Читать книгу Die Klinik am See Jubiläumsbox 4 – Arztroman - Britta Winckler - Страница 5

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Die Vorlesung war beendet, und ­Alice Mangold verstaute ihre Hefte und die paar Bücher in ihrer Umhängetasche. Minuten später verließ sie den Hörsaal der Universität. Als sie an der Cafeteria vorbeikam, verspürte sie plötzlich Durst. Kurz entschlossen trat sie ein, ließ sich eine Cola geben und stellte sich an einen der Stehtische. Lächelnd erwiderte sie die Grüße einiger Kommilitonen, die ebenso wie sie Kunstgeschichte studierten. Es war erst ihr zweites Semester, das sie an der Münchener Universität begonnen hatte.

»Hallo, Alice …« Zwei junge Männer, beide erst knapp zwanzig Jahre alt, traten an den Tisch heran.

»Hallo – Peter …, Harry«, erwiderte Alice und warf ihren Kopf mit der Pferdeschwanzfrisur in den Nacken. Ihr Gruß klang nicht gerade sehr freundlich. Zumindest bezog sich das auf Harry Büchner. Den konnte sie nicht besonders leiden. Er war ihr zu aufdringlich. Jede Gelegenheit nahm er wahr, um mit ihr anzubandeln. Alice hatte ihn jedoch bisher immer wieder abblitzen lassen. Da war Peter Steinach anders. Ihn konnte Alice schon besser leiden. Er war ein ruhiger und besonnener Typ, redete wenig und war im Vergleich zu Harrys aufdringlicher Art geradezu schüchtern. Alice war es natürlich nicht unbemerkt geblieben, dass Peters Augen immer glänzend wurden, wenn er sie ansah. Sie wusste natürlich, was das bedeutete. Peter war ganz einfach in sie verliebt, hatte aber bisher noch nie den Versuch einer vertraulichen Annäherung unternommen. Ihr gefiel das nicht nur, sondern es erleichterte sie auch, denn sie wusste, dass sie ihm eine Abfuhr hätte erteilen müssen. Sie mochte Peter zwar, unterhielt sich auch gern mit ihm, aber seine Freundin zu werden, hatte sie nicht im Sinn. Gewiss, er sah gut aus – besser als Harry – und es gab einige gleichaltrige Mädchen an der Uni, die recht gern mit ihm zusammen gewesen wären. Doch Peter schien nur Augen für sie, Alice, zu haben. Auf eine ganz bestimmte Weise schmeichelte ihr das natürlich. In seiner Gesellschaft fühlte sie sich wirklich wohl, zu ihm hatte sie Vertrauen. Das war aber auch alles. Nicht zuletzt auch schon deshalb, weil es einen anderen jungen Mann gab, der ihr Interesse geweckt hatte. Volker Reinegger hieß er und studierte ebenfalls Kunstgeschichte. Es war allerdings nicht so, dass sie sich in ihn verliebt hatte, aber sie gestand sich ein, dass sie nicht ungern mit ihm in Kontakt gekommen wäre.

»Übrigens, Alice …«, unterbrach Harry Alices Gedanken und holte aus seiner Tasche eine Zeitschrift hervor, die er aufgeschlagen auf den Tisch legte. Mit dem Finger deutete er auf ein Bild mit darunterstehenden kurzen Text. »… ich habe da etwas entdeckt. Sieh mal! Fast hätte ich geglaubt, dass du das bist.«

Alice versteifte sich ein wenig. Sie ahnte etwas, und ihre Ahnung bestätigte sich, als sie das Bild sah und den dazugehörigen Text las.

»Die Ähnlichkeit ist verblüffend«, ergriff Harry wieder das Wort und lächelte faunisch. »Man könnte dich und die hier abgebildete Frau für Schwestern halten, wenn nicht …«

»Spar dir die Worte, Harry«, unterbrach Alice den jungen Mann. »Du weißt sehr gut, dass das hier meine Mutter ist.«

»Ja, das weiß ich«, räumte Harry ein. »Eine tolle Frau übrigens, und wenn sie nicht so alt wäre, könnte ich mich glatt in sie verlieben.« Sinnend betrachtete er das Foto in der Zeitschrift, deren Auflage wegen der interessanten Klatschreportagen ziemlich hoch war.

»Meine Mutter ist nicht alt«, erwiderte Alice. »Mit dreiundvierzig ist eine Frau …«

»Schon verstanden«, fiel Harry dem langbeinigen Mädchen grinsend ins Wort. »Ihren Aktivitäten entsprechend scheint sie sogar noch sehr jung zu sein.« Er hatte damit gar nicht einmal so unrecht. Der unter dem Zeitungsfoto stehende Artikel des Klatschreporters schien das nur zu bestätigen. Er beinhaltete nicht mehr und nicht weniger, als das die gerade während eines verrückten Tanzes abgelichtete Katharina Helbrecht in punkto Esprit und Lebenslust trotz ihrer bereits überschrittenen vierzig den jüngeren Altersstufen noch einiges voraus habe und ganz abgesehen von ihrem wirklich rassigen Aussehen auf dem besten Wege war, die Partylöwin der Münchener Schickeria zu werden.

Sinnend und nachdenklich betrachtete Alice das Foto in der Zeitschrift. Irgendwie tat die Mutter ihr leid. Andererseits aber ärgerte sie sich auch über sie.

Nur wenige Sekunden hatten all ihre augenblicklichen Überlegungen gedauert, da riss sie Harrys Stimme wieder aus ihren Gedanken. »Du kannst das Blatt gern behalten, wenn du willst«, sagte er und lächelte verschmitzt. »Vielleicht inspiriert dich das Bild und der Artikel ein …«

»Hör auf, Harry!«, fiel Peter dem Studienfreund energisch ins Wort. »Du siehst doch, dass du Alice damit ärgerst.«

»Ja, ja, schon gut …«, murmelte Harry und schob Alice das Blatt hin.

»Danke«, gab Alice zurück und verstaute es in ihrer Tasche. »Ich muss jetzt aber weiter«, fügte sie hinzu und wollte gehen.

