Читать книгу Kinderärztin Dr. Martens Staffel 7 – Arztroman - Britta Frey - Страница 6

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Vom Fenster ihrer im zweiten Stock gelegenen Wohnung spähte die junge Frau hinunter auf die Straße.

Als sie zwei Jungen von dreizehn Jahren eilig um die Straßenbiegung näher kommen sah, legte sich ein weiches mütterliches Lächeln um ihre Lippen. Sie trat zurück und schloß das Fenster.

Wenige Minuten später klingelte es an der Wohnungstür, und sie ließ die beiden Jungen ein.

Die Frau war Norma Günter, eine hübsche junge Frau mit langen blonden Haaren. Sie war seit ein paar Jahren Witwe und lebte mit ihren dreizehnjährigen Söhnen Sascha und Ingo in einer großen, hübsch eingerichteten Viereinhalbzimmerwohnung in Lüneburg. Im Augenblick führte Norma ein zufriedenes und ausgeglichenes Leben mit ihren Zwillingen. Dabei hatte es sehr lange gedauert, bis sie sich mit dem Verlust ihres Mannes abgefunden hatte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie sich sehr abgekapselt, und es war nicht ausgeblieben, daß sich nach und nach die alten Freunde völlig von ihr zurückgezogen hatten. Obwohl Sascha und Ingo ihr kaum Kummer gemacht hatten und auch in der Schule sehr fleißig waren, war sie selbst sehr einsam gewesen. Erst seit einigen Monaten nahm sie wieder mehr Anteil an dem Leben um sich herum. Hin und wieder erlaubte sie sich einen Kinobesuch, ein Konzert oder auch andere Veranstaltungen. So war sie zu dem zufriedenen Menschen geworden, der sie im Augenblick war.

*

Liebevoll begrüßte Norma Günter ihre beiden Jungen und fragte lächelnd: »Nun, ihr beiden, wie war es denn heute in der Schule? Alles in Ordnung?«

»Na, klar doch, Mutsch, wie immer«, gab Sascha keß zurück und warf seine Schultasche mit einem Schwung in eine Ecke.

»Nicht so wild, Sascha«, tadelte Norma sanft und wandte sich danach an Ingo. Überhaupt, ihre beiden Buben waren zwar Zwillinge, aber in ihrem Wesen so verschieden wie Tag und Nacht. Sascha war lebhaft, manchmal ein wenig wild und immer zu irgendwelchen Streichen aufgelegt. Ingo hingegen, dem Norma nun einen Arm um die Schultern legte, war ein stiller, scheuer, man konnte sogar sagen, ein überängstlicher Bub. Sie liebte beide sehr, denn sie waren ihr ein und alles, waren das Einzige, was ihr von einem großen Glück geblieben war.

»Bei dir auch alles in Ordnung, mein Junge?« fragte sie weich und fuhr Ingo über das strohblonde Haar.

»Ja, Mutsch, ich habe heute sogar meinen Aufsatz mit einer Eins zurückbekommen.«

»Fein, darüber freue ich mich natürlich sehr.«

»Hach, Mutsch, der Ingo ist ja auch ein Streber. Ich habe nicht so gut abgeschnitten, dafür bin ich auch nicht so ein Angsthase wie der Ingo.«

»Keinen Streit, wenn ich bitten darf. Ihr sollt euch vertragen. Er ist eben in einem Fach besser, und du in einem anderen. Jetzt ab ins Bad, Hände und Gesicht gewaschen, damit wir anschließend zu Mittag essen können.«

»Wenn es doch wahr ist, daß Ingo ein Angsthase ist. Heute beim Schwimmen hat er sich noch nicht einmal ins Wasser getraut. Alle haben ihn ausgelacht«, sagte Sascha maulend und verschwand im Badezimmer.

»Mach dir nichts draus«, sagte Norma tröstend zu Ingo. »Einmal wirst du es schon schaffen. Wenn ihr eure Haus­aufgaben fertig habt, unterhalten wir zwei uns mal in aller Ruhe. Einverstanden…?«

»Na, Mutsch, ich kann doch nichts dafür, wenn ich Angst habe, ins Wasser zu gehen. Die Mali und der Lars trauen sich auch nicht. Sie lachen mich auch nicht aus.«

»Nun, wir reden nachher darüber. Nun ab ins Bad, sonst wird das Essen kalt.«

Nachsichtig lächelnd sah Norma Ingo nach, der nun ebenfalls hinter der Badezimmertür verschwand. Sie war diese kleinen Streitereien ihrer Buben gewohnt. Es war bei der Verschiedenheit ihrer beiden Charaktere etwas ganz Normales, daß sie nicht immer einer Meinung waren. Beide hatten ja auch ihren eigenen Freundeskreis.

Schon wenige Minuten später saßen die beiden Jungen ihrer Mutter friedlich am Mittagstisch gegenüber und langten kräftig zu.

Nach dem Essen, Sascha und Ingo waren in ihrem Zimmer, um ihre Haus­aufgaben zu erledigen, brachte Norma Günter zuerst die Küche wieder in Ordnung, danach hatte sie etwas Zeit, um Kleidungsstücke ihrer Jungen auszubessern. Vor allen Dingen von Sascha kam immer so einiges zusammen. Bei seinem Temperament gab es so manchen Riß in den Jeanshosen zu flicken und auch häufiger ein Loch zu stopfen als bei Ingo.

Während ihrer Beschäftigung gingen Normas Gedanken plötzlich eigene Wege. Vor ihrem inneren Auge tauchte ein gutaussehendes Männergesicht auf, und ihr Herz pochte plötzlich ein paar Takte schneller.

Vor einiger Zeit, während eines Konzertes, das sie besuchte, hatte sie ihn kennengelernt. Jonas Carlson, vierzig Jahre alt, ein großer, breitschultriger, sehr gut aussehender Mann. Seit ihrem ersten Kennenlernen waren sie schon einige Male zusammengetroffen. Und es war schon recht seltsam, denn mit jedem Treffen fühlte sie sich mehr zu Jonas Carlson hingezogen. Eine innere Scheu hatte sie bisher davon abgehalten, ihren Jungen von Jonas Carlson zu erzählen. Sascha und Ingo hatten beide sehr an ihrem Vater gehangen, hatten ihn über alles geliebt. Norma hatte ganz einfach Angst davor, wie die beiden reagieren würden, wenn sie erfuhren, daß ein anderer Mann in das Leben ihrer Mutter getreten war und darin schon eine Rolle spielte. Sie spürte als Frau, daß Jonas ihr inzwischen mehr als nur Freundschaft entgegenbrachte. Schon in zwei Tagen würde sie mit Jonas wieder ein Konzert in der Stadthalle besuchen. Sie freute sich schon sehr darauf.

»Mutsch, ich bin fertig, darf ich jetzt nach draußen?« riß Saschas helle Stimme sie aus ihren Gedanken heraus.

»Wo willst du denn hin?«

»Wir wollen Fußball spielen, Mutsch. Alle aus unserer Klasse.«

»Alle, Sascha? Und was ist mit Ingo?«

»Ingo ist noch nicht fertig, und er spielt auch nicht Fußball. Der Ingo hängt nur mit der Mali und dem Lars zusammen. Kann ich nun gehen?«

»Ja, aber zuerst müssen wir beide uns noch einen Augenblick unterhalten.«

»Worüber denn, Mutsch?«

»Über dich und deinen Bruder, mein Junge. Du sagtest vorhin, daß man Ingo in der Schule ausgelacht hat. Kannst du ihm denn in solchen Dingen nicht ein bißchen zur Seite stehen und helfen? Ihr seit doch Brüder und sollt zusammenhalten. Mit dreizehn Jahren solltet ihr eigentlich vernünftig genug sein.«

»Wenn er doch nie mitmacht, Mutsch. Ich bin schließlich nicht Ingos Kindermädchen. Er hat doch seine Freunde, mit denen er immer zusammen ist.«

»Trotzdem, Sascha. Wenn es mal zu arg wird, hilf ihm. Er ist schließlich dein Bruder. Ich würde mich sehr darüber freuen. Er ist dir ja auch bei deinen Matheaufgaben behilflich oder?«

»Schon gut, Mutsch, meinetwegen. Ich verspreche es dir. Ich verstehe sowieso nicht, warum er sich immer nicht traut.«

»Die Menschen sind verschieden, mein Junge. Ingo ist nun mal genau das Gegenteil von dir. Mit der Zeit wird er bestimmt auch etwas mutiger. So, und nun lauf schon. Ich sehe ja, daß du ganz kribbelig bist. Und bitte sei nicht so wild! Zum Abendbrot bist du wieder hier?«

»Ja, Mutsch, kannst dich darauf verlassen.«

Einen Augenblick später klappte hinter Sascha die Wohnungstür zu.

Norma Günter wartete noch ungefähr eine Viertelstunde, danach ging sie ins Kinderzimmer hinüber, um nach Ingo zu sehen, denn sie wunderte sich darüber, daß er mit seinen Hausaufgaben noch nicht fertig war.

Der Dreizehnjährige war jedoch schon fertig, als Norma den Raum betrat. Sie fand ihn mit einer Bastelarbeit beschäftigt vor.

»Was ist los, Ingo? Warum gehst du nicht auch an die frische Luft?« Sie trat hinter ihn und legte eine Hand auf seine Schulter.

»Ich hab keine Lust, Mutsch. Außerdem hast du doch gesagt, daß du dich mit mir unterhalten willst.«

»Ich habe es nicht vergessen. Wir können es sofort machen, denn der Sascha ist ja draußen. Wir sind also ungestört.«

Mit viel liebevollem Verständnis versuchte Norma nun, ihrem Jungen zu erklären, daß er es leichter haben würde, wenn er sich vor seinen Mitschülern nichts von seiner Angst anmerken lassen würde.

»Du mußt dagegen ankämpfen, mußt die Zähne zusammenbeißen, dann kann dich auch niemand hänseln oder auslachen.«

»Ich versuche es ja, Mutsch, aber ich kann manchmal nichts dagegen tun. Es überkommt mich einfach.«

Norma mußte sich wohl oder übel mit der Antwort ihres Jungen zufrieden geben. Es hatte zwischen ihnen schon mehrfach solche Gespräche gegeben. Die Frage war nur, wann würden sie wenigstens die ersten kleinen Früchte tragen? Ob sich in seinem Verhalten überhaupt jemals etwas ändern würde? Sie glaubte nicht so recht daran. Sie wußte nur eines ganz genau. Sie liebte ihn nicht weniger als Sascha. Sie mußte halt versuchen, ihn in kritischen Momenten besser zu schützen.

*

Als Sascha und Ingo am Samstag nach dem Mittagessen die Wohnung verlassen wollten, um zu ihren Freunden zu gehen, mahnte Norma Günter: »Gut, ihr könnt beide gehen. Ich möchte euch heute aber spätestens um neunzehn Uhr hier sehen. Ich habe euch ja schon gestern gesagt, daß ich in die Stadthalle zum Konzert möchte.«

»Och, Mutsch, schon wieder in so ein olles Konzert? Gut, daß wir da nicht mit hin müssen. So was langweiliges. Wenn noch ’ne tolle Gruppe spielen würde, das wär schon was. Aber so in Klassik, Mutsch«, entgegnete Sascha maulend.

»Laß mal, mein Sohnemann, du wirst auch älter werden. Ich sag ja auch nichts, wenn ihr den ganzen Nachmittag eure Rockmusik laufen habt. Ihr seid auf jeden Fall pünktlich daheim, denn ich werde heute abgeholt. Das war es, was ich euch noch sagen wollte. Ihr seid ja keine Babys mehr, die man nicht für ein paar Stunden allein lassen darf. Also gönnt eurer Mutsch ein paar schöne Stunden.«

»Wer holt dich denn ab?« wollte Sascha neugierig wissen. »Du gehst doch sonst immer allein ins Konzert.«

»Mich holt ein sehr netter Freund ab, mein Junge. Ich werde euch morgen etwas mehr über ihn erzählen. Aber nun zu euch. Ich habe euch Limo und Chips bereitgestellt. Ihr dürft euch heute die Quiz-Sendung anschauen, und danach geht ihr ins Bett. Ich möchte nicht, daß ihr wach bleibt, bis ich zurückkomme. Ich kann mich doch auf euch verlassen, nicht wahr?«

»Na klar, Mutsch«, kam es von beiden gleichzeitig.

Als Norma kurz darauf die Wohnung verließ, weil es unten an der Haustür geklingelt hatte, drückten sich beide Buben die Nase platt, um einen Blick auf die Person zu erhaschen, die ihre Mutter für das Konzert abholte.

In den Augen von Jonas Carlson leuchtete es auf, als er Norma aus der Haustür treten sah. Wie schön diese Frau doch war, die er inzwischen aus tiefstem Herzen liebte. Er trat einen Schritt auf sie zu und begrüßte sie mit seiner angenehmen dunklen Stimme.

»Ich freue mich, Sie endlich wiedersehen zu dürfen, Norma. Die vergangenen vierzehn Tage kamen mir wie eine Ewigkeit vor.«

»Ich freue mich auch, Jonas. Es wird bestimmt wieder ein sehr schöner Abend«, entgegnete Norma lächelnd und hoffte dabei, daß er das heftige ­Pochen ihres Herzens nicht spürte, während er sie zu seinem Wagen führte.

Es war das erste Mal, seit sie sich kannten, daß er sie von ihrem Zuhause abholte. Sie warf einen verstohlenen Blick zu den Fenstern ihrer Wohnung hinauf. Sie bemerkte, daß sich ihre Jungen die Nase an der Fensterscheibe plattdrückten, um etwas von ihrem Begleiter zu sehen. Sie konnte sich schon vorstellen, daß beide sehr neugierig waren. Es würde ihr also nichts anderes übrigbleiben, als den beiden endlich etwas mehr von Jonas Carlson zu erzählen. Wie würden sie es wohl aufnehmen?

Während der Wagen mit einem sanften Ruck anfuhr, fragte Jonas lächelnd: »So in Gedanken, Norma?«

»Ich habe gerade an meine Zwillinge gedacht, Jonas.«

»Sie wissen noch nichts von mir, nicht wahr? Ich würde die beiden Jungen gern einmal kennenlernen.«

»Ich habe nur eine Andeutung gemacht, daß ich von einem lieben Freund zum Konzert abgeholt werde. Und wenn Sie meine beiden Jungen wirklich kennenlernen möchten, wie wäre es dann mit nächsten Samstagabend? Ich möchte Sie gern zu uns zum Abendessen einladen. Werden Sie kommen? Natürlich werde ich mit meinen beiden über Sie sprechen und sie auf den Besuch vorbereiten.«

»Ich werde sehr gern kommen, Norma. Ich freue mich darauf, endlich Ihre Kinder kennenzulernen. Wir werden uns nach dem Konzert noch ein gutes Weinlokal suchen und über diese Dinge reden. Ich habe Ihnen noch so vieles zu sagen. Sind Sie einverstanden? Bitte, sagen Sie jetzt nicht nein.«

»Ich bin einverstanden, Jonas.«

Ein herrliches Glücksgefühl, so wie sie es schon lange nicht mehr erlebt hatte, erfüllte Norma plötzlich. Wie wunderbar wäre es, wenn auch sie wieder ein neues Glück finden würde!

Da sie sich inzwischen schon in unmittelbarer Nähe der Stadthalle befanden, brauchte Jonas seine ganze Aufmerksamkeit, um sich auf den Verkehr zu konzentrieren, und um einen Parkplatz zu finden.

Norma blieb dadurch Zeit, sich ihrem neuen Gefühl zu widmen.

Es war schon seltsam, aber zum ersten Mal interessierte sich Norma nicht für das wirklich ausgezeichnete Konzert, und genauso erging es dem Mann an ihrer Seite. Noch bevor das Konzert zu Ende war, bat sie leise: »Können wir nicht gehen, Jonas?«

»Ja, wir gehen. Ich wollte es auch gerade vorschlagen. Wir suchen uns ein ruhiges, stilles Plätzchen, an dem wir uns ungestört unterhalten können. Ich möchte mit Ihnen allein sein.«

Wenig später saßen sich Jonas und Norma in einer kleinen Nische eines gemütlichen Weinlokals gegenüber.

Bis der Kellner den bestellten Wein brachte, schwiegen sie beide. Erst als das goldgelb schimmernde Getränk in den Weinkelchen funkelte, hob Jonas Norma das Glas entgegen und sagte weich und werbend: »Es macht mich unendlich glücklich, daß ich jetzt hier mit Ihnen zusammensein darf, Norma.« Abwechselnd zog er ihre Hände an seine Lippen und fuhr fort: »Ich kann und will es nicht länger für mich behalten. Ich liebe dich, Norma. Ich liebe dich, wie ich noch nie vorher eine Frau geliebt habe. Ich möchte, daß du meine Frau wirst. Ich sehe es in deinen Augen, daß du genauso fühlst. Ich irre mich doch nicht, oder?«

»Nein, Jonas, du irrst dich nicht. Ich habe erkannt, daß ich dich liebe, obwohl ich mich erst dagegen gewehrt habe. Ja, ich liebe dich von ganzem Herzen.«

»Für diese Worte danke ich dir, und ich verspreche dir, du wirst es nie bereuen. Willst du meine Frau werden?«

»Ja, ich will, Jonas. Aber laß uns bitte noch etwas Zeit, ich muß doch zuerst Sascha und Ingo auf dich und unser neues Leben vorbereiten. Das siehst du doch ein, nicht wahr?«

»Ich laß dir Zeit, Norma, aber bitte, laß mich nicht zu lange warten.« Jonas beugte sich über den kleinen Tisch, umschloß ihr Gesicht mit beiden Händen und hauchte einen sanften Kuß auf ihre lockenden Lippen.

»Ich liebe dich, ich liebe dich sehr.«

*

Es war schon heller Tag, als Norma Günter das Zimmer ihrer beiden Jungen betrat und fröhlich rief: »Hallo, raus aus den Federn, ihr zwei Langschläfer, es wird langsam Zeit zum Aufstehen. Ihr wollt doch wohl nicht den ganzen Tag verschlafen?«

Sascha und Ingo fuhren mit einem Ruck hoch. Während sich Ingo nur verschlafen die Augen rieb, murrte Sascha: »Warum weckst du uns, Mutsch? Du hast doch versprochen, daß wir beide heute einmal so richtig ausschlafen dürfen.«

»Na und, mein Sohn? Es ist schon fast Mittag. Ich habe in einer halben Stunde das Mittagessen fertig. Habe ich euch etwa nicht ausschlafen lassen?«

»Und Frühstück, Mutsch?«

»Fällt heute aus.«

»Dann bleibe ich auch noch eine halbe Stunde im Bett.«

»Nichts da, das könnte dir so passen. Raus aus den Federn.«

Lachend zog Norma Sascha die Bettdecke weg. Als sie das gleiche bei Ingo tun wollte, sprang dieser eilig aus seinem Bett und ins Badezimmer hinüber. Sascha maulte zwar weiter, stand aber auch auf und folgte seinem Bruder ins Bad.

Nach dem Essen wollte Norma von ihren Buben wissen: »Was machen wir heute nachmittag? Hier daheim herumbummeln, so richtig faulenzen, oder habt ihr Lust, mit mir eine Autofahrt zu machen? Vielleicht habt ihr auch etwas anderes vor?«

»Ich möchte ins Kino, Mutsch. Ingo kann ja mitgehen. In der Schauburg zeigen sie den zweiten Teil von der Unendlichen Geschichte. Bitte, Mutsch, sei kein Spielverderber, laß uns hingehen. Der Film soll echt klasse sein. Der Oliver war schon am Freitag mit seinem Bruder drin. Die Vorstellung fängt um sechzehn Uhr an.«

»Meinetwegen, ich spendiere euch sogar außerhalb eures Taschengeldes das Geld fürs Kino. Aber da wäre noch etwas anderes, über das ich unbedingt noch heute mit euch reden möchte. Es ist für mich sehr, sehr wichtig. Kommt mit ins Wohnzimmer, setzt euch zu mir. Es dauert auch nicht lange.«

Während Ingo wenige Augenblicke später seine Mutter nur neugierig ansah, platzte Sascha heraus: »Was willst du uns denn sagen, Mutsch? Geht es um den fremden Mann, der dich gestern für das Konzert abgeholt hat?«

»Genau, mein Junge. Es ist auch kein fremder Mann, sondern für mich ein sehr lieber Freund, den ich für den kommenden Samstag zu uns eingeladen habe. Er heißt Jonas Carlson und möchte euch gern kennenlernen. Ihr werdet ihn bestimmt mögen, wenn ihr ihn erst einmal kennt.«

»Warum, Mutsch? Wir brauchen ihn nicht«, kam es heftig über Saschas Lippen, und seine Augen blitzten Norma trotzig an.

»Sascha, bitte, nicht in einem solchen Ton. Die Einladung steht, und ich hoffe doch, daß ihr euch am nächsten Samstag anständig benehmt. Das gilt für euch beide, auch für dich, Ingo. Lernt Herrn Carlson erst einmal kennen, danach werden wir weitersehen.«

Eigentlich hatte Norma ihren beiden Buben schon etwas mehr über Jonas sagen wollen, aber Saschas trotzige Augen und Ingos tief gesenkter Kopf ließen sie schweigen. Sie hielt es nun doch für ratsamer, noch zu warten und erst den Besuch des geliebten Mannes abzuwarten. Es konnte ja sein, daß Jonas den beiden gefiel und erst gar keine weiteren Probleme entstanden.

*

Eine Woche verging, in der nach außen hin alles ruhig schien. Sascha und Ingo gingen zur Schule, machten nach dem Mittagessen ihre Hausaufgaben und trafen sich anschließend mit ihren Freunden zum Spielen und Herumtollen.

Es fiel Norma jedoch auf, daß ihr beide aus dem Weg zu gehen schienen. Von Sascha war sie es ja gewöhnt, daß er jede freie Minute mit seinen Freunden draußen herumtobte. Aber bei Ingo war es etwas anderes. Er, der an manchen Tagen nicht aus der Wohnung herauszubekommen war, hatte in dieser Woche sein Verhalten geändert. Er war schneller als Sascha mit seinen Hausaufgaben fertig und verließ als erster die Wohnung.

Norma unterließ es jedoch, den beiden Jungen irgendwelche Fragen zu stellen. Sie selbst sah dem Samstag mit einem guten Gefühl entgegen. Der Gedanke, an diesem Abend den geliebten Mann wiederzusehen, machte sie glücklich. Sie rechnete einfach nicht damit, daß ihr ihre beiden Jungen ernsthaft Schwierigkeiten machen würden. Die Jungen waren vor zwei Monaten dreizehn Jahre alt geworden und somit keine kleinen Kinder mehr. Norma hoffte, daß sie mit dreizehn Jahren vernünftig genug waren. Bis zu diesem Zeitpunkt war es jedenfalls der Fall gewesen.

So kam der Samstag, an dem die Jungen zudem auch keinen Schulunterricht hatten.

»Dürfen wir heute vormittag zum Schwimmen, Mutsch?« fragte Ingo.

»Natürlich, wenn ihr unbedingt wollt. Ich dachte nur, wir würden gemeinsam zum Einkaufen fahren«, antwortete Norma ein wenig überrascht.

»Och, Mutsch, kannst du das nicht einmal allein machen? Ich finde Einkaufen doof.«

Es war Sascha, der das gesagt hat und seine Mutter dabei trotzig ansah.

»Ich habe doch gesagt, daß ihr zum Schwimmen dürft.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte sie hinzu: »Es ist jetzt halb zehn vorbei. Sagen wir, ihr könnt bis vierzehn Uhr wegbleiben. Wir essen heute etwas später. Heute nachmittag bleibt ihr dann schön im Haus. Ihr habt sicher nicht vergessen, daß wir heute abend einen lieben Gast erwarten. Alles andere habe ich euch ja schon erklärt.«

»Lieber Gast, Mutsch?« fragte Sascha mit abweisender Stimme.

»Ja, Sascha, ein lieber Gast. Ich muß mich da wohl nicht wiederholen, nicht wahr? Und jetzt geht zum Schwimmen. Es gibt für mich noch einiges zu tun und vorzubereiten. Schwirrt schon ab, ihr beiden.«

Bis die Jungen zurück waren, hatte Norma alle Hände voll zu tun. Die Wohnung mußte in Ordnung gebracht, die Einkäufe erledigt werden. Dazu mußte sie noch einige Vorbereitungen für den Abend treffen. Sie war gerade mit der Zubereitung des Mittagessens fertig, als Sascha und Ingo an der Wohnungstür klingelten. Vom Schwimmen hungrig geworden, ließen sie es sich beide gut schmecken.

Sofort nach dem Essen zogen sich die Jungen in ihr Zimmer zurück, und Norma ließ sie gewähren.

Als sie zwischendurch mal ins Zimmer schaute, um nach den Jungen zu sehen und zu fragen, ob sie einen Wunsch hätten, fuhren die beiden wie zwei ertappte Sünder auseinander. Es erstaunte sie zwar, trotzdem zog sie sich, ohne Fragen zu stellen, zurück.

Ihre beiden schienen zum ersten Mal vor ihr ein Geheimnis zu haben. Sie hatte auch keifte Zeit, lange darüber nachzudenken. Sie mußte die letzten Vorbereitungen für das Abendessen treffen, weil sie unbedingt vor dem Umkleiden noch ein heißes Bad nehmen wollte.

Für Sascha und Ingo hatte sie schon die Sonntagskleidung herausgelegt, bevor diese vom Schwimmen zurückgekommen waren.

Bevor sie ins Bad ging, klopfte sie an die Kinderzimmertür an und rief, ohne hineinzugehen: »Es wird Zeit für euch, ihr müßt euch langsam umziehen. In einer Dreiviertelstunde kommt unser Gast.«

Das heiße Bad tat so gut, daß Norma sich hinterher doch noch beeilen mußte, um fertig zu werden. Sie warf noch rasch einen Blick ins Wohnzimmer auf den hübsch gedeckten Tisch, denn wenn Jonas pünktlich war, müßte es jeden Moment klingeln.

