen.«
Das Blastom lag offen vor ihr, und mit Erleichterung stellte sie fest, daß es scharf abgegrenzt war und relativ gefahrlos entfernt werden konnte.
Erneut verstrich die Zeit, und in umgekehrter Reihenfolge wurde der Bereich des Eingriffs wieder anatomisch gerecht verschlossen.
Ein letztes Mal tupfte Schwester Dorte Hanna feine Schweißperlen von der Stirn, und Hanna trat aufatmend vom OP-Tisch zurück.
Als Hanna und Kay nebeneinander am Waschbecken standen, raunte er leise: »Ganz ausgezeichnet, Hanna. Ich hätte es nicht besser machen können. Wenn keine Komplikationen eintreten, bekommen wir den Jungen über den Berg. Es war ein schweres Stück Arbeit, nicht wahr?«
»Ja, aber es ist trotz allem wieder ein schönes Gefühl, es geschafft zu haben.«
*
Nach diesen beiden so ereignisreichen Tagen folgte ein ruhiger Sonntag.
Nach der Morgenvisite, die Kay durchführte, da er aus verständlichen Gründen den Sonntagsdienst übernommen hatte, führte ihn sein Weg auf die Intensivabteilung.
»Alles in Ordnung, Schwester Margret?« fragte er die Schwester.
»Alles so weit normal, Herr Dr. Martens. Nur Jörg ist etwas unruhig, man könnte meinen, er habe vor irgend etwas Angst. Ich habe ihn schon gefragt, doch er hat mir keine Antwort gegeben.«
»Ich kümmere mich gleich darum. Ist bei dem kleinen Kellermann schon die neue Blutsenkung gemacht worden?«
»Gewiß, die Proben befinden sich schon unten im Labor. Alle anderen Werte sind zufriedenstellend. Ich habe vor fünf Minuten die frische Infusionsflasche angeschlossen. Der Junge schläft fast nur.«
»Das ist ja erfreulich. Sie können jetzt eine Kaffeepause einlegen, ich bleibe solange hier. Eine Viertelstunde können Sie sich ruhig Zeit lassen.«
»Ich werde pünktlich zurück sein«, entgegnete die junge Schwester und ließ ihren Vorgesetzten bei den kleinen Patienten.
Kay zog sich einen Stuhl an das Bett des Elfjährigen, der jede seiner Bewegungen mit aufmerksamen und zugleich ängstlichen Blicken beobachtete.
Mit einem aufmunternden Lächeln fragte Kay den Jungen: »Möchtest du mir nicht sagen, was dir so großen Kummer macht, Jörg? Ich sehe doch, daß dich etwas quält.«
»Mein Vati und meine Mutti, warum kommen sie nicht? Bestimmt sind sie ganz böse auf mich«, kam es leise über Jörgs Lippen.
»Sie sind ganz gewiß nicht böse auf dich. Sie waren gestern beide hier. Erst dein Vati und am Nachmittag deine Mutti. Du hast es nur nicht bemerkt, weil du den ganzen Tag geschlafen hast. Warum sollten sie auch böse mit dir sein?«
»Weil ich, weil ich doch jetzt keine Hand mehr habe. Ich weiß es, ich habe es doch selbst bemerkt.« Bei den letzten gestammelten Worten hatten sich Jörgs Augen mit Tränen gefüllt. Es war ein stummes, verzweifeltes Weinen.
Ganz sacht fuhr Kay über die Wangen des Jungen und sagte weich: »Nicht weinen, Jörg. Deine Hand ist noch da, du darfst es mir ruhig glauben. Du hast wohl einen bösen Unfall gehabt, aber wir haben dir deine Hand wieder angenäht.«
»Das glaube ich nicht, das geht doch überhaupt nicht.«
»Es geht wohl, und wir haben es auch gemacht, Jörg. Morgen früh werden wir den Verband wechseln, und dann kannst du es mit eigenen Augen sehen. Du mußt mir aber etwas versprechen. Du mußt ganz vernünftig sein und deinen geschienten Arm ruhig halten. Du bist ja ein vernünftiger Junge. Und du mußt viel Geduld haben, denn es wird eine Weile dauern, bis alles verheilt ist.«
Kay hatte mit voller Absicht so klare Worte gesagt, denn es war der einzige Weg, dem Zwölfjährigen etwas von seiner Furcht zu nehmen.
»Ist das alles wirklich wahr?« kam es auch schon in ungläubigem Staunen von Jörgs Lippen.
»Es ist wahr, und ich möchte jetzt auch kein trauriges Gesicht mehr sehen. Einverstanden…?«
Ein zaghaftes Lächeln war die Antwort, und Kay merkte, daß Jörg ruhiger wurde.
»So ist es schon besser. Ich weiß ja, daß du ein tapferer Junge bist. Jetzt versuche, noch ein bißchen zu schlafen, und wenn du aufwachst, kommt auch schon bald dein Vater zu dir. Morgen bringen wir dich in ein anderes Zimmer, da darfst du dann ganz viel Besuch bekommen.«
Noch einmal strich Kay dem Jungen mit einer sanften Geste das blonde Haar aus der Stirn und stand auf.
Als Schwester Margret kurz darauf aus ihrer Pause zurückkam, schliefen beide Patienten.
»Es ist alles in Ordnung, Schwester Margret. Sollten sie mich jedoch wieder Erwarten brauchen, ich bin in der nächsten Stunde in meinem Sprechzimmer.«
»In Ordnung, Herr Doktor. Ich hoffe jedoch, daß ich Sie nicht bemühen muß.«
Die Zeit bis zur Essensausgabe verlief auch weiterhin ohne besondere Vorkommnisse.
Kay trug sich für eine halbe Stunde aus der Anwesenheitsliste aus und ging zum Mittagessen hinüber ins Doktorhaus, um mit seiner Haushälterin Hella Sanders die Mahlzeit einzunehmen. Er war erst kurz wieder in der Klinik, als Hanna zu ihm kam.