Peter hielt sie zurück. »Ach, bevor ich’s vergesse, Alice«, sagte er, »ich wollte dich für den kommenden Samstag zu einer Fete einladen.« Bittend sah er Alice an.

Fragend gab sie den Blick zurück. »Fete? Wo? Bei wem und weshalb?«, kam es leise über ihre Lippen.

»Tja, eigentlich gibt es dafür keinen besonderen Anlass«, erwiderte Peter. »Volker Reineggers Eltern reisen am Freitag in die Ferien, und Volker meint, dass man das ausnützen müsse, wenn man das ganze Haus für sich allein hat. Er hat schon entsprechende Vorbereitungen getroffen.«

»Wo soll das denn stattfinden?«, wollte Alice wissen, die bei der Nennung des Namens Volker Reinegger aufgehorcht hatte.

»In Hausham, das ist unweit von Schliersee«, kam die Antwort. »Volkers Eltern haben dort ein großes Haus mit Swimmingpool.«

Alice überlegte kurz. Solche Feten hatte sie schon öfters mitgemacht, und es war immer sehr lustig und unterhaltsam gewesen. Man war schließlich jung, und es war ja auch nichts dabei, wenn man das Leben ein wenig genießen wollte. Weshalb sollte sie nicht auch diesmal mitmachen? Es störte sie zwar ein wenig, dass das außerhalb Münchens sein sollte. In der gleichen Sekunde fiel ihr aber ein, dass Schliersee beziehungsweise Hausham gar nicht so weit vom Tegernsee entfernt war, von der Südspitze, da wo bei Rottach ihre Mutter in ihrem Bungalow lebte. Gar nicht so übel, sinnierte sie weiter. Da konnte sie nach langer Zeit am darauffolgenden Sonntag wieder einmal bei der Mutter zu Hause sein. Ausschlaggebend für ihre dann folgende Entscheidung aber war, dass Volker Reinegger mit dabei war.

»Nun, was ist?«, fragte Peter in Alices Gedanken hinein.

»Okay, ich mache mit«, erwiderte Alice. »Wie komme ich aber dahin?«, wollte sie wissen. »Du weißt, dass ich kein Auto, sondern nur einen Motorroller habe.«

»Kein Problem – ich hole dich ab und fahre dich hin …«

»Auch wieder nach Hause?«

Peter nickte nur.

Damit war für Alice dieses Thema erledigt. Sie wollte nur noch wissen, zu welcher Uhrzeit am Samstag sie sich bereithalten sollte.

»Gegen sechs am Abend hole ich dich ab«, antwortete Peter. »Du hast ja noch die gleiche Adresse?«, vergewisserte er sich.

Alice bestätigte es, nickte den beiden jungen Männern verabschiedend zu und verschwand mit elastischem Gang aus der Kantine, bald darauf auch aus dem Universitätsgebäude. Als sie dem Parkplatz zuschritt, auf dem ihr Motorroller stand, fiel ihr noch ein, dass sie eigentlich hätte fragen müssen, ob Harry Büchner etwa auch an dieser Fete teilnahm. Begeistert davon war sie nicht. Dafür aber verspürte sie eine leise erwartungsvolle Freude bei dem Gedanken, dass Volker Reinegger anwesend sein würde. Dabei müsste sich doch bestimmt die Möglichkeit eines Kontaktes ergeben.

Wenige Minuten nach zwei Uhr nachmittags war es, als sie in ihrem in jungmädchenhaften Stil eingerichteten kleinen Appartement in München-Sendling eintraf und ihre Umhängetasche leerte. Dabei fiel ihr wieder das Magazin in die Hände, das sie von Harry Büchner bekommen hatte und in dem ihre Mutter abgebildet war. Über Alices Nase bildete sich eine kleine Unmutsfalte. »Ich muss einmal ernsthaft mit ihr reden«, murmelte sie vor sich hin, »ob ihr das nun gefällt oder nicht. Ja, am Sonntag nach der Fete, werde ich es tun.«

Dieser Entschluss brachte sie gleichzeitig auf den Gedanken, die Mutter anzurufen und ihr mitzuteilen, dass sie den Rest der Nacht vom Samstag auf Sonntag und auch den gesamten Sonntag im Haus am Tegernsee bleiben wolle. Sie ließ diesem Gedanken auch sofort die Tat folgen, griff zum Telefon und rief ihre Mutter an.

Etwas enttäuscht legte sie nach einer Weile wieder auf, denn es meldete sich niemand am anderen Ende der Leitung. »Mama ist wieder einmal unterwegs«, flüsterte sie. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie jetzt schon in München ist und sich auf den Abend einstellt.« Wahrscheinlich mit ihrem jetzigen jungen Freund, fügte sie in Gedanken hinzu.

Wie mag dieser Mann wohl aussehen, fragte sie sich im nächsten Augenblick neugierig. Was hatte er Besonderes an sich, dass Mutter ihn zu ihrem Favoriten gemacht hatte? War es nur der Umstand, dass er dreizehn Jahre jünger war? Alice kannte den Mann nicht. Sie hatte ihn noch nie gesehen und wusste nur, dass er Fotoreporter für einige Blätter war und Rolf Sternau oder Sterneck oder so ähnlich hieß.

Eine ganze Weile beschäftigte sie sich in Gedanken noch mit ihrer Mutter, während sie sich in der winzigen Küche etwas Essbares zubereitete. »Na, auf jeden Fall werde ich Sonntag mit ihr reden«, stieß sie hervor. »Morgen werde ich noch einmal versuchen, sie anzurufen. Bis Samstag sind ja noch fast drei Tage. Einmal muss sie ja zu Hause sein.« Mit diesen Worten beendete sie ihre Überlegungen um die Mutter und deren jüngeren Freund und begann zu essen, weil sie sich anschließend einige vorgegebene Lektionen vornehmen wollte.