Ungeduldig rief sie in Richtung Kinderzimmer: »Sascha, Ingo, seid ihr noch nicht fertig?«

Als keine Antwort kam, wollte sie selbst nachsehen, aber in diesem Moment klingelte es, und ihr blieb keine Zeit, die beiden Jungen aus dem Zimmer zu holen. Nach einem kontrollierenden Blick in den Spiegel eilte sie zur Wohnungstür und betätigte den Öffner. In der geöffneten Wohnungstür wartete sie auf Jonas.

Norma fühlte sich wie ein junges Mädchen bei ihrem ersten Stelldichein. Ihr Herz klopfte glücklich, als Jonas auf sie zutrat, ihr einen Strauß herrlicher dunkelroter Rosen reichte und mit dunkler Stimme sagte: »Endlich, Liebes, ich habe dich vermißt.« Rasch beugte er sich vor und hauchte einen zärtlichen Kuß auf ihre Lippen.

Einen Moment lang vergrub Norma ihr Gesicht in der duftenden Blütenpracht, dann sagte sie leise: »Auch für mich war die Woche sehr lang. Komm bitte herein.« Sie führte ihn ins Wohnzimmer.

»Und wo sind deine Söhne, Liebes?«

»Sie stecken noch in ihrem Zimmer. Ich stelle rasch die Blumen in eine Vase und hole Sascha und Ingo. Bitte schenk dir einen Cognac ein und fühle dich wie zu Hause.«

Während Norma leichten Schrittes hinausging, sah Jonas Carlson sich anerkennend um. Ihm gefiel der mit viel Geschmack eingerichtete Wohnraum sehr gut. Er fühlte sich auch sofort wohl in dieser Umgebung. Gespannt war er auf die dreizehnjährigen Zwillinge. Wenn sie nur ein wenig ihrer Mutter ähnelten, würde er sicher sehr gut mit ihnen auskommen. Er würde das Versprechen, den beiden Jungen ein guter Vater und Freund zu werden, das er Norma bei ihrem letzten Treffen gegeben hatte, einhalten.

Plötzlich horchte Jonas auf, denn aus der Diele hörte er die geliebte Frau entsetzt sagen: »Was ist denn bloß in euch gefahren? Wie könnt ihr mir das nur antun?« Gleich darauf betrat sie, zwei Jungen vor sich herschiebend, erneut das Wohnzimmer. Mit einem hilflosen Lächeln sagte sie: »Das sind meine beiden Buben, Jonas. Entschuldige bitte ihren Aufzug. Ich weiß auch nicht, was plötzlich in die beiden gefahren ist.«

Jonas sah sofort, was die geliebte Frau so aus der Fassung gebracht hatte. Die beiden Burschen hatten es wohl darauf angelegt, ihn zu provozieren. Das strohblonde Haar stand wuschelig nach allen Seiten ab. Dazu trugen wohl beide ihre ältesten Jeanshosen und Pullis, die wahrscheinlich schon den Korb für Schmutzwäsche von innen gesehen hatten.

Jonas mußte sich ein Schmunzeln verbeißen, denn was sie bezwecken wollten, war zu offensichtlich. Er tat, als sei ihr Aufzug das normalste von der Welt, und sagte mit einem offenen, herzlichen Lächeln zu ihnen: »Guten Abend, ihr zwei. Ihr seid also Sascha und Ingo? Ich freue mich, euch endlich persönlich kennenzulernen, denn eure Mutter hat mir schon sehr viel von euch erzählt. Ich heiße Jonas Carlson.« Mit einem herzlichen Lächeln streckte er ihnen seine Rechte entgegen.

Abweisend sah Sascha ihn an, reichte ihm jedoch, die Blicke seiner Mutter im Nacken fühlend, seine Hand und sagte höflich: »Guten Abend, Herr Carlson.«

Nachdem auch Ingo dem Beispiel des Bruders gefolgt war, sagte Norma traurig: »Eigentlich sollte ich euch ja zur Strafe in euer Zimmer zurückschicken.«

Doch Jonas sagte beschwichtigend: »Wir sollten es nicht so eng sehen, Norma, sie sind eben noch Kinder.«

Sofort blitzte es aggressiv in Saschas blauen Augen auf, aber ein Blick Normas und eine Handbewegung, sich hinzusetzen, ließen ihn gehorchen.

Was die beiden sich da geleistet hatten, traf Norma sehr, und sie mußte sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen.

Jonas, der ihre Verfassung erkannte, versuchte sofort, die beiden Jungen in ein Gespräch zu verwickeln, damit Norma sich wieder fassen konnte. Er erzählte, daß er in der Heide ein großes Gut besaß, das er mit seinen Eltern bewohnte, und von den Tieren auf dem Gut. Er war aber doch ziemlich der Alleinunterhalter, denn von sich aus sprachen weder Sascha noch Ingo. Und auch auf Jonas’ Fragen gaben sie nur ganz spärliche Antworten.

Kaum hatten Sascha und Ingo den letzten Bissen hinuntergeschluckt, fragte Sascha: »Dürfen wir jetzt wieder in unser Zimmer gehen, Mutsch?«

»Ja, ihr dürft. Verabschiedet euch von Herrn Carlson, und dann ab mit euch. Ihr dürft euch Gedanken darüber machen, was ihr euch heute abend geleistet habt. Wir unterhalten uns noch mal darüber.«

»Einen Moment, Norma. Ich wollte den beiden noch sagen, daß meine Mutter euch alle drei herzlich eingeladen hat, uns am nächsten Sonntag auf dem Carlsonhof zu besuchen. Sascha, Ingo, wäre das nichts für euch? Einmal aus der Stadt heraus und sich die Tiere bei uns auf dem Hof anschauen? Ich habe euch doch vorhin erzählt, daß wir sehr schöne Reitpferde haben. Außerdem wird eine unserer Stuten schon in allernächster Zeit ein Fohlen bekommen. Mein alter Herr reitet noch jeden Morgen sehr früh über die Wiesen und Felder. Selbst jetzt im Herbst. Ihr könnt das Reiten auch lernen. Es wird euch ganz bestimmt gut gefallen. Ihr könnt es ja reichlich überschlafen, und ich werde mit eurer Mutter alles genau absprechen.«

»Dürfen wir jetzt in unser Zimmer, Mutsch?«

»Ja, ihr könnt jetzt in euer Zimmer gehen. Ich komme später noch einmal zu euch.«

Die beiden Jungen waren schon an der Tür, da sagte Norma mahnend: »Sascha, Ingo, habt ihr nicht etwas vergessen? Ich muß mich ja für euch schämen.«

Mit betretenen Gesichtern gingen beide nun zu Jonas und verabschiedeten sich. Danach hatten sie es jedoch sehr eilig, den Raum zu verlassen.

*

Schweigend räumte Norma den Tisch ab und brachte das benutzte Geschirr in die Küche hinüber. Als sie zurück kam, hatte Jonas die bereitstehende Flasche Wein geöffnet und zwei Gläser gefüllt. Er zog sie an seine Seite und fragte leise: »Was ist mit dir, Liebes? Du mußt dir das mit deinen beiden Buben nicht so zu Herzen nehmen. Sie sind doch noch Kinder.«

»Ich verstehe es einfach nicht, Jonas. Ich weiß nicht, was auf einmal mit den beiden los ist, was in sie gefahren sein kann. Sie sind in Wirklichkeit ganz anders. Sie haben mich heute so richtig blamiert.«

»So darfst du es nicht sehen, Liebes. Du warst in den vergangenen Jahren mit deinen beiden Söhnen allein. Dein ganzes Denken und Handeln hat sich nur um sie gedreht. Ich bin in eurer Gemeinschaft sozusagen ein Fremdkörper, gegen den sie erst einmal den Aufstand proben. Ein Fremder, an den sie sich gewöhnen müssen. Für Burschen in diesem Alter ist das keine leichte Sache. Es ist schade, aber es geht wohl nicht ganz so problemlos, wie wir es uns gewünscht haben. Komm, denk nicht daran. Stoß mit mir auf uns an. Alles andere wird sich schon mit der Zeit regeln lassen.«

Jonas hob Norma sein Glas entgegen und sagte mit einem zärtlichen Lächeln: »Auf uns, auf unser Glück, mein Liebes.«

»Auf unser Glück, Jonas.«

Nachdem Jonas sich an diesem Abend von Norma verabschiedet hatte, betrat diese leise das Kinderzimmer, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war und beide schliefen. Zu ihrer Verblüffung waren beide noch hellwach.

»Was ist denn mit euch los, warum schlaft ihr noch nicht?«

»Ist er endlich weg, Mutsch?« fragte Sascha dagegen, und auch jetzt lag Abweisung in seiner Stimme.

»Wenn du Herrn Carlson meinst, ja, er ist heimgefahren. Da ihr beide noch wach seid, kann ich auch sofort mit euch reden. Ich muß euch sagen, daß ihr mich sehr enttäuscht habt. Was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht, euch wie zwei ungezogene Kinder zu benehmen? War euch denn nicht klar, daß ihr mir damit sehr wehtut? Man kann doch einen Menschen nicht ablehnen, bevor man ihm die Chance gegeben hat, ihn richtig kennenzulernen, ich möchte darauf gern eine Antwort haben.«

»Wir brauchen ihn nicht, Mutsch. Sag ihm, daß er nicht mehr kommen soll. Und zu ihm fahren, zu all den dummen Schweinen und Kühen, wollen Ingo und auch ich nicht. Nun sag schon, Ingo, daß du es auch nicht willst. Du bist überhaupt nicht mehr lieb, wenn du unseren Paps schon vergessen hast.«

Einen Moment war Norma betroffen von der Aggression, die in Saschas Stimme gelegen hatte. Sie zwang sich zur Ruhe und zu einem Lächeln und sagte: »Ingo, komm doch bitte einen Augenblick zu Sascha und mir.« Sie wartete bis Ingo unter Saschas Bettdecke gekrochen war, dann beugte sie sich zu ihnen und sagte weich: »Ich habe Paps nicht vergessen, und so wird es auch bleiben. Wir alle drei haben ihn sehr lieb gehabt. Ihr beide seid aber groß genug, um zu verstehen, daß das Leben für uns alle weitergeht. Ich verlange von euch ja nicht, daß ihr ihn deswegen vergessen sollt. Und was Jonas Carlson angeht, ist er der Mann, den ich sehr mag, bei dem ich ein neues Glück gefunden habe. Jonas liebt mich und hat mich gebeten, seine Frau zu werden. Wir werden bald wieder eine glückliche Familie sein und in naher Zukunft für immer auf dem Carlsonhof leben.«

»Nein, Mutsch, das darfst du nicht, ich will es nicht. Es ist doch hier bei uns auch schön. Ich gehe nicht fort. Hier sind alle meine Freunde. Ich hasse ihn! Er darf dich uns nicht fortnehmen.«

»Sascha, jetzt ist es aber genug. Niemand nimmt euch mich fort. Du führst dich unmöglich auf. Bist du dreizehn oder bist du erst drei Jahre alt?«

Als Sascha trotzig den Kopf abwandte, fragte Norma leise: »Und du Ingo, denkst du auch so wie dein Bruder?«

»Ich will auch keinen Stiefvater, und, und…«

»Jonas will doch euer großer Freund werden. Versteht ihr mich denn nicht? Wir fahren nächste Woche zum Carlsonhof, und damit Ende der Diskussionen. Ich erwarte, daß ihr euch wie zwei vernünftige, wohlerzogene Jungen benehmt, dann will ich den heutigen Abend vergessen. Und ich werde Jonas auf jeden Fall heiraten. Es liegt an euch, ob eure Mutsch wieder glücklich wird. Schlaft jetzt und werdet endlich wieder vernünftig. Ich möchte mich nicht noch einmal für euch schämen müssen. Ich möchte doch, daß wir alle glücklich werden. Ihr wollt sicher nicht, daß ich eine einsame, verbitterte Frau werde. Ihr werdet älter, werdet später euer eigenes Leben leben. Ich aber würde dann ganz allein sein. Nur die Erinnerung an euren Paps, damit kann ich nicht zufrieden sein. Eines Tages werdet ihr beiden das verstehen. Gute Nacht, für euch wird es nun Zeit zum Schlafen.« Abrupt erhob Norma sich und verließ mit raschen Schritten das Zimmer ihrer Zwillinge, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, etwas auf ihre letzten Worte zu erwidern.

*

Norma Günter sah auf die Uhr. Langsam wurde sie ungeduldig. Jonas würde gleich kommen, um sie und die Jungen abzuholen, und die beiden waren immer noch nicht fertig. Kurz­entschlossen öffnete sie die Tür zum Kinderzimmer.

»Sascha, was soll das? Du bist ja noch immer nicht fertig. Wenn du jetzt nicht bald voran machst, ziehe ich dich eigenhändig um. Du kannst dich doch nicht so sehr dagegen sperren, du fährst mit zum Carlsonhof. Jonas wird in wenigen Minuten hier sein und uns abholen.«

»Ich will aber nicht mit in dieses blöde Kuhdorf, ich will nicht mit. Fahr doch mit Ingo allein und laß mich hier zu Hause. Ich bleibe auch ganz bestimmt in meinem Zimmer.«

»Nein, wir sind alle eingeladen, wir werden auch alle drei fahren. Ich will kein Wort mehr darüber hören, hast du mich endlich verstanden? Jetzt will ich, daß du in fünf Minuten fertig bist. Keine Minuten später.«

Norma wollte noch etwas sagen, aber in diesem Moment schrillte die Wohnungsklingel laut und anhaltend.

»Das wird Jonas sein. Also, meine Herrschaften, auf geht’s. Ich freue mich riesig darauf, den Ort kennenzulernen, wo Jonas lebt und großgeworden ist. Was ich von euch vom heutigen Tag erwarte, muß ich ja bestimmt nicht mehr wiederholen, oder?«

Während der Fahrt nach Wismor interessierte sich Ingo für die auch jetzt im Spätherbst noch immer sehr reizvolle Landschaft. Nur Sascha kümmerte sich nicht darum, sondern starrte die ganze Zeit nur mißmutig vor sich hin. Durch kurze Blicke verständigten sich Norma und Jonas, Sascha in Ruhe zu lassen, ihn einfach nicht zu beachten.

Gegen dreizehn Uhr hatten sie ihr Ziel erreicht und fuhren vor dem Wohnhaus des Carlsonhofes vor.

»So, Norma, wir sind da. Herzlich willkommen«, sagte Jonas lächelnd und öffnete die Wagentür. Dann war er der jungen Frau beim Aussteigen behilflich. Im selben Moment wurde die höhe Eingangstür des Wohnhauses geöffnet, und Jonas’ Eltern traten auf das obere Podest der Freitreppe. Jonas legte den Arm um Norma, die die beiden Jungen an der Hand hielt und stieg mit ihnen die Treppe hinauf.

»Hallo, Mutter, Vater, hier bringe ich euch meine zukünftige Frau und ihre Buben.«

Das offene und herzliche Lächeln in den Gesichtern der beiden älteren Leute ließ Norma erleichtert aufatmen.

»Herzlich willkommen auf dem Carlsonhof«, wurden sie von Frau Carlson begrüßt.

Dann sagte Jonas’ Vater mit polternder Stimme, ein fröhliches Lachen in den Augen, zu den beiden Jungen: »Guten Tag! Ihr zwei seid ja wohl Sascha und Ingo, nicht wahr? Ich bin für euch der Opa Carlson, einverstanden?«

Da wußte Norma, daß das Eis gebrochen war.

Hartmut Carlson legte jedem der beiden Buben einen Arm um die Schulter und führte die beiden, gefolgt von den anderen, ins Haus.

Jonas’ zierliche Mutter drängelte sich zu ihrem Mann vor und sagte: »Nicht so eilig Vater. Laß mich die beiden Buben wenigstens begrüßen, bevor du sie völlig mit Beschlag be­legst.«

Schmunzelnd blieb Hartmut mit Sascha und Ingo stehen, die nun ebenfalls mit überschwenglicher Herzlichkeit von Jutta Carlson begrüßt wurden.

Nach dem Mittagessen blieb Norma bei Jutta Carlson im Haus zurück, um sich mit ihr zu unterhalten. Die beiden Männer gingen mit Sascha und Ingo hinaus, um mit ihnen durch die Stallungen zu gehen und ihnen auch alles, was noch zum Carlsonhof gehörte, zu zeigen.

Bei den kleinen Tieren hielt Ingo sich noch tapfer, als sie jedoch die Pferdestallungen betraten, blieb der Junge dicht an Jonas’ Seite. Vor diesen großen, unwillig schnaubenden Tieren wich er ängstlich zurück.

Sascha dagegen war begeistert von den Pferden, und zum erstenmal, seitdem sie angekommen waren, stellte er von sich aus Fragen, die Hartmut Carlson geduldig beantwortete.

»Möchtest du es gern einmal versuchen, Junge? Glaube mir, es ist ein herrliches Gefühl, auf dem Rücken eines Pferdes über die Wiesen zu reiten. Unsere Tula ist lammfromm. Ich lege ihr den Sattel auf, dann kannst du es ja mal versuchen. Und du, Ingo, hast du auch Lust?«

»Nein, ich will nicht, ich schaue lieber zu.«

»Du hast doch wohl keine Angst?«

»Habe ich doch, sogar ganz mächtige Angst. Mich bekommt niemand auf so ein Pferd hinauf.«

»Wie du willst, mein Junge. Wir haben ja auch noch kleinere Tiere. Ich zeige dem Sascha jetzt, wie man reitet, und der Jonas zeigt dir derweil schon die anderen Tiere. Wir treffen uns später wieder alle im Haus.«

Jonas, der von Norma wußte, daß Ingo ein sehr empfindlicher und überängstlicher Junge war, ging auch nicht weiter auf die Pferde ein. Während er mit ihm weiterging, fragte er wie beiläufig: »Wie gefällt es dir denn auf dem Carlsonhof? Im Frühling und im Sommer ist alles noch viel schöner. Wenn der Duft von frischgeschnittenem Heu in der Luft liegt, wenn alles blüht, und wächst, ist es in der Heide wunderschön.«

»Es gefällt mir sehr gut, Herr Carlson, solange ich nicht auf ein Pferd muß.«

»Geh, Ingo, kein Mensch wird dich dazu zwingen, wenn du es nicht selbst willst. Aber weißt du was? Ich bitte dich, nenn mich doch einfach nur Jonas. Herr Carlson klingt so fremd, und ich möchte doch dein und Saschas großer Freund sein.«

»Der Sascha will aber nicht von zu Hause fort. Er hat gesagt, daß er…« Mitten im Satz stockte Ingo und preßte die Lippen aufeinander.

»Und du, Ingo?« überging Jonas das Stocken des Jungen.

»Ich weiß nicht. Es gefällt mir, das habe ich ja schon gesagt, aber ich will auch nicht, daß unsere Mutsch den Paps vergißt.«

»Ich verlange ja nicht, daß eure Mutter euren Vater vergißt. Er wird für sie immer eine Erinnerung an eine schöne und glückliche Zeit bleiben, denn sie hat ja dich und Sascha. Ihr seid mit euren dreizehn Jahren doch kluge und aufgeweckte Jungen. Ein solcher Verlust schmerzt manchmal sehr lange, aber dennoch geht das Leben für den Zurückbleibenden weiter. Er verliebt sich wieder in einen Menschen und findet ein neues Glück. Das ist etwas ganz Normales. Eure Mutter ist noch jung, sie hat ein neues Glück verdient. Sie nimmt doch niemandem etwas dadurch. Ihr dürft von ihr nicht verlangen, daß sie jetzt ein Leben lang allein bleiben muß. Ist euch denn eine fröhliche und ausgeglichene Mutter nicht lieber als eine traurige?«

»Darüber habe ich in den vergangenen Tagen auch schon nachgedacht. Ich sehe ein, daß da etwas dran ist. Außerdem können Sascha und ich es sowieso nicht verhindern, daß Mutsch dich heiratet, Jonas. Aber auf mich hört der Sascha ja nicht die Bohne. Ich will mich auch deswegen nicht immer mit ihm streiten.«

»Ich glaube, du bist ein ganz cleverer Junge, Ingo. Also erst einmal Frieden, ja? Der Sascha wird bestimmt auch noch herausfinden, daß ich für euch beide nur das Beste will. Kein Stiefvater, der euch nur herumkommandiert, sondern ich möchte euer großer Freund sein, zu dem ihr mit allen Sorgen und Problemen kommen könnt. So, und nun zeig ich dir noch unseren Harras, danach gehen wir wieder zu den anderen ins Haus zurück.«

»Harras, wer ist denn das? Klingt wie der Name eines Hundes.«

»Genauso ist es auch. Harras ist unser Hofhund. Die große Hundehütte vor dem Wohnhaus drüben, die hast du ja gesehen. Harras ist ein sehr treues Tier. Im Augenblick befindet er sich beim alten Klasen, das ist einer unserer Arbeiter. Vor zwei Wochen war Harras im Wald in eine Fuchsfalle geraten und mußte sogar operiert werden. Inzwischen geht es ihm aber schon wieder besser. Er kommt in einigen Tagen wieder zu uns. Er kommt aber nicht mehr in die Hütte, sondern zu uns ins Haus. Als Hofhund bekommen wir ein anderes Tier von Bekannten.«

»Und warum durfte der Harras nicht bei euch im Haus bleiben, als er so krank war? Hat er euch gestört?«

»Aber nein, wo denkst du hin, Ingo. Hältst du uns wirklich für so herzlos? Wir haben ihn beim alten Klasen gelassen, weil dieser es so wollte, und weil er nur noch ein paar Stunden am Tag arbeitet und somit viel Zeit für die Pflege hatte. Komm, sehen wir nach, wie es ihm heute geht.«

Ingo hielt sich zwar ein wenig ängstlich zurück, als sie einige Augenblicke später in die Kammer des alten Klasen traten und Harras sofort schwanzwedelnd auf Jonas zukam, doch schon wenig später hatte er den Mut, das Tier zu streicheln. Daß dabei trotzdem sein Herz etwas schneller klopfte, das sah ja zum Glück niemand.

*

Vier Wochen waren inzwischen seit diesem ersten Besuch auf dem Carlsonhof vergangen. Seit einer Woche waren Norma und Jonas ein Ehepaar. In der kleinen Dorfkirche von Wismor hatten sie sich das Jawort gegeben. Auf Wunsch von Norma hatte es im Anschluß an die Trauung nur eine kleine Feier im engsten Familienkreis gegeben, denn sie wollte wegen der beiden Buben alles vermeiden, was den schönen Tag stören konnte. Obwohl es danach von Saschas Seite aus Tränen und sogar richtiggehende Wutausbrüche gegeben hatte, war der Umzug von Lüneburg nach Wismor ohne größere Schwierigkeiten über die Bühne gegangen. Wenn auf der einen Seite Sascha noch immer sehr abweisend gegenüber Jonas war, so hatte sich das Verhältnis zwischen Jonas und Ingo inzwischen noch mehr verbessert.

An diesem Vormittag war Jonas mit den beiden Jungen unterwegs. Er war mit ihnen nach Celle gefahren, um sie in ihrer neuen Schule anzumelden. Mit verbissenem Gesicht saß Sascha neben Ingo hinten im Fond des Wagens. Jonas, der hin und wieder einen kurzen Blick in den Rückspiegel warf, schüttelte den Kopf. Was immer er auch tat und sagte, er kam Sascha einfach nicht näher.

Um den Jungen aus seiner Verbissenheit herauszuholen, sagte er in gewollt fröhlichem Ton: »Was ist mit dir, Junge? Du ziehst schon wieder ein Gesicht, als würde man dich wer weiß wohin bringen. Es ist doch nur eine andere Schule, in der ihr beide angemeldet werdet. Es gibt auch hier in Celle nette Burschen in eurem Alter. Seht es doch beide einmal von der positiven Seite. Ihr lernt neue Menschen kennen und ihr findet darunter auch sicher wieder nette Freunde. Ich verlange von euch auch nicht, eure alten Freunde ganz aufzugeben, denn gute Freunde sind etwas sehr Schönes. Lüneburg ist für euch auch in Zukunft nicht aus der Welt, und der Carlsonhof ist groß genug. Ihr könnt eure Freude zu jeder Zeit zu uns einladen. Nun, was sagt ihr dazu, Sascha, Ingo?«

»Ich will nicht hier bleiben, ich will auch keine neue Schule. Ich will wieder in meine alte Schule, ich will nach Hause. Wenn ich hier in die olle Schule muß, dann lerne ich überhaupt nicht mehr«, kam es trotzig über Saschas Lippen. »Ich werde schon allein zurechtkommen. Ich bin ja schließlich kein kleines Kind mehr.«

»Hör schon endlich auf zu meckern, Sascha, und fang nicht an zu spinnen. Ich meine, daß du froh sein kannst, daß der Jonas so schwer in Ordnung ist«, fuhr Ingo seinen Bruder heftig an.

Doch der konterte böse: »Du laß mich in Ruhe. Du bist mir ein feiner Bruder, mir immer wieder in den Rücken zu fallen. Du kannst dich darauf verlassen, daß ich mich dafür revanchieren werde. Sprich mich jetzt bloß nicht mehr an.«

»Wenn du es so willst, gut. Aber dreh jetzt bloß nicht völlig durch. Denk lieber an unsere Mutsch. Willst du ihr noch mehr Kummer machen?«

Sascha gab dem Bruder keine Antwort mehr, er sah nur stur aus dem Seitenfenster des Wagens hinaus. Da Jonas inzwischen das Schulgelände erreicht hatte, wollte er sich nicht in diese Auseinandersetzung der beiden Jungen einmischen. Er sagte nur: »Seid jetzt beide friedlich, wir sind da. Und du, Sascha, benimmst dich jetzt endlich wie ein dreizehnjähriger Junge.« Damit brachte er den Wagen zum Halten und stieg aus. Neben Sascha und Ingo betrat er wenig später das Schulgebäude.

Die Anmeldung, die Vorstellung des künftigen Klassenlehrers und der Rundgang durch die Schule nahm nicht allzuviel Zeit in Anspruch.

