Читать книгу Hotel-Hanne - Britta Munk - Страница 3

Erstes Kapitel Ein Mädchen und ein Hotel

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Wenn Hähne krähen, pflegt es so gegen vier-fünf am Morgen zu sein. Der Hahn im Hause gegenüber dem Hotel Aubrune war jedoch von einer besonderen Sorte. Wenn gewöhnliche, vernünftige Hähne zu spektakeln pflegten, schlief er wie ein Murmeltier. Dafür krähte er dann in kurzen Zwischenräumen den Rest des Tages. An diesem Morgen erwachte er spät. Es war gegen neun. Er hüpfte von seiner Stange, streckte sich, gähnte, plusterte sich auf und krähte aus vollem Halse.

Im Zimmer Nr. 12 B im Hotel stand die Tür hinaus auf den schmalen Altan weit offen. Es war ein hübsches, helles Zimmer, mit Teppichen auf dem Boden, Blumen auf dem Tisch, einem Regal mit Büchern, guten Gemälde-Reproduktionen an den Wänden, einem großen Spiegel und einem breiten Bett, in dem ein blondes Mädchen lag und schlief.

Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Durch die breite Türöffnung fielen ihre Strahlen schräg ins Zimmer hinein. Noch hatten sie das Bett nicht erreicht, doch sie näherten sich.

Draußen war es still; der süße Duft der Mimosen erfüllte die Luft. Es würde ein warmer Tag werden. Unten am Ende des Villenweges lag reglos und blank das tiefblaue Mittelmeer. Das Mädchen im Bett bewegte sich im Schlaf. Jetzt war der Sonnenstreifen nur noch ein paar Millimeter von ihren Augen entfernt. In diesem Augenblick krähte drüben der Hahn. Und das Mädchen im Bett erwachte.

Sie hatte tief geträumt. Und zur Sekunde, da sie die Augen aufschlug, befand sie sich noch im Traum, in einem grauen und kalten Schulhof zu Hause in Dänemark. Und in diesem Schulhof hatte ein Tisch mit einer grünen Tischdecke gestanden. Sie selbst hatte auf einem Stuhl gesessen, gegenüber von zwei Lehrern und Madame Dupont, und alle drei hatten sie ihr gleichzeitig auf englisch, dänisch und französisch eine Menge Examensfragen in Physik gestellt, seltsame Fragen. So sollte sie zum Beispiel etwas über das Gesetz der Schwere bei den Höckern des Kamels erzählen. Sie hatte sich gewaltig angestrengt. Im Traum war ihr die Frage ganz selbstverständlich vorgekommen, und sie hatte das Gefühl, als wisse sie die Antwort und könne sich nur im Augenblick nicht auf sie besinnen. Aber als sie die Lösung gerade fand, setzte sich ein Mädchen auf den Stuhl neben ihr und begann, sie von ihrem Stuhl zu drängen. Sie hielt sich an dem grünen Tischtuch fest, um ihren Platz zu behaupten. Die Decke glitt. Madame Dupont zog, außer sich vor Wut, an der anderen Seite. Das Mädchen, das den Platz stibitzen wollte, fiel vom Stuhl, war aber gleich wieder oben und versuchte erneut, den Platz zu erobern. Madame Dupont streckte plötzlich die Zunge heraus. Jetzt hatte das fremde Mädchen sich vollends des Platzes bemächtigt. Die Decke gab nach — — —.

Das Mädchen im Bett schüttelte den Kopf, um den Traum loszuwerden. Dann kam sie allmählich zum Bewußtsein. Zuerst hatte sie sich überhaupt nicht erinnern können, wo sie sich befand. Doch dann, plötzlich, fand sie sich zurecht und lachte befreit. Gott sei Dank! Nach diesem Traum kam ihr die Wirklichkeit unfaßbar herrlich vor. Keine Scherereien mit der Schule, kein Examen, kein Regenwetter, keine Kälte, keine Lehrer, keine Madame Dupont.

Schläfrig und faul begann sie, ihre jetzige Situation zu überdenken. Hier lag sie, Hanne Holm, 15 Jahre alt, bald 16, aus Kopenhagen, eben aus der Schule entwischt, in einem breiten Bett in einem großen Zimmer, das ihr ganz allein gehörte, im Hotel ihrer Tante in der Allee Dumas in Beaulieu-sur-Mer an der französischen Riviera, in der Mitte zwischen Nizza und Menton, ein paar tausend Kilometer vom Schulhof und ein Dutzend Kilometer von der italienischen Grenze entfernt. Es konnte gar nicht besser sein. Wie würden die zu Hause in Dänemark sie beneiden, wenn sie ihre Hanne jetzt sehen könnten!