*

Abschätzend sah Katharina Helbrecht, die in ihrem roten Ferrari saß, den jungen Mann an, der vor der noch geöffneten Wagentür stand und prüfend auf sie herunterblickte. Bis vor wenigen Minuten war sie noch mit ihm im Haus gewesen und hatte seine drängenden Fragen über sich ergehen lassen. Eine Viertelstunde lang hatte es gedauert, und sie war sich wie jemand vorgekommen, der verhört wurde. Kurzerhand hatte sie der Unterhaltung ein Ende gesetzt, denn die Zeit wurde ihr knapp. Um halb drei wollte sie wie abgesprochen in der Klinik am See sein. Das sagte sie jetzt, als sie bereits startbereit im Auto saß, auch ihrem Besucher, dem jungen Fotoreporter Rolf Sternau, den sie sich vor einigen Wochen als ihren Freund ausgewählt hatte.

»Rolf, bitte begreife doch – ich muss zur Behandlung in die Klinik«, stieß sie hervor. Mit einer unnachahmlichen Handbewegung strich sie über ihr fast schulterlanges kastanienbraunes Haar.

»Das begreife ich ja auch, Liebling«, gab Rolf Sternau leicht gereizt zurück. »Was ich nur gern wissen möchte, ist, weshalb du seit fast zwei Wochen irgendwie anders geworden bist mir gegenüber.«

»Wie, anders?« Ein kaum erkennbares Lächeln kräuselte sich um die vollen Lippen Katharinas, die man auf höchstens Mitte dreißig schätzte. Zu ihrem gepflegten Äußeren in Verbindung mit ihrer gewählten Ausdrucksweise und der Art, sich zu bewegen, passte der Begriff »Dame« im wahrsten Sinne des Wortes.

»Nun, ich deutete es schon an – irgendwie kühler bist du zu mir«, erwiderte Rolf, in dessen Augen es verlangend glühte. Seit er Katharina kannte, sah er keine anderen Frauen oder Mädchen an. Mit anderen Worten – er war drauf und dran, alle seine bisherigen Prinzipien, sein Junggesellenleben so lange wie nur möglich weiterzuführen, über Bord zu werfen und mit Katharina in den Ehehafen einzulaufen. Lieber heute als morgen. Er, der eigentlich nie an die sogenannte große Liebe geglaubt hatte, gestand sich ein, dass er diese Frau liebte. Zumindest bildete er sich das ein. Dass Katharina um dreizehn Jahre älter war, störte ihn überhaupt nicht.

»Liebst du mich denn noch?«, unterbrach Rolf Sternau die blitzartigen Gedankengänge Katharinas.

Die sah den jungen Mann fest an. »Rolf, was soll diese Frage?«, gab sie zurück. »Ich mag dich, das weißt du. Ich mag dich sogar sehr.«

»Du hast mir aber auch, und das nicht nur einmal, zugeflüstert, dass du mich liebst«, konterte Rolf. »Mehr noch – wir haben sogar schon von einer festen Verbindung, von einer Ehe also, gesprochen, und du warst nicht abgeneigt.«

»So? Meinst du?«, gab Katharina leise zurück. Natürlich erinnerte sie sich an ein solches Gespräch. Oder waren es zwei gewesen? Sie wusste es nicht mehr.

»Ja, das meine ich«, stieß Rolf hervor. Um Antwort bittend sah er die Frau an, deren Mann er nur zu gern werden wollte. Nicht wegen des enormen Vermögens, das sie nach dem Tode ihres zweiten Mannes geerbt hatte, nein, sondern einzig und allein wegen ihrer Ausstrahlung und ihrer Fähigkeit, einem Mann schon auf Erden den Himmel zu geben.

»Lassen wir doch bitte jetzt dieses Thema«, ergriff Katharina wieder das Wort. Sie war es plötzlich leid, darüber weiterzudiskutieren. »Denke einmal darüber nach, dass ich dreizehn Jahre älter bin und auch eine schon erwachsene Tochter habe.«

»Die hast du mir bisher vorenthalten«, entgegnete Rolf mit einem leisen Vorwurf in der Stimme. »Ich hätte sie gern einmal kennengelernt, denn immerhin gehört sie zu dir, die ich ja liebe.« Über seine Lippen kam ein leiser Knurrlaut. »Sag mir bitte, gibt es etwa einen anderen Mann, den ich als Rivalen zu betrachten habe?!« Funkelnd sah er Katharina an.

»Rede keinen Unsinn«, erwiderte sie ausweichend, griff nach der Seitentür und zog sie zu. Durch das heruntergekurbelte Seitenfenster sagte sie: »Jetzt muss ich aber fahren, sonst komme ich zu spät.«

Rolf schluckte. »Sehen wir uns heute am Abend?«, fragte er. »In München oder bei dir zu Hause?«

Katharina überlegte nur ganz kurz. »Nein, heute nicht, Rolf«, antwortete sie. »Ich habe mir vorgenommen, das begonnene Bild endlich fertig zu malen.«

»Ach ja, deine Malerei«, murmelte er, »die ist auch zu einer Art Rivale für mich geworden.« Er wusste, dass Katharina bereits seit einem Jahr ihrem Hobby, der Malerei, nachging, obwohl sie seines Wissens bisher noch kein einziges von ihren gemalten Bildern verkauft hatte. Nun ja, es war eben nur ein Hobby von ihr. Sie hatte es nicht nötig, damit Geld zu verdienen. Von dem besaß sie genug. »Also, wann sehen wir uns wieder?«, wollte er wissen. »Ich muss leider für zwei oder auch drei Tage wegen einer größeren Fotoreportage nach Berlin …«

»Wir können ja nächste Woche miteinander telefonieren«, erklärte Katharina und drückte auf den Anlasser. Es passte ihr gut, dass Rolf für drei Tage außer Reichweite war, denn sie hatte für das kommende Wochenende schon etwas vor – zusammen mit Dr. Lindau. Sie hoffte, dass er mitmachte. »Er muss …«, entfuhr es ihr.

»Wer muss was?«, fragte Rolf, der die Worte vernommen hatte.

Keineswegs verlegen, erwiderte Katharina: »Der Motor muss anspringen.« Das geschah auch im gleichen Augenblick. »Also dann …«, rief Katharina und gab Gas.