Als sie endlich alle drei wieder im Wagen saßen, fragte Jonas: »Was nun, Jungs? Nach Hause zurück, oder sollen wir noch eine Eisdiele aufsuchen? Ich weiß hier ganz in der Nähe eine, da gibt’s ein Supereis. Die hat das ganze Jahr über offen.«

»Ich will nach Hause«, kam es von Sascha, aber Ingo sagte sofort: »Ein Eis, das wär schon was Tolles, Jonas.«

»Prima, Jungs. Da ich auch für eine Erfrischung bin, siegt die Mehrheit. Also, auf zu Ginos Eisparadies.« Schon fuhr Jonas los, Saschas Abwehr einfach ignorierend.

»Was möchtet ihr denn gern?« wollte er wissen, nachdem sie in der Eisdiele an einem kleinen Ecktisch Platz genommen hatten, und sah Sascha und Ingo fragend an.

»Ein Spaghettieis, das mögen wir beide am liebsten«, antwortete Ingo für Sascha mit. Jonas bestellte zwei Portionen und für sich eine Cola.

Als Sascha jedoch weiter auf stur schaltete und nur auf seine Eisportion starrte, sagte Ingo: »Warte nur, bis wir wieder zu Hause sind. Ich werde Mutsch schon erzählen, wie du dich heute vormittag benommen hast.«

Einen Moment zögerte Sascha noch, dann begann er schweigend sein Eis zu löffeln.

Als sie alle drei fertig waren, sagte Jonas mit einem Blick auf seine Uhr: »So, Jungs, jetzt wird es langsam Zeit für uns, daß wir uns auf den Heimweg machen, sonst kommen wir noch zu spät zum Mittagessen. Ihr wißt jetzt, zwei Tage könnt ihr euch noch so richtig austoben, danach beginnt für euch wieder der Ernst des Lebens, nämlich der Schulunterricht. Ich werde mich noch genau nach den Fahrzeiten der Busse erkundigen, damit es für euch keine Probleme gibt. Da es jetzt im Spätherbst nicht mehr so viel auf den Feldern zu tun gibt, werde ich euch morgens zur Schule bringen. Ihr müßt den Bus dann nur für die Rückfahrt benutzen. Alles soweit klar?«

»Du würdest uns wirklich zur Schule bringen, Jonas? Das finde ich aber echt klasse von dir«, sagte Ingo begeistert und erntete damit erneut einen bösen Blick seines Zwillingsbruders, der sich ansonsten jedoch weiter in Schweigen hüllte. Jonas beglich die Rechnung, und sie gingen zu seinem Wagen. Eine knappe Stunde später waren sie wieder auf dem Carl­sonhof, wo man schon mit dem Mittagessen auf sie wartete.

*

In der Folgezeit spielte Sascha seinem Bruder Ingo, von dem er sich verraten fühlte, einen Streich nach dem anderen. Für ihn hatte Ingo das Handtuch zu schnell geworfen und ihn dadurch im Stich gelassen. Da sich Ingo inzwischen sehr zu seiner Oma Jutta hingezogen fühlte, suchte er nach diesen manchmal bösen Streichen, die Sascha ihm spielte, Schutz bei der lieben und warmherzigen Frau. Seine Mutsch damit zu behelligen, traute er sich nicht, denn er wollte ihr Kummer ersparen. Ingo fand es wunderbar, daß seine Mutsch wieder so glücklich war und den ganzen Tag mit strahlenden Augen im Haus umherging.

Hartmut Carlson hatte vor allen Dingen an Sascha einen Narren gefressen, dabei mochte er jedoch auch Ingo. In seiner etwas derben Art versuchte er, die beiden ungleichen Brüder einander wieder näherzubringen. Aber noch sperrte sich Sascha heftig dagegen. Das einzige, was ihn außer seinen Streichen interessierte, waren die Pferde. Vor allen Dingen eines der Pferde, auf diesem hatte er unter Anleitung des Opas schon ausgezeichnet reiten gelernt. Auf Quitos Rücken durfte er schon mehrfach den Opa auf seinen frühen Morgenritten begleiten. Von diesen Ausritten war er regelrecht begeistert.

Eines Tages, es war an einem Samstag, an dem die beiden Jungen keinen Schulunterricht hatten, machte sich Sascha die Angst seines Bruders vor Pferden für einen Streich zunutze. Ihm war da etwas eingefallen, womit er Ingo seinen Verrat heimzahlen konnte.

Saschas Pferd war schon gesattelt, und er selbst stand noch abwartend da, denn auch Hartmut Carlson war dabei, seinen schwarzen Hengst Arias für den Ausritt zu satteln. Aus einigem Abstand sah Ingo den beiden zu. Mit zusammengekniffenen Augen sah Sascha zu seinem Bruder hinüber. Plötzlich rief er ihm laut zu: »He, du feige Memme, hast du wirklich so viel Schiß, daß dich mein Pferd beißt? Ein Baby hat ja nicht so viel Angst wie du.«

»Laß den Ingo in Ruhe, Sascha. Wenn er sich nicht traut, dann geht das schon in Ordnung«, sagte Hartmut Carlson mit tadelnder Stimme.

»Ist doch wahr, Opa. Der Ingo ist schon immer so feige gewesen. Er ahnt ja überhaupt nicht, wie schön es ist, mit dir auszureiten.«

»Ich bin nicht feige, und ich bin auch keine Memme. Du willst mich ja nur beim Opa schlechtmachen.«

»Wenn du nicht feige bist, dann komm endlich her und beweise es.«

Hartmut Carlson, der Arias inzwischen gesattelt hatte, bemerkte, wie Ingo mit sich kämpfte, und sagte beruhigend: »Du mußt nichts beweisen, Ingo, wenn du nicht willst.«

Er erreichte mit seinen Worten genau das Gegenteil von dem, was er eigentlich hatte erreichen wollen. Ingos Gestalt straffte sich und, seinen ganzen Mut zusammennehmend, kam er zu Sascha und seinem Opa und sagte mit leicht schwankender Stimme: »Ich bin kein Feigling, Opa. Bitte, darf ich einmal auf Arias sitzen?«

»Arias ist heute etwas unruhig, Ingo. Nehmen wir lieber Saschas Pferd.«

»Nein, Opa, nicht Saschas Pferd, nur Arias.«

»Na, dann komm, mein Junge, ich helfe dir hinauf.«

Ingos Herz klopfte so wild, als ihm der Opa nun behilflich war, sich in den Sattel des Pferdes zu setzen. Er zeigte ihm, wie man beim Reiten die Zügel festhalten mußte.

Ganz plötzlich sagte Sascha: »So, jetzt kannst du ja zeigen, ob du kein Feigling bist.« Bevor überhaupt jemand reagieren konnte, gab Sascha Arias mit der schmalen Gerte, die er in der Hand hielt, einen leichten Schlag aufs Hinterteil.

Es war nur ein leichter Schlag, aber er kam für den sehr empfindlichen und an diesem Tag etwas unruhigen Arias so unverhofft, daß er hell aufwiehernd auf die Hinterhand hoch­stieg und dann in wildem Galopp davonpreschte.

Hartmut Carlson war entsetzt. Er hatte ja nicht ahnen können, daß Sascha in seinem Zorn auf Ingo nur auf eine Gelegenheit gewartet hatte, dem Bruder eines auszuwischen. Er schrie dem davongaloppierenden Hengst noch etwas nach, aber das durchgehende Tier reagierte nicht mehr.

»Um Gottes willen, was hast du bloß angerichtet, Junge? Gib dein Pferd her, ich muß Ingo hinterher. Lauf rasch ins Haus und sag dem Jonas Bescheid.«

Im Haus hatte Jutta Carlson vom Fenster aus zugesehen, wie ihr Mann Ingo in den Sattel geholfen hatte. Sie dachte gerade besorgt: Na, wenn das nur gutgeht, als sie auch schon die Bewegung sah, mit der Sascha dem Hengst den leichten Schlag versetzte, und wie Arias, wie von der Tarantel gestochen, im wilden Galopp vom Hof preschte.

»Jonas, Jonas, so komm schnell!« rief sie mit sich überschlagender Stimme durch die offene Zimmertür ins Haus. Schon einen Augenblick später kam Jonas zu seiner Mutter ins Zimmer gestürzt.

»Was ist denn los, Mutter? Du siehst ja aus, als ob du einen Geist gesehen hättest.«

»Schnell, Jonas, du mußt helfen. Arias ist mit Ingo im Sattel durchgegangen. O Gott, o Gott, dem Jungen darf nichts passieren. Ich glaube, Vater ist schon hinterher.«

»Wie konnte das passieren? Ingo würde doch niemals freiwillig…« Jonas brach ab und war im nächsten Moment aus dem Haus gerannt.

»Ist etwas passiert, Mutter? Wohin ist Jonas? Er hat mich fast umgerannt, so eilig hatte er es.«

Norma war ins Zimmer gekommen und trat nun zu ihrer Schwiegermutter ans Fenster. Sie sah gerade noch, wie sich Jonas auf den Rücken eines ungesattelten Pferdes schwang, das ihm einer der Stalljungen gebracht hatte, und vom Hof galoppierte.

Mit blassem Gesicht wandte sich Jutta Carlson um und sah Norma an.

»Du darfst dich jetzt nicht aufregen, Norma, aber es ist wirklich etwas Unerwartetes geschehen. Vaters Pferd ist mit Ingo im Sattel durchgegangen.«

Als Norma in die Diele trat, fiel ihr Blick sofort auf Sascha. Wie das leibhaftige schlechte Gewissen saß er auf der Treppe, die ins Obergeschoß führte. Mit ein paar schnellen Schritten stand sie vor ihm.

»Es ist also wirklich wahr, was mir die Oma gerade gesagt hat, Junge? Es ist Ingo, mit dem Opas Pferd durchgegangen ist?«

»Ja, Mutsch.«

»Wie konnte das passieren, Sascha? Ich will es ganz genau wissen. Wage nicht, mich jetzt anzulügen. Ich will sofort die ganze Wahrheit wissen, hörst du!«

»Ich, ich wollte Ingo doch nur einen Streich spielen. Ich habe ihn solange gehänselt, daß er ein Feigling ist, bis er den Opa gebeten hat, ihn einmal aufsitzen zu lassen.«

»Bist du eigentlich noch bei Sinnen, Junge? Wie konntest du das nur tun? Es interessiert mich jetzt nur noch, wie es passieren konnte, daß Arias durchging. Ich höre.«

»Ich habe Arias einen leichten Schlag mit der Gerte gegeben, wirklich nur einen leichten. Ich wollte doch nicht, daß er gleich durchgeht. Bitte, Mutsch, du mußt es mir glauben. Ich wollte Ingo wirklich nur erschrecken. Ich, ich wollte es ihm nur heimzahlen, daß er mir in den Rücken gefallen ist.«

»Ich weiß nicht, Junge, ob ich dir glauben kann. Bitte, geh jetzt sofort in dein Zimmer. Bete zu unserem Herrgott, daß deinem Bruder nichts passiert ist. Ich würde es dir nie verzeihen. Ich will…«

Norma war durch das Geständnis ihres Jungen so durcheinander, daß ihr die letzten Worte unbewußt herausrutschten. Erst die entsetzt aufgerissenen Augen, in die sie sah, ließen sie verstummen. Sie drehte sich um und lief aus dem Haus. Sascha aber schlich mit gesenktem Kopf in sein Zimmer.

*

Halb verrückt vor Angst, klammerte sich Ingo in Arias Mähne fest. Die Zügel waren ihm längst aus den Händen geglitten. Er wußte doch so gar nichts über Pferde, wußte nicht, wie er den wilden Galopp des Pferdes stoppen könnte.

In seiner Angst drang die Stimme des Opas, der ihm von weitem zuschrie: »Halt aus, Junge, laß nicht los, ich bin gleich bei dir, ich helfe dir.«

War es die Stimme, die Arias so vertraut war, oder war es etwas anderes? Plötzlich, mit einem Ruck stand das Tier. Es kam aber so plötzlich, daß Ingo sich hochgehoben fühlte und plötzlich einen harten Schlag verspürte, der mit einem so irrsinnigen Schmerz verbunden war, daß er seinen eigenen Aufschrei nicht mehr hörte. Mit einem Schlag setzte all sein Denken und Fühlen aus, und er fiel in einen tiefen, bodenlosen Schacht.

Mit entsetzten Augen hatte Carlson das Geschehen mit ansehen müssen, ohne eingreifen zu können. Und um zu helfen, war er noch zu weit entfernt gewesen. Doch ein paar Augenblicke später war er an der Unglücksstelle angelangt. Mit geblähten Nüstern, am ganzen Körper schweißgebadet, stand Arias einige Meter entfernt von der leblos am Boden liegenden Gestalt des Jungen. Ein wenig erleichtert war Hartmut, als er sich wenige Sekunden später über den Jungen beugte und sein Herz klopfen hörte.

Gottlob, wenigstens lebte der Junge noch. Das allein war schon sehr wichtig. Was sollte er jetzt nur tun? Er hatte auf einmal große Angst, die Lage des Jungen zu verändern. Einen Moment sah er unschlüssig auf die leblose Gestalt hinunter. Da drang Hufgetrappel an sein Ohr. Er sah auf und erkannte seinen Sohn Jonas, der sich näherte und Sekunden später neben ihm von seinem Pferd sprang.

»Um Gottes willen, was ist mit dem Jungen, Vater? Wie konnte das alles denn nur geschehen?«

»Das ist jetzt nicht so wichtig, Jonas. Er lebt, und das ist doch schon sehr viel.«

»Wir müssen ihn sofort in die Klinik bringen, Vater.«

»Wir wissen nicht, was für Verletzungen sich Ingo bei dem Sturz zugezogen hat. Ich reite sofort nach Hause zurück und rufe in der Klinik an, damit man den Notarztwagen schickt. Bis zur Kinderklinik Birkenhain ist es ja nicht sehr weit.«

»Gut, nimm Arias auch mit, ich werde Ingo nach Hause tragen.«

»Ist das nicht zu riskant, Junge?«

»Natürlich, aber ich kann ihn nicht einfach so liegen lassen. Ich werde schon vorsichtig genug sein und darauf achten, daß er durch nichts erschüttert wird. Bitte, Vater, beeile dich, ich kann Norma nie wieder in die Augen sehen, wenn dem Jungen nicht schnellstens geholfen werden kann.«

»Ich bin schon unterwegs.« Hartmut Carlson schwang sich auf Jonas’ ungesatteltes Pferd, nahm Arias beim Zügel und ritt im gestreckten Galopp davon.

Mit unendlicher Behutsamkeit schob Jonas seine Arme unter die leblose Gestalt des Jungen und hob sie hoch. Vorsichtig auf jeden seiner Schritte achtend, schlug er mit seiner Last den Rückweg zum Hof ein.

Er hatte ihn noch nicht ganz erreicht, als ihm mit schreckensbleichem Gesicht Norma entgegengelaufen kam.

»Ingo, mein Junge! Was ist mit ihm? Mein Gott, ist er…?«

»Er lebt, Norma, du darfst jetzt bitte nicht die Nerven verlieren. Das Pferd hat ihn abgeworfen, aber ich weiß nicht, ob er schwer verletzt ist. Er ist noch ohne Bewußtsein. Vater hat inzwischen sicher schon den Notarztwagen gerufen. Er muß sofort in ärztliche Behandlung. Zum Glück ist hier ganz in der Nähe eine Klinik, die Kinderklinik Birkenhain. Mit dem Wagen dauert die Fahrt dorthin nicht länger als zehn Minuten. Man wird unserem Jungen dort bestimmt helfen können.«

»Kann ich dir nicht beim Tragen helfen?«

»Nein, Liebes, ich schaff es schon allein. Wir sind ja gleich daheim. Der Notarztwagen ist auch bestimmt schon auf dem Weg zu uns.«

»Ich begreife das alles nicht mehr, Jonas. Daß Sascha so weit gehen könnte, hätte ich nie gedacht.«

»Er ist eben noch ein Kind und hat die Folgen seines Handelns nicht bedacht, Liebes. Es war ein dummer Streich. Wir müssen jetzt nur an Ingo denken, mit Sascha werde ich später ein ernstes Wort reden.«

Sie hatten inzwischen den Hof erreicht. Gerade als Jonas den verletzten Jungen ins Haus tragen wollte, hörten sie die Sirene des sich nähernden Notarztwagens.

»Dem Himmel sei Dank, die sind ja wirklich sehr schnell«, entfuhr es Jonas erleichtert. Es dauerte auch nur noch wenige Augenblicke, bis der Notarztwagen auf den Hof fuhr.

Die Türen öffneten sich und ein Arzt mit wehendem weißem Kittel, gefolgt von zwei Trägern kam mit eiligen Schritten auf Jonas zu.

»Ich bin Dr. Küsters von der Kinderklinik Birkenhain«, stellte er sich vor. »Ist das das verletzte Kind?«

»Ja, unser Sohn Ingo«, antwortete Jonas.

Danach ging alles sehr schnell. Ingo wurde auf die schnell geholte Trage gebettet und im Laufschritt zum Notarztwagen gebracht.

Bevor der Arzt zu dem Verletzten und noch immer bewußtlosen Jungen in den Wagen stieg, um erste ärztliche Maßnahmen zu treffen, fragte Norma mit zitternder Stimme: »Können wir nicht mitfahren?«

»Das geht nicht, aber Sie können hinter uns her zur Kinderklinik fahren.«

»Können Sie uns denn schon etwas sagen?« fragte Jonas nun.

»Tut mir leid, Herr Carlson. Sie werden in der Klinik von unserem Chef informiert, sobald man Ihren Sohn untersucht hat. Entschuldigen, Sie bitte, aber wir müssen los.«

Die hintere Tür des Notarztwagens wurde zugezogen, und im nächsten Moment fuhr der Wagen mit eingeschaltetem Martinshorn davon.

*

In der Notaufnahme der Kinderklinik stand Dr. Kay Martens schon mit seiner Schwester Hanna bereit, als der Notarztwagen vorfuhr.

Schwester Dorte und ihre Kollegin Jenny waren bereits mit der fahrbaren Trage hinausgeeilt. Es dauerte nicht lange, und sie kamen mit der Trage ins Untersuchungszimmer.

Dr. Martin Küsters hielt die Flasche mit der Infusionslösung.

»Wie sieht es aus, Dr. Küsters? Was haben Sie schon unternommen?« fragte Kay Martens, während der junge Patient vorsichtig auf den Untersuchungstisch gehoben wurde.

»Ich habe Herz- und Kreislauffunktion überprüft und den Tropfer angelegt. Trotz der kurzen Fahrt konnte ich zudem noch feststellen, daß sich der Junge bei dem Sturz eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hat. Äußere Verletzungen sind nicht erkennbar, soweit ich das bis jetzt beurteilen kann.«

»Gut, dann wollen wir mal.«

Während des kurzen Informationsgesprächs war der Patient behutsam soweit entkleidet worden, daß Kay mit Hilfestellung Hannas mit den ersten Untersuchungen beginnen konnte. Sie sahen beide gleichzeitig die rote Schwellung am Rückgrat des Jungen und warfen sich einen vielsagenden Blick zu.

Kay wandte sich kurz einer der Schwestern zu und sagte: »Sagen Sie bitte in der Röntgenabteilung Bescheid, Schwester Dorte, daß wir in wenigen Minuten mit einem Patienten kommen.«

»Wird sofort erledigt, Herr Dr. Martens. Bin schon unterwegs.« Und sie verließ mit eiligen Schritten das Untersuchungszimmer.

»Für was würden Sie das halten, Herr Dr. Küsters?« Kay Martens wies auf die Schwellung, die genau über dem Rückenwirbel lag.

»Verflixt noch mal, das sieht nicht gerade gut aus, Chef. Zu wünschen wär es ja, daß es sich nur um eine harmlose Prellung handelt. Aber ich befürchte…«

»Sie sagen es, Herr Dr. Küsters. Mit der Gehirnerschütterung bin ich genau Ihrer Meinung. Sie wird dem Jungen eine Weile zu schaffen machen. Sie wird mit dem Unfallschock wohl die Ursache für die Bewußtlosigkeit sein. Dann wollen wir den Patienten jetzt schnell in die Röntgenabteilung bringen. Es könnten ja immerhin noch andere, innere Verletzungen vorhanden sein. Natürlich müssen wir uns in erster Linie ein Bild vom Rückenwirbel des Jungen machen. Ich hoffe auch, daß sich meine Befürchtungen als gegenstandslos erweisen.«

Doch wenig später wußten die Geschwister Martens, daß Wunder sehr selten waren. Schon zehn Minuten später schlossen sich hinter einem Operationsteam die Türen. Ein schwieriger Eingriff lag vor Dr. Kay Martens und seinen Mitarbeitern.

Beim Röntgen hatte er feststellen müssen, daß an einem der Rückenwirbel eine Absplitterung vorlag, die nur durch einen raschen operativen Eingriff behoben werden konnte. Es war aber auch allen klar, daß der Eingriff nicht nur schwierig, sondern auch sehr gefährlich war.

Im kleinen Wartezimmer lief Norma hin und her. Immer wieder sah sie auf die Uhr, die über der Tür hing.

»Bitte, Liebes, so setz dich doch endlich hin. Deine Unruhe ändert doch auch nichts.«

»Ich kann nicht einfach ruhig dasitzen und warten. Ich kann nicht. Seit man uns gesagt hat, daß Ingo operiert werden muß, habe ich furchtbare Angst um meinen Jungen. Es dauert so entsetzlich lange. Warum kommt denn niemand und sagt uns etwas? Ich halte das einfach nicht mehr aus.«

Jonas erhob sich und trat hinter Norma, legte liebevoll beide Arme um sie. »Liebes, du warst die ganze Zeit so tapfer. Ich bitte dich, du darfst jetzt nicht die Nerven verlieren. Denk immer daran, du bist nicht allein. Ich bin doch bei dir.« Es dauerte noch ungefähr eine Stunde, bis sich draußen auf dem Gang Schritte näherten und nach kurzem Anklopfen ein hochgewachsener Mann das Wartezimmer betrat.

Norma starrte ihn angespannt an.

»Guten Tag, ich bin der Chefarzt, Kay Martens. Sie sind bestimmt die Eltern des Patienten, nicht wahr?« Mit einem beruhigenden Lächeln streckte Kay zuerst Norma und danach Jonas seine Rechte entgegen.

»Wie geht es meinem Jungen? Hat er die Operation gut überstanden, Herr Dr. Martens?« kam es voller Angst über Normas Lippen, während ihre Blicke ihn nicht losließen.

»Die Operation ist für uns zufriedenstellend verlaufen, Frau Carlson. Wie ich Ihnen und Ihrem Mann schon vor der Operation sagte, mußten wir einen Knochensplitter entfernen, der in den Rückenmarkkanal einzudringen drohte. Es ist uns zwar gelungen, den Splitter zu entfernen, aber wir alle müssen jetzt Geduld haben. Es wäre möglich, daß vorübergehend Störungen im Bewegungsablauf eintreten. Aber mit Sicherheit läßt sich das erst feststellen, wenn Ihr Sohn wieder voll ansprechbar ist und wenn er die ersten vierundzwanzig Stunden ohne Komplikationen überstanden hat. Wir haben ihn für diese Zeit auf die Intensivabteilung gebracht. Dort ist gewährleistet, daß er unter ständiger intensiver Kontrolle ist.«

»Können wir zu ihm, Herr Dr. Martens?«

»Sie dürfen kurz zu ihm hineinsehen, aber ansonsten möchte ich Sie beide bitten, heute noch von einem Besuch Abstand zu nehmen. Weder der Junge noch Sie hätten heute etwas davon.«

»Und wann wird er wieder voll ansprechbar sein?«

»Das kommt ganz auf die Schwere der Gehirnerschütterung an. Ihr Junge hat trotz allem noch Glück gehabt, daß er sich keine schwere Schädelverletzung zugezogen hat. Es wird noch ein paar Minuten dauern, dann können Sie kurz nach dem Jungen sehen. Ich schicke Ihnen eine Schwester, die Sie zur Intensivabteilung bringt. Wenn ich mir noch Ihre Telefonnummer notieren dürfte, um Sie jederzeit erreichen zu können.«

Jonas gab Kay Martens die Telefonnummer, die dieser sich aufschrieb. Danach verabschiedete er sich von dem Ehepaar Carlson.

Mit gemischten Gefühlen sah Jonas Carlson auf die Tür, die sich hinter dem Arzt geschlossen hatte. Liebend gern hatte er den Arzt gefragt, was dieser damit gemeint hatte, daß vielleicht vorübergehend Störungen im Bewegungsablauf auftreten könnten. Um Norma nicht noch mehr aufzuregen, hatte er jedoch die Frage unterlassen. Er würde es am nächsten Tag nachholen, wenn es ihm möglich war, den Chefarzt allein zu sprechen.

»Ich habe Angst, Jonas«, riß ihn Normas Stimme aus seinen Gedanken heraus. »Ich gehe nicht eher, bis wir Ingo wenigstens gesehen haben.«

»Wir werden den Jungen schon gleich zu sehen bekommen, mein Liebes. Du mußt keine Angst haben. Du hast doch gehört, daß der Eingriff gut verlaufen ist.«

Norma wollte etwas darauf erwidern, aber im selben Moment klopfte es an der Tür, und Schwester Dorte betrat den Raum. Freundlich sagte sie: »Wenn Sie bitte mitkommen würden? Ich werde Sie beide zur Intensivabteilung bringen. Ihr Sohn ist jetzt versorgt.«

Norma schwankte, als sie kurze Zeit später neben Ingos Bett standen, und Jonas mußte rasch zupacken. Hilflos sah sie zu ihm hoch.

»Es sieht alles so furchtbar aus, Jonas. Ich darf ihn nicht verlieren. Ich würde es nicht überstehen.«

»Bitte, Liebes, es sieht nur so schlimm aus. Aber das macht man mit jedem Patienten auf einer Intensivabteilung. Alles wird so genau kontrolliert, damit rasch eingegriffen werden kann, wenn eine Veränderung eintritt. Sobald man Ingo auf seine normale Krankenstation verlegt, fallen die ganzen Zuleitungen und Schläuche weg. Bitte, laß uns jetzt gehen. Ingo wird jetzt sehr viel Ruhe brauchen. Wir fahren gleich morgen vormittag wieder hierher.«

*

Gegen siebzehn Uhr wollte Dr. Hanna Martens gerade die Kinderklinik verlassen, um ins Doktorhaus hinüberzugehen, als Kay ihr zurief: »Warte, Schwesterherz, ich gehe mit dir hinüber. Ich bin für heute auch fertig.«

Hanna wartete, und gemeinsam verließen sie das Gebäude.