»Nanu, Schwesterherz, ist es dir im Doktorhaus zu langweilig geworden?« fragte er scherzend.
»Das wohl weniger. Mutti hält gerade ein Mittagsschläfchen, und da habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, um zu sehen, wie es unseren beiden Sorgenkindern geht. Ist alles in Ordnung, oder muß noch mit Komplikationen gerechnet werden?«
»Soweit ich die Lage erkenne, besteht kein Anlaß zur Sorge. Jörg Biesinger war wohl sehr unruhig, doch da konnte ich ausgleichend einwirken.«
Mit knappen Worten berichtete Kay Hanna von seinem Gespräch mit dem Jungen.
»Das hätte ich allerdings nicht erwartet«, sagte Hanna überrascht. »Was hättest du nicht erwartet?«
»Nun, daß der Junge bewußt mitbekommen hat, was mit seiner Hand passiert ist. Es muß doch in Bruchteilen von Sekunden geschehen sein.«
»Wenn es auch nur Sekunden waren, sie haben sich dem Jungen doch eingegraben. Seine Worte haben es mir bewiesen, Hanna. Was macht Mutti? Ich habe sie ja heute noch nicht gesehen.«
»Du kennst sie ja, Kay. Sie würde am liebsten schon heute in die Klinik kommen. Nur mit viel Überredungskunst konnte ich sie dazu bringen, wenigstens heute ihren Fuß noch zu schonen. Wann läßt du dich heute ablösen?«
»Wie üblich um sechzehn Uhr. Dr. Dornbach übernimmt den Spätdienst.«
»Dann komm doch mit Frau Sanders zum Kaffee herüber zu uns.«
»Geht nicht. Frau Hella besucht heute nachmittag eine Schwester in der Stadt. Sie kommt erst am späten Abend wieder zurück. Ich komme aber gern. Ich laß mir doch den leckeren Kuchen der Füchsin nicht entgehen.«
»Fein, dann laß ich dich jetzt wieder allein. Ich werde noch ein Weilchen im Klinikpark sitzen, danach wird Mutti wohl ihr Schläfchen aushaben. Ursprünglich wollte heute auch Marike mit der kleinen Annika kommen, doch sie hat vormittags angerufen und abgesagt. Die Kleine scheint nicht ganz in Ordnung zu sein. Wie Marike sagte, eine leichte Erkältung.«
»Schade, ich mag die Kleine, und es ist schon wieder ein Weilchen her, seit ich sie zum letzten Mal gesehen habe.«
»Das liegt ja wohl an dir, Kay.«
»Wie meinst du das?«
»Nun, du und Martin, ihr habt euch doch sonst auch hin und wieder zusammengesetzt und euch unterhalten. Du darfst nicht nur an deine Arbeit denken. Du brauchst manchmal mehr Freizeit.«
»Das mußt du gerade sagen«, gab Kay dunkel auflachend zurück. »Du kannst ja noch nicht einmal an einem freien Tag ohne Klinik leben. Aber Scherz beiseite, wir sind eben beide etwas aus der Art geraten.«
»Genau darum gehe ich jetzt auch. Und nicht vergessen, zum Kaffee erwarten wir dich.«
Ein fröhliches Lächeln auf den Lippen, ging Hanna davon.
*
Als Jörg ein weiteres Mal aus seinem tiefen Schlaf erwachte, blickte er in das besorgte Gesicht seines Vaters.
»Vati, du bist bei mir? Ich habe solche Angst gehabt, daß du und Mutti mir böse seid. Ich war so allein.«
»Mutti und ich, wir haben dich sehr lieb, mein Junge. Wir haben uns große Sorgen um dich gemacht. Als wir gestern hier in der Klinik waren, hast du geschlafen, und wir wollten deinen Schlaf nicht stören. Ich soll dich von Mutti grüßen.«
»Danke, Vati, aber warum kommt sie denn nicht?«
»Beide zusammen können wir nicht kommen. Du weißt doch, daß unser Nicki krank ist. Wenn ich später nach Hause fahre, bleibe ich bei Nicki, und Mutti kommt zu dir. Mutti wird sich sehr freuen, daß du schon wieder so munter bist.«
»Und ihr seid ganz bestimmt nicht böse mit mir, Vati.«
»Nein, Jörg, die Hauptsache ist für uns, daß du lebst. Wir wären nur sehr traurig, wenn du eine solche Dummheit noch einmal machen würdest. Aber darüber wollen wir jetzt nicht mehr reden.«
»Weiß du, Vati, ich habe solche Angst gehabt, aber der Doktor hat gesagt, daß man meine Hand wieder angenäht hat. Er will es mir morgen auch zeigen.«
»Ja, mein Junge, du hast großes Glück gehabt. Saschas Tante hat dich so rasch in die Klinik gebracht, daß die Ärzte deine Hand retten konnten. Es wird aber vielleicht noch sehr lange dauern, bis du deine Hand wieder gebrauchen kannst. Und wenn es nicht geht, darfst du auch nicht traurig sein. Du hast dann immer noch Mutti und mich. Soll ich dir etwas vorlesen? Ich möchte nämlich nicht, daß du schon zuviel redest. Du brauchst jetzt vor allen Dingen viel Ruhe und mußt dich erholen.«
»Was hat denn der andere Junge da drüben im Bett?« flüsterte Jörg leise. »Er hat überall Schläuche. Ich habe nur den mit der Flasche.«
»Er ist sicher sehr krank, Jörg. Hier in der Klinik liegen viele Kinder, die krank sind.«
»Ich komme aber morgen in ein anderes Zimmer, hat der Doktor mir gesagt. Ich darf dann ganz viel und lange Besuch haben. Ob der Sascha mich auch besuchen kommt?«
»Das wird er ganz sicher. Seine Tante hat es der Mutti und mir gesagt, daß sie dich mit dem Sascha besucht. Doch jetzt hast du genug geredet, du brauchst wieder Ruhe. Du mußt vernünftig sein und auch immer tun, was der Doktor und die Schwestern dir sagen. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Vati.«
»Gut, dann lese ich dir jetzt etwas aus deinem Buch vor. Ich habe dir die Geschichten von Gullivers Reisen mitgebracht.«
Leise, daß es den anderen kleinen Patienten nicht stören konnte, las Uwe Biesinger seinem Jungen so lange vor, bis er sah, daß dieser wieder eingeschlafen war. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, daß es für ihn langsam Zeit wurde, nach Hause zu fahren, damit er Dagmar bei dem kleinen Nicki ablösen konnte.