Sie war vor einem Monat hier angekommen. Sie konnte das nicht so recht verstehen, wenn sie zurückdachte. So vieles war geschehen in der kurzen Zeit. In Gedanken ging sie das Ganze durch und wurde ein kleines bißchen stolz auf sich selbst. Denn selbst bei der größten Bescheidenheit hätte sie zugeben müssen, daß sie ein gutes Stück Arbeit geleistet hatte. Sie war hier in den Süden gekommen, um bei der Tante zu bleiben. Doch es war geplant gewesen, daß sie in den ersten Monaten nur Ferien machen sowie die Sprache und die Verhältnisse etwas kennen lernen sollte. In Wirklichkeit aber hatte sie aus voller Kraft zugegriffen, die ewig mürrische Madame Dupont entlarvt und ihren Abschied erreicht. Als Wirtschafterin hatte Madame Dupont mit dem Geld des Hotels Schwindel getrieben. Dann hatte Hanne durchgesetzt, daß das Haus neu angestrichen, daß eine Menge herrlicher Bilder gekauft und eine neue Wirtschafterin — Madame Boldini — angestellt wurde; sie hatte die Idee bekommen, Blumen in alle Zimmer und auf alle Tische des Speisezimmers zu stellen. Kurz gesagt, sie hatte Schwung in das Ganze gebracht, so daß das früher zehntrangige Hotel plötzlich eine Chance bekommen hatte, sich nach und nach unter den konkurrierenden Hotels der Stadt behaupten zu können. Selbstverständlich hatte sie das nicht alles allein getan, aber sie hatte die Ideen gehabt und hatte die anderen mit ihrer Begeisterung angesteckt.

Das Ganze war ein Spiel für sie gewesen, ein herrliches und spannendes Spiel. Und noch war sie mitten darin. Es gab noch immer mehr als genug zu tun. Tante Alices Einladung hatte Hanne zu Hause in Dänemark zu einem Zeitpunkt erreicht, wo ihr alles, ihre ganze Zukunft, grau und trübselig erschienen war. Diese Einladung hatte ihr Leben vollständig verändert. Jetzt versuchte sie, sich dafür dankbar zu zeigen, indem sie das Hotel verbesserte, ja, vielleicht sogar zum besten kleinen Hotel der ganzen Stadt machte.

„Sie soll es niemals bereuen müssen, daß sie mich hierher rief“, sagte Hanne laut zu sich selbst.

Sie lachte, denn plötzlich war ihr eingefallen, wer das Mädchen im Traum war. Eve Craigh, ein schwarzhaariges Mädchen in ihrem Alter, Engländerin. Sie war ihr einziger Feind — soweit sie wußte — in dieser wundervollen Stadt. Und daß sie ihr Feind war, daran trug ausschließlich eine dumme Geschichte die Schuld: ein junger Mann in einem Restaurant drüben in Monte Carlo, der ursprünglich Eves Kavalier gewesen war, hatte lieber mit Hanne tanzen wollen. — Eine dumme Geschichte deswegen, weil Hanne sich nicht das geringste aus ihm machte und ihn Eve mehr als gerne überlassen hätte. Doch im übrigen, dachte Hanne, lag die Ursache zu ihrer Feindschaft vielleicht nicht nur in dieser Episode. Sie hatte Eves Eltern ein paarmal getroffen und mochte sie sehr gern. Zwischen Eve und ihr hatte Feindschaft auf den ersten Blick bestanden. Es war, als haßte Eve sie aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde, als wären sie von vornherein dazu bestimmt gewesen, Feinde zu sein. Nicht nur gleichgültig gegeneinander, sondern feindlich. Hanne blieb im Bett liegen und dachte darüber nach, konnte aber zu keinem Ergebnis kommen. Es fiel ihr sonst kinderleicht, mit allen Menschen gut auszukommen, aber Eves Kälte gegenüber war sie machtlos. Das ärgerte sie ein wenig. Na ja, das muß sie ja selber wissen, dachte sie. Ich bin schön dumm, daß ich so viele Gedanken an sie verschwende.