Während sie langsam durch den Klinikpark gingen, fragte Hanna mit ernster Stimme: »Hast du mit den Eltern des Jungen gesprochen, Kay? Hast du ihnen gesagt, welche Befürchtungen wir haben?«

»Nein, Hanna, natürlich nicht. Solange wir es nicht hundertprozentig wissen, werde ich auch nicht mit den Eltern des Jungen reden. Ich will ihnen nicht jetzt ihre Hoffnungen nehmen.«

»Ich weiß nicht, Kay, aber ich denke, daß du einen Fehler gemacht hast, es ihnen vorzuenthalten.«

»Mag schon sein, aber ich konnte es nicht. Außerdem ist es, wie ich schon sagte, überhaupt noch nicht sicher. Ich habe dem Ehepaar nur gesagt, daß vorübergehende Störungen auftreten könnten. Frühestens morgen wissen wir es genauer.«

»Weißt du denn, wie es zu dem Unfall kam?«

»Nein, ich weiß nur, daß der Junge von einem durchgehenden Pferd abgeworfen wurde. Du weißt ja selbst, es war keine Zeit, Fragen zu stellen.«

»Nun, es spielt im Augenblick auch keine große Rolle, Kay. Aber etwas anderes. Kommst du heute abend noch auf ein Stündchen zu uns hinüber? Mutti würde sich bestimmt darüber freuen.«

»Heute geht es nicht, Hanna, ich bekomme selbst Besuch. Ein alter Studienkollege hat sich bei mir angemeldet. Der Jörg Niebur. Frau Sanders hat mir schon ein paar kalte Platten vorbereitet. Du siehst also, ich bin für den Abend gut versorgt.«

»Es war auch nur eine Frage. Ich wünsche dir und deinem alten Freund einen angenehmen Abend. Da ich nichts besonderes vorhabe, werde ich übernehmen, sollte man einen von uns drüben in der Klinik benötigen. Einverstanden…?«

»Warum nicht, Hanna? Also dann wünsche ich dir und Mutti einen angenehmen, ruhigen Abend. Der Füchsin natürlich auch.«

Sie waren inzwischen am Doktorhaus angekommen, in dem jeder der Geschwister eine separate Wohnung hatte, nur mit dem Unterschied, daß bei Hanna seit einiger Zeit die Mutter lebte, und auch die Haushälterin Jolande Rilla ein Zimmer bewohnte.

Kays Haushaltshilfe, Hella Sanders, kam meistens nur in den Vormittagsstunden, um die Wohnung Kays in Ordnung zu halten und ihm zwischendurch das Essen zu kochen. Dazu erledigte Hella Sanders auch die Einkäufe für Kay.

»Also, Hanna, bis morgen früh. Du kommst sicher auch in die Klinik hinüber, nicht wahr? Ich frage nur, weil du ja eigentlich am morgigen Sonntag keinen Dienst hast.«

»Stimmt, aber du kennst mich ja. Ein solcher Fall wie der des Jungen interessiert mich nun mal. Und schließlich können ja auch noch Komplikationen auftreten.«

Mit einem verständnisvollen Lächeln trennten sich die Geschwister.

Jolande Rilla, Hannas Haushälterin, eine vollschlanke Witwe von zweiundvierzig Jahren, wegen ihres fuchsroten Haares Füchsin genannt, erwartete die junge Ärztin schon. Als sie Hannas ernstes Gesicht sah, fragte sie: »War sicher wieder ein schwerer Tag, nicht wahr? Du schaust müde und abgespannt aus.«

»War heute auch nicht einfach, da hast du recht, Füchsin. Wir haben noch bis vor einer guten halben Stunde operiert. Wenn der Tag schon fortgeschritten ist, schlaucht einen das schon sehr. Einen starken Kaffee könnte ich jetzt schon vertragen. Aber vorher gehe ich kurz unter die Dusche.«

»Tu das, Hanna. Wenn du wieder nach unten kommst, habe ich den Kaffee fertig.«

»Schön, Füchsin, aber wo ist eigentlich meine Mutter?«

»Deine Mutter ist unterwegs. Sie wollte einen Spaziergang machen. Sie hat aber erst vor zehn Minuten das Haus verlassen.«

»Dann wird sie auch so bald nicht zurückkommen. Also, bis gleich. Aber bitte nur Kaffee. Hunger habe ich nicht.«

»Alles klar, Hanna.«

Als sich die beiden ungleichen Frauen etwas später bei einer Tasse Kaffee gegenübersaßen, erzählte Hanna von dem neuen Patienten.

»Weißt du, Füchsin, Kay und ich befürchten eine Lähmung der Beine des Jungen. Ich kann das nicht so ohne weiteres einstecken. Der Junge, ein netter Bub, ist gerade erst dreizehn Jahre alt.«

»Ihr befürchtet es, seid aber noch nicht sicher?«

»Genau. Bei einem solch schweren Eingriff kann man es nicht sofort feststellen. Ein bis zwei Tage müssen wir abwarten, bis wir Endgültiges sagen können.«

»Dann besteht ja noch Hoffnung.«

»Ja und ich hoffe von ganzem Herzen, daß sich unsere Befürchtungen als gegenstandslos erweisen. Aber ein kleines Wunder wäre es schon.«

»Ich drücke euch beide Daumen. Ich kann mir nämlich sehr gut vorstellen, wie schwer es ist, den Eltern des Patienten eine negative Auskunft geben zu müssen.«

»So ist es. Lassen wir das Thema für heute. Wie war euer Tag hier im Doktorhaus?«

»Angenehm, Hanna. Heute vormittag war deine Mutter mit mir in der Stadt, Einkäufe tätigen. Und bevor wir wieder zum Doktorhaus zurückfuhren, haben wir noch ein Café aufgesucht und uns dabei recht gut unterhalten, und deine Mutter hat ihr Mittagsschläfchen gehalten.«

»Daß meine Mutter heute mit in die Stadt wollte, davon habe ich ja überhaupt nichts gewußt.«

»Sie hatte sich auch erst nach dem Frühstück dazu entschlossen, denn sie brauchte Material für ihre Stoffelpuppen.«

»Ach so, daran habe ich nicht mehr gedacht. Vor ein paar Tagen hatte sie davon schon einmal gesprochen. Weißt du was, Füchsin? Ich könnte auch etwas frische Luft vertragen. Da ich ja weiß, welche Richtung meine Mutter immer einschlägt, gehe ich ihr entgegen. Falls also jemand nach mir fragen sollte, ich bin in einer Stunde wieder zurück. Für dringende Notfälle in der Klinik drüben, ist während dieser Zeit Kay erreichbar. Da er heute abend Besuch sowieso erwartet, wird er die Wohnung nicht mehr verlassen. Ich hoffe aber, daß alles ruhig bleibt.«

»Wird schon alles klar gehen, Hanna.«

Hanna schlüpfte in einen warmen Mantel und verließ mit leichten Schritten das Doktorhaus.

*

Jutta und Hartmut Carlson waren nach dem Anruf ihres Sohnes aus der Kinderklinik in großer Sorge. Daß Ingo operiert werden mußte, damit hatten sie nicht gerechnet.

»Hat Jonas nicht gesagt, warum der Junge operiert werden muß?« fragte Jutta ihren Mann.

»Nein, Jutta, er hat nichts Genaues gesagt. Wahrscheinlich hat sich Ingo innere Verletzungen zugezogen. Wir müssen abwarten. Ich werde mich jetzt erst einmal um Sascha kümmern. Was immer den Jungen zu seinem unbedachten Handeln veranlaßt haben mag, ich kann mir nicht vorstellen, daß er seinem Bruder bewußt Schaden zufügen wollte. Der Junge muß sich in einer schlimmen Verfassung befinden, und er braucht gerade jetzt unsere Hilfe.«

»Soll ich nicht zu ihm gehen?«

»Laß mich das ruhig machen, Jutta. Er hat zu mir Vertrauen. Außerdem war ich ja bei dem Geschehen dabei. Es ist daher besser, wenn ich mit ihm rede. Du brauchst keine Angst haben, daß ich ihn vielleicht grob behandle.«

»Davor habe ich gewiß keine Angst, Hartmut. Meinetwegen geh du zu ihm hinauf. Ich bleibe hier in der Nähe des Telefons, falls Jonas oder Norma noch einmal aus der Kinderklinik anrufen.«

Oben klopfte Hartmut Carlson leise an der Tür zum Zimmer der Jungen. »Darf ich hereinkommen, Sascha?«

»Ja, Opa«, kam Saschas leise Antwort, und Hartmut betrat das Zimmer.

Sascha stand unbeweglich am Fenster und starrte nach draußen. Hartmut Carlson legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter und sagte ruhig: »Alles in Ordnung, mein Junge? Können wir reden?«

Mit einem Ruck drehte sich Sascha um und umklammerte den großen hageren Mann, während ihm plötzlich Tränen über die Wangen rollten.

»Hilf mir, Opa, ich habe doch nicht gewollt, daß sich der Ingo weh tut. Ich wollte ihn doch nur erschrecken, weil ich so wütend auf ihn war.«

Sascha weinte heftiger. Er tat Hartmut leid, aber was sollte er in diesem Moment Tröstendes sagen? Es war schon eine verflixte Situation.

Als die Tränen überhaupt nicht versiegten, sagte er in beruhigendem Ton: »Nun hör erst einmal auf zu weinen. Ein so großer Junge weint doch nicht. Du setzt dich jetzt zu mir, und wir reden in aller Ruhe. Einverstanden…?« Er zog Sascha neben sich auf dessen Bett und wartete, bis dieser sich ein wenig beruhigt hatte.

»Geht es jetzt wieder?«

»Ja, Opa. Glaubst du mir wenigstens, daß ich es nicht gewollt habe?«

»Ja, mein Junge. Wenn es anders wäre, dann würde ich jetzt nicht so ruhig neben dir sitzen. Daß du da etwas ganz Schlimmes angerichtet hast, das weißt du ja wohl, nicht wahr? Weißt du, das, was man will, und das, was dann am Ende herauskommen kann, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Hast du denn nicht bedacht, daß Arias ein sehr empfindliches Tier ist? Wir haben doch schon ein paar Mal darüber gesprochen.«

»Ich hatte es völlig vergessen. Ich wollte es dem Ingo nur heimzahlen. Ich weiß, Mutsch wird mir nie verzeihen.«

»Unsinn, Junge, eure Mutsch hat euch beide lieb. Natürlich ist sie über das, was da heute passiert ist, sehr traurig. Wir können jetzt nur alle hoffen, daß Ingo bald wieder gesund wird. Im Augenblick wird er operiert. Jonas hat vorhin angerufen und es gesagt.«

»Ingo wird operiert? Um Gottes willen, Opa, warum denn? Hat er sich wirklich so wehgetan?« Aus entsetzt geweiteten Augen starrte Sascha seinen neuen Opa an, und dieser sah ihm an, daß er erneut mit den Tränen zu kämpfen hatte.

»Warum er operiert werden muß, das konnte Jonas auch nicht sagen. Wir müssen warten, bis sie aus der Klinik nach Hause kommen.«

»Es tut mir alles so leid, Opa. Wenn ich es doch nur ungeschehen machen könnte!«

»Versuche, es in Zukunft besser zu machen. Ihr seid Zwillinge und müßt immer zusammenhalten, müßt euch vertragen. Willst du jetzt nicht mit mir zur Oma nach unten gehen? Du hast doch bestimmt Hunger, oder?«

»Nein, Opa, ganz bestimmt nicht. Darf ich nicht hier oben im Zimmer bleiben?«

»Wenn du es unbedingt willst, Sascha. Aber gern lasse ich dich nicht allein.«

»Ich möchte es aber, Opa.«

»Gut, Sascha, ich gehe dann wieder zur Oma nach unten. Aber wenn deine Mutsch und Jonas aus der Kinderklinik zurückkommen, erwarte ich, daß du zu uns kommst, hast du mich verstanden?«

»Ja, Opa.«

*

»Was macht Sascha, Hartmut?« wollte Jutta wissen, als ihr Mann das Wohnzimmer wieder betrat.

»Der Junge ist ziemlich fertig und entsetzt darüber, daß Ingo operiert werden muß. Ich denke, daß die Geschehnisse von heute dem Jungen eine Lehre fürs ganze Leben sein werden. Was heute passiert ist, tut ihm leid. Daß er es so nicht gewollt hat, glaube ich ihm ohne weiteres. Er hat sich wieder einigermaßen gefaßt. Nur in seinen Augen habe ich einen Ausdruck erkannt, der mir ein wenig Sorge macht.«

»Wie meinst du das, Hartmut? Du mußt es mir schon ein wenig besser erklären.«

»Ich habe das Gefühl, daß er sich alles sehr zu Herzen nimmt, Jutta. Da meint man, diese dreizehnjährigen Burschen entwachsen langsam dem Kindesalter, dabei stimmt das überhaupt nicht. Ich denke, wir müssen in der nächsten Zeit dafür Sorge tragen, daß Sascha nicht zu viel sich selbst überlassen bleibt. Wir müssen auf ihn aufpassen, müssen auch ihm helfen, diese schlimme Sache zu verkraften.«

»Warum hast du ihn nicht mit heruntergebracht?«

»Er wollte gern allein bleiben. Er wird herunterkommen, wenn Jonas und Norma aus der Klinik kommen.«

»Hoffentlich dauert es nicht mehr lange. Dieses Warten macht mich nervlich fertig. Ich finde, Jonas könnte ruhig noch einmal anrufen. Er muß doch wissen, daß wir uns Sorgen machen.«

»Er wird selber noch nichts Genaues wissen. So eine Operation dauert. Du sollst dich durch die Wartezeit nicht aus der Fassung bringen lassen. Ich für meinen Teil kümmere mich jetzt mal darum, daß in den Stallungen alles normal abläuft. Wenn schon Jonas ausfällt, kann ich nicht auch noch hier im Haus herumsitzen und Däumchen drehen. Außerdem lenkt mich die Arbeit wenigstens vorübergehend etwas ab.«

»Willst du nicht erst Kaffee trinken und dazu etwas essen? Ich sage der Gesine Bescheid.«

»Meinetwegen nicht, Jutta. Mir ist der Appetit heute gründlich vergangen. Du wirst hier inzwischen die Stellung schon halten. Wenn die jungen Leute zurückkommen, könnt ihr mich ja rufen.«

Mit festen, wuchtigen Schritten verließ Hartmut das Haus und ging zu den Stallungen hinüber.

Jutta Carlsons Nervenanspannung steigerte sich ins Unerträgliche, und ihre Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt.

Erst als die Abenddämmerung schon hereinbrach, fuhr vor dem Haus Jonas’ Wagen vor.

Mit ernsten, bedrückten Gesichtern kamen er und Norma kurz darauf ins Haus.

»Ihr kommt spät, Jonas. Wie geht es denn dem Jungen? Nun sag schon endlich, spann mich nicht auf die Folter.«

»Wir wissen nur, daß Ingo den Eingriff gut überstanden hat. Wir haben ihn nur kurz sehen dürfen, denn er befindet sich auf der Intensivabteilung.«

»Ist das wahr, Norma?« Bestürzt sah Jutta ihre Schwiegertochter an.

Als Norma nur bestätigend nickte, fragte sie erregt: »Ja, um Himmels willen, woran ist der Junge denn operiert worden?«

»Wo ist Vater, Mutter? Ich möchte, daß er dabei ist, damit wir es nicht noch einmal erzählen müssen.«

»Einen Moment, ich rufe ihn. Er war bis vor wenigen Minuten in den Stallungen und ist noch im Bad.« Eilig ging Jutta zur Tür und rief laut durch die Diele: »Kommst du bitte, Hartmut? Die Kinder sind gerade zurückgekommen.«

Es dauerte nur ein paar Minuten, und Hartmut betrat den Raum.

»Da seid ihr ja endlich. Hat ja auch wohl lange genug gedauert. Was ist nun mit dem Jungen? Geht es ihm gut?«

»Ich habe gerade Mutter berichtet, daß Ingo die Operation gut überstanden hat. Wir haben ihn auch kurz sehen dürfen. Man hat ihn auf die Intensivabteilung gebracht. Es war ein sehr schwieriger Eingriff, daher diese Maßnahme.«

»Wie schwierig? Kann uns einer von euch endlich genau sagen, um was für eine Operation es sich gehandelt hat?« Angespannt sah Hartmut von Jonas zu Norma.

»Reg dich bitte nicht auf, Vater, ihr sollt es ja wissen. Also, Ingo ist an der Wirbelsäule operiert worden. Er muß bei dem Sturz so hart mit dem Rücken aufgeschlagen sein, daß ein Knochensplitter von seinem Wirbel entfernt werden mußte, bevor er in den Rückenmarkskanal eindringen konnte. Wir haben nicht die medizinischen Kenntnisse, um das alles richtig abschätzen zu können. Du kannst mir glauben, Vater, daß Norma und ich uns große Sorgen machen. Der Chefarzt, Dr. Martens, sagte uns, daß vor­übergehende Störungen im Bewegungsablauf auftreten könnten. Was immer das bedeutet, ich weiß es nicht. Vielleicht sagt man uns morgen mehr. Ich fahre morgen vormittag wieder mit Norma in die Klinik.«

»Was ihr da berichtet, hört sich ja nicht gerade ermutigend an. Und ich trage einen großen Teil der Schuld, weil ich nicht rechtzeitig eingegriffen habe.«

»Bitte, Vater, du darfst dir nicht auch noch Vorwürfe machen. Ich will es nicht«, sagte Norma leise. »Niemand konnte das vorausahnen. Kinder, auch wenn sie schon über zehn Jahre alt sind, handeln unberechenbar. Es ist schlimm, was heute mit Ingo passiert ist, aber trotzdem kann ich Sascha nicht verurteilen. Er ist doch auch mein Kind. Ich liebe sie beide. Im Grunde meines Herzens weiß ich, daß Sascha es so nicht gewollt hat. Ich muß mich jetzt auch um ihn kümmern. Er muß sich da oben sehr verlassen fühlen.«

»Du kannst ganz beruhigt sein, Norma. Vater hat sich um Sascha gekümmert und mit ihm gesprochen. Sascha ist sehr bestürzt über die Folgen seines bösen Streiches, und er bereut es aus tiefstem Herzen.«

»Es ist so, wie Mutter es sagt. Soll ich ihn herunterholen?« Fragend sah Hartmut seine Schwiegertochter an.

Diese erwiderte: »Danke, Vater, es ist lieb von dir gemeint, aber ich möchte doch zuerst allein mit Sascha reden. Ich bringe ihn danach mit herunter.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, verließ Norma den Raum und ging zu Sascha hinauf. Wie schon vorher Hartmut Carlson, führte auch sie ein langes Gespräch mit ihm und kam allein nach unten.

»Wo ist Sascha, warum ist er nicht mitgekommen?« Fragend sah Jonas seine junge Frau an.

»Der Junge wird jetzt schlafen, Jonas. Ich habe mich lange mit ihm über alles unterhalten. Ich habe ihm erlaubt, oben zu bleiben. Lassen wir ihn für heute in Ruhe.«

»Das geht schon in Ordnung, Liebes. Es war für uns alle kein schöner Nachmittag.«

*

Es war der zweite Tag nach der Operation. Da der Vortag ohne Komplikationen für Ingo vorübergegangen war, der Junge fast den ganzen Tag in einer Art Dämmerschlaf verbracht hatte, gab Kay die Anweisung, ihn noch vor der Visite nach oben auf die Krankenstation in ein Einzelzimmer zu verlegen. Er wollte damit den Angehörigen mehr Gelegenheit geben, bei dem Jungen zu bleiben.

Als Hanna Martens außer dem Infusionsschlauch alle anderen Zuleitungen vom Körper des Jungen entfernte, fragte Ingo, der mit geschlossenen Augen in den Kissen lag, plötzlich mit leiser, aber klarer Stimme: »Was wird denn jetzt mit mir gemacht?«

»Hallo, Ingo, du bist ja schon recht munter. Hat dein Kopf wohl doch nicht so viel abbekommen. Wie fühlst du dich? Ich bin übrigens Frau Dr. Martens.«

»Ich fühle mich ein bißchen komisch, und mein Kopf tut mir weh, Frau Doktor. Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, was Sie jetzt mit mir machen.«

»Gar nichts, Ingo. Du wirst jetzt nach oben auf die Krankenstation gebracht. Hier unten, das ist die Intensiv­abteilung, hier werden frischoperierte Patienten versorgt und solche, bei denen noch Lebensgefahr besteht. Zum Glück ist das bei dir nicht der Fall. Du bist auch schon vorgestern nachmittag operiert worden. Oben auf der Station bekommst du ein hübsches Einzelzimmer, und du darfst sogar den ganzen Tag Besuch haben. Ist das denn nicht was Feines? Du mußt nur weiter ganz ruhig liegen bleiben. Du weißt doch noch, daß du vom Pferd gefallen bist, oder?«

»Ich bin nicht heruntergefallen. Der Arias ist losgaloppiert und hat mich einfach abgeworfen. Was habe ich denn gestern gemacht?«

»Gestern hast du den ganzen Tag geschlafen. Du hast noch nicht einmal etwas davon gemerkt, daß deine Eltern sehr lange bei dir waren.«

»Ehrlich, meine Mutsch war hier?«

»Ja, und dein Vater.«

»Ist nicht mein Vater. War sicher der Jonas. Mutsch hat ihn erst vor kurzer Zeit geheiratet. Mein Kopf tut weh, und müde bin ich auch schon wieder.«

»Für deine Kopfschmerzen bekommst du sofort etwas von mir und danach kannst du wieder schlafen. Wir bringen dich nämlich mit deinem Bett nach oben.«

Hanna gab in die Infusionsflasche noch ein zusätzliches Schmerzmittel, und kurz darauf war Ingo wieder eingeschlafen. Sie brachte ihn anschließend persönlich mit Schwester Dorte hinauf auf die Krankenstation in sein neues Zimmer.

Als sie kurz darauf ins Ärztezimmer der Station ging, war Kay schon da und besprach mit der Oberschwester ein paar Dinge für die Visite. In kurzen Worten schilderte Hanna ihrem Bruder das Befinden des jungen Patienten.

»Ist doch prima. Hat er sonst schon irgendwie reagiert?«

»Nein, Kay, bis jetzt noch nicht. Das ist doch eigentlich ein beruhigendes Zeichen, nicht wahr?«

»Sollte es eigentlich sein, Hanna. Aber wir dürfen uns da noch nichts vormachen und müssen abwarten. Können wir jetzt mit der Morgenvisite beginnen? Sie sind ja bestimmt auch soweit, Schwester Elli, oder?« wandte sich Kay an die Oberschwester.

Diese nickte und antwortete lächelnd: »Von mir aus können wir, Herr Doktor.«

»Dann, auf geht’s. Auf was warten wir noch?«

Zimmer für Zimmer führten sie die Visite durch. Als sie Ingos Zimmer betraten, sah ihnen der Junge mit geöffneten Augen entgegen.

Hanna fühlte Betroffenheit in sich aufsteigen, denn in den Augen des Dreizehnjährigen lag ein eigenartiges Flackern. Mit gewollt fröhlicher Stimme fragte sie: »Stimmt etwas nicht, Ingo?«

»Es ist alles so komisch, so, als ob ich überhaupt keine Beine mehr habe. Was ist das, Frau Doktor? Ich habe auf einmal solche Angst.«

Durch einen schnellen Blick verständigte sich Hanna mit Kay, der nun an das Bett trat und mit beruhigender Stimme sagte: »Die Frau Doktor hat dir doch bestimmt gesagt, daß wir dich vorgestern operiert haben, nicht wahr, Ingo? Du bist sehr hart mit dem Rücken aufgeschlagen und hast dich verletzt. Von vorgestern bis heute ist eine kurze Zeit, da kann nicht alles wieder in Ordnung sein. Mit deinen Beinen ist weiter nichts. Sie sind nur vorübergehend ein wenig ohne Gefühl. In ein paar Tagen wird sich das wieder geben. Du solltest dir darüber keine Gedanken machen. Damit du in deinen Rücken nach der Operation keine Schmerzen hast, bekommst du über den Tropf ein Schmerzmittel, das zusätzlich betäubt. Also, Junge, Kopf hoch und Geduld. Es wird schon alles wieder in Ordnung kommen.«

Hanna registrierte erleichtert, daß sich der Dreizehnjährige offenbar mit dieser Erklärung ihres Bruders zufriedengab, und die Visite konnte weitergehen.

Erst nach Beendigung ihres Rundganges, als Kay und Hanna allein im Ärztezimmer waren, sagte Hanna ernst: »Unsere Befürchtungen haben sich also bewahrheitet. Besteht noch Hoffnung, daß sich dieser Zustand vielleicht doch legt?«

»Schwer zu sagen, Hanna. In dieser Phase ist es noch verfrüht, etwas Endgültiges zu sagen. Es kann sich ebenso um eine vorübergehende Störung handeln wie um eine dauerhafte. Erst in ein paar Tagen können Untersuchungen und Tests durchgeführt werden.«

»Und was wirst du den Eltern des Jungen sagen, wenn sie nachher kommen? Der Vater ist im übrigen erst seit relativ kurzer Zeit der Stiefvater des Jungen.«

»Ihnen werde ich natürlich nichts anderes sagen können als dem Jungen. Du bist da sicherlich auch meiner Meinung, oder?«

»Natürlich, denn alles andere wäre nur ein Pokerspiel.«

»So ist es, Hanna.«

Während sich die Geschwister im Ärztezimmer noch über den Fall unterhielten, waren Jonas und Norma in die Kinderklinik gekommen. Überrascht hörten sie von Martin Schweizers an der Aufnahme, daß man Ingo auf die Krankenstation verlegt hatte.