Draußen auf dem Gang kam ihm Kay Martens entgegen, der lächelnd sagte: »Sind Sie mit dem Befinden Ihres Jungen zufrieden, Herr Biesinger?«
»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie glücklich es mich macht, daß Jörg schon wieder so munter ist. Wenn ich daran denke, daß der Unfall erst vorgestern mittag passierte, ist es für mich wie ein kleines Wunder.«
»Wir sind darüber auch sehr froh. Er hat, so hoffe ich jedenfalls, das Schlimmste überstanden. Die Temperatur ist weiterhin normal. Das ist für uns ein gutes Zeichen. Wir dürfen also eine Infektion ausschließen. Es kommt jetzt darauf an, ob die Nerven wieder funktionsfähig werden. Morgen vormittag werden wir Ihren Jungen zunächst auf die Krankenstation verlegen. Die Infusion ist dann auch nicht mehr notwendig. Trotzdem dürfen wir noch nicht zuviel erwarten. Auch wenn die Nerven reagieren, ist es noch ein weiter Weg, bis die rechte Hand voll belastet werden kann. Massagen, Fingerübungen und einiges mehr kommen auf den Jungen zu. Und erst nach einem Jahr können wir den Versuch wagen, die Silbernägel zu entfernen. Was ich auch noch sagen wollte, ist, daß Herr Wengers voll für die Behandlungskosten aufkommen möchte. Er sagte mir, daß er diesen Punkt schon mit Ihnen und Ihrer Frau geklärt hätte.«
»Das stimmt, wir haben es ihm nicht ausreden können. Herr Wengers hat darauf bestanden«, entgegnete Uwe offen. »Können wir das überhaupt annehmen?«
»Ohne weiteres, Herr Biesinger, wenn Sie ihn nicht vor den Kopf stoßen wollen. Er hat mir sehr glaubhaft versichert, daß es ihm nicht schwerfällt, die Mittel dafür zur Verfügung zu stellen. Eine sehr großzügige Geste von Herrn Wengers.«
Uwe wollte dazu noch etwas sagen, doch in diesem Moment kam ein Ehepaar durch die hohe Glastür, und Kay sagte entschuldigend: »Es tut mir leid, daß ich unser Gespräch beenden muß, aber ich muß mich jetzt um die Eltern eines kleinen Patienten kümmern, bei dem gestern ein äußerst schwieriger Eingriff durchgeführt werden mußte. Es wird sich ein anderes Mal die Gelegenheit bieten, unser Gespräch fortzusetzen.«
»Es ist doch selbstverständlich, daß wichtigere Dinge den Vorrang haben, Herr Dr. Martens. Ich danke Ihnen, daß Sie Zeit für mich hatten. Ich wünsche Ihnen noch einen ruhigen Nachmittag.«
Mit langen Schritten verließ Uwe Biesinger nun die Kinderklinik.
*
Im Haus der Wengers hatte der Tag nicht gut begonnen. Als Egon Wengers zum Frühstück herunterkam, fragte er überrascht: »Sag bloß, der Sascha liegt noch in den Federn, Tilly?«
»Es sieht so aus, denn ich habe ihn heute noch nicht gehört. Die Sache mit Jörg hat ihm wohl sehr zu schaffen gemacht. Er hat sich schon gestern den ganzen Tag recht eigenartig verhalten. Dir ist es natürlich nicht aufgefallen, nicht wahr?«
»Was heißt hier eigenartig? Ich habe wohl bemerkt, daß er sehr still war, mehr aber auch nicht.«
»Bei dem Temperament, das er sonst an den Tag legt, fand ich sein Verhalten eigenartig. Ich möchte mich aber nicht mit dir darüber streiten, Egon.«
»Ich auch nicht, Tilly. Außerdem ist es nicht falsch, wenn der Junge etwas nachdenklicher wird.«
»Ich verstehe dich nicht. Hast du nicht erst vorgestern gesagt, daß du dich in Zukunft mehr um Sascha kümmern willst? Der Junge braucht dich im Augenblick mehr denn je. Er ist mit seinen elf Jahren doch noch ein Kind. So leicht verkraftet ein Kind einen so schweren Schock nicht, das solltest du dabei auch bedenken. Sascha ist zwar manchmal zu wild, doch im Grunde eine sehr verletzliche junge Persönlichkeit.«
»Was soll ich denn noch machen, Tilly? Er weiß, daß ich trotz des schlimmen Ausgangs seiner gefährlichen Spiele nicht böse auf ihn bin, obwohl ich weiß Gott Grund genug dafür hätte. Ich habe ihn auch in keiner Weise bestraft. Außerdem weiß der Junge auch, daß ich ihn sehr lieb habe. Er ist doch alles, was mir von meinem Glück mit Monika geblieben ist.«
»Wissen allein reicht nicht aus. Zeig dem Jungen, daß er dir viel bedeutet. Ich geh rasch hinauf und schaue nach, ob er schon wach ist.«
»Gut, Tilly, ich warte dann, bis er unten ist. Sag ihm, daß er sich beeilen soll.«
»Mach ich, Egon«, erwiderte Tilly und ging rasch in den ersten Stock hinauf. Sie war nicht besonders leise, als sie Saschas Zimmer betrat, doch der Junge rührte sich nicht. Sie zog die Vorhänge zur Seite, um die Morgensonne ins Zimmer zu lassen, und rief fröhlich: »He, du alte Schlafmütze, aufgewacht und raus aus den Federn. Dein Vati und ich warten unten mit dem Frühstück auf dich. Wie kann man nur bei diesem schönen Wetter bis in die Puppen schlafen?«