*

Mit nachdenklicher Miene verließ Dr. Lindau, Chefarzt der Klinik am See, das Untersuchungszimmer der Chirurgie. Dr. Reichel, der Leiter der Station für innere Krankheiten, der bei der eben beendeten Untersuchung der Patientin dabei gewesen war, folgte ihm.

»Einwandfrei eine Achalasie«, ergriff er als Erster das Wort, als er wenig später mit dem Klinikchef das Stationszimmer betreten hatte.

Dr. Lindau nickte zustimmend. »So ein anhaltender Krampf des Mageneingangs kommt eigentlich relativ selten vor«, entgegnete er, »und ist auch normalerweise durch eine Drehung der Speiseröhre zu beseitigen.«

»In diesem Fall aber war es ohne Ergebnis.« Fragend sah Dr. Reichel den Chefarzt an. »Operation?«

Wieder nickte Dr. Lindau zustimmend. »Die halte ich für erforderlich«, erwiderte er. »Wir müssen den Muskelmantel der unteren Speiseröhre spalten.«

»Wann?«, fragte Dr. Reichel.

Dr. Lindau überlegte kurz. »Ich denke an morgen oder spätestens übermorgen«, erklärte er. »Wir besprechen das morgen bei der Ärztekonferenz mit dem Kollegen Hoff. Ich möchte keine Zeit verlieren.«

»Sie befürchten Komplikationen?«

»Die sind nicht auszuschließen«, antwortete Dr. Lindau. »Ich denke dabei auch an die erhöhte Wahrscheinlichkeit von Speiseröhrenkrebs. Lassen Sie also die vorhin entnommene Gewebeprobe darauf besonders untersuchen und analysieren, und zwar noch heute!«, bat er Dr. Reichel.

»Ich veranlasse das gleich«, versprach der.

In diesem Augenblick schrillte das Telefon im Stationszimmer. Schwester Marianne, die dem Pflegepersonal der Station vorstand, meldete sich und reichte dann Dr. Lindau den Hörer. »Für Sie, Herr Chefarzt«, sagte sie. »Frau Stäuber ist am Apparat.«

Dr. Lindau drückte den Hörer ans Ohr. »Ja, was gibt es?«, fragte er.

»Die Frau Konsulin ist hier und wartet auf Sie«, meldete die Sekretärin. »Sie hat ja heute einen Behandlungstermin.«

Dr. Lindau verzog das Gesicht. Daran hatte er gar nicht gedacht.

»Ich bin schon auf dem Wege«, gab er zurück. »Im Übrigen, Frau Stäuber – betiteln Sie Frau Helbrecht nicht immer mit Konsulin! Sie ist nur die Witwe des Konsuls. Sagen Sie ihr also, dass ich in wenigen Minuten unten bin!« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, legte er auf und wandte sich wieder an Dr. Reichel. »Wir sind uns also einig«, meinte er.

»Vollkommen«, bestätigte Dr. Reichel.

»Ja, dann also bis später …« Dr. Lindau entfernte sich aus dem Stationszimmer und fuhr mit dem Aufzug ins Erdgeschoss.

»Sie sitzt schon bei Ihnen drin«, empfing die Sekretärin ihren Chef, als der das Vorzimmer betrat. »Ich meine Frau Helbrecht«, fügte sie betont hinzu. »Die Krankenakte habe ich bereits auf Ihren Schreibtisch gelegt.«

Dr. Lindau feixte verstohlen, als er merkte, dass sein vorheriger Hinweis auf den Konsul-Titel Marga Stäuber anscheinend ein wenig zu schaffen machte. Er kannte seine Sekretärin. Sie war eine verlässliche Kraft und kannte sich in ihrem Metier wirklich gut aus. Aber für sie war eben die Frau eines Konsuls die Frau Konsul, ebenso wie die Gattin eines Arztes oder eines Professors eben die Frau Doktor oder die Frau Professor war. »Danke, Frau Stäuber«, murmelte er und betrat sein Zimmer, das Büro und Sprechzimmer in einem war.

»Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, gnädige Frau«, begrüßte er Katharina Helbrecht, die mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Stuhl saß und ihn lächelnd ansah. Mit einem Händedruck begrüßte er die attraktive, rassige Frau, die als Privatpatientin seit knapp drei Wochen von ihm behandelt wurde. Ein eigenartiges Gefühl durchströmte ihn, als Katharina Helbrecht seine Hand einige Sekunden länger festhielt. Hastig zog er sie zurück und trat hinter seinen Schreibtisch.

»Das macht doch nichts, Herr Doktor«, gab Katharina Helbrecht zurück, stand auf und trat dicht neben den Chefarzt. Der Blick, mit dem sie den Klinikleiter ansah, sprach eine ziemlich deutliche Sprache.

Dr. Lindau entging das natürlich nicht. Es war nicht das erste Mal, dass diese Frau ihn so ansah, und er wusste auch, was das bedeutete. Katharina Helbrecht ließ nur zu deutlich erkennen, dass sie etwas für ihn übrig hatte. Er gestand sich ein, dass ihm das sogar ein wenig schmeichelte, denn schließlich war er nicht nur Arzt, sondern auch ein Mann in den besten Jahren, der gegen weibliche Reize einer schönen Frau nicht unbedingt immun war.

»Bekomme ich jetzt wieder meine Injektion?«, unterbrach Katharina in diesem Moment die Gedanken des Chefarztes und lächelte verheißungsvoll.

Diese Frage brachte Dr. Lindau wieder zu Bewusstsein, dass er der Arzt war und diese Frau seine Patientin. »Nein, gnädige Frau«, erwiderte er mit etwas rau klingender Stimme. »Das ist nicht mehr nötig.«

»Weshalb nicht?« Verwundert sah Katharina den Arzt an.