Sie ließen sich die Zimmernummer geben und gingen nach oben. Zum ersten Mal seit dem Unfall zeigte sich ein erleichtertes Lächeln auf Normas Gesicht, und sie sagte zu ihrem Mann: »Ich bin so froh, daß Ingo nicht länger auf der Intensivabteilung bleiben mußte. Das kann doch nur ein gutes Zeichen sein, nicht wahr?«

»Ganz bestimmt, Liebes. Ich habe dir doch gleich gesagt, daß du dich nicht verrückt machen darfst. Sollst sehen, es kommt alles wieder in Ordnung.«

»Glaubst du, daß er heute so klar ist, daß wir mit ihm reden können?«

»Das nehme ich doch stark an. Gleich werden wir es ja wissen. Wir sind schon da. Die nächste Tür müßte die Nummer zehn sein.«

Es war so, und nach einem kurzen Anklopfen betraten sie beide mit fröhlichen Gesichtern das Krankenzimmer.

*

Ingo hatte sich nur scheinbar mit dem zufriedengegeben, was ihm der Doktor gesagt hatte. Mit heftigem Herzklopfen blieb er allein im Zimmer zurück. Vorsichtig schob er seine linke freie Hand unter die Bettdecke. So fest er konnte, zwickte er sich selbst in den Oberschenkel. Er spürte überhaupt nichts. Ingo wußte wohl von einem Besuch beim Zahnarzt, daß eine Spritze das Zahnfleisch betäuben kann, trotzdem konnte er sich gegen die dumpfe Angst, die sein Herz heftig pochen ließ, nicht wehren.

Sie war ganz einfach plötzlich da. Sehnsüchtig blickte er in Richtung Tür und wartete darauf, daß endlich seine Mutsch oder Jonas kommen würden. Er brauchte nicht lange zu warten, dann klopfte es an seiner Tür, und gleich darauf standen Mutsch und Jonas in seinem Zimmer. Ingo war darüber so erleichtert, daß ihm plötzlich Tränen aus den Augen schossen.

Norma blieb ein paar Sekunden wie erstarrt stehen, dann aber war sie mit ein paar Schritten bei Ingo am Bett und beugte sich zu ihm hinunter. »Ingo, mein Junge, was ist, warum weinst du denn?«

»Mutsch, o Mutsch, ich bin ja so froh, daß du endlich gekommen bist. Ich habe solche Angst.«

»Du hast Angst, Junge, aber warum denn?« fragte nun Jonas, der auch an das Bett getreten war.

»Es ist alles so komisch. Ich habe es auch dem Doktor gesagt. Ich spüre überhaupt nicht, ob ich noch Beine habe. Ich kann mich sogar ganz feste zwicken, ich spüre es nicht.«

Norma starrte Jonas entsetzt an. Bevor sie jedoch etwas sagen konnte, fragte er ruhig: »Und was hat der Doktor dir dazu gesagt, Ingo?«

»Er hat gesagt, daß es von der Operation und von den Schmerzmitteln kommt, und daß es in ein paar Tagen vorübergeht. Ich habe aber trotzdem auf einmal eine riesengroße Angst.«

»Du mußt keine Angst haben, Junge. Wenn der Doktor es dir so gesagt hat, wird es auch so sein. Du bist doch ein vernünftiger und tapferer Junge. Mutsch und ich, wir werden nachher noch mit dem Doktor über diese Sache reden. Du darfst nur daran denken, daß du bald wieder ganz gesund wirst. Wie geht es dir denn sonst? Gestern hast du den ganzen Tag verschlafen«, wollte Jonas das Thema wechseln.

Ingo ging jedoch nicht darauf ein. Leise sagte er: »Du brauchst gar nicht erst abzulenken, Jonas. Gerade weil ich kein kleines Kind mehr bin, fühle ich, daß mit mir etwas nicht stimmt.«

»Ich kann dich verstehen, Ingo. Trotzdem kann ich, können deine Mutsch und ich erst etwas dazu sagen, wenn wir mit den Ärzten gesprochen haben. Du hast mein Wort, daß wir ehrlich zu dir sein werden.«

»Ganz bestimmt, mein Junge«, pflichtete Norma bei. Dann sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln: »Wir sollen dir recht schöne Grüße vom Opa und der Oma bestellen. Morgen wollen sie dich besuchen.«

»Und Sascha, Mutsch?«

»Weißt du, Ingo, mit Sascha, das ist so eine Sache. Er ist sehr bestürzt und traurig über das, was er angerichtet hat. Er hat es nicht gewollt und es tut ihm sehr leid. Er versteht es auch, daß du ihn jetzt nicht sehen willst, sonst würde er es dir auch selbst sagen.«

»Ich bin nicht böse auf den Sascha, Mutsch. Er kann mich auch ruhig besuchen kommen. Nur noch nicht sofort. Mir tut es leid, daß wir uns überhaupt gezankt haben. Ich sage dir schon noch, wann Sascha kommen soll.«

»Gut, mein Junge, wir machen es so, wie du es möchtest. Wenn wir das nächste Mal kommen, was sollen wir dir denn mitbringen? Hast du einen bestimmten Wunsch?« wollte Jonas wissen. Er war froh, daß es doch noch gelungen war, den Jungen etwas abzulenken. Dabei konnte er selbst es kaum erwarten, mit den Ärzten über Ingo zu reden.

»Vielleicht ein paar von meinen Büchern, etwas anderes möchte ich nicht, Jonas.«

»Gut, also bringen wir dir deine Bücher mit. Sollte dir noch etwas einfallen, sag es ruhig.«

Norma wollte etwas hinzufügen, doch in diesem Augenblick betrat eine Schwester das Krankenzimmer. Sie brachte für Ingo eine Schnabeltasse mit Tee. Sie begrüßte Jonas und Norma Carlson und sagte freundlich: »Ich bin Schwester Laurie. Wenn Sie einen Wunsch haben, drücken Sie nur die Klingel, die hier an der Seite des Bettes angebracht ist. Wir haben es so gemacht, damit sie für Ingo jederzeit greifbar ist.«

»Danke, Schwester Laurie. Wir haben beide im Augenblick nur eine Frage. Wann ist es möglich, Herrn oder Frau Doktor Martens zu sprechen?«

»Sie waren beide bis vor ein paar Minuten hier auf der Krankenstation, Herr Dr. Martens hat jetzt aber eine dringende Besprechung. Ich könnte jedoch nachfragen, ob Frau Dr. Martens jetzt Zeit für Sie hat.«

»Wir würden gern mit beiden reden. Aber wenn es nicht möglich ist, dann mit Frau Dr. Martens.«

»Gut, ich werde nachfragen und sage Ihnen dann sofort Bescheid. Sie können aber versichert sein, daß Frau Dr. Martens genauso kompetent ist wie ihr Bruder. Sie ist, genau wie er, gleichberechtigte Chefärztin.«

»Entschuldigen Sie, Schwester Laurie, wir haben die Kompetenz von Frau Dr. Martens nicht eine Sekunde angezweifelt. Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, tut es uns wirklich leid. Es ging nur darum, daß Herr Dr. Martens unseren Jungen operiert hatte. Es ist aber in Ordnung, wenn Frau Dr. Martens Zeit für ein Gespräch hat.«

»Wird sofort erledigt.« Mit raschen Schritten verließ die Schwester das Zimmer.

Keine fünf Minuten später betrat sie erneut das Krankenzimmer. »Herr und Frau Doktor Martens erwarten Sie in ihrem Sprechzimmer«, sagte sie freundlich. »Wenn Sie mir bitte folgen würden, ich bringe Sie hin.«

Norma fuhr Ingo über das strohblonde Haar und sagte: »Wir lassen dich jetzt ein Weilchen allein, Ingo. Versuch doch, inzwischen ein wenig zu schlafen. Wir kommen auf jeden Fall wieder zu dir zurück.«

»Schon gut, Mutsch, geht ihr ruhig. Ich weiß ja, daß es wichtig ist.«

Auch Jonas nickte dem Jungen noch einmal aufmunternd zu, danach gingen beide hinaus auf den Gang zu Schwester Laurie, die sie beide hinunter zu Kay Martens Sprechzimmer führte.

Jonas fragte: »Sagten Sie nicht vorhin, daß Herr Dr. Martens jetzt eine wichtige Besprechung hat, Schwester Laurie?«

»Die Besprechung ist auf einen späteren Zeitpunkt verschoben worden. So haben Sie die Gelegenheit, mit Herrn und Frau Dr. Martens zu sprechen«, erklärte die junge Schwester.

Unten klopfte Laurie an die Tür zum Sprechzimmer, und auf Kays Aufforderung zum Eintreten öffnete sie die Tür und sagte: »Herr und Frau Carlson, Herr Doktor.« Damit ließ sie das Ehepaar an sich vorbei das Zimmer betreten. Sie selbst ging wieder hinauf auf die Krankenstation.

Hanna und Kay begrüßten das Ehepaar, und erst als Hanna beiden einen Platz angeboten hatte, fragte Kay mit ernstem Gesicht: »Sie wollten mich wegen Ihres Jungen sprechen?«

»Ja, Herr Doktor. Ingo hat uns da etwas gesagt, was meine Frau und mich sehr entsetzt hat. Wir möchten nun gern wissen, ob es stimmt, was Sie dem Jungen erklärt haben.«

»Ja, Herr Dr. Martens, ich möchte die Wahrheit wissen. Es geht dabei nicht allein um Ingo, sondern auch um seinen Zwillingsbruder, der den Unfall verschuldet hat«, sagte Norma nun und konnte dabei nicht verhindern, daß ihre Lippen zitterten.

»Es ist so, wie ich es Ihrem Sohn gesagt habe. Es handelt sich um eine, wie ich von ganzem Herzen hoffe, vorübergehende Störung. Der Grund dafür kann ein Schockzustand sein, der sich jeden Tag wieder von selbst aufheben kann. Es besteht aber auch die Möglichkeit, und davon habe ich Ingo noch nichts gesagt, daß er sich durch die Verletzung einen Dauerschaden zugezogen hat.«

»Wie sollen wir das verstehen, Herr Dr. Martens?« fragte Jonas mit fremder, rauher Stimme, während jeder Tropfen Blut aus Normas Gesicht zu weichen schien.

»Wie soll ich Ihnen das genau erklären? Es ist so, daß…«

»Wir wollen nur die Wahrheit wissen«, unterbrach Norma ihn mit tonloser Stimme.

»Was ist hier die Wahrheit, Frau Carlson?« mischte sich Hanna nun zum ersten Mal in das Gespräch ein. »Die Wahrheit, die wissen wir auch noch nicht. Wir müssen abwarten, bis sich Ihr Sohn etwas mehr erholt hat. Erst dann können wir noch einige Untersuchungen und Tests durchführen, die uns ein vorläufiges Endresultat bringen werden. Mit Dauerschaden meint mein Bruder eine Querschnittlähmung. Das würde für Ihren Jungen ein Leben im Rollstuhl bedeuten. Und wenn ich gerade sagte, ein vorläufiges Endresultat, so möchte ich dazu sagen, daß es sein kann, daß alles auf eine Lähmung hinweist, sich aber trotzdem nach einiger Zeit rausstellt, daß es nur ein durch den Schock erzeugter Ausfall war, und alles kommt wieder in Ordnung. Wir sagen Ihnen das alles nur, damit Sie erkennen, daß wir Ihnen beiden in keinem Punkt etwas vormachen wollen.«

»Wir verstehen und danken Ihnen für Ihre Offenheit. Es ist so besser, als später aus allen Träumen gerissen zu werden.«

»Wir versuchen immer, den Angehörigen unserer Patienten gegenüber ehrlich zu sein. Aber Sie sagten, da etwas von einem Zwillingsbruder Ingos, der das alles verschuldet haben soll. Mein Bruder und ich würden gern Näheres darüber erfahren. Aber nur, wenn Sie darüber reden wollen.«

»Meine Schwester hat recht, aber wir möchten uns nicht in Ihr Vertrauen drängen«, sagte Kay ruhig.

Jonas berichtete mit knappen Worten, wie es zu Ingos Unfall gekommen war. Als er am Ende noch über Saschas augenblicklichen Gemütszustand sprach, sagte Hanna ernst: »Was Sie da sagen, Herr Carlson, das klingt nicht gut. Ich kann Ihnen nur den guten Rat geben, über Ihrer Sorge um Ingo, den zweiten Zwilling nicht zu vergessen. Es könnte für den Jungen verheerende Folgen haben.«

»Wir alle wissen, daß Sascha jetzt auch eine schwere Zeit durchmacht, Frau Doktor. Es ist immer jemand da, der sich um ihn kümmert.«

»So muß es auch sein, denn die Seele eines jungen heranwachsenden Menschen, gerade in diesem schwierigen Alter, ist etwas sehr Zerbrechliches. Gehen Sie jetzt ruhig zu Ihrem Jungen zurück. Sobald wir mehr wissen, werden wir Sie umgehend informieren.«

Jonas bedankte sich noch einmal, danach verabschiedeten sie sich und verließen das Sprechzimmer.

Draußen auf dem Gang fiel die mühsam aufrechterhaltene Fassung von Norma ab. Sie schlug beide Hände vors Gesicht und stammelte: »Es darf nicht sein, ich stehe das nicht durch, Jonas. Hilf mir, was soll ich denn nur tun?«

Ganz fest nahm Jonas seine Frau in die Arme und hielt sie einen Moment eng an sich gepreßt.

»Wir müssen auf Gott vertrauen, Liebes. Du wirst sehen, es wird alles wieder gut. Du mußt um Ingos Willen jetzt weiter tapfer sein. Wir wollen ihm doch nicht noch mehr Furcht einjagen.«

»Was sollen wir ihm denn sagen? Du hast ihm versprochen, ehrlich zu sein.«

»Sind wir nicht ehrlich, wenn wir ihm das bestätigen, was er schon von Frau Dr. Martens erfahren hat? Viel mehr wissen wir doch auch nicht. Hinter allem steht immer noch ein großes Fragezeichen. Zeig ihm ein Lächeln, wenn wir gleich wieder bei ihm sind, dann hat er auch keine Angst. Jetzt komm, sei mein tapferer Liebling. Wir müssen durch diese Zeit hindurch, und gemeinsam werden wir es auch schaffen.«

Langsam, damit Norma genug Zeit hatte, ihre Fassung zurückzuerlangen, gingen sie wieder auf die Krankenstation zurück.

*

Es war ein paar Tage später. Als Hanna am Spätnachmittag aus der Klinik ins Doktorhaus kam und ihre Wohnung betrat, wirkte sie sehr ernst und niedergeschlagen.

»Willst du mir nicht sagen, was dich bedrückt, Mädel? Ich sehe dir doch an, daß da etwas nicht stimmt.«

»Weißt du, Mutti, es ist manchmal so deprimierend, wenn man helfen möchte und es nicht kann. Man fühlt sich dann so hilflos. Kannst du das verstehen.«

»Und ob ich das kann. Ich werde uns jetzt einen Kaffee machen, und dann erzählst du mir, um was es geht. Einverstanden?«

»Gut, Mutti, einen Kaffee, den kann ich jetzt vertragen. Kann das aber nicht die Füchsin machen?«

»Die Füchsin ist nach Ögela gefahren, etwas erledigen. Sie wird wohl erst in einer Stunde zurücksein. Setz dich ruhig hin – ich mach das schon.«

Fünf Minuten später saßen sich Mutter und Tochter gegenüber.

»Nun sag, was los ist, Hanna. Dich wirft doch sonst so schnell nichts um.«

»Es geht um einen unserer Patienten. Ich habe dir doch von dem Jungen erzählt, der von einem Pferd abgeworfen wurde, nicht wahr?«

»Ja, Kay hat ihn doch operiert.«

»Genau um den geht es, Mutti. Seit heute steht fest, daß er, wenn nicht ein Wunder geschieht, sein weiteres Leben im Rollstuhl verbringen wird. Der Junge ist doch gerade erst dreizehn.«

»Und ein Irrtum ist ausgeschlossen?«

»Wie es ausschaut ja, Mutti. Kay hat die letzten Ergebnisse der Tests vorliegen. Von der Hüfte abwärts hat der Kleine keinerlei Reflexe. Wir haben heute noch Schichtaufnahmen gemacht, auf denen keinerlei Schäden sichtbar wurden. Kay hofft zwar immer noch, daß es sich um einen Schockzustand handelt, aber darauf dürfen wir uns nicht verlassen. Uns bleibt jetzt nur die traurige Aufgabe, das alles den Angehörigen zu sagen. Das Hintertürchen, das wir bis jetzt offengelassen haben, hilft uns nicht mehr weiter. Wir dürfen den Eltern und auch dem Jungen keine Hoffnungen machen, die sich vielleicht nie erfüllen. Morgen mittag kommen die Eltern, dann wird Kay mit ihnen reden. Du kannst mir glauben, ich beneide Kay nicht um diese Aufgabe. Weißt du, wenn solche Fälle eintreten, dann fragt man sich unwillkürlich, warum.«

»Ich weiß es nicht. Gottes Wege sind unerforschbar. Nur er allein könnte diese Fragen beantworten. Und was Kay betrifft, mach dir keine Sorgen. Männer sind nicht mit so viel Gefühl beteiligt. Sie sehen alles realistischer. Das soll aber nicht heißen, daß es ihnen nichts ausmacht. Dir muß ich dazu eigentlich nichts sagen. Du kennst dich selbst, du kennst deinen Bruder.«

»Ich weiß genau, was du meinst, Mutti. Mir geht es nicht allein wegen des Jungen so an die Nieren. Ich habe ein wenig Angst um den Zwillingsbruder unseres Patienten, der das alles mitverschuldet hatte. Ich habe die Mutter schon vor Tagen darauf hingewiesen. Nun, es ist alles in allem keine angenehme Situation für alle Beteiligten.«

»Ich mach dir einen Vorschlag, Hanna. Wir sollten das Thema für heute einfach ganz sein lassen. Alles Reden darüber ändert ja nichts. Wir beiden Hübschen gehen jetzt ein halbes Stündchen an die Luft, damit du auf andere Gedanken kommst. Was meinst du dazu?«

»Warum nicht? Ein Spaziergang ist immer gut, wenn man fast den ganzen Tag angespannt in geschlossenen Räumen gearbeitet hat. Zieh dir einen warmen Mantel über, denn draußen ist es ziemlich kühl, dann können wir also. Für die Füchsin lassen wir eine Nachricht da, damit sie nach ihrer Rückkehr sofort weiß, wo wir abgeblieben sind.«

Der lange Spaziergang mit ihrer Mutter entspannte Hanna auf wohltuende Weise. Worüber gesprochen wurde, das waren Themen, die nichts mit der Klinik zu tun hatten.

Wieder im Doktorhaus, hatte Jolande ein leichtes Abendessen vorbereitet. Anschließend sah sich Hanna mit ihrer Mutter die Tagesschau im Fernsehen an.

Gerade als Hanna den Apparat ausgeschaltet hatte, kam Jolande ins Zimmer. »Hast du das Telefon nicht gehört, Hanna?«

»Telefon? Nein, Füchsin, das muß ich völlig überhört haben. Wir haben uns die Tagesschau angesehen. Wer war es denn?«

»Schwester Maria. Sie klang sehr aufgeregt und bittet dich, doch sofort in die Klinik hinüberzukommen, auf die Krankenstation.«

»Dann werde ich mich wohl beeilen müssen. Hat Schwester Maria gesagt, um was es sich handelt?« Hanna war schon an der Tür.

»Nein, Hanna, aber es scheint wichtig zu sein.«

»Soll ich auf dich warten, Hanna?« rief Bea Martens ihrer Tochter noch nach.

»Nein, Mutti, geh du ruhig schlafen. Ich weiß ja nicht, was los ist und wie lange es dauern wird«, entgegnete Hanna, und schon klappte hinter ihr die Tür zu.

Ziemlich außer Atem kam Hanna auf der Krankenstation an und sah sich nach einer Schwester um. Außer Maria mußte auch noch Schwester Jenny da sein, die beiden würden in einer halben Stunde von den Nachtschwestern abgelöst.

Hanna wollte gerade in der Teeküche nachsehen, da kam Schwester Jenny mit hochrotem Kopf aus einem der Krankenzimmer.

»Gott sei Dank, daß Sie da sind, Frau Doktor. Herr Dr. Herbst hat unten einen Unfall zu versorgen, darum hat Maria Sie rufen lassen.«

»Schon in Ordnung. Sagen Sie mir nur, um was oder wen handelt es sich denn?«

»Es geht um den Patienten auf Zimmer zehn. Er spielt verrückt und ist durch nichts zu beruhigen. Maria ist bei ihm.«

Hanna nickte und war im nächsten Moment hinter der Tür zu Zimmer zehn verschwunden. Ein paar Sekunden sah sie betroffen auf das Bild, das sich ihren Augen bot.

Schwester Maria stand über Ingo gebeugt und versuchte mit sanfter Gewalt, den Oberkörper des Jungen festzuhalten. Mit beiden Armen versuchte sich der Junge dagegen zu wehren.

»Was ist hier los, Schwester Maria?«

Das Gesicht, das die Schwester ihrer Vorgesetzten zuwandte, war mit feinen Schweißperlen bedeckt.

»Ich weiß auch nicht, was in den Jungen gefahren ist, Frau Doktor.«

»Lassen Sie mich mal.« Mit ein paar Schritten war Hanna neben der Schwester, die ihr bereitwillig Platz machte. Mit einem Blick sah Hanna wohl ein zerbrochenes Glas auf dem Nachttisch liegen, aber in diesem Moment schien es nebensächlich.

Mit ruhiger Stimme, die trotzdem nicht den Eindruck auf den Jungen verfehlte, sagte sie: »Was ist mit dir, Ingo? Warum machst du auf einmal einen Aufstand? Du warst doch bis jetzt ein braver und tapferer Junge. Willst du es mir nicht sagen?«

»Ich will nicht mehr. Alle lügen mich nur an. Wenn ich nie mehr laufen kann, dann will ich auch nicht mehr leben. Dann ist mir alles egal.« In den Augen des Dreizehnjährigen flackerte ein seltsames Licht.

»Ganz ruhig, Junge, ganz ruhig. Wer sagt dir denn, daß du nie mehr laufen wirst?«

»Ich weiß es, ich fühle ja noch nicht einmal, daß ich überhaupt noch Beine habe. Alle habt ihr gesagt, daß es in ein paar Tagen besser wird. Alles nur gelogen. Ich glaube überhaupt nichts mehr. Am liebsten wäre ich schon tot«, kam es leidenschaftlich aufbegehrend über Ingos Lippen. Im nächsten Moment lag in den Kissen vor Hanna nur noch ein Häufchen Elend.

Hanna setzte sich auf die Bettkante und fuhr mit ihrer Rechten mit einer sanften Geste über das strohblonde Haar. »Niemand hat dich bis jetzt angelogen. Und das Letzte, das möchte ich nicht noch einmal hören. Vergißt du denn deine Mutter? Sie und deine anderen Angehörigen haben dich doch lieb und machen sich große Sorgen um dich.«

»Jonas hat mir sein Wort gegeben, ehrlich zu sein. Er hat es nicht gehalten.«

»Jetzt hör mir mal gut zu, Ingo. Dein Stiefvater hat sein Wort gehalten. Bis heute weiß er auch nicht mehr als das, was ich dir auch gesagt habe. Du hast eine schwierige Operation hinter dir. Wir alle haben gehofft, daß das Gefühl nach einigen Tagen in deine Beine zurückkehrt. Erst nach den letzten Untersuchungen, die der Doktor bei dir durchgeführt hat, wissen wir, daß es nun doch länger dauern wird, bis es soweit ist. Und auch, wenn wir vergeblich warten, wenn du vielleicht für sehr lange Zeit in einem Rollstuhl sitzen mußt, so ist das noch lange kein Grund, einfach aufzugeben. Du hast einen wachen Verstand, hast deine beiden Arme. Damit kann man sein Leben gestalten. Es gibt so viele Kinder, zum Teil noch jüngere, die nicht so gut dran sind. Und noch eines möchte ich dir sagen. Solange noch Hoffnung besteht, kann sich auch schnell etwas ändern. Ich erwarte von dir, daß du es deiner Mutter morgen, wenn sie zu dir kommt, nicht zu schwer machst. Gibst du mir dein Wort, daß du keinen Unsinn mehr versuchst? Du weißt ja, ein gegebenes Wort muß man halten.«

»Ja, Sie haben mein Wort, Frau Doktor.«

»Fein, Ingo, ich verlasse mich auf dich. Du bekommst von mir jetzt etwas, damit du die Nacht gut schlafen kannst, und morgen früh, dann reden wir weiter. Einverstanden? Ich bin gleich zurück.«

Hanna ging rasch hinaus, dabei Schwester Maria einen Wink gebend, das zerbrochene Glas fortzuräumen.

Keine zehn Minuten später schlief Ingo. Hanna, die noch mit Schwester Maria den Vorfall besprach und dabei erfuhr, daß Ingo wohl mit Absicht das Glas zerbrochen hatte, um sich damit selbst Schaden zuzufügen, gab nun noch die Anweisung, trotz des verabreichten Schlafmittels ein ganz besonderes Auge auf den Jungen zu haben und diese Anweisung an die Nachtschwestern weiterzugeben.

Im Begriff, die Klinik wieder zu verlassen, traf Hanna mit Dr. Alex Herbst zusammen.

»Tut mir leid, daß man Ihren Feierabend gestört hat, Frau Dr. Martens, aber ich hatte einen Unfall zu versorgen. Ein Junge, der durch eine Türscheibe gefallen ist und sich dabei erhebliche Schnittwunden zugezogen hat. Ist oben jetzt alles in Ordnung?«

»Ja, sicher, soweit man von Ordnung reden kann.« In knappen Worten informierte Hanna den diensthabenden Arzt und bat auch ihn, sich während der kommenden Nacht um den Jungen zu kümmern. Danach verließ sie endgültig für diesen Tag die Klinik und ging zum Doktorhaus zurück.

*

Für Jonas und Norma wurde der nächste Tag ein sehr schwerer Tag. Nicht allein, weil sie von Kay Martens erfuhren, daß es mit Ingo doch schlimmer aussah, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Es war Ingo selbst, der es ihnen so schwer machte.