Tilly trat ans Bett und zog mit Schwung die Bettdecke zurück. Im nächsten Moment sah sie doch etwas erschrocken auf Sascha, der sie aus verweinten Augen ansah und leise sagte: »Ich will aber nicht aufstehen. Laß mich doch in Ruhe, Tante Tilly.«
»Sascha, was soll das? Dein Vati hat gesagt, daß du dich beeilen sollst. Es ist schon fast halb zehn.«
»Ich will nicht frühstücken, ich habe überhaupt keinen Hunger, Tante Tilly. Laß mich doch noch im Bett bleiben. Wir haben doch heute Sonntag.«
»Was ist denn bloß mit dir los, Sascha? Willst du mir nicht sagen, warum du geweint hast? Bist du noch immer traurig wegen Jörg?«
»Jörg ist doch mein Freund, Tante Tilly. Ich allein bin daran schuld, das er jetzt so schlimme Schmerzen hat. Und er hat jetzt nur noch eine Hand. Er darf bestimmt nicht mehr zu mir kommen.«
»Das ist doch Unsinn, was du da sagst, das glaube ich nicht, Sascha. Wenn er erst Besuch haben darf, fahren wir zwei zur Kinderklinik und besuchen ihn. Ich habe dir doch gesagt, daß die Ärzte in der Klinik seine Hand wieder angenäht haben. Jetzt steh auf, sonst ist dein Vati enttäuscht. Ich kann dir ja helfen, dann geht alles viel schneller.«
»Ich kann mich allein anziehen, ich bin doch kein Baby mehr.«
»Gut, dann tu das auch, ich verlasse mich auf dich. Wir fangen auf jeden. Fall schon mal an.«
Mit diesen Worten ließ Tilly Sascha allein und ging wieder hinunter zu ihrem Bruder.
»Nun, was ist los? Kommt der Bursche nun endlich? Ich mag keinen kalten Kaffee.«
»Sascha kommt sofort, wir können ja schon mal anfangen, Egon. Ich möchte aber noch einmal ausdrücklich betonen, daß ich mir um den Jungen echte Sorgen mache.«
»Unke nicht soviel. Ich bin sicher, du siehst wieder einmal Gespenster. Ich bin sicher, daß wir uns keine Sorgen um ihn machen müssen. Ich will nur hoffen, daß er möglichst rasch hier unten am Frühstückstisch erscheint.«
Es vergingen trotzdem noch fast zehn Minuten, bis Sascha endlich das Eßzimmer betrat.
»Guten Morgen, Vati.«
»Das sind ja ganz neue Moden, mein Sohn. Von Pünktlichkeit hältst du wohl neuerdings nicht mehr viel, oder sehe ich das vielleicht nicht richtig? Gewöhne dir das mal rasch wieder ab, hast du mich verstanden?«
»Ja, Vati.«
Tilly brachte Sascha einen Becher warme Milch und schob ihm den Korb mit frischem Weißbrot zu.
»Jetzt iß tüchtig, Junge.«
»Ich mag aber nichts essen, ich habe nur Durst.«
»Wie du willst, ich kann dich ja schließlich nicht zum Essen zwingen. Denk aber daran, daß es noch eine ganze Weile dauert, bis wir heute zu Mittag essen. Ich würde mir das an deiner Stelle noch einmal überlegen.«
»Ich habe keinen Hunger, Tante Tilly.«
Sascha trank nur seine Milch aus und sagte: »Ich gehe wieder hinauf in mein Zimmer. Mein Kopf tut mir ein wenig weh, und außerdem ist mir auch so komisch schwindelig.«
Kopfschüttelnd sah Egon Wengers auf seinen Sohn, und bevor dieser aus dem Zimmer ging, meinte er: »Wie wäre es, wenn wir zwei heute doch noch eine kleine Angelfahrt unternehmen würden, Sascha? Wir hatten es doch ohnehin vor.«
»Ich habe gar keine Lust, Vati, ich möchte mich lieber noch etwas hinlegen. Darf ich?«
Egon Wengers lag eine heftige Antwort auf der Zunge, doch ein Blick in Saschas Gesicht ließ ihn schweigen und nur zustimmend nicken.
Nachdem sich die Tür hinter Sascha geschlossen hatte, sagte Tilly zu ihrem Bruder: »Nun sag bloß, daß du Saschas Verhalten nicht eigenartig findest. Wann hat es das schon mal gegeben, daß er sich eine Angelfahrt mit dir hat entgehen lassen? Man könnte sagen, er hat die Schotten dicht gemacht.«
»Wir sollten nicht soviel Aufhebens um ihn machen. Er wird sich schon von ganz allein wieder fangen.«
»Herrgott noch mal, Egon. Du bist ja so gedankenlos! Warum machst du dir so wenig Sorgen um den Jungen? Was du da sagst, ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Ich werde auf jeden Fall meine Augen offenhalten. Und jetzt habe ich in der Küche zu tun.«
»Meinetwegen halte du die Augen offen. Ich für meinen Teil habe für heute genug. Ich höre mir deine Schwarzseherei nicht länger an. Ich fahre allein zum Angeln, ihr braucht mit dem Mittagessen nicht mit mir zu rechnen. Ich hätte den Jungen gern mitgenommen, doch du hast ihn ja selbst gehört. Zwingen möchte ich ihn nicht, denn das würde auch nichts bringen.«
»Mach doch, was du willst, ich stelle dir dein Essen zur Seite und wärme es dir heute abend auf.«
*
Bis Tilly die Schlafzimmer und das Wohnzimmer in Ordnung gebracht und das Mittagessen zubereitet hatte, machte sich Sascha nicht bemerkbar. Als er auf Tillys Rufen keine Antwort gab, blieb ihr nichts anderes übrig, als erneut in sein Zimmer hinaufzugehen, um ihn persönlich zum Essen zu holen.