»Weil ich Ihre Behandlung vorläufig als abgeschlossen betrachten kann«, antwortete Dr. Lindau, griff nach der Krankenakte und schlug sie auf. »Das vor zwei Tagen durchgeführte Elektrokardiogramm zeigt, dass Ihr Herzrhythmus wieder in Ordnung, also vollkommen regelmäßig ist. Es liegt jetzt nur an Ihnen, dass das auch so bleibt«, fuhr er erklärend fort. »Meiden Sie auf jeden Fall übermäßigen Genuss von Alkohol, Kaffee und Nikotin, dann wird das Herzjagen kaum noch auftreten.«

Katharina war sekundenlang ein wenig fassungslos. Ihr wurde blitzartig klar, was die Worte Dr. Lindaus bedeuteten. Mit Worten ausgedrückt hieß das, dass sie nicht mehr wie bisher jeden dritten Tag in die Klinik zur Behandlung zu kommen brauchte. Damit war dann auch der persönliche Kontakt mit Dr. Lindau vorbei. »Wollen Sie damit sagen, dass die Behandlung vorbei ist, Herr Doktor Lindau?«, fragte sie mit zitternder Stimme.

»So ist es, gnädige Frau«, bestätigte Dr. Lindau.

»Ich soll also nicht mehr hierherkommen?«

Dr. Lindau nickte. »Sie brauchen es nicht, denn die Behandlung ist abgeschlossen«, erklärte Dr. Lindau. »Als Arzt gibt es für mich in diesem Fall nichts mehr zu tun. Seien Sie doch froh darüber!«

»Ich bin aber gern hergekommen«, stieß Katharina heftig hervor.

Dr. Lindau konnte sich eines feinen Lächelns nicht enthalten. »Da gehören Sie aber wirklich zu den wenigen Menschen, die wegen eines Leidens gern zum Arzt gehen«, meinte er.

Hinter Katharinas Stirn überschlugen sich die Gedanken. Wie sollte sie sich nun verhalten? Sollte sie aufgeben und versuchen, ihre Zuneigung für den Arzt zu unterdrücken? Dagegen wehrte sich alles in ihr. Nein, schien ihr eine innere Stimme zuzuraunen, du liebst ihn doch und willst ihn haben. Ergreife also die Initiative. Nur Bruchteile von Sekunden dauerten diese Überlegungen, dann hatte sich Katharina wieder gefasst. Ein Lächeln umspielte ihre vollen Lippen. »Ja, natürlich bin ich froh, dass Sie mich als gesund und aus der Behandlung entlassen, Herr Doktor«, ergriff sie das Wort. »Ich bin Ihnen auch sehr dankbar dafür.« Sie verstand es vortrefflich, sich keine Enttäuschung anmerken zu lassen und schlug nun eine andere Taktik ein. »Erlauben Sie mir aber, mich ein wenig dankbar zu zeigen.«

»Sie bekommen die Honorarforderung per Post zugestellt, gnädige Frau«, entfuhr es Dr. Lindau.

»Selbstverständlich, aber das meinte ich nicht damit«, entgegnete die Konsulwitwe.

»Sondern?« Fragend und dabei ein wenig misstrauisch sah Dr. Lindau die Patientin, die ja ab sofort gar keine mehr war, an. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass etwas Unbekanntes auf ihn zukam, gegen das er sich nicht wappnen konnte. Was konnte das nur sein?

Er erfuhr es auch sofort.

»Ich möchte Sie gern zu etwas einladen, Herr Dr. Lindau«, kam es leise und beinahe zärtlich über Katharinas Helbrechts Lippen. »Zu einem Opernbesuch und einem anschließenden Essen in München. Ich habe bereits zwei Karten für die Oper«, fuhr sie fort. »La Traviata wird gegeben, und das anschließende Essen betrachte ich als eine Art kleiner Feier aus Anlass meiner Genesung, die ich Ihnen verdanke. Am kommenden Sonnabend wäre das. Bitte geben Sie mir jetzt keinen Korb!« In ihren Augen funkelte es, als sie Dr. Lindau bittend ansah.

Der schluckte. Diese Einladung überraschte ihn und machte ihn auch etwas verlegen. Wie sollte er sich jetzt verhalten? Sicher – La Traviata hätte er sich ganz gern angesehen, und gegen ein Essen mit dieser schönen Frau war im Grunde genommen ja auch nichts einzuwenden. Dennoch wehrte sich in ihm etwas dagegen.

»Nun?«, unterbrach Katharina das eingetretene sekundenlange Schweigen.

Dr. Lindau straffte sich. »Was soll ich Ihnen antworten, gnädige Frau?«, brachte er hervor. »Natürlich ehrt mich Ihre Einladung«, fügte er hinzu. »Aber ich glaube doch, dass ich abschlagen muss.«

»Weshalb das?«, fragte Katharina mit gedämpfter Stimme. »Haben Sie an mir etwas auszusetzen?«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Dr. Lindau und wünschte sich das Erscheinen seiner Assistentin herbei. »Doch vergessen Sie bitte nicht, dass ich Arzt und Leiter einer Klinik bin, der stets im Dienst ist.« Unwillig verzog er das Gesicht bei dieser, wie er sich eingestand, laschen Formulierung. »Es ist ja durchaus möglich, dass ich gerade am Sonnabend als Arzt gefordert werde«, fuhr er fort. »Sie werden verstehen, dass ich Ihnen jetzt keine Zusage machen kann.«

Katharina dachte kurz nach. Entschlossen blitzte sie dann den Chefarzt an. »Ich verstehe das natürlich«, erklärte sie mit fester Stimme. »Aber wenn Sie mir erlauben, so werde ich Sie am Freitag anrufen, um …« Sie brach ab, weil in diesem Augenblick Bettina Wendler, die Assistentin Dr. Lindaus, das Sprechzimmer betrat und einige Papiere auf den Schreibtisch des Chefarztes legte.

»Die Laborberichte«, sagte sie und setzte hinzu: »Ich störe wohl nicht?«

Doch, Sie stören sogar sehr, lag es Katharina auf der Zunge, aber sie schluckte es hinunter.

»Nein, nein, Bettina«, beeilte sich Dr. Lindau zu versichern. »Frau Helbrecht wollte ohnehin gehen.«

Unmerklich zuckte Katharina zusammen, fasste sich aber blitzschnell wieder und sah Dr. Lindau lächelnd an. »Also, Herr Doktor, es bleibt dabei – ich melde mich am Freitag«, sagte sie und reichte dem Chefarzt verabschiedend die Hand.