Als Jonas mit ihm über alles reden wollte, hatte Ingo nur abgewinkt und leise gesagt: »Ich weiß alles, Jonas. Ihr braucht mir nichts mehr zu sagen. Ich habe mich gestern ganz dumm benommen, es wird nicht wieder vorkommen.«

Diese Ruhe, diese Gleichmütigkeit, mit der er sprach, ließen Norma Tränen in die Augen treten. Sie nahm sich zusammen und sagte weich: »Sollten wir nicht trotzdem darüber reden, mein Junge? Vielleicht würde es die ganze Sache für dich leichter machen.«

Sie wollte ihm sanft über das Haar streicheln, doch hastig wehrte er ab und sagte abweisend: »Ich will nicht darüber reden, Mutsch. Laß mich damit in Ruhe.«

»Wie du willst, Junge. Aber du mußt wissen, Jonas und ich, wir sind immer für dich da, wenn du uns brauchst. Wir haben dich sehr lieb.«

»Ich habe dich auch lieb, und den Jonas mag ich auch sehr gern. Aber das mit mir, damit muß ich allein fertig werden. Ich bin jetzt müde und möchte etwas schlafen.«

Wenn er aufbegehrt, sich verzweifelt gegen sein Schicksal gewehrt hätte! Er war ja noch ein Kind. Norma hätte sich nicht so viel Sorgen gemacht. Es war die Ruhe, die Gleichgültigkeit, die den ganzen Tag über anhielt, über die sie und Jonas sich Gedanken machten, die ihre Sorgen vertieften.

Nur zögernd verließ Norma an diesem Tag mit Jonas die Kinderklinik. Am liebsten wäre sie nicht von der Seite ihres Jungen gewichen. Aber vor ihr und auch vor Jonas lag noch eine schwere Aufgabe. Jonas’ Eltern mußten es erfahren, und man mußte besprechen, wie man es noch ein Weilchen vor Sascha geheimhalten konnte.

Jutta Carlson, die vom Fenster aus sah, wie Jonas und Norma aus dem Wagen stiegen, fühlte ein ungutes Gefühl in sich hochsteigen. Die ernsten Gesichter der beiden ließen nur den Schluß zu, daß sie keine guten Nachrichten aus der Klinik mit nach Hause brachten.

Sie wandte sich ihrem Mann zu, der gerade dabei war, seine Pfeife anzuzünden. »Jonas und Norma kommen gerade aus der Klinik. Es sieht so aus, als ob sie keine gute Nachricht mitbringen würden.«

»Mal nicht gleich den Teufel an die Wand, Jutta, und warte ab. Was soll sich von gestern bis heute geändert haben? Sag lieber der Gesine in der Küche Bescheid, die jungen Leute werden Hunger haben.«

Jutta wollte daraufhin den Raum verlassen, doch im gleichen Augenblick kamen Norma und Jonas herein.

»Wo willst du hin, Mutter?« fragte Jonas.

»Ich will nur rasch in der Küche Bescheid sagen, damit Gesine für euch das Essen richtet. Ich komme sofort zurück.«

»Bleib, Mutter, das Essen hat Zeit. Ich habe sowieso keinen Appetit. Wir möchten beide zuerst mit euch reden. Aber sag mir, wo steckt Sascha?«

»Warum, Jonas? Sascha ist oben in seinem Zimmer. Möchtest du, daß ich ihn herunterhole?«

»Nein, ganz im Gegenteil. Was wir euch sagen müssen, soll der Junge vorläufig nicht wissen. Er hat sich in den vergangenen Tagen schon zu sehr verändert. Norma und ich möchten nicht, daß er noch mehr belastet wird. Es ist so schon alles schlimm genug. Setzt euch und hört zu. Bitte…«

»Junge, Junge, du machst uns ja richtig Angst. Was ist los? Geht es dem Jungen schlechter.«

Jonas wartete, bis sich seine Eltern und auch Norma gesetzt hatten. Er selbst blieb stehen und sagte dann sehr ernst: »Herr Dr. Martens und seine Schwester haben heute mit uns über Ingo gesprochen. Es steht jetzt fest, daß der Junge einen Rollstuhl braucht.«

»Nein, Jonas, sag, daß es nicht wahr ist! Das würde ja bedeuten, daß Ingo querschnittgelähmt ist.« Entsetzt starrte Jutta Carlson ihren Sohn an.

»Ja, Mutter, so ist es. Obwohl bei den Untersuchungen, die noch durchgeführt worden sind, kein Schaden sichtbar wurde, der als Ursache in Frage kommt, zeigt Ingo von der Hüfte an abwärts keinerlei Reflexe. Herr Dr. Martens sagte zwar, daß es sich um eine Schocklähmung handeln könnte, die nur durch einen anderen Schock wieder aufgehoben werden könnte, aber es ist besser, wir rechnen nicht damit.«

»Wie kannst du nur so etwas sagen?« polterte Hartmut Carlson los. »Ihr könnt euch doch nicht einfach damit abfinden.«

»Was heißt abfinden, Vater? Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Es hilft doch keinem, wenn wir die Augen verschließen und uns treiben lassen.«

»Und wie nimmt der Junge es auf? Er weiß es doch sicher schon, er ist ja nicht dumm.«

»Er weiß es, Vater.« Mit belegter Stimme berichtete Jonas vom Vorfall des vergangenen Tages, über den Norma und er von der Ärztin der Kinderklinik informiert worden waren. Als er über Ingos Verhalten an diesem Tag sprach, konnte Norma ihre Tränen nicht mehr zurückhalten.

Jutta Carlson stand von ihrem Platz auf, setzte sich neben die Schwiegertochter und sagte, indem sie den Arm um ihre Schultern legte, mit tröstender Stimme: »Nicht verzweifeln, Norma. Wenn wir alle weiter füreinander da sind, werden wir es auch gemeinsam durchstehen. Du weißt doch, nach jedem Regen folgt wieder Sonnenschein.«

»Wenn das alles so einfach wäre, Mutter«, sagte Norma und fuhr sich mit einer hastigen Bewegung über die Augen. »Einer meiner Buben im Rollstuhl, nur allein daran zu denken, schnürt mir das Herz zusammen. Herr Dr. Martens sagte etwas von einem Rehabilitationszentrum, in dem Ingo sich an sein zukünftiges Leben gewöhnen und mit dem Rollstuhl umzugehen lernen soll. Das klingt für Ingo so endgültig. Ich werde nicht versuchen, ihn dazu zu überreden. Er kann sich doch auch hier zu Hause, bei vertrauten Menschen, an all das gewöhnen.«

»Mach dir keine Sorgen, Norma. Er wird von der Klinik aus sofort zu uns nach Hause kommen. Massagen und was sonst noch gemacht werden muß, können auch in Birkenhain erledigt werden. Und wenn das nicht ausreicht, werden wir privat eine Pflegerin einstellen. Ist denn schon ein Termin genannt worden, wann Ingo die Klinik verlassen kann? Es sind doch seit der Operation gerade erst acht Tage vergangen.«

»Noch eine Woche, dann können wir ihn mitnehmen. Das heißt, wenn bis dahin soweit alles in Ordnung ist. Jonas wird sich inzwischen um einen guten Rollstuhl kümmern. Jetzt möchte ich nach Sascha sehen. Hat er schon zu Abend gegessen?«

»Natürlich, Norma. Ich mache mir nur Sorgen, weil er im Augenblick sehr schlecht ißt. Er hat sich in den vergangenen Tagen überhaupt sehr verändert. Er ist so still geworden.«

»Ist er denn pünktlich aus der Schule heimgekommen?«

»Ja, und er hat auch sofort nach dem Mittagessen seine Hausaufgaben gemacht.«

»Mutter hat recht, Norma. Der Junge ist schon o.k. Er war vorhin sogar das erste Mal wieder mit mir in den Pferdeställen. Ihr könnt ganz beruhigt sein. Wenn ihr in der Klinik seid, sorgen Mutter und ich dafür, daß er so wenig wie möglich allein ist. Daß er jetzt oben ist, das war sein eigener Wunsch. Er wollte etwas basteln, bis ihr aus der Klinik zurückkommen würdet.«

»Danke, Vater, ich werde jetzt zu Sascha hinaufgehen.«

Als Norma die Treppe hinaufging, schien es ihr einen Moment, als würde oben leise eine Zimmertür zuschnappen. Doch sie mußte sich wohl geirrt haben. Als sie nämlich zu Sascha ins Zimmer trat, saß er an seinem Schreibtisch und war in eines seiner Jugendbücher vertieft. Das einzige, was ihr dann noch auffiel, war, daß er noch stiller als in den vergangenen Tagen war.

Sie unterhielt sich eine Weile mit ihm über alle möglichen Themen. Als sie ihn aber noch ein wenig mit nach unten nehmen wollte, lehnte er ab und behauptete, daß er müde sei.

»Gleich läuft ein Film mit Bud Spencer. Du interessierst dich doch sonst für diese Filme, Sascha?«

»Heute nicht, Mutsch, ich muß morgen wieder früh aufstehen. Unser Lehrer hat auch etwas von einer Mathearbeit gesagt. Du kannst ja Jonas, Opa und Oma eine gute Nacht von mir wünschen. Ich möchte mich sofort hinlegen und schlafen.«

»Gut, mein Junge, ich werde es den anderen sagen. Schlaf gut, auch ich wünsche dir eine gute Nacht.«

»Gute Nacht, Mutsch. Und grüß den Ingo von mir, wenn du ihn in der Klinik besuchst.«

»Mach ich gern, Sascha. Ingo würde sich bestimmt freuen, wenn du Jonas und mich einmal in die Kinderklinik begleiten würdest. Ihr müßt euch wieder vertragen. Ihr seid doch Zwillingsbrüder.«

»Bald, Mutsch, ich weiß noch nicht. Gute Nacht.«

Norma sah ein, daß sie ihn nicht weiter bedrängen sollte. Nach einem liebevollen Kuß und einer Umarmung verließ Norma das Zimmer und ging zu den anderen zurück.

*

Wie an jedem Morgen waren auf dem Carlsonhof alle schon sehr früh auf den Beinen. Gesine werkelte so ziemlich als erste in der Küche herum, um für alle das erste Frühstück vorzubereiten. Jonas und sein Vater halfen um diese frühe Morgenstunde in den Stallungen.

Als Norma nach unten kam, war die Schwiegermutter auch schon auf und deckte den Frühstückstisch.

»Guten Morgen, Norma. Warum bist du nicht noch ein wenig liegengeblieben? Ich weiß doch, daß die Tage in der Klinik für dich sehr anstrengend sind. Ich hätte mich schon darum gekümmert, daß Sascha versorgt wird und pünktlich in die Schule kommt. Jonas hat mir vorhin noch gesagt, daß ich den Jungen so lange wie möglich schlafen lassen soll, er bringt ihn heute wieder zur Schule.«

»Ich konnte nicht mehr schlafen, Mutter. Mir geht so viel im Kopf herum. Es ist lieb von dir und Vater, daß ihr euch in diesen schweren Tagen so viel um Sascha kümmert, aber er soll sich um Gottes willen von mir nicht zurückgesetzt fühlen. Die freie Zeit, die mir die Besuche in der Klinik lassen, werde ich selbstverständlich für ihn da sein. Ich lasse Sascha noch ein Viertelstündchen schlafen, danach wecke ich ihn, damit er noch in Ruhe frühstücken kann, bevor Jonas ihn zur Schule fährt. Meinst du, Gesine hat für mich eine Tasse Kaffee?«

»Da bin ich ganz sicher, denn sie hat ja inzwischen schon für unsere Leute das erste Frühstück fertig. Gehen wir gemeinsam in die Küche. Bis unsere beiden Männer zum Frühstück erscheinen, kann ich auch einen Kaffee vertragen.«

Gesine, die Köchin, kam gerade aus dem Eßraum der Arbeiter und Helfer zurück, denen sie das Frühstück gebracht hatte.

Natürlich hatte sie für die beiden Frauen schon frischen Kaffee. Während diese das heiße Getränk zu sich nahmen, unterhielten sie sich noch ein paar Minuten mit der fülligen Gesine, danach wurde es für Norma Zeit, nach oben zu gehen, um Sascha zu wecken.

Norma, die es sich angewöhnt hatte, nicht einfach ohne anzuklopfen in das Zimmer ihrer beider Jungen hineinzuplatzen, klopfte auch an diesem Morgen erst ein paar Mal an die Tür. Als sich dahinter jedoch überhaupt nichts rührte, betrat sie dem Raum.

Überrascht und leicht betroffen blieb sie stehen. Das Bett war zwar benutzt, aber Sascha war nicht im Zimmer.

Sascha würde sicher schon ins Frühstückszimmer gegangen sein, während sie mit der Schwiegermutter in der Küche war, dachte Norma und ging mit eiligen Schritten hinunter.

Im Eßzimmer war aber nur die Schwiegermutter. »Na, hast du den Jungen wachbekommen, Norma?«

»Sascha war nicht mehr in seinem Zimmer, Mutter. Ich hoffte, ihn schon hier unten anzutreffen. Ich verstehe das nicht ganz.«

»Vielleicht konnte er auch nicht mehr schlafen. Als er uns hier unten nicht angetroffen hat, ist er vielleicht zu Jonas und Vater hinaus in die Ställe gegangen. Geh doch mal nachsehen.«

»Mach ich sofort. Der Junge kann ja nur in den Ställen sein. Ich bringe Jonas und auch Vater gleich mit zum Frühstück.«

Eilig verließ Norma das Wohnhaus und eilte zu den Pferdeställen hinüber, die Jonas und der Schwiegervater gerade verlassen wollten.

»Guten Morgen, Liebes, schon auf?«

»Guten Morgen, Jonas, guten Morgen, Vater«, antwortete Norma, dann fragte sie und spürte dabei plötzlich Angst und Unruhe in sich hochsteigen: »Ist Sascha nicht bei euch?«

»Sascha? Ich bitte dich, Norma, wie kommst du darauf? Wenn der Junge früh zur Schule muß, kommt er doch vorher nie in die Stallungen.«

»Sascha ist aber weder in seinem Zimmer noch irgendwoanders drüben im Haus. Ich war so sicher, ihn bei euch vorzufinden. Wenn er nicht hier ist, wo kann er dann stecken? Ich bin mit einem Mal so unruhig.«

»Warum denn das, Liebes? Mach dich jetzt bloß nicht verrückt. Wußte er denn, daß ich ihn heute zur Schule bringen wollte?«

»Nein, ich wollte es ihm beim Wecken sagen.«

»Na, siehst du, da haben wir es schon. Vielleicht hatte er Angst, zu spät zu kommen und ist zum Bus gegangen, um zur Schule zu fahren. Möglich, daß er sich mit der Zeit vertan hat.«

»Ohne sich zu verabschieden? Ohne vorher zu frühstücken? Das hat er doch noch nie getan. Ich kann es auch nicht glauben.«

»Trotzdem ist es möglich. Sascha wird seit Ingos Unfall von starken Gefühlsschwankungen gebeutelt, da kann es durchaus sein, daß er sich einfach verdrückt hat, wie man so schön sagt.« Mit einem Blick auf die Uhr fügte Jonas noch hinzu: »Sascha sitzt in diesem Augenblick sicher im Bus, der vor ein paar Minuten abgefahren ist. Wir sollten das zum jetzigen Zeitpunkt nicht überbewerten, sondern abwarten, bis er heute mittag aus der Schule zurückkommt. Wir werden ihn dann fragen, was er sich eigentlich dabei denkt, mit uns solche Spielchen zu treiben. Jetzt laß uns ins Haus gehen und frühstücken.«

Während des Frühstücks, bei dem auch Jonas’ Mutter dessen Meinung vertrat, machte sein Vater den Vorschlag: »Wie wäre es, wenn Mutter und ich heute zuerst zur Kinderklinik fahren würden, um Ingo zu besuchen. Ihr beide habt dann die Gelegenheit, sofort mit Sascha zu reden, wenn er heute mittag kommt. Es ist eure Angelegenheit, dem Jungen klarzumachen, daß es so nicht geht. Er muß euch wenigstens Bescheid sagen. Er muß sich doch denken können, daß ihr euch Sorgen macht.«

»Das wird wohl das beste sein, Vater«, erwiderte Jonas. »Ich werde es sogar noch anders machen. Da ich sowieso heute in die Stadt wollte, um mich in den einschlägigen Fachgeschäften nach einem Rollstuhl umzusehen, der für Ingo geeignet ist, kann ich es gleich mit etwas anderem verbinden. Ich fahre am besten so, daß ich im Anschluß daran Sascha von der Schule abholen kann. Ich würde dann unterwegs schon versuchen, mit dem Jungen zu reden. Ist dir das recht, Liebes?«

»Da fragst du noch, Jonas?«

»Gut, dann machen wir es so. Wir zwei fahren dann heute nachmittag zu Ingo in die Kinderklinik.«

»Und die Arbeiten hier auf dem Hof? Bleibt nicht zu viel liegen, wenn du die ganzen Stunden und Tage mit mir in der Kinderklinik verbringst? Der Hof ist doch auch wichtig.«

»Mach dir darum keine Sorgen«, sagte nun Hartmut Carlson mit einem breiten Lachen.

»Wie Vater schon sagt, Liebes. Wir haben gute Leute, die für uns arbeiten. Da die Erntezeit schon eine ganze Weile vorbei ist, liegt im Augenblick nicht so viel Arbeit an. Vater und ich gaben jeden Morgen die Anweisungen für den Tag aus, und alles klappte danach wie am Schnürchen. Ich bin froh, so viel Zeit mit dir in der Klinik verbringen zu können. Ich werde es auch weiter so halten und viel Zeit mit beiden Jungen verbringen, wenn erst alles vorbei ist. Um noch einmal auf die Fahrt in die Stadt zurückzukommen. Soll ich dir etwas mitbringen? Hast du irgendeinen Wunsch?«

»Für mich nicht, aber du kannst für Ingo und Sascha noch ein paar Jugendbücher mitbringen.«

»An was hast du gedacht?«

»An nichts Bestimmtes. Vielleicht findest du ein paar Detektivbücher. Etwas, was beide gern lesen.«

»Ich werde schon das Richtige finden. Um halb zehn werde ich von hier losfahren. Was machst du inzwischen, wenn Vater und Mutter zu Ingo fahren?«

»Arbeit gibt es genug im Haus, und Gesine kann in der Küche bestimmt auch Hilfe brauchen.«

*

In der Stadt konnte Jonas alles zu seiner Zufriedenheit regeln. Schon bevor der Schulunterricht für Saschas Schulklasse beendet war, saß er im Wagen, den er vor der Schule geparkt hatte, und wartete. Sascha würde vielleicht Augen machen, wenn er ihn sah. Er rechnete hundertprozentig nicht damit, daß er von der Schule abgeholt wurde.

Jonas hörte die Schulglocke und sah die Zwölf- und Dreizehnjährigen aus dem Gebäude strömen. Doch so sehr er sich auch anstrengte, Sascha konnte er unter den Jungen nicht entdecken. Dann waren sie alle an ihm vorbei, nur Sascha kam nicht. Nun wußte Jonas auch nicht mehr, was er von der ganzen Sache halten sollte. Übersehen hat er den Jungen ganz bestimmt nicht. Einen Moment überlegte er, dann stieg er aus seinem Wagen aus und ging mit zögernden Schritten auf das Schulgebäude zu. Gerade als er es betreten wollte, sagte hinter ihm eine Männerstimme: »Suchen Sie jemanden? Ich bin der Hausmeister.«

»Ja, ich suche meinen Stiefsohn. Er war nicht bei den Schülern, die vorhin das Gebäude verlassen haben. Vielleicht könnten Sie mir sagen, wo ich Herrn Wärmter finden kann. Er ist der Klassenlehrer unseres Jungen.«

»Herrn Wärmter finden sie um diese Zeit noch im Lehrerzimmer. Gleich unten der Flur rechts, die dritte Tür.«

Jonas bedankte sich höflich und betrat nun entschlossen das Schulgebäude. Nur ein paar Minuten später stand er Saschas Klassenlehrer gegenüber, einem sympathischen Herrn, den er schon bei der Anmeldung der beiden Jungen kennengelernt hatte.

Auch Egon Wärmter erinnerte sich und fragte nach der freundlichen Begrüßung: »Sie sind sicher gekommen, um auch den Sascha abzumelden. Ist der Junge krank?«

»Sascha krank? Wie soll ich das verstehen, Herr Wärmter? Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, da er heute dem Unterricht ferngeblieben ist, liegt es doch nahe, oder?«

»Der Junge war nicht in der Schule?«

»Nein, wie ich bereits sagte. Ich denke, daß Sie mir das erklären können.«

»Da ist noch nicht viel zu erklären. Als meine Frau den Jungen heute morgen wecken wollte, war er schon weg. Obwohl für uns alles sehr befremdlich war, es aber die Zeit war, zu der der Bus fährt, nahmen wir an, er wäre schon zur Schule gefahren. Ich hatte in der Stadt zu tun und wollte ihn lediglich heute mittag von der Schule abholen und mit nach Hause nehmen. Können Sie mir vielleicht sagen, ob sich Sascha in seiner Schulklasse schon jemandem angeschlossen hat?«

»Tut mir leid, das ist leider noch nicht der Fall. Da Sie schon einmal hier sind, kann ich Ihnen auf diesem Weg auch mitteilen, daß die Leistungen des Jungen gerade in der vergangenen Woche sehr nachgelassen haben. In dieser Woche hat er sich so gut wie gar nicht am Unterricht beteiligt. Ich hatte schon vor, Ihnen das schriftlich mitzuteilen!«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Herr Wärmter. Sie müssen mich jetzt entschuldigen. Ich muß nach Hause zurück. Sie können sich sicher vorstellen, daß ich mir nun doch sehr große Sorgen um den Verbleib des Jungen mache. Ich hoffe nur, daß er inzwischen schon zu Hause ist.«

»Das kann ich verstehen, Herr Carl­son, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich kurz telefonisch informieren würden, ob alles in Ordnung ist.«

»Das werde ich selbstverständlich gerne tun, Herr Wärmter.« Nach einem herzlichen Händedruck verließ Jonas mit langen Schritten das Schulgebäude. Er war auf einmal sehr unruhig und wollte so schnell wie möglich nach Hause.

Wie erwartet war Norma allein, als Jonas zu Hause eintraf.

»Wo hast du Sascha gelassen? Wolltest du ihn nicht von der Schule abholen?« empfing sie ihn schon an der Tür.

»Komm, Liebes, gehen wir erst einmal hinein. Ich muß mit dir reden.«

»Warum, Jonas? Was ist los? Ist etwas mit Sascha?«

Sie waren inzwischen im Wohnzimmer, und Jonas schob seiner jungen Frau einen Sessel zurecht.

Erst als sie saß und ihn mit bangen Blicken ansah, sagte er ernst: »Ich hatte eigentlich erwartet, Sascha schon wieder zu Hause vorzufinden.«

»Nein, hier ist er aber nicht.«

»Du darfst dich jetzt nicht aufregen, Liebes, aber der Junge war heute nicht in der Schule. Ich habe mit seinem Klassenlehrer gesprochen, der angenommen hatte, daß Sascha auch krank sei.«

Norma wurde blaß und starrte ihren Mann einige Sekunden verständnislos an. Doch dann brach es verzweifelt aus ihr heraus: »Nein, Jonas, nicht auch noch das. Reicht es denn noch immer nicht aus, was wir im Augenblick zu ertragen haben? Wo kann Sascha denn sein? Er kennt hier doch niemanden. Du mußt sofort die Polizei benachrichtigen. Er kann doch nicht einfach weglaufen. Es lag kein Grund vor. Ich habe gestern abend noch eine ganze Weile mit ihm gesprochen.«

»Hast du etwas davon gesagt, was mit Ingo los ist?«

»Nein, wie kommst du denn darauf? Wir waren uns doch einig, daß wir es noch vor ihm geheimhalten. Nein, ich habe ihm nichts gesagt. Aber warte mal. Als ich gestern zu ihm hinaufgegangen bin, kam es mir einen Moment so vor, als sei oben leise eine Tür zugeklappt. Als ich jedoch Saschas Zimmer betrat, war er wie immer in den letzten Tagen, und ich habe dem Geräusch weiter keine Bedeutung beigemessen. Könnte es sein, daß Sascha vielleicht hinuntergekommen ist und alles gehört hat.«

»Es wäre möglich, Liebes. Es würde jedenfalls sein kopfloses Verhalten erklären. Aber deswegen die Polizei einzuschalten, das wäre verfrüht. Du mußt oben im Zimmer nachsehen, ob irgend etwas fehlt. Vielleicht hat er auch nur einen Tag die Schule geschwänzt. So oder so, wir müssen abwarten, wir dürfen jetzt beide nicht die Nerven verlieren. Sollst sehen, es klärt sich alles als ganz harmlose Sache auf.«

»Ich weiß nicht, Jonas. So etwas hat Sascha noch nie gemacht. Da muß etwas anderes dahinterstecken. Ich werde erst wieder beruhigt sein, wenn er bei uns ist.«

Eine halbe Stunde später kamen die Schwiegereltern aus der Klinik zurück. Sie brachten die beruhigende Nachricht, daß mit Ingo soweit alles in Ordnung war. Betroffen reagierten sie, als sie von Saschas Verschwinden hörten.

»Das gibt es doch überhaupt nicht«, entfuhr es Hartmut Carlson im ersten Moment. Dann, nach einigem Überlegen, meinte er ruhig: »Es muß nicht unbedingt etwas zu bedeuten haben. Wenn ihm der Magen knurrt, wird er schon wieder auftauchen. Er ist ja, ich muß es noch einmal betonen, kein kleines Kind mehr. Wir sollten jetzt zu Mittag essen, damit ihr anschließend zur Klinik fahren könnt.«

»Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe, Vater. Wie kann ich ruhig an Ingos Bett sitzen, wenn ich nicht weiß, wo Sascha steckt?«

»Aber wenn du nicht kommst, macht Ingo sich Gedanken.«

»Wenn ihr es so seht, gut, dann fahre ich. Es wäre mir aber lieb, wenn Jonas dann hierbleiben und sich um die Angelegenheit kümmern würde.«

»Traust du mir das nicht zu, Norma? Fahrt ihr wie immer zur Klinik, wir werden inzwischen hier die Stellung halten. Sollte etwas Unvorhergesehenes eintreten, rufe ich in der Klinik an und lasse Jonas ans Telefon holen. Seid ihr damit einverstanden, daß wir es so machen?«

Norma und Jonas nickten beide.