Als Tilly Saschas Zimmer betrat, sah sie ihn am Fenster sitzen und hinausstarren.
»Sascha, sitzt du auf deinen Ohren? Das Essen ist fertig, und ich habe dich schon zweimal gerufen.«
Sascha reagierte überhaupt nicht. Tilly trat hinter ihn, legte eine Hand auf seine Schulter und sagte noch einmal mahnend: »Warum gibst du mir keine Antwort? Ich habe doch gesagt, daß ich…«
Erschrocken verstummte sie, als der Elfjährige ihr nun das Gesicht zuwandte. Er war sehr blaß, er sah sie an und doch zugleich durch sie hindurch. Seine Blicke waren fremd und ganz seltsam.
»Junge, was ist mit dir? Fehlt dir etwas? Hast du vielleicht Schmerzen?«
Tilly faßte nach seinen Schultern und drehte ihn zu sich.
Sascha reagierte noch immer nicht, und auf seiner Stirn standen feine Schweißperlen.
Nun bekam Tilly es doch mit der Angst zu tun. Irgendetwas stimmte mit dem Jungen nicht. Waren es doch noch die Nachwirkungen des Schocks, die sich erst jetzt bemerkbar machten?
»Wenn du mir nicht sagen willst, was dir fehlt, kann ich dir nicht helfen, dann muß ich wohl den Doktor anrufen, Sascha. Doch zuerst stecke ich dich in dein Bett und bringe dir eine Tasse Tee.«
Ohne Gegenwehr ließ sich Sascha beim Ausziehen helfen. Kaum lag er in seinem Bett, schloß er die Augen und drehte sich zur Wand.
Vielleicht ist es ganz gut, wenn er ein paar Stunden schläft, überlegte Tilly. Er fühlt sich hinterher bestimmt besser. Wenn es nicht so ist, kann ich noch immer einen Arzt anrufen, wenn Egon vom Angeln zurückkommt. Sie ging eilig in die Küche hinunter, um für den Jungen frischen Tee aufzubrühen. Als sie etwas später den Tee zu ihm ins Zimmer brachte, war er fest eingeschlafen.
Egon Wengers kam gegen Abend vom Angeln zurück und hörte betroffen, was seine Schwester ihm berichtete.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll. Wenn sich das nicht bald ändert, sollten wir wohl doch einen Arzt kommen lassen oder mit Sascha zur Klinik fahren.«
»Was macht er im Augenblick, Tilly?«
»Das ist es ja, er schläft schon seit der Mittagszeit. Er hat auch keine Temperatur und schläft ruhig und tief. Sag du, was zu tun ist.«
»Wenn er schläft, lassen wir ihn durchschlafen, bis er von allein wach wird, dann sehen wir weiter.«
»Es ist gut, Egon. Ich werde vorsichtshalber heute nacht meine Schlafzimmertür offenstehen lassen, damit ich sofort höre, wenn etwas mit ihm nicht in Ordnung ist.«
Erst gegen Morgen erwachte Sascha aus tiefem Schlaf. An seinem Bett saß Tante Tilly.
»Warum sitzt du denn hier an meinem Bett, Tante Tilly? Muß ich aufstehen?«
»Geht es dir gut, Junge?« fragte Tilly überrascht und erleichtert.
»Ich habe Durst. Ist Vati schon vom Angeln zurück?«
»Sascha, Junge, natürlich ist dein Vati schon vom Angeln zurück. Wir haben Montagmorgen, und du hast von gestern mittag an durchgeschlafen. Du warst gestern gar nicht mehr du selbst, und ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Ich muß sofort deinem Vati sagen, daß du wieder in Ordnung bist. Ich bin darüber ja so froh.«
»Ich habe heute auch keine Kopfschmerzen mehr, Tante Tilly. Mir ist auch nicht mehr so schwindelig wie gestern.«
»Ich wußte ja nicht, daß dir deine Kopfschmerzen zu schaffen machten. Warum hast du es mir nicht gesagt?«
»Ich weiß es nicht. Es war alles so komisch. Ich hatte auch solche Angst, denn immer, wenn ich die Augen zugemacht habe, habe ich Jörgs Hand in dem Eisbeutel gesehen.«
»Ich weiß, es war alles zuviel für dich. Du hast in den letzten Tagen zuviel daran gedacht, und das war nicht gut. Weißt du, was wir heute nachmittag machen? Wir fahren in die Klinik und besuchen Jörg. Jörg wird dir dann ganz bestimmt sagen, daß seine Hand wieder dort ist, wo sie hingehört. Einverstanden?«
»Ja, Tante Tilly, ich möchte Jörg gern besuchen. Er ist ja auch mein bester Freund. Ich will ihm auch sagen, daß wir nie mehr so gefährliche Spiele spielen. Ich möchte Jörg auch mein Lieblingsspielzeug schenken. Aber vielleicht sind Jörgs Vati und seine Mutti so böse auf mich, daß sie mich nicht mehr zu ihm lassen.«
»Dann wüßte ich es schon, denn ich habe noch nach der Operation mit Jörgs Vater gesprochen. Du mußt dir darüber keine Gedanken machen. Ich werde ja bei dir sein und dich unterstützen. So, jetzt haben wir genug geredet. Wie wäre es denn, wenn du jetzt aufstehen würdest? Geschlafen hast du ja lange genug. Du hast Ferien, und da könnten wir zwei ganz gemütlich frühstücken. Dein Vati kommt bestimmt auch gleich nach unten. Er muß beizeiten in die Werkshalle zu seinen Arbeitern gehen.«
»Geh du schon runter, Tante Tilly. Ich möchte zum Frühstück Kakao haben. Und auch Butterbrote mit Nutella.«
»Sollst du alles haben, Sascha«, entgegnete Tilly und ging erleichtert hinunter, um den Frühstückstisch zu decken. Sie war schon gespannt auf das erstaunte Gesicht ihres Bruders, wenn er nachher Sascha so munter vor sich sehen würde. Sascha hatte den Schock wohl überwunden, den der schreckliche Unfall in ihm ausgelöst hatte.