*

An diesem Abend verlief das gemeinsame Abendessen im Doktorhaus in Auefelden ziemlich schweigsam. Jedenfalls nicht so wie sonst immer. Obwohl Astrid ihrem Vater sein Leibgericht zubereitet hatte, fiel ihr auf, dass er immer wieder grübelnd auf seinen Teller sah und auf diese oder jene Bemerkung von ihr oder auch von ihrem Mann Alexander nur einsilbig reagierte. Irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, ja, fast zu bedrücken. Er widmete sich kaum ihrem kleinen Sohn, der mit am Tisch saß. Nicht ein einziges Mal während des Essens hatte er mit Stefan gescherzt. Sonst ließ er kaum eine Gelegenheit aus, mit dem Jungen ein wenig herumzualbern.

»Du bist so nachdenklich, Paps«, sprach Astrid schließlich den Vater direkt an, stand auf und begann den Tisch abzuräumen. »Hast du Sorgen?«

Dr. Lindau zwang sich zu einem Lächeln und sah seine Tochter ruhig an.

»Sorgen?«, wiederholte er fragend und schüttelte den Kopf. »Nein, Astrid, die habe ich nicht«, wehrte er ab.

»Na, vielleicht nicht private, dafür aber möglicherweise …«

»Ich weiß, was du sagen willst«, fiel Dr. Lindau seiner Tochter ins Wort. »Aber ich kann dich beruhigen – in der Klinik ist alles in Ordnung.«

»Paps, ich kenne dich doch«, erwiderte Astrid, »und merke doch schon die ganze Zeit, dass du dich in Gedanken mit etwas beschäftigst. Den ganzen Abend über warst du so nachdenklich. Sogar dein Enkel hat dich heute kaum interessiert.«

»Entschuldige«, murmelte Dr. Lindau.

»Also, dann sprich dich aus!«, verlangte Astrid. »Wir beide haben uns doch versprochen, nie Geheimnisse voreinander zu haben.«

»Ich habe aber Geheimnisse«, versicherte Dr. Lindau seiner Tochter und konnte sich eines Schmunzelns nicht enthalten.

Damit gab sich Astrid aber nicht zufrieden und bohrte weiter.

»Du bist ja schlimmer als ein Staatsanwalt«, meinte Dr. Lindau nach einer Weile lächelnd. »Hartnäckig wie …, wie …, wie …«

»Das ist ein Erbteil von dir«, fiel Astrid dem Vater ins Wort und lächelte ebenfalls.

In den Augen ihres Vaters funkelte es amüsiert. »Wie ich dich kenne, gibst du nicht eher Ruhe, bevor du nicht alles aus mir herausgequetscht hast«, sagte er. »Also schön – es geht um meine gewesene Privatpatientin Katharina Helbrecht«, bekannte er.

»Ist das nicht die Witwe des Konsuls, die ich bei dir gesehen habe, vor einer Woche etwa?«, fragte Astrid interessiert.

»Genau die ist es«, bestätigte Dr. Lindau.

»Und was ist mit ihr?«, wollte Astrid wissen.

»Wie soll ich es ausdrücken?« Dr. Lindau sah seine Tochter ernst an. »Diese Dame macht …, nun ja …, sie macht mir den Hof. Mit anderen Worten – sie will mich umgarnen.«

Astrid bekam runde Augen. »Schau an«, stieß sie lachend hervor. »Und was missfällt dir dabei?«, fuhr sie fragend fort. »Ist sie nicht eine äußerst attraktive Frau? Kannst du sie nicht leiden?«

»Schon«, bekannte Dr. Lindau, »aber ich bin an einer Beziehung nicht sonderlich interessiert.«

Astrids Lächeln verschwand. Sie wurde ernst. »Weshalb nicht, Paps?«, fragte sie leise. »So wie ich sie in Erinnerung habe, würde sie doch wirklich gut zu dir passen.«

Verdutzt sah Dr. Lindau seine Tochter an. »Was willst du damit sagen?«, wollte er wissen.

»Ganz einfach, Paps«, antwortete Astrid. »Ich will damit nur andeuten, dass du noch lange nicht zu alt bist, um nicht noch eine harmonische Partnerschaft mit einer liebenswerten Frau einzugehen. Das Alleinsein bekommt dir auf die Dauer nicht.«

»Jetzt mach aber einen Punkt, Astrid!« Unwillig runzelte Dr. Lindau die Stirn. »Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich deine Mutter sehr geliebt habe und …«

»Meine Mutter ist aber schon seit Jahren tot, und du lebst noch«, unterbrach Astrid den Vater.

»Trotzdem«, widersprach Dr. Lindau, »hänge ich im tiefsten Innern immer noch an ihr.«

»Ich weiß das, Paps, und es ehrt dich auch«, konterte Astrid. »Doch wer oder was hindert dich daran, noch einmal zu heiraten? Nicht einmal meine Mutter würde das tun, wenn sie das wüsste.«

»Sag mal, willst du mich etwa verkuppeln?«, fragte Dr. Lindau und sah seine Tochter überrascht an.

»Nein, Paps, das will ich nicht«, erwiderte Astrid ruhig. »Was ich möchte, ist nur, dass du deinem Alleinsein ein Ende bereitest und dadurch noch ein wenig glücklich wirst.«

»Was willst du? Ich habe doch dich, meinen Enkel und deinen Mann«, gab Dr. Lindau beinahe heftig zurück. »Außerdem leite ich eine gut gehende und in gutem Ruf stehende Klinik, und die Arbeit füllt mich aus. Ist das alles etwa nicht als Glück zu bezeichnen?«

»Gewiss«, pflichtete Astrid dem Vater bei.

»Na also …«, brummte Dr. Lindau.