*

An diesem Tag blieben Norma und Jonas nicht so lange in der Kinderklinik. Schon gegen achtzehn Uhr kamen sie wieder zurück. An den bedrückten Gesichtern ihrer Schwiegereltern erkannte Norma sofort, daß sich in der Zwischenzeit nichts getan hatte. Erneut trieb ihr die Angst und die Sorge um Sascha Tränen in die Augen.

»Willst du noch immer nichts unternehmen, Jonas? Wie lange sollen wir denn noch warten? Es kann doch den ganzen Tag über wer weiß was passiert sein«, begehrte sie auf.

»Bitte, Liebes, beruhige dich. Ich fahre sofort in den Ort und werde Kommissar Butenbrink aufsuchen.«

»Das hättest du schon heute mittag tun müssen.«

»Nein, hätte ich nicht. Einen Dreizehnjährigen kann man nicht schon nach ein paar Stunden als vermißt melden.«

»Das kann ich einfach nicht glauben.«

»Es ist aber so, Norma«, warf Hartmut nun beschwichtigend ein, und Norma senkte resignierend den Kopf.

»Ich fahre dann also. Der Kommissar ist ein tüchtiger Beamter, er wird uns schon helfen, den Jungen zu finden. Kümmert ihr euch um Norma, ich werde mich beeilen.«

Im nächsten Moment verließ Jonas mit langen Schritten das Haus. Und dann hörte sie ihn mit dem Wagen den Hof verlassen.

»Warum muß uns das passieren, Mutter? Es war doch alles so schön. Ich war so zuversichtlich, als sich die beiden Jungen langsam hier bei euch eingewöhnten.«

»Wir werden es durchstehen, Norma. Jetzt sollten wir uns erst einmal weiter Gedanken darüber machen, wo Sascha sein könnte. Geh doch einmal hinauf in das Zimmer des Jungen und sieh nach, ob irgend etwas fehlt. Sascha und Ingo haben doch auch ihre Spardosen oben. Wir müssen jetzt an alles denken. Wenn wir hier sitzen und Trübsal blasen, kommen wir nicht weiter. Wir müssen alle Möglichkeiten mit einbeziehen.«

Oben im Jugendzimmer fehlte nur das, was Sascha an diesem Tag anhatte, und seine Schultasche. Als sie aber nach den Spardosen sah, entdeckte sie, daß die von Sascha leer war. Ganz aufgeregt eilte sie mit der leeren Spardose nach unten und zeigte sie den Schwiegereltern.

»Dann muß der Junge vorgehabt haben, einfach auszureißen. Hast du eine Vorstellung, was er an Geld in seiner Spardose hatte?«

»So um, die fünfzig Euro.«

»Damit kann er schon etwas anfangen. Wir sollten nun zunächst alle Adressen seiner alten Freunde in Lüneburg notieren und uns mit den Eltern dieser Freunde telefonisch in Verbindung setzen. Daß der Sascha ein kleiner Heißsporn ist, das hat er uns ja zur Genüge bewiesen. Die Namen der Freunde, die weißt du ja sicher noch alle, oder?«

Als Jonas von seinem Besuch beim Kommissar Butenbrink nach Hause kam, war sein Vater schon dabei, mit den Eltern von Saschas Freunden aus Lüneburg zu telefonieren. Doch keiner der Anrufe brachte einen Hinweis.

»Gibt es sonst noch Bekannte oder Freunde, die Sascha aufgesucht haben könnte, Liebes? Denk nur nach.«

»Nein, außer den Namen, die ich aufgeschrieben habe, wüßte ich niemanden mehr«, antwortete Norma, die die ganze Zeit schon wieder den Tränen nahe war. »Was sagt denn der Kommissar Butenbrink?«

»Er hat die Vermißtenanzeige aufgenommen. Er wird sich mit den Dienststellen in den umliegenden Städten und Orten in Verbindung setzen, danach geht alles seinen Weg. Uns bleibt nur das Warten. Der Kommissar wird sich bei uns melden, sobald er etwas weiß.«

Bis weit nach Mitternacht dauerte es, bis es Jonas und seinen Eltern gelang, Norma dazu zu bewegen, sich endlich für ein paar Stunden hinzulegen.

Jonas, der oben im Schlafzimmer solange gewartet hatte, bis er sicher war, daß Norma eingeschlafen war, ging noch einmal zu seinen Eltern hinunter.

»Schläft sie endlich, Junge?«

»Ja, Gott sei Dank. Ein paar Stunden Schlaf werden Norma guttun.«

»Was können wir denn noch tun, um den Aufenthaltsort Saschas herauszufinden, Jonas?«

»Ich weiß es nicht. Ich bin mit meinem Latein auch am Ende. Wir müssen wohl warten, bis die Suche der Polizei einen Erfolg bringt.«

»Die haben doch auch nicht mehr Anhaltspunkte als wir.«

»Genau, Jutta, darum müssen wir auch noch etwas unternehmen«, sagte Hartmut Carlson. »Ich würde vorschlagen, daß entweder Jonas oder ich uns noch einmal persönlich mit den Eltern von Saschas Freunden in Verbindung setzen. Ich meine damit, nach Lüneburg fahren und mit ihnen reden. Sonst wüßte ich auch nichts mehr.«

»Ich kann das nicht machen, Vater. Ich glaube nicht, daß Norma morgen fähig sein wird, allein zu Ingo in die Klinik zu fahren. Es kann aber auch sein, daß ich allein zu ihm fahre. Ich will nicht, daß Ingo damit belastet wird. Ich war froh, ihn heute so friedlich anzutreffen.«

»Ich fahre nach Lüneburg, während Mutter sich um Norma kümmern kann.«

»Wurdest du das machen, Mutter?«

»Da fragst du noch, Jonas? Das ist doch wohl selbstverständlich. Ich kann gar nicht sagen, wie leid mir Norma tut. Ist alles ein bißchen viel auf einmal, was sie jetzt durchmachen muß. Du mußt dir nur für Ingo eine Erklärung einfallen lassen, wenn Norma nicht mit in die Klinik kommt.«

»Mir wird schon was einfallen. Ich denke jedoch, daß wir jetzt auch zu Bett gehen. Es ist schon zwei Uhr vorbei. Ich für meinen Teil lege mich jetzt hin. Ich glaube kaum, daß wir vor Tagesanbruch noch etwas von Kommissar Butenbrink hören. Wenn du morgen vormittag nach Lüneburg fährst, solltest du jetzt auch schlafen gehen, Vater.«

Es dauerte nicht lange, und im Haus der Carlsons kehrte Ruhe ein.

*

Für Norma begannen Tage, an denen sie völlig verzweifelt war. Was wie ein wunderschönes Glück begonnen hatte, schien nur noch ein einziger Scherbenhaufen zu sein. Sie war einem Zusammenbruch nahe, und es mußte sogar ein Arzt geholt werden.

In all diesen Tagen kam nicht das kleinste Lebenszeichen von Sascha. Weder Hartmut Carlson hatte eine Spur gefunden, noch hatten die polizeilichen Nachforschungen und Ermittlungen etwas gebracht.

Vier Tage waren inzwischen so vergangen. Bis zu diesem Zeitpunkt war es Jonas gelungen, Ingo durch kleine Notlügen zufriedenzustellen. Er hatte dem Jungen gesagt, daß seine Mutsch sich eine Grippe geholt hätte und noch nicht wieder in Ordnung sei. Erst als ihm Ingo am fünften Tag sagte, daß er in ein paar Tagen nach Hause dürfte, ließ sich Jonas bei Dr. Hanna Martens zu einem Gespräch anmelden.

Kurz nach der Mittagszeit betrat er ihr Sprechzimmer.

»Sie wollten mich sprechen, Herr Carlson?« Mit einem herzlichen Lächeln reichte Hanna Jonas zur Begrüßung die Hand.

»Ja, Frau Dr. Martens. Ich freue mich, daß Sie Zeit für mich haben. Es ist sehr wichtig für mich!«

»Es ist selbstverständlich, daß ich Zeit für die Angehörigen unserer Patienten habe. Was kann ich für Sie tun? Geht es um Ingo? Es ist doch soweit alles mit ihm in Ordnung. Es gibt im Augenblick keinen zwingenden Grund, ihn noch viel länger in der Klinik zu behalten. Was jetzt getan werden kann, kann daheim die Familie machen. Im Kreise der Angehörigen wird er sich eher an den Rollstuhl gewöhnen und mit ihm umgehen können. Hier im Haus ist nur das Zimmer und der Gang. Sie verstehen sicher, was ich Ihnen damit sagen will.«

»Ich verstehe Sie sogar sehr gut, und im Normalfall würde ich mich sehr darüber freuen. Aber da ist etwas in unserer Familie geschehen, was noch kein Ende hat. Ich möchte Sie bitten, Ingo doch noch ein paar Tage länger hier in der Klinik festzuhalten.«

»Nun, ein paar Tage dauert es sowieso noch, bis wir den Jungen entlassen. Hat das, was in ihrer Familie geschehen ist, mit Ihrer Frau zu tun? Ich vermisse sie schon seit einigen Tagen. Sie ist doch wohl nicht ernsthaft krank, oder?«

»Ja und nein, Frau Dr. Martens. Es ist etwas Schlimmes geschehen.«

Mit ernster Stimme berichtete Jonas der betroffen zuhörenden jungen Ärztin über die Geschehnisse auf dem Carlsonhof. Als er mit seinem Bericht am Ende war, sagte er: »Jetzt wissen Sie, warum ich Sie bitte, den Jungen noch etwas in der Klinik zu behalten.«

»Das ist wirklich eine sehr schlimme Sache. Ich wünsche Ihnen allen von ganzem Herzen, daß dieser Alptraum bald vorüber ist und Sie den Ausreißer wieder bei sich haben. Wenn es mit Ingos Entlassung soweit ist, und sein Bruder ist noch nicht wieder daheim, wird mir schon was einfallen. Sie können sich darauf verlassen. Es muß eine fürchterliche Zeit sein, die vor allen Dingen Ihre Frau im Augenblick durchzumachen hat. Aber ich bin davon überzeugt, daß sich ein dreizehnjähriger Junge nicht auf die Dauer unsichtbar machen kann. Haben Sie denn schon Fotos von ihm in den Zeitungen gebracht?«

»Ja, wir haben alle Möglichkeiten ausgeschöpft.«

»Dann wird er bestimmt bald wieder im Schoß der Familie sein. Irgend jemand wird ihn sehen, ihn erkennen, und sich dann bei Ihnen oder der Polizei melden.«

»Ich hoffe es jeden Tag, Frau Doktor. Ich danke Ihnen noch einmal, daß Sie Zeit für mich hatten. Ich werde nun wieder zu Ingo zurückgehen. Bis jetzt konnte ich ihn zufriedenstellen. Ich sagte ihm, daß seine Mutter krank ist, daß sie eine Grippe hat und daher nicht kommen kann. Und daß sie krank ist, ist ja auch keine Lüge.«

»Ich wünsche Ihnen auf jeden Fall, daß sich recht bald alles zum Guten wendet. Es wäre schön, wenn Sie es mich wissen ließen.«

»Das werde ich, Frau Doktor.« Jonas verabschiedete sich nun endgültig und ging zur Krankenstation zurück.

Als Kay Martens einige Minuten später zu seiner Schwester ins Sprechzimmer kam, saß sie noch immer überaus nachdenklich hinter ihrem Schreibtisch.

»Hast du Probleme, Hanna?« fragte er lächelnd. »Du solltest doch ins Untersuchungszimmer kommen, um bei der Untersuchung der kleinen Sofia dabei zu sein.«

»Entschuldige, Kay, das ist irgendwie untergegangen. Wir können das ja nachholen. Tut mir leid.«

»Schon alles erledigt. So wichtig war es ja nicht, daß du unbedingt zugegen sein mußtest. Interessieren würde es mich jedoch, was so wichtig war, daß du den Termin vergessen hast. Es läuft doch alles ganz passabel in der Klinik.«

»Es hat mich nicht direkt etwas mit uns zu tun. Herr Carlson hatte mich um ein Gespräch gebeten.«

»Herr Carlson, der Stiefvater von Ingo? Bei dem Jungen ist doch soweit alles zufriedenstellend, wenn man von der Lähmung absieht.«

»Es geht um etwas anderes, Kay. Hör zu, ich werde es dir erzählen.«

Während Hanna ihrem Bruder nun die unglaubliche Geschichte erzählte, die sie kurz zuvor von Jonas Carlson gehört hatte, schüttelte Kay immer wieder ungläubig den Kopf.

Erst als Hanna schwieg, platzte er heraus: »Das gibt es doch überhaupt nicht. Ein dreizehnjähriger Junge kann doch nicht einfach spurlos verschwinden. Der Bengel versteckt sich absichtlich. Ob er überhaupt ahnt, was er seiner Mutter damit antut?«

»Wohl kaum, Kay. Aber, und das ist hier wohl die Frage, was war der Auslöser für das unverständliche Verhalten des Jungen? Man kann das nun nicht einfach mit ›dem Bengel gehört der Hosenboden strammgezogen‹ und anderen Allgemeinplätzen abtun. Aber nun zu einem anderen Thema. Was hast du inzwischen bei der kleinen Sofia herausgefunden? Eine ernste Sache?«

»Nein, sieht nicht danach aus. Die Schwäche des Kindes beruht auf Eisenmangel und dazu einer leichten Blutarmut. Ich lasse im Labor noch einige Bluttests durchführen. Ich denke, die Ergebnisse bringen uns endgültig Klarheit. Wir werden die Kleine ein paar Tage zur Beobachtung hier behalten, aber dann kann, wenn meine Diagnose zutrifft, die Sache auch daheim medikamentös behandelt werden.«

»Schön, wenn man zwischendurch wieder mal etwas Erfreuliches zu hören bekommt. Ich werde jetzt oben auf der Krankenstation meine Runde machen. Ich möchte heute nämlich etwas früher ins Doktorhaus hinübergehen.«

»Das halte ich auch für eine gute Idee, Hanna. Du hast manchmal ein wenig mehr Freizeit dringend nötig. Ich muß jetzt aber auch wieder, ich habe für den morgigen Tag noch einige Vorbereitungen zu treffen. Du weißt ja, wir haben zwei Operationen auf dem Plan stehen.«

»Laß dich durch mich nicht aufhalten.«

*

Genau zwei Tage später, es war Sonntagmorgen, kam es zu einer Wende, die Jonas und seine Eltern zunächst etwas aufatmen ließ.

Jonas hatte am Samstag mit Ingo gesprochen, daß am Sonntagvormittag niemand in die Kinderklinik kommen würde, um ihn zu besuchen. Er wollte sich an diesem Vormittag ausschließlich um Norma kümmern.

Beim Frühstück mit seinen Eltern sagte Jonas bedrückt: »Wenn das noch ein paar Tage so weitergeht, bleibt mir nichts anderes übrig, als Norma in eine Klinik zu bringen. Sie hat wieder eine sehr schlechte Nacht hinter sich. So geht es einfach nicht weiter.«

»Wir fühlen mit euch, Jonas, und ich bin froh, daß im Laufe des Vormittags Dr. Deikers noch einmal vorbeikommt, um nach Norma zu sehen«, entgegnete seine Mutter.

»Ich bin auch sehr froh darüber, Mutter. Weißt du, ich frage mich in den letzten Tagen immer öfter, ob alles nicht meine Schuld ist. Habe ich Norma und ihre Jungen vielleicht zu früh aus ihrem gewohnten Leben herausgeholt? Hätten Norma und ich noch warten sollen? Es bedrückt mich, was für Folgen das alles gebracht hat.«

»Jetzt mach aber einen Punkt, Jonas. Das würde uns gerade noch fehlen, wenn du auch noch den Kopf verlierst. Im Nachhinein bringen tausend Wenn und Aber nichts. Sicher, es ist eine schlimme Zeit, aber da müssen wir nun mal durch. Ich bin sicher, daß der Sascha bald wieder bei uns sein wird.«

Als sei dies ein Stichwort gewesen, läutete in der Diele das Telefon. Jutta Carlson wollte sich schon erheben, aber Jonas war schneller.

»Laß nur, Mutter, ich mach das schon. Es ist bestimmt Dr. Deikers. Er wollte ja vorher anrufen.« Mit langen Schritten ging er in die Diele und nahm den Hörer.

»Carlson«, meldete er sich. Am anderen Ende der Leitung sagte eine dunkle Frauenstimme: »Guten Morgen, Herr Carlson. Mein Name ist Petersen, und ich bin die Mutter von Dirk. Wir haben vor einigen Tagen schon einmal miteinander telefoniert. Sie erinnern sich sicher. Es ging dabei um den Sascha, den besten Freund, meines Sohnes.«

»Guten Morgen, Frau Petersen. Selbstverständlich erinnere ich mich an unser Gespräch. Leider haben wir den Jungen noch immer nicht gefunden. Rufen Sie aus einem bestimmten Grund an?«

»Ja, ohne Grund würde ich Sie zu einer so frühen Stunde an einem Sonntag nicht stören. Es geht um Sascha. Könnten Sie bitte sofort nach Lüneburg kommen?«

»Sie wissen etwas über den Jungen? Natürlich komme ich dann sofort.«

»Der Sascha befindet sich hier bei uns, in unserem Haus. Aber ich habe es weder bemerkt noch davon gewußt. Ich möchte jetzt am Telefon nicht weiter darauf eingehen, denn es ist alles ein wenig kompliziert. Ich möchte Sie nur darauf vorbereiten, daß sich Sascha in keiner sehr guten Verfassung befindet. Unsere Adresse haben Sie ja sicher noch, nicht wahr?«

»Ja, die haben wir. Vielen Dank für ihren Anruf, ich fahre sofort von hier los. Weiß Sascha, daß Sie sich mit mir in Verbindung setzen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»Bitte belassen Sie es auch so, Frau Petersen. Wir sehen uns dann bei Ihnen zu Haus.« Jonas beendete das Gespräch und ging zu seinen Eltern zurück.

»Ich muß sofort los, ihr müßt euch um Norma kümmern.«

»Was ist denn los, Jonas? Du bist ja mit einem Mal so aufgeregt?« fragte Jutta Carlson. »Ist mit Ingo etwas nicht in Ordnung?«

»So rede schon, laß dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen«, wollte nun auch sein Vater wissen.

»Ich muß sofort nach Lüneburg. Stellt euch vor, die Mutter eines Freundes von Sascha hat angerufen, eine Frau Petersen. Sascha ist bei der Familie. Ich hole ihn sofort nach Haus.«

»Petersen? Ich verstehe nicht ganz, Jonas. Du hattest doch mit der Frau gleich am Tag nach Saschas Verschwinden telefoniert. Da wußte sie von nichts. Und ich war auch in Lüneburg, aber da war niemand. Alles ein bißchen eigenartig.«

»Schon, Vater, aber wie alles zusammenhängt, das weiß ich auch noch nicht. Frau Petersen sagte nur, daß sich Sascha in keiner guten Verfassung befindet. Sagt bitte Norma noch nichts davon. Ich weiß ja noch nicht, was wirklich passiert ist. Ihr könntet es wohl dem Dr. Deikers sagen. Er soll entscheiden. Ich kann mich doch auf euch verlassen, nicht wahr?«

»Natürlich kannst du das. Das Allerwichtigste ist ja wohl, daß wir endlich wissen, wo der Junge ist. Soll ich nicht mitfahren? Immerhin war ich schon einmal da und weiß, wo die Familie Petersen wohnt.«

»Ich würde auch sagen, daß es besser ist, wenn Vater mitfährt, Jonas. Er ist mit Sascha eigentlich gut zurechtgekommen. Es wird gut sein, wenn er dabei ist.«

»Kommst du denn hier allein zurecht, Mutter?«

»Natürlich, ich habe ja auch noch Gesine, wenn es darauf ankommt. Fahrt ihr nur los, denn bis Lüneburg ist es eine schöne Strecke.«

»Gut, einverstanden. Mach dich fertig, Vater, in fünf Minuten fahren wir los.«

Auf den Straßen herrschte um diese frühe Sonntagstunde kaum Verkehr, und so kam Jonas schnell voran. Sein Vater mußte sogar zwischendurch mahnen, nicht so zu rasen. Doch die meiste Zeit der Wegstrecke schwiegen die beiden Männer, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

Am Ziel angelangt, sagte Jonas nervös: »Ich habe richtig Angst davor, daß wir einen neuen Tiefschlag erleben, Vater. Ein gutes Gefühl habe ich dabei nicht.«

»Wie auch immer, Junge, gleich werden wir es wissen. Komm, steig aus, man wird sicher schon auf uns warten.«

So war es auch, denn kaum betätigte Jonas die Türglocke, wurde die Haustür auch schon geöffnet, und Jonas sah sich einer sympathischen jungen Frau gegenüber.

»Frau Petersen? Ich bin Jonas Carl­son, und das ist mein Vater. Wir haben miteinander telefoniert.«

Lonie Petersen bat die beiden Männer ins Haus und führte sie in ein gediegen eingerichtetes Wohnzimmer, in dem mit trotzig gesenktem Kopf ein dreizehnjähriger Junge saß.

»Das ist mein Sohn Dirk. Ich glaube, er hat Ihnen etwas zu sagen. Dirk, das sind Saschas Vater und Großvater. Ich erwarte von dir, daß du die ganze Wahrheit sagst.«

Der Junge hob den Kopf, und Jonas sah in ein bleiches Gesicht, in dem die Augen ängstlich flackerten.

»Guten Tag«, kam es leise über seine Lippen. »Es tut mir alles so leid, aber ich hatte dem Sascha mein Ehrenwort gegeben.«

»Worauf hast du ihm dein Ehrenwort gegeben, Dirk? Hast du, habt ihr beiden denn nicht bedacht, daß wir uns alle Sorgen machen?«

»Wenn doch, wenn doch der Sascha nicht mehr nach Hause wollte. Er hat gesagt, daß er daran schuld ist, daß der Ingo jetzt immer im Rollstuhl bleiben muß. Ich habe den Sascha oben bei uns auf dem Speicher versteckt und ihm heimlich immer etwas zum Essen und Trinken gebracht. Meine Mutti hat ganz ehrlich nichts davon gewußt. Erst heute morgen habe ich alles meiner Mutti gesagt, weil der Sascha so komisch war. Es tut mir wirklich alles sehr leid. Ich weiß, ich hätte es nicht tun dürfen.«

Innerlich war Jonas betroffen über Saschas Gründe. Normas Verdacht, daß Sascha das Gespräch mit angehört hatte, bestätigte sich dadurch. Es mußte für ihn ein schwerer Schock gewesen sein, und niemand hatte ihm dabei helfen können.

Jonas sah die angstvollen Augen des Jungen, der vor ihm saß, und er sagte beruhigend: »Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Ihr tragt beide einen Teil Schuld, Sascha, weil er zu uns kein Vertrauen hatte, und du, weil du zu deiner Mutter kein Vertrauen hattest. Saschas Mutter ist vor lauter Sorgen ganz krank geworden. Wo ist Sascha jetzt?« Die letzten Worte richtete Jonas an Dirks Mutter.

»Kommen Sie mit, ich habe den Jungen ins Gästezimmer gebracht. Und du, Dirk, geh jetzt bitte in dein Zimmer. Da bleibst du, bis ich dich rufe.«

Mit gesenktem Kopf schlich der Junge aus dem Zimmer.

Hartmut Carlson aber sagte beschwichtigend: »Bitte, Frau Petersen, machen Sie jetzt nicht den Fehler, den Jungen zu bestrafen. Er hat es auf seine Art nicht böse gemeint. Er wollte nur einem guten Freund helfen. Und vergessen Sie dabei auch nicht, daß ihm Sascha sein Ehrenwort abgenommen hat.«

»Ich werde ihn nicht bestrafen, sondern mit ihm ein sehr ernstes und langes Gespräch führen. Dirk ist normalerweise ein sehr gewissenhafter Junge. Ich hatte doch keine Ahnung, daß Sascha hier unter meinem Dach war. Versteckt oben auf dem Speicher, in einer durch leere Kisten und einem Schrank verstellten Ecke, hat er auf einer Luftmatratze geschlafen. Ich begreife noch immer nicht, wie mein Sohn es fertiggebracht hat, den Sascha zu verpflegen, ohne daß ich es bemerkt habe. Bitte, wenn Sie jetzt mitkommen würden. Vielleicht ist er inzwischen wach geworden. Ich muß Sie jedoch noch darauf hinweisen, daß Sascha sich in der einen Woche sehr verändert hat, ich würde sagen, er braucht dringend ärztliche Hilfe. Ich wollte Ihnen da nur nicht vorgreifen, sonst hätte ich schon gleich in der Frühe jemanden kommen lassen.« Mit ernstem Gesicht führte Lonie Petersen die beiden Besucher in den ersten Stock.

*

In dem kleinen Gästezimmer lag Sascha mit geschlossenen Augen in den Kissen. Als Jonas hinter Frau Petersen das Zimmer betrat, hielt er einen Moment vor Schreck den Atem an. War das noch der gleiche Junge, der so begeistert mit seinem Vater ausgeritten war? Sascha war nicht wiederzuerkennen. Was hatte eine einzige Woche aus einem lebenslustigen aufsässigen Jungen gemacht?

Hinter sich hörte Jonas seinen Vater murmeln: »Das gibt es doch überhaupt nicht. Ist das wirklich Sascha?«

Blaß, die Wangen eingefallen, das war das Bild, das sich den Augen der beiden Männer bot. Jonas wollte dem Vater antworten, doch im gleichen Moment öffnete Sascha die Augen.

Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe. In seinen Augen trat ein Ausdruck von Angst und Abwehr. Sitzend wich er bis an die hintere Bettkante zurück, hob abwehrend beide Hände. Aber über seine Lippen, die heftig zitterten, kam nicht ein einziges Wort.