*
An diesem Morgen verließ Kay seine Wohnung in dem Moment, in dem auch Hanna die Tür hinter sich zuzog. Gemeinsam gingen sie ins Klinikgebäude hinüber.
»Ich bin schon richtig gespannt darauf, ob wir wirklich Erfolg bei Jörg Biesinger gehabt haben, Kay. Den Verbandswechsel lasse ich mir auf keinen Fall entgehen.«
»Ich habe dabei ein gutes Gefühl, Hanna.«
»Wann werdet ihr es machen?«
»Sobald Dr. Mettner im Haus ist. Seine Arbeit war ja bei der Operation der wichtigste Teil. Er ist der Neurologe, und sein Fachgebiet sind die empfindlichen Nerven des menschlichen Körpers. Seine Anwesenheit ist daher sehr wichtig.«
»So sehe ich es auch und würde das niemals in Zweifel ziehen. Ich sorge dann anschließend dafür, daß der Junge nach oben auf die Krankenstation verlegt wird. Ich denke da an eines der hübschen Zweibettzimmer, denn ich möchte morgen den Joachim Kellermann dazuverlegen. Vom Alter her sind die beiden Jungens nicht so weit auseinander. Immerhin wird für beide eine ganze Weile vergehen, ehe sie aus unserer Obhut entlassen werden können.«
»Du bist sehr umsichtig und denkst, wie immer, auch an die weniger wichtigen Dinge. Man vergißt zu leicht, daß diese Dinge manchmal eine große Rolle spielen.«
Als sie die Eingangshalle durchquerten, blieb Hanna kurz bei Martin Schriewers an der Aufnahme stehen.
»Guten Morgen, Martin. Daheim alles in Ordnung? Hat die Kleine ihre Erkältung inzwischen überwunden?«
»Ja, das hat sie. Sie ist wieder munter und rege wie immer. Marike wird aber trotzdem an einem der nächsten Tage einmal mit ihr zu einer Untersuchung zu Ihnen in die Klinik kommen. Natürlich an einem Tag, an dem sie nur nachmittags arbeitet.«
»Ich will es auch hoffen, daß sie einmal mit Annika kommt. Eine gründliche Untersuchung ist längst schon wieder überfällig. Übrigens, ist Herr Dr. Mettner schon im Haus?«
»Ja, er hat die Klinik vor ungefähr zehn Minuten betreten. Er wartet auf der Intensivabteilung auf Sie beide.«
»Vielen Dank, Martin, wir wollen ihn auch nicht warten lassen.«
»Ich drücke Ihnen beide Daumen!« rief Martin ihnen noch nach, und Kay erwiderte: »Das können wir auch heute gebrauchen, Martin.«
Klaus Mettner hatte schon den Verbandswagen bereitstehen, als Kay und Hanna eintraten. Nach der üblichen Begrüßung sagte Hanna zu Jörg, der den Ärzten mit ängstlichen Blicken entgegensah, mit weicher Stimme: »Du mußt keine Angst haben, Jörg. Wir werden dir ganz bestimmt nicht weh tun. Wir wollen nur nachschauen, ob auch alles in Ordnung ist. Gleich wirst du es mit deinen eigenen Augen sehen, daß der Herr Doktor dir die Wahrheit gesagt hat.«
»Ich habe keine Angst«, antwortete der Elfjährige zaghaft, obwohl seine Augen das Gegenteil bewiesen.
»So, junger Mann, dann wollen wir mal anfangen.«
Behutsam entfernte Kay zuerst die Schiene, die den Arm ruhiggestellt hatte, und danach mit Hannas Hilfe Schicht für Schicht die weiteren Verbände.
»Das schaut doch wunderbar aus«, entfuhr es Hanna spontan und erleichtert, als die letzte Mullschicht abgehoben worden war.
Kay und Klaus Mettner nickten zustimmend, denn obwohl noch immer eine starke Schwellung vorhanden war, gab es keine erkennbaren Anzeichen für eine Entzündung im Wundbereich. Vor ihnen lag eine Hand, die gut durchblutet war. Die doppelt genähte Wundnaht sah aus wie eine dünne rote Kordel, die man um den Arm gebunden hatte. Sie würde mit der Zeit verblassen und nur noch als feiner weißer Streifen zu sehen sein.
»Nun, Jörg, was sagst du? Glaubst du jetzt, daß wir dir deine Hand wieder ganz richtig angenäht haben?«
Mit glücklich leuchtenden Augen nickte der Elfjährige.
Hanna trat nun zur Seite und machte Klaus Mettner Platz. Mit einem kleinen Gerät prüfte er, ob die zusammengefügten Nervenenden schon wieder eine Reaktion zeigten. Ein kaum wahrnehmbares Zucken in den Fingerspitzen der Hand zeigte ihnen allen an, daß sie den Kampf um Sekunden gewonnen hatten. Von nun an konnte es nur noch aufwärts gehen.
»Gott sei Dank, unsere Erwartungen haben sich also doch erfüllt. Ich finde es einfach wunderbar«, sagte Hanna, und die beiden Ärzte pflichteten ihr mit zufriedenen Gesichtern bei.