»Woraus schließt du denn überhaupt, dass diese Frau Helbrecht dich umgarnen will?«, wechselte Astrid auf eine andere Seite dieses Themas über. »Hat sie dir das gesagt?«

»Natürlich nicht«, antwortete Dr. Lindau. »So etwas merkt man aber. Außerdem hat sie mich heute zu einem Opernbesuch am kommenden Samstag mit einem anschließenden Essen eingeladen.« Mit kurzen Sätzen berichtete er von der Unterhaltung mit der attraktiven Konsulswitwe.

»Das finde ich aber nett von der Dame«, meinte Astrid. »Du hast natürlich angenommen.« Fragend sah sie den Vater an.

Wortlos schüttelte der den Kopf.

»Weshalb nicht?«, fragte Astrid erstaunt. »Das verstehe ich nicht«, fuhr sie fort. »Du liebst doch Opern, und ein wenig Abwechslung vom Klinikleben würde dir sehr guttun. Ich meine, dass du diese Einladung annehmen solltest, Paps. Was ist schon dabei? Du brauchst die Dame ja deshalb nicht zu heiraten.« In dieser Form redete sie noch einige minutenlang auf ihren Vater ein. Ihr ging es nur darum, dass er sich nicht immer nur mit Krankheiten, Patienten und Klinikbetrieb beschäftigte, sondern auch dann und wann ein wenig ausspannte.

So ein Opernabend – noch dazu La Traviata – in Gesellschaft einer schönen Frau, das war ihrer Ansicht nach doch die beste Gelegenheit, einmal abzuschalten und ein bisschen Mensch zu sein, ohne dabei mit Krankheiten konfrontiert zu werden.

Dr. Lindau gab es schließlich auf, sich weiterhin zu sträuben. »Du hättest Politikerin werden sollen statt Kinderärztin«, sagte er lächelnd. »Deine Überzeugungskraft ist bestechend. Also gut, ich werde darüber nachdenken.«

Als er am folgenden Morgen pünktlich in der Klinik erschien, dachte er gar nicht mehr an Katharina Helbrecht und ihre Einladung. Der Klinikalltag ließ private Gedanken und Überlegungen erst gar nicht aufkommen. Dafür sorgten nicht nur die bereits vorhandenen vier Wartezimmerpatienten, sondern auch – und das vor allem – die zu behandelnden Krankheitsfälle der in der Klinik einliegenden Patientinnen. Der Vormittag verging mit den verschiedensten Untersuchungen, die Dr. Lindau zusammen mit Dr. Reichel und mit Dr. Bernau vornahm.

Er war richtiggehend erleichtert, als der Arbeitstag vorüber war und er an die Heimfahrt denken konnte. Der vergangene Tag hatte ihn doch ein wenig ermattet.

»Sie können dann auch Feierabend machen, Frau Stäuber«, rief er seiner Sekretärin zu, als er eine halbe Stunde später an ihr vorbeiging und bald darauf die Klinik verließ und nach Hause fuhr. An diesem Abend hielt er sich auch nicht sehr lange in der Wohnung seiner Tochter und seines Schwiegersohnes auf. Er nahm nur einen kleinen Imbiss zu sich und zog sich dann zurück.

»Paps braucht wirklich etwas Abwechslung«, sagte Astrid zu ihrem Mann. Sie hatte ihm von der Einladung der Konsulswitwe erzählt und freute sich, dass er ihre Ansicht teilte.

»Da kommt ein Opernbesuch mit anschließendem Essen gerade recht«, gab Alexander Mertens zurück. »Und das noch dazu mit einer schönen Frau«, fügte er feixend hinzu.

»Kennst du sie denn?« Forschend sah Astrid ihren Mann an.

»Nein …«

»Woher weißt du dann, dass sie schön ist?«, bohrte Astrid weiter.

»Von dir, mein Schatz«, erwiderte Dr. Mertens lächelnd. »Du hast es mir erzählt. Ich an Vaters Stelle würde eine solche Einladung nur zu gern annehmen.«

Astrid funkelte ihren Mann an. »Erstens bist du nicht an Vaters Stelle, und zweitens würde ich mir verbitten, dass du dich von anderen Frauen einladen lässt.«

»Aber, aber, mein Liebes …« Alexander Mertens schmunzelte. »Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?«

»Bin ich nicht«, gab Astrid mit blitzenden Augen zurück, »sondern nur vorsichtig.«

Alexander gab keine Antwort. Er nahm nur seine Frau in die Arme und küsste sie zärtlich. »Ich habe ja Einladungen von anderer Seite gar nicht nötig«, flüsterte er dann seiner hübschen Frau ins Ohr. »Ich habe ja dich.« Sanft strich er Astrid über das Haar. »Heute gehen wir aber etwas früher zu Bett«, sagte er mit leiser Stimme.

»Soll ich das nun auch als eine Art Einladung auffassen?«, fragte Astrid ebenso leise, und in ihre Augen trat ein samtener Glanz.

Alexander nickte nur wortlos und zog seine geliebte Frau fest an sich.

*

Das gleißende Licht der Operationslampe trieb winzige Schweißperlen auf die Gesichter der beiden Operateure. Immer wieder musste Schwester Sylvia, eine der drei OP-Schwestern, die Stirn von Dr. Hoff und vom Chefarzt abtupfen.

»Klammer …«

»Tupfer …«

»Ist geklammert …«

»Schere …«

»Tupfer …«

Nur diese kurz hervorgestoßenen Worte der beiden Ärzte waren zu hören. Und das leise Klirren der in eine Ablageschale fallenden gebrauchten Instrumente.

Dr. Lindau und Dr. Hoff arbeiteten Hand in Hand. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und beide wussten, worum es in diesem Fall ging. Sie waren ein gut eingearbeitetes Team, das schon unzählige Operationen erfolgreich ausgeführt hatte. Bei ihnen gab es keine falsche Handbewegung und keine Unsicherheiten.

»Das war knapp«, meinte Dr. Hoff, als er ebenso wie der Chefarzt nach gelungener Operation die Kleidung wechselte.

»Das haben wir doch schon oft genug erlebt«, meinte Dr. Lindau und lächelte sparsam. Er wollte noch etwas hinzufügen, schluckte es aber hinunter, weil in diesem Augenblick das Telefon im Vorraum des OP läutete und er abhob.