»Sascha, Junge… Wir sind gekommen, um dich heimzuholen«, kam es weich über Jonas Lippen. »Du machst ja schöne Sachen. Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«

»Ich will aber nicht, ich bin daran schuld, daß Ingo… Ich kann nicht. Mutsch, sie wird…«

»Niemand ist böse mit dir, mein Junge. Wir sind so froh, daß wir dich endlich gefunden haben. Opa und ich, wir bringen dich jetzt nach Hause. Deine Mutsch ist schon ganz krank vor lauter Sorgen um dich.«

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis Jonas und sein Vater Sascha soweit hatte, daß er endlich im Wagen saß und sie die Rückfahrt antreten konnten.

Während der ganzen Fahrt gab er aber auf keine Frage eine Antwort, starrte nur bewegungslos vor sich hin.

Die beiden Männer verständigten sich durch einen besorgten Blick. Beide wußten, daß mit dem Jungen vorn und hinten nichts mehr stimmte. Dieses stumme Vorsichhinstarren, das seltsame Flackern in den Augen, das war nicht das normale Verhalten eines dreizehnjährigen Jungen. Vielleicht würde sich das ändern, wenn man den Carlsonhof erreicht hat und Sascha seine Mutter wiedersah.

Als sie endlich daheim ankamen, kam ihnen Jutta Carlson aufgeregt entgegengelaufen.

»Oh, Gottchen, Junge, da bist du ja endlich wieder«, entfuhr es ihr in erster, spontaner Freude, und sie zog Sascha an sich. Erst als sie ihn danach richtig ansah, erschrak auch sie.

»Was ist denn mit dem Jungen passiert?«

»Später, Mutter«, wehrte Jonas ab. »Ich bringe Sascha zuerst zu Norma hinauf. Wie geht es ihr? War der Arzt da?«

»Ja, aber er ist sehr besorgt gewesen. Als ich ihm aber sagte, daß ihr den Jungen abholt, war er zuversichtlich. Er meinte, sobald Norma den Jungen sieht, würde sich ihr Befinden schlagartig bessern.«

»Wir wollen es hoffen. Erst einmal bringe ich Sascha jetzt hinauf, wir reden später, oder Vater kann dir inzwischen alles erzählen, er war ja dabei.«

Jutta Carlson nickte, während Jonas einen Arm um Saschas Schulter legte und aufmunternd sagte: »Komm, mein Junge, ich bringe dich jetzt zu Mutsch nach oben.«

Schweigend ließ sich Sascha ins Schlafzimmer führen.

Norma saß zurückgelehnt in einem bequemen Sessel und hatte die Augen geschlossen. Es sah aus, als ob sie schlief.

Jonas sagte leise, mit zärtlicher Stimme: »Schau mal, Liebes, wenn ich dir hier bringe.«

Da öffnete sie langsam die Augen, und ihr Gesicht wandte sich ihm zu.

Ein paar Sekunden sah es so aus, als würde Norma einen Geist vor sich sehen, doch dann weiteten sich ihre Augen ungläubig. Sie sprang so hastig auf, daß sie taumelte, glücklich sagte sie: »Sascha, Sascha, mein Junge, endlich habe ich dich wieder.« Tränen stürzten aus ihren Augen, während sie ihn umarmte und nicht mehr loslassen wollte.

Erst Augenblicke später fiel ihr auf, daß Sascha steif wie ein Stock dastand, und noch nicht ein einziges Wort gesagt hatte.

»Was ist denn, Sascha? Freust du dich denn nicht, deine Mutsch endlich wiederzusehen? Wo bist du nur gewesen? Wir haben uns solche Sorgen gemacht.« Sie schob ihn ein Stück von sich und sah ihn mit tränennassen Augen an.

»Ich, ich war beim Dirk, Mutsch. Ich hatte solche Angst, daß du mich nicht mehr sehen willst. Ich wollte doch nicht, daß sich Ingo verletzt. Ich wollte es wirklich nicht.« Mit einem Ruck riß sich Sascha auf einmal von seiner Mutter los und stürzte an Jonas vorbei aus dem Zimmer.

Entsetzen in den Augen, starrte Norma hinter ihrem Jungen her. »Was ist, was habe ich denn jetzt schon wieder falsch gemacht?« Hilflos sah sie dann auf Jonas.

Er nahm sie in die Arme und sagte weich: »Du hast nichts falsch gemacht, Liebes. Sascha ist im Augenblick nicht er selbst. Es wird schon wieder werden. Wichtig allein ist jetzt nur, daß er endlich wieder bei uns ist. Leg dich etwas hin, du hast schlimme Tage hinter dir. Ich werde mich schon um unsere Jungen kümmern. Sollst sehen, ein, zwei Tage und alles regelt sich von allein. Fühlst du dich denn jetzt etwas besser?«

»Ja, mir ist, als sei ein großer Stein von meinem Herzen gefallen, der mir das Atmen schwer gemacht hat. Ich bin so müde, ich möchte jetzt nur noch schlafen.«

Jonas führte sie zum Bett, und kaum lag sie, waren ihr auch schon die Augen zugefallen.

Leise verließ Jonas das Schlafzimmer. Er fühlte, Norma würde sehr schnell wieder die sein, die er so sehr liebte. Jetzt galt seine Sorge erst einmal Sascha.

Als er das Zimmer des Jungen betrat, lag er quer über seinem Bett und starrte gegen die Zimmerdecke.

Jonas setzte sich auf die Bettkante und fragte: »Soll ich zur Oma hinuntergehen, damit sie dir etwas zu essen nach oben bringt, oder möchtest du zuerst ein schönes, heißes Bad?«

»Gar nichts, Jonas. Wie geht es Ingo? Wird er, wird er wirklich für immer in einem Rollstuhl sitzen müssen? Bitte, Jonas, ich muß es wissen.« Wieder flackerte in Saschas Augen ein eigenartiges Licht auf.

»Hör mir einmal zu, mein Junge. Wir alle wissen, daß du deinem Bruder nicht absichtlich weh tun wolltest. Niemand ist deswegen böse auf dich. Ob Ingo für immer einen Rollstuhl wird benutzen müssen, das kann niemand genau vorhersagen. Wenn es so ist, müssen wir uns alle damit abfinden. Ich möchte aber nicht, daß du deiner Mutsch noch einmal solchen Kummer bereitest, in dem du einfach davonläufst. Man kann nicht immer davonlaufen. Wir alle lieben dich und wir brauchen dich. Vor allem Ingo, er ist doch dein Zwillingsbruder, braucht dich. Hast du verstanden, was ich dir sagen will?«

»Ja, aber wenn Ingo nicht mehr laufen kann, will ich es auch nicht mehr. Darf ich jetzt schlafen, Jonas? Hunger habe ich nicht, und baden kann ich nachher.«

»Gut, wenn du schlafen möchtest, so schlafe dich erst einmal aus. Ich komme dann später noch einmal zu dir.«

Jonas ließ Sascha allein und ging mit besorgtem Gesicht zu seinen Eltern.

Das Verhalten des Jungen gefiel ihm nicht. Da war etwas, was zur Vorsicht mahnte. Jonas konnte es nur nicht richtig einordnen. Er nahm sich vor, gleich am nächsten Vormittag mit Frau Dr. Martens über seine Gedanken und Ängste zu reden. Vielleicht wußte sie einen Rat.

Als er kurz darauf mit seinen Eltern über seine Sorgen sprach, stimmten diese ihm zu, mit den Ärzten in der Klinik über Sascha zu reden.

*

Obwohl Sascha am Abend noch etwas aß und auch ein Bad nahm, war mit ihm nichts anzufangen. Er gab auf Fragen von Jonas und seinen Eltern einfach keine richtigen Antworten. Er kapselte sich ganz ab.

Als sich das am nächsten Morgen noch fortsetzte, blieb Jonas nichts anderes übrig, als zur Kinderklinik zu fahren, um sich erneut zu einem Gespräch bei Dr. Hanna Martens anzumelden. Wie schon zwei Tage zuvor, war die junge Ärztin sofort bereit, mit Jonas zu sprechen. Aufmerksam, ohne ihn mit einem Wort zu unterbrechen, hörte sie an, was er ihr mitteilen wollte.

Erst als er schwieg, sagte sie ernst: »Zuerst einmal freue ich mich, daß Sie und Ihre Frau den Jungen wieder daheim haben, und daß ihm nichts passiert ist. Der Grund, aus dem der Junge kopflos davongelaufen war, der ist für mich sehr einleuchtend und zum Teil sogar verständlich. Es muß für ihn ein sehr großer Schock gewesen sein, als er heimlich ein Gespräch mit anhörte und dabei erfahren mußte, daß sein Zwillingsbruder durch seine Schuld an den Rollstuhl gefesselt sein würde. Es ist nun mal ein sehr großer Unterschied, ob ein Junge behutsam mit einer solchen Sache konfrontiert wird, oder eben auf die Art und Weise, wie Ihr Junge es erfahren hat. Ein Dreizehnjähriger ist noch nicht so reif, daß er so etwas ohne weiteres einstecken und verkraften könnte. Daraus ergibt sich zwangsweise sein jetziges Verhalten. Durch die unbedachte und kopflose Flucht war niemand da, mit dem er reden, der ihm helfen konnte. Dadurch war er einem sehr starken, seelischen Druck ausgesetzt. Wenn der Junge nicht einen dauerhaften Schaden erleiden soll, muß er sehr behutsam aus diesem seelischen Tief herausgeholt werden. Wir haben hier auf Birkenhain eine ganz hervorragende Kinderpsychologin, unsere Frau Dr. Andergast. Sie würde sich sicher gern Ihres Jungen für einige Tage annehmen. Mein Vorschlag wäre, bringen Sie uns den Jungen nach Möglichkeit noch heute. Hier können wir auch ein vorsichtiges Zusammenführen der beiden Brüder überwachen. Etwas, was sehr hilfreich sein könnte. Besprechen Sie das in aller Ruhe mit Ihrer Frau, wenn sie schon wieder soweit ist. Wenn ihr das Wohl ihrer Zwillinge am Herzen liegt, wird sie ganz bestimmt damit einverstanden sein. Ich bin heute noch bis um sechzehn Uhr hier in der Klinik. Wenn Sie sich für meinen Vorschlag entscheiden sollten, kommen Sie einfach während dieser Zeit hierher und bringen Sie uns den Jungen. Im anderen Fall geben Sie mir kurz telefonisch Bescheid.«

»Ich werde das mit meiner Frau besprechen und mich danach entscheiden, Frau Dr. Martens. Eine Frage hätte ich allerdings noch. Wie wollen Sie Sascha und Ingo hier in der Kinderklinik behutsam zusammenführen, wenn wir Ihnen auch den Sascha anvertrauen? Man muß es dem Ingo dann ja sagen, daß auch sein Bruder krank ist.«

»Natürlich müßte man das. Ich würde es schon übernehmen, da ich die dafür passende Gelegenheit besser einschätzen könnte. Wären Sie damit einverstanden?«

»Wenn wir Sascha hier behandeln lassen können, bin ich sofort damit einverstanden. Für heute möchte ich Ihnen nun nicht mehr Ihre kostbare Zeit nehmen und bedanke mich, daß Sie überhaupt erneut Zeit für unsere Sorgen und Probleme hatten. Ich fahre nun sofort nach Hause, um mit meiner Frau über Ihren Vorschlag zu sprechen. Es wäre schon etwas sehr Gutes, wenn in unserem Leben bald wieder alles in Ordnung kommen würde.«

»Mit etwas Geduld wird es schon werden. Ich erwarte im Laufe des Tages also entweder Sie mit dem Jungen oder Ihren Telefonanruf. Verbleiben wir so?«

»Ja, natürlich, Frau Dr. Martens.« Einigermaßen beruhigt fuhr Jonas nun auf den Carlsonhof zurück.

Norma befand sich mit seiner Mutter im Wohnzimmer, als Jonas das Haus betrat. Sie war zwar sehr blaß, aber sonst schien sie sich wieder einigermaßen gefangen zu haben.

»Wie geht, es dir heute, Liebes?« fragte er besorgt. Liebevoll zog er seine junge Frau an sich und hauchte einen zärtlichen Kuß auf ihre Lippen.

»Es geht Jonas. Ich bin ja so glücklich, daß du mir meinen Sascha zurückgebracht hast. Ich mache mir aber trotzdem Sorgen um den Jungen. Er geht mir aus dem Weg, spricht kaum. Er benimmt sich recht merkwürdig. Was soll ich bloß mit ihm machen? Hilf mir bitte.«

»Was macht er im Augenblick?«

»Er ist oben in seinem Zimmer, Vater ist bei ihm.«

»Gut, dann ist er ja im Augenblick gut aufgehoben. Ich möchte nämlich etwas mit dir besprechen. Natürlich möchte ich dazu auch die Meinung von Mutter und Vater hören. Mutter kann ja nachher mit Vater reden. Hört zu. Ich habe mit Frau Dr. Martens über Sascha gesprochen, und sie hat mir daraufhin einen, wie ich meine, guten Vorschlag unterbreitet.« Mit ruhiger Stimme berichtete Jonas nun Norma und seiner Mutter von seinem Gespräch mit der jungen Ärztin der Kinderklinik.

»Ist das dein Ernst? Du willst Sascha auch in die Kinderklinik Birkenhain bringen?«

»Ja, Liebes, es ist wohl der einzige Weg, damit der Junge sein Gleichgewicht wiedererlangt. Eine gute Kinderpsychologin kann dabei wohl mehr erreichen, als wir alle zusammen. Was sagst du dazu, Mutter?«

»Ich wäre dafür. Schon allein um Saschas willen. Es wird höchste Zeit, daß hier alles wieder in die Reihe kommt. Beide in einer Klinik, das macht es für eure Besuche zudem leichter.«

»Und wenn Sascha und Ingo in der Klinik unverhofft zusammentreffen, Mutter?« Plötzlich lag wieder Angst in Normas Stimme.

»Einmal muß es ja sein, Norma. Wie Jonas schon sagte, wird sich Frau Dr. Martens darum kümmern. Sträube dich nicht dagegen. Es geschieht doch alles nur zum Besten der beiden Buben.«

Norma zögerte nur noch kurz, dann aber stimmte sie zu. Sie bestand jedoch darauf, mit zur Kinderklinik zu fahren.

*

Ohne ein einziges Wort der Gegenwehr, ohne sich aufzulehnen, ließ Sascha sich von Jonas und seiner Mutter nach dem Mittagessen zur Kinderklinik bringen. Jonas hat im Einverständnis mit Norma zu einer kleinen Notlüge gegriffen. Er hatte dem Jungen gesagt, daß er wegen der Woche bei seinem Freund Dirk auf dem Speicher für einige Tage zur Beobachtung in die Klinik sollte.

Dr. Hanna Martens, die mit dieser Entscheidung der Familie Carlson gerechnet hatte, hatte vorsorglich schon ein Zimmer vorbereiten lassen. Es war ein freies Zimmer, gleich neben dem von Ingo. Während sich Dr. Wenke Andergast, die in der Zwischenzeit von Hanna Martens mit dem Fall Saschas vertraut gemacht worden war, um diesen kümmerte, betraten Jonas und Norma Ingos Zimmer. In Ingos Augen leuchtete es auf, als er seine geliebte Mutsch ins Zimmer kommen sah.

»Wie schön, Mutsch, bist du endlich wieder gesund? Ich habe dich schon so sehr vermißt.«

Liebevoll nahm Norma ihren Jungen, der in seinem Rollstuhl am Fenster saß, in den Arm.

»Ich freue mich auch, mein Junge. Jetzt werde ich wieder jeden Tag zu dir in die Klinik kommen«, erwiderte Norma und hauchte einen sanften Kuß auf seine Stirn. Er machte auf sie ganz den Eindruck, als wenn er sich mit seinem Schicksal abgefunden hätte. Er zeigte ihr, wie gut er inzwischen schon mit dem Rollstuhl umgehen konnte, und wollte dann von ihr wissen: »Hat Jonas dir schon gesagt, Mutsch, daß ich in ein paar Tagen endlich wieder nach Hause darf?«

»Ja, ich weiß es schon, Ingo. Ich freue mich darauf. Es wird auch vorn an der Freitreppe von einer Seite eine Rampe gebaut, damit du ganz allein ins Haus hinein und auch hinaus fahren kannst. Aber das wird erst in Angriff genommen, wenn du wieder bei uns bist. Du sollst uns sagen, wie du es am liebsten haben möchtest.«

Eine Weile unterhielten sie sich noch, doch mit der Ausrede, sich noch nicht wieder richtig fit zu fühlen, verabschiedete Norma sich früher als üblich von Ingo, der damit auch zufrieden war. Es ging Norma und Jonas darum, sich auch noch um Sascha zu kümmern, der ja im Nebenzimmer untergebracht worden war. Als sie beide Saschas Zimmer betraten, schlief dieser. Die Tränenspuren auf seinem Gesicht waren jedoch nicht zu übersehen.

Neben dem Bett saß auf einem Stuhl eine hochgewachsene, fast überschlanke Blondine. Sie erhob sich sofort und sagte leise: »Ich bin Dr. Andergast, die Kinderpsychologin der Kinderklinik. Sie sind sicher Saschas Eltern. Bitte, wenn Sie mir auf den Gang hinaus folgen würden. Sascha ist gerade erst eingeschlafen.«

Wenke Andergast ging zur Tür, und es blieb Jonas und Norma nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

Draußen auf dem Gang sagte die Ärztin ernst: »Um was ich Sie jetzt bitte, wird Ihnen beiden sicher nicht leicht fallen, aber es muß sein.«

»Ich verstehe nicht ganz. Um was handelt es sich denn, Frau Dr. Andergast?« fragte Jonas erstaunt.

»Ich möchte Sie beide bitten, für ein paar Tage von einem Besuch bei dem Jungen Abstand zu nehmen. Ich möchte ihn für diese Tage ganz von seinem gewohnten Umfeld abschirmen. In der kurzen Zeitspanne, die mir heute zur Verfügung stand, habe ich schon herausgefunden, daß das Verhalten Ihres Jungen aus übergroßen Schuldgefühlen resultiert. Dazu kommt die Angst, daß seine Mutter ihn nicht mehr liebt. Ich weiß, daß das nicht den Tatsachen entspricht, aber es liegt nun an mir, seine Zweifel und seine Schuldgefühle abzubauen. Verstehen Sie mich? Sobald Sascha allerdings von sich aus nach einem von Ihnen verlangt, werde ich Ihnen sofort Bescheid geben. Sind Sie beide damit einverstanden?«

»Ich tue alles, was für meinen Jungen gut ist. Dabei fällt es mir ganz besonders schwer, ihn nicht sehen zu dürfen, da ich gerade eine lange Woche voller Sorgen und Ängste hinter mir habe, in der ich auf ihn verzichten mußte. Aber hier, da weiß ich wenigstens, daß er gut aufgehoben ist, und daß man alles für ihn tut.«

Sich zu einem Lächeln zwingend, verabschiedete sich Norma von Dr. Wenke Andergast. Besorgt führte Jonas sie aus der Klinik, und zu seinem Wagen. Aber Norma behielt ihre Fassung, sie wirkte nur sehr bedrückt.

*

Es war zwei Tage später, während der Mittagszeit. Schwester Jenny war für eine Weile allein auf der Krankenstation. Ihre Kolleginnen und Oberschwester Elli waren hinunter in die Kantine zum Essen gegangen. Mit dem Teewagen begann sie ihre Runde durch die Krankenzimmer. Jeden Tag nach der Mittagsmahlzeit wurde das so gehalten. Als sie Ingos Zimmer betrat, saß dieser in seinem Rollstuhl und las in einem Jugendbuch.

»Hallo, junger Mann, hast du Durst? Möchtest du Tee oder Milch?«

»Ich habe keinen Durst, aber ich möchte ein bißchen draußen auf dem Gang hin und her fahren, ich muß doch üben, weil ich bald nach Hause darf. Ich mache auch bestimmt keinen Lärm.«

»Meinetwegen, Ingo. Schaffst du es denn allein aus dem Zimmer? Soll ich dir helfen?«

»Das schaffe ich leicht. Soll ich es Ihnen zeigen?«

»Tu das, aber ich habe nicht viel Zeit, ich muß noch in all die anderen Zimmer.« Geschickt steuerte Ingo den Rollstuhl auf den Gang hinaus, und lachend folgte Schwester Jenny ihm und nickte ihm noch einmal aufmunternd zu, danach betrat sie das nächste Krankenzimmer. Sie schob den Teewagen hinein, ließ aber hinter sich die Tür offen. Ingo, der hinter ihr war, machte einen langen Hals. Er war neugierig, wer wohl in dem Zimmer lag, ob es ein Junge oder ein Mädchen war. In diesem Moment hörte er Schwester Jenny fröhlich sagen: »Hallo, Sascha, ich bringe dir etwas gegen deinen Durst. Tee oder Milch?« Eine Stimme, die Ingo unter vielen herausgehört hätte, antwortete: »Ein Glas Milch, bitte.« Ingo war auf einmal sehr aufgeregt, und schon im nächsten Augenblick rollte er mit seinem Rollstuhl ins Zimmer hinein.

»Sascha, Sascha, was machst du denn hier? Warum hat mir denn niemand gesagt, daß du auch krank bist? Was ist denn mit dir los?«

Schwester Jenny erschrak heftig und wurde blaß. Da hatte sie doch tatsächlich vergessen, die Tür hinter sich zu schließen. Dabei hatten alle Schwestern die Anweisung bekommen, darauf zu achten, daß die Zwillinge vorläufig nicht zusammentrafen. Jetzt war es zu spät. Es würde sicher ein heftiges Donnerwetter vom Chefarzt geben. »Du, Ingo?«

»Na, klar doch ich, Sascha. Ich verstehe nicht, warum Mutsch mir nichts davon gesagt hat, daß du auch hier in der Klinik bist. Na, ist ja jetzt auch egal, jetzt weiß ich es ja.«

»Bist du sehr böse auf mich, Ingo? Es tut mir alles so leid. Du mußt mir glauben, daß ich das nicht wollte. Ich wollte dich doch nur erschrecken.«

»Ich bin nicht böse, Sascha, du bist doch mein Bruder. Kann man eben nichts mehr dran machen, daß ich jetzt jeden Tag mit meinem eigenen Auto durch die Gegend fahren muß. Es tut auch überhaupt nicht weh, ich kann nur nicht laufen. Kannst mich ruhig zwicken, ich merke es nicht einmal. Weißt du was? Mein Zimmer ist hier gleich nebenan. Wir könnten doch eigentlich wie daheim in einem Zimmer schlafen?«

»Willst du das wirklich, Ingo?«

»Klar doch, du bist doch mein Bruder. Schwester Jenny, können Sie nicht Frau Dr. Martens fragen, ob wir in einem Zimmer liegen dürfen? Ich möchte es so gern.«

»Was ist denn hier los, Schwester Jenny? Was möchte der Ingo doch so gerne?«

Unbemerkt war Hanna, die etwas im Ärztezimmer vergessen hatte, ins Zimmer gekommen. Sie hat ein wenig von der Unterhaltung der Zwillinge mitbekommen, und die Lebhaftigkeit der beiden Jungen versetzte sie in Erstaunen. Dadurch lag für sie kein Grund mehr vor, ungehalten mit der jungen Schwester zu sein, deren Gesicht Schuldbewußtsein ausdrückte. An Stelle der Schwester trugen nun Sascha und Ingo ihren Wunsch vor, gemeinsam in ein Zimmer gelegt zu werden. Sie wollten ihre Mutsch und Jonas damit überraschen. Hanna erfüllte ihnen ihren Wunsch. Sie war froh, daß wenigstens zwischen den beiden Jungen alles wieder in Ordnung zu sein schien. Als Jonas und Norma später Ingos Zimmer betraten, war ihre Überraschung, aber auch ihre Freude groß. Es war wunderbar, daß das erste Zusammentreffen der beiden unter einem so guten Stern stand. Es wurde sogar noch ein recht fröhlicher Nachmittag, denn Sascha war auf einmal wie ausgewechselt.

Am Abend, als die beiden Jungen allein waren, die Schwester hatte ihre letzte Runde gemacht und würde wohl bald abgelöst werden – rief Ingo seinem Bruder auf einmal ganz aufgeregt zu: »Sascha, Sascha, komm doch mal ganz schnell her. Mach aber das große Licht vorher an.«

»Was ist denn los, Ingo? Ich war schon fast eingeschlafen.«

»Los, komm schon, ich glaube, mein großer Zeh hat sich bewegt. Es kribbelt auch ein bißchen.«

Wie ein geölter Blitz war Sascha aus dem Bett, lief zum Lichtschalter und danach an Ingos Bett.

»Laß sehen, ob das tatsächlich stimmt«, wollte er, auf einmal auch ganz aufgeregt, wissen. Tatsächlich, jetzt sahen es beide. Ingo konnte seine beiden großen Zehen ein wenig bewegen. Wie ein Wilder drückte Ingo auf die Klingel, nahm den Finger nicht mehr vom Knopf. Schon Augenblicke später kamen zwei der Nachtschwestern, die inzwischen ihren Dienst angetreten hatten, ins Zimmer gestürzt. Keine zehn Minuten später kamen Hanna und Kay Martens, die man sofort informiert hatte, noch einmal in die Klinik, um sich davon zu überzeugen, daß da wirklich ein kleines Wunder geschehen war.

*

Es war wirklich wie ein kleines Wunder, denn von diesem Tag an ging es mit Ingo aufwärts. Nach vierzehn Tagen, die auch Sascha in der Kinderklinik bleiben durfte, konnte Ingo wieder allein laufen. Alle Reflexe waren wieder da. Es war ein naßkalter Tag, als Ingo auf seinen eigenen Beinen die Kinderklinik Birkenhain verlassen durfte. Mit Sascha, Jonas und seiner geliebten Mutsch verließ er die Menschen, die einen großen Anteil daran hatten, daß alles wieder in Ordnung gekommen war.

Endlich kehrte das langersehnte Glück wieder auf den Carlsonhof ein.

Kinderärztin Dr. Martens Staffel 7 – Arztroman

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