Während Kay und Dr. Mettner erneut Jörgs Arm verbanden und schienten, wandte sich Hanna dem nächsten Bett zu, an dem Schwester Margret gerade verschiedene Werte bei dem kleinen Patienten kontrollierte.
»Wie schaut’s heute aus, Schwester Margret? Hatte der Patient eine ruhige Nacht?«
»Ja, Frau Dr. Martens. Wie mir Schwester Jenny bei der Ablösung sagte, gab es während der Nachtstunden keinerlei Zwischenfälle. Es ist alles im Bericht notiert.«
»Das ist ja erfreulich, und wir können zufrieden sein.«
»Ich habe solchen Durst«, kam es da kläglich von den Lippen des kleinen Patienten.
»Du bekommst gleich etwas Tee, Joachim. Schwester Margret holt ihn dir.«
»Meine Mutti soll auch kommen.«
Mit einer liebevollen Geste strich Hanna dem Jungen das feuchte Haar aus der Stirn und sagte weich: »Ein Weilchen mußt du dich schon noch gedulden. Sobald deine Mutti Zeit hat, kommt sie ganz bestimmt zu dir. Jetzt sagst du mir erst, ob du Schmerzen hast.«
»Mein Bauch, er tut mir weh, wenn ich mich bewege.«
Hanna sah nach, wann der kleine Patient das letzte Schmerzmittel bekommen hatte, danach gab sie Schwester Margret die Anweisung, der frischen Infusionsflasche noch ein weiteres Medikament zuzusetzen.
»So, mein Kleiner, gleich tut dir dein Bauch nicht mehr weh. Bis deine Mutti kommt, wirst du fein wieder schlafen.«
Inzwischen waren auch Kay und Klaus Mettner fertig, und sie konnten fürs erste die Intensivabteilung verlassen.
»Wann, glauben Sie, kann mit den ersten Fingerübungen begonnen wer den, Herr Dr. Mettner?« wollte Kay wissen, nachdem sie die Abteilung verlassen hatten.
»Ich würde sagen, frühestens in einer Woche, Herr Dr. Martens. Es könnte sich als Fehler herausstellen, wenn zu früh damit begonnen wird.«
»So sehe ich es auch, ich bin da ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Hanna bei. Kay überlegte einen Moment, dann sagte er: »Ich möchte, daß Sie einen genauen Therapieplan zusammenstellen, und wenn es soweit ist, diese Therapie auch persönlich durchführen. Auch wenn wir in der Bäderabteilung eine ausgezeichnete Kraft zur Verfügung haben, möchte ich in diesem so besonderen Fall, daß Sie als der verantwortliche Neurologe das übernehmen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Selbstverständlich, Herr Dr. Martens, ich übernehme es sehr gern.«
»Gut, das wäre es dann für den Augenblick. Alles weitere regeln wir gleich bei der Frühbesprechung.«
*
Nach der Visite bekam Schwester Laurie von Hanna den Auftrag, Jörg aus der Intensivabteilung abzuholen. Inzwischen war ein hübsches Zweibettzimmer für ihn vorbereitet worden.
Schwester Laurie, die ganz besonders gut mit den jungen Patienten umzugehen verstand, betrat wenig später fröhlich lächelnd den Vorraum der Intensivabteilung, wo Schwester Margret schon mit Jörg auf sie wartete.
»Du bist also der Jörg und kommst jetzt zu uns hinauf? Ich bin Schwester Laurie. Wenn du etwas möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen. Was meinst du? Werden wir zwei uns wohl vertragen?« Lustig blinzelte sie ihm zu.
Als Jörg mit glänzenden Augen nickte, sagte sie: »Dann wollen wir mal, jetzt wirst du erst einmal mitsamt deinem Bett spazierengefahren.«
»Wenn mein Vati kommt, findet er mich überhaupt nicht wieder, Schwester Laurie. Darf ich nicht hierbleiben, bis er da ist?«
»Dein Vati wird dich schon finden, Jörg. Außerdem habe ich oben für dich noch eine ganz dicke Überraschung. Die kann ich dir jedoch nur oben zeigen.«
»Aber sagen können Sie es mir doch schon jetzt, Schwester Laurie. Ich möchte es doch wissen.«
»Nichts da, mein Freundchen, warten mußt du schon können, sonst ist es doch keine Überraschung mehr. Sag Schwester Margret auf Wiedersehen, dann schieben wir los.«
»Tschüß, Schwester Margret. Kommen sie mich auch oben besuchen?«
»Ganz bestimmt, Jörg, sobald ich Zeit habe.«
Vorsichtig, während sie jeden heftigen Stoß an irgendeine Ecke vermied, schob Schwester Laurie das auf Rollen befestigte Bett in den Aufzug und danach bis vor die Tür des Krankenzimmers, das für Jörg vorgesehen war.
»So, Jörg, jetzt die Augen zu, dann siehst du gleich meine Überraschung. Du darfst aber nicht schummeln, hörst du?«
»Ich schummle nie, Schwester Laurie, ganz ehrlich.«
Krampfhaft kniff Jörg die Augen zu, und Schwester Laurie schob ihn ins Zimmer hinein.
»So, nun darfst du deine Augen aufmachen.«
Im nächsten Moment rief Jörg jubelnd aus: »Vati, Vati, du bist ja schon gekommen. Ich muß dir etwas ganz Tolles erzählen.«
»Da bin ich aber gespannt, mein Junge. Du bist ja heute schon so munter.«
»Ich bleibe jetzt hier in diesem Zimmer und darf auch den ganzen Tag Besuch bekommen. Ist das nicht prima, Vati?«
»Ja, das ist wirklich prima, und ich freue mich für dich. Mutti läßt dich schön grüßen. Sie kommt heute nachmittag zu dir, wenn ich auf unseren Nicki aufpasse.«
»Ist der Nicki immer noch so krank?«
»Es geht ihm heute schon viel besser. Wenn er ganz in Ordnung ist, kommt er auch für ein paar Tage hierher nach Birkenhain. Mutti bringt ihn, dann auch einmal mit zu dir, und auch du kannst ihn besuchen.«
Schwester Laurie hatte inzwischen die Rollen des Bettes festgestellt und Jörgs Waschzeug und die anderen Dinge verstaut. Freundlich sagte sie zu Uwe Biesinger: »Ich lasse Sie jetzt ein Weilchen mit Ihrem Sohn allein, damit er seine Neuigkeiten loswerden kann. Wenn Sie einen Wunsch haben, drücken Sie einfach auf die Klingel, dann kommt eine Schwester.«
»Vielen Dank, Schwester Laurie«, gab Uwe lächelnd zurück.