Sie wollte viel lieber an das Hotel denken. Für viele Erwachsene ist ein Hotel vielleicht etwas Totes, ein rein geschäftliches Unternehmen. Für ein fünfzehn-sechzehnjähriges Mädchen aber, das plötzlich Gelegenheit bekommt, mit einem ganzen Hotel zu spielen, ist das eine recht lebendige Sache. Als Hannes Tante merkte, wie tüchtig ihre Nichte war und wie groß ihr Interesse für das Hotel, ließ sie ihr fast ungehindert die Zügel schießen. Und obwohl Hanne offiziell natürlich nichts mit der Bewirtschaftung des Hotels zu tun hatte, wurden jetzt keine Anordnungen mehr getroffen, ohne daß man sie zuerst um Rat gefragt hatte. Außerdem bekam sie die meisten Ideen selbst und verstand sie ihrer Tante, der neuen Wirtschafterin Madame Boldini und dem Mann-für-alles im Hotel, Maurice, in einer Art und Weise auszumalen, daß sie alle bald ebenso begeistert waren wie Hanne selbst.

Plötzlich ertönte ein gewaltiger Krach, eine Explosion, daß die Fensterscheiben erklirrten, und darauf ein Lärm, als stürze ein Haus zusammen. Hanne erhob sich faul und ging zur Balkontür hinüber. — „Maurice“, rief sie hinunter, „Sie wecken das ganze Hotel!“

Maurice, der dabei war, das uralte Auto des Hotels in Gang zu bringen, winkte zu ihr hinauf. Sein freundliches, zerfurchtes Gesicht hellte sich zusehends auf, wie immer, wenn er sie sah.

„Wie bitte?“ schrie er.

„Ich meine: Was für ein Krach!“ rief sie.

„Was?“ wiederholte er.

„Krach! Ich sage: Das ist ein jämmerlicher Krach!“

Er fuchtelte mit beiden Armen in der Luft herum: „Ich kann nichts hören“, brüllte er, „das Auto macht solchen Krach!“

Aber gerade, als er das sagte, setzte der Motor von selber aus. Hanne benutzte die plötzliche Stille:

„Maurice, wo fahren Sie jetzt hin?“

„Nur in die Werkstatt, Mademoiselle.“

„Ist an dem Wagen was kaputt?“ lachte Hanne.

„Nein. Nur ein paar Schrauben müssen angezogen werden, — wenn sie nicht schon ganz zum Teufel sind. Davon abgesehen ist das bestimmt einer der besten Wagen in der Stadt.“

„Jedenfalls der, den man am weitesten hören kann. Wann fahren Sie nach Menton rüber, Maurice?“

„Am Mittwoch, Mademoiselle. Haben Sie Lust, mitzufahren?“

„Danke, gern, wenn Sie mich mitnehmen wollen.“

„Und ob ich will! Oh, Mademoiselle!“

„Dann ist’s gut, Maurice, ich freue mich auf die Fahrt.“

*

Einige Stunden später saß Hanne zusammen mit ihrer Tante und Madame Boldini beim Mittagessen. Die Tante, die vor nicht allzu langer Zeit ernstlich krank gewesen war, befand sich wieder bei bester Gesundheit. Sie hatte ihre gute Laune von früher wiedergefunden, und so vergingen die Tage leicht und munter im Hotel Aubrune. Vielleicht ein wenig zu leicht. Denn neue Gäste waren vorläufig noch nicht aufgetaucht. Es wohnten nur sechs Leute im ganzen Hotel, darunter zwei Paare, so daß alles in allem nur vier von den fünfundzwanzig Zimmern des Hotels in Gebrauch waren.

„Greif noch mal zu, Kind.“

„Nein danke, Tante, ich bin satt. Ist der Belgier abgereist?“

„Er hat die Abreise ein paar Tage hinausgeschoben“, sagte Madame Boldini.

„Gott sei Dank! Dann behalten wir ihn wenigstens noch etwas“, sagte Tante Alice. „Es sollen möglichst nicht noch weniger werden, als es jetzt sind. Wenn nur bald ein paar neue Gäste kommen wollten. Früher, als Hannes Onkel lebte, mußten wir oft Gäste wegschicken, weil alle Zimmer belegt waren. Ich fürchte, ich habe das Hotel in den letzten Jahren ziemlich gründlich ruiniert. Wenn es nicht euretwegen wäre, dann —“

„Aber jetzt geht es doch prima“, sagte Hanne.