»Nun, mein Junge, was wolltest du mir denn so Tolles erzählen?« fragte Uwe, als er mit Jörg allein war. Mit roten Wangen erzählte Jörg: »Stell dir vor, Vati, ich habe es gesehen. Meine Hand ist ganz richtig wieder angenäht. Der Doktor hat es mir gezeigt. Er hat auch gesagt, daß ich später wieder schreiben und greifen kann.«
»Und das freut dich gewaltig, nicht wahr?«
»Und wie, Vati, ich freue mich riesig. Der Doktor hat aber auch gesagt, daß es noch ganz lange dauert, bis ich wieder alles machen kann. Du mußt es sofort der Mutti erzählen, damit sie nicht mehr traurig ist.«
Uwe, der schon von Hanna alles erfahren hatte, war gerührt über die Freude seines Jungen. Weich sagte er: »Natürlich muß es Mutti auch ganz schnell wissen.«
Bis zur Mittagszeit blieb Uwe in der Klinik. Er fuhr erst nach Hause, als Jörg ein Mittagsschläfchen hielt.
Gegen vierzehn Uhr brachte Schwester Laurie Jörg ein Glas kalter Milch. Zu dieser Zeit sah er schon immer voller Erwartung auf die Tür, wenn er draußen auf dem Gang Schritte hörte. Es kam jedoch noch nicht seine Mutti, sondern Sascha schob sich ins Krankenzimmer, dem Tante Tilly folgte.
»Tag, Jörg, hast du noch große Schmerzen?«
»Sascha, wie schön, daß du mich besuchen kommst! Nein, große Schmerzen habe ich nicht. Es zwickt nur. Ich muß aber immer Tropfen schlucken und bekomme auch Spritzen, damit es nicht weh tut.«
»Sag ehrlich, Jörg. Haben sie dir hier in Birkenhain wirklich deine Hand wieder angenäht?«
»Na klar doch, Sascha. Ich habe es heute selbst gesehen. Du, so etwas tun wir nie wieder, haste gehört?«
»Klar doch, Jörg. Was glaubst du wohl, welche Angst ich hatte, als ich deine Hand in dem Beutel mit den Eiswürfeln gesehen habe. Noch einmal, nein, ich bin bedient.«
»War dein Vater sehr böse, weil wir doch einfach ohne seine Erlaubnis in die Halle gegangen waren?«
»Saschas Vater war nicht böse, sondern sehr traurig, Jörg. Du hättest dabei auch dein Leben verlieren können«, sagte Tilly ernst. »Nicht immer ist sofort jemand da, der helfen kann. Die großen Maschinen sind doch für Kinder viel zu gefährlich.«
»Hier, Jörg, ich habe dir auch etwas mitgebracht. Ich schenke es dir, wenn du mein Freund bleibst.«
»Warum sollte ich denn nicht mehr dein Freund sein, Sascha? Du bist vielleicht blöd. Was ist es denn, was du mir mitgebracht hast?«
»Mein Lieblingsspielzeug, mein ferngesteuertes Auto. Es gehört jetzt dir ganz allein.«
»Darf der Sascha denn einfach etwas abgeben, Tante Tilly?«
»Natürlich, Jörg, es gehört ihm doch, und er darf damit machen, was er will. Laß dir aber auch von mir sagen, daß ich mich sehr darüber freue, daß es dir schon wieder so gut geht. Ich dachte bis gerade noch, daß ich für dich heute unsichtbar bin.«
»Entschuldige, Tante Tilly, es tut mir leid.«
»Schon gut, Junge, ich verstehe ja, daß ihr zwei euch viel zu erzählen habt. Unterhaltet euch ruhig weiter, ich höre euch gern zu.«
*
Von diesem Tag an ging es mit Jörg stetig weiter aufwärts, und als Dr. Mettner mit der Therapie begann, wurde es noch besser. Die wieder angefügte Hand wurde immer beweglicher. Fast jeden Nachmittag verbrachte Sascha nun ein paar Stunden bei Jörg in der Klinik. Sein Vater brachte ihn, und Tante Tilly holte ihn am Abend wieder ab.
Uwe und Dagmar Biesinger waren sehr glücklich über die ganze Entwicklung. Hinzu kam noch, daß Hanna Martens bei dem kleinen Nicki, der inzwischen auch ein paar Tage in der Kinderklinik verbracht hatte, keinen organischen Schaden hatte feststellen können. Hanna hatte Dagmar versprochen, durch eine gezielte Therapie, die auch daheim durchgeführt werden konnte, zu helfen, Nickis körperlichen Abwehrkräfte zu stabilisieren.
Nach drei Wochen war in Jörgs Krankenzimmer immer eine fröhliche Runde zusammen: Jörg, Sascha und der achtjährige Joachim Kellermann, dessen Genesung inzwischen auch glänzende Fortschritte machte. Aus Sorgenkindern waren inzwischen wieder glückliche Kinder geworden.
Wenn es auch noch eine Weile dauern würde, so wußte Hanna zu diesem Zeitpunkt doch schon, daß sowohl Jörg als auch Joachim als gesunde und glückliche junge Menschen die Kinderklinik Birkenhain verlassen würden.