„Wirklich?“ sagte ihre Tante.

Hanne lachte. „Ich meine nur: es wird bald prima gehen.“

Ihre Tante wurde plötzlich ernst.

„Wenn es dazu nur nicht zu spät ist, Kind“, sagte sie.

„Wieso sollte es zu spät sein?“ fragte Madame Boldini.

„Ach, ich mußte nur mal so daran denken. Kümmert euch nicht um mich. Wenn man in mein Alter gekommen ist, darf man schon hin und wieder mal dummes Zeug reden.“

Hanne lachte. „Fühlst du dich alt, Tante?“

„Nein, das tue ich eigentlich gar nicht. Sehe ich alt aus?“

„Du siehst großartig aus.“

„Danke, meine Liebe. Ich muß wohl bald wieder mal ’nen Abend in Monte Carlo spendieren, wenn du so schmeichelst. Und vielleicht können wir uns eines Tages ein neues Kleid für dich leisten. Du hast es wahrhaftig verdient, so wie du dich mit dem Hotel abgemüht hast. Uns andere hast du beinahe an die Wand gedrückt. Hast du das nicht selbst gemerkt?“

„Nee.“

„Ja aber, es stimmt. Und du bist wohl auch nicht die Schlechteste, die man sich dazu denken kann. Ich bin stolz auf dich, kleiner Tausendsassa.“

„Dazu besteht kein Anlaß“, sagte Hanne. „Es ist nicht schwer, gute Ideen zu bekommen, wenn man nur jemand hat, der mithilft, sie auszuführen. Ohne Madame Boldini und Maurice hätte ich doch nicht das geringste ausrichten können.“

„Madame!“

Anette, das Stubenmädchen, steckte den Kopf zur Tür herein.

„Monsieur Bernal, der Bankdirektor, möchte gern mit Madame sprechen.“

„Oh, das ist fein, ich glaubte schon, er hätte es vergessen. Dann mache ich mich aus dem Staube. Wir setzen uns zu der Besprechung in das kleine Zimmer. Eßt ihr nur in Ruhe weiter.“

*

„Was glauben Sie eigentlich, Madame Boldini, worüber sie sprechen wollen?“

„Ich verstehe es selbst nicht, Mademoiselle. Aus irgendeinem Grunde scheint Ihre Tante in Geldschwierigkeiten zu sein. Aber ich kann den Grund nicht erraten. Das Hotel läuft doch. Ich führe ja selbst die Bücher. Schulden sind keine da, soweit ich sehen kann, und wenn jetzt auch kein Geld in die Kasse kommt, so können wir uns doch über Wasser halten. Wir haben weder Überschuß noch Defizit, und es ist doch sowohl Kost als auch Logis für uns alle da. Ich kann jedenfalls nicht klagen.“

„Ich auch nicht“, sagte Hanne. „Aber es muß doch irgend etwas nicht stimmen. Sahen Sie, wie aufgeräumt, sie war, als sie ging, um mit ihm zu sprechen?“

„Ja, das sah ich gut. Ihre Tante verbirgt uns etwas, Mademoiselle.“

„Das ist schade. Wenn sie sich doch lieber uns anvertrauen wollte“, sagte Hanne.

Sie waren mit dem Essen fertig und aßen gerade noch ein paar Datteln, als die Tante wieder erschien.

„Schon?“ sagte Hanne.

Ihre Tante lächelte etwas bitter.

„Tja, ich konnte ihn ja nicht den ganzen Tag aufhalten. Zudem würden wir nur alle beide unsere Zeit verschwenden.“

Man konnte deutlich sehen, daß sie enttäuscht war. Doch dann schüttelte sie es ab und lachte:

„Das macht nichts. Es wird schon alles irgendwie gehen. Hanne, wenn du nichts anderes vorhast, können wir ja einen Spaziergang hinauf in die Berge machen. Das Wetter ist wundervoll, und ich bin schon lange nicht mehr da oben gewesen. Hast du Lust?“

„Und ob ich Lust habe!“ Hanne sprang auf und küßte Tante Alice. „Du kannst dich darauf verlassen, daß ich mich darauf sehr freue. Ich bin in einem Augenblick fertig.“

Und sie rannte die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.

Hotel-Hanne

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