Es war seine Sekretärin, die ihm meldete, dass Frau Helbrecht ihn sprechen möchte. »Sind Sie erreichbar, oder soll ich …?«

»Ich nehme an«, unterbrach Dr. Lindau die Sekretärin. »Stellen Sie bitte durch!«

»Sofort …« Es knackte in der Leitung, und dann war die Stimme von Katharina Helbrecht zu hören.

»Hallo, Dr. Lindau, ich bin es und möchte nur gern wie abgesprochen Ihre positive Antwort wissen. Ich hoffe doch sehr, dass Sie meine Einladung nicht ablehnen und mir keinen Korb geben.«

Dr. Lindau schluckte. An seine früher Privatpatientin Katharina Helbrecht hatte er gar nicht mehr gedacht. Was noch schlimmer war – er hatte sich trotz des Zuredens seitens seiner Tochter noch nicht endgültig entscheiden können. Nun aber musste er sich entschließen. Ja oder nein?

»Nun, was bekomme ich zu hören?«, fragte Katharina Helbrecht in das sekundenlange Schweigen hinein.

Dr. Lindau wandte sich um zu Dr. Hoff. Der aber hatte sich bereits entfernt. »Tja, also«, setzte er zu einer Antwort an, während sich hinter seiner Stirn die Gedanken überschlugen, »… ich habe es mir überlegt, gnädige Frau. Weshalb sollte ich Ihre gut gemeinte Einladung nicht annehmen?«, fuhr er fragend fort und brauchte fast die gleichen Worte wie Astrid.

»Sie sagen also ja? Das freut mich.« Man konnte auch tatsächlich die Freude aus den Worten heraushören.

»Mich auch, gnädige Frau«, gab Dr. Lindau höflich zurück. Er wusste schließlich, was sich gehörte. Ganz sicher war er sich allerdings nicht, ob er sich wirklich über diesen bevorstehenden Samstagabend so sehr freute. Aber nun hatte er es gesagt. »Wann und wo darf ich Sie abholen?«, fragte er.

»Ich würde sagen, morgen um achtzehn Uhr bei mir zu Hause«, kam die Antwort durch die Leitung. »Dann schaffen wir es gut bis zum Beginn der Oper. Sie wissen, wo ich wohne?«

»Ich kenne Ihre Adresse, gnädige Frau, und werde schon hinfinden«, erwiderte Dr. Lindau.

*

Mit glänzenden Augen musterte Astrid Mertens am folgenden Samstagabend ihren Vater, der an diesem Tag die Klinik schon etwas früher verlassen hatte, weil er sich für den Abend noch ein wenig vorbereiten wollte. Da er annahm, dass es ein etwas längerer Abend sein würde, hatte er sich noch ein wenig hingelegt und war dabei tatsächlich eingenickt. Astrid hatte ihn kurz vor vier Uhr geweckt. Nun stand er vor seiner Tochter. Umgekleidet und fertig zur Abfahrt.

»Du siehst fantastisch aus, Paps«, rief Astrid begeistert aus. »Der Smoking sitzt wie angegossen.«

Dr. Lindau lächelte etwas gequält und überlegte, wann er diese festliche Kleidung das letzte Mal getragen hatte. Auf jeden Fall war es schon ziemlich lange her. Fast ebenso lange war es aber auch her, dass er sich einen Freizeitgenuss, wie es ein Opernbesuch nun einmal war, gegönnt hatte. »Ich kann mich also deiner Meinung nach durchaus in der Öffentlichkeit sehen lassen«, gab er scherzend zurück.

»Das will ich meinen«, erwiderte Astrid mit Betonung. »Du bist der bestaussehendste Mann, und ich kann dir versichern, dass sogar jüngere Semester – ich meine weibliche – auf dich fliegen würden.«

»Danke für die Blumen«, murmelte Dr. Lindau. Er wäre kein Mann gewesen, wenn er sich nicht über dieses Kompliment seiner Tochter gefreut hätte. Unwillkürlich registrierte er dabei aber auch noch eine andere gedämpfte Freude – nämlich die auf den vor ihm liegenden Abend. Ja, es war tatsächlich so, dass diese Freude auf den Opernbesuch seine noch bis zum vergangenen Tag vorhandene Skepsis gegenüber Katharina Helbrechts wirklichen Motiven für die Einladung überwand.

»Wie ich Frau Helbrecht einschätze, wird sie sicher ziemlich stolz darauf sein, mit einem so gut aussehenden Mann, wie du es bist, in der Öffentlichkeit gesehen zu werden«, erklärte Astrid ihrem Vater.

Der winkte verlegen ab. »Nun übertreibe nicht«, entgegnete er. Nach einem raschen Blick auf die Uhr setzte er hinzu: »Es wird Zeit zum Fahren, denn ich möchte nicht unpünktlich sein.«

»Ich wünsche dir einen schönen Abend, Paps.« Astrid gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und begleitete ihn bis vor die Haustür.

»Wo ist eigentlich dein Mann?«, fragte Dr. Lindau noch, als er in seinen Wagen stieg.

»In der Klinik«, antwortete Astrid. »Er hat den Nachmittagsdienst übernommen und wird erst am Abend von Dr. Köhler und Dr. Bernau abgelöst.«

»Aha … Na, dann grüß ihn schön!« Dr. Lindau startete und fuhr davon. Bis nach Rottach war es nicht allzu weit, und von da waren es nur noch wenige Fahrminuten bis zu Katharina Helbrechts Haus. Ihre Beschreibung des Weges war so klar gewesen, dass Dr. Lindau sich sehr gut zurechtfand. Fast auf die Minute genau langte er zur verabredeten Zeit vor dem imposanten Bungalow der Konsulswitwe an und stieg aus dem Wagen. Anerkennend betrachtete er den Wohnsitz seiner Privatpatientin, wie er Katharina Helbrecht für sich immer noch bezeichnete, obwohl die Behandlung inzwischen abgeschlossen war. Er war beeindruckt von dem, was er sah.

»Da steckt Geld dahinter«, murmelte er vor sich hin.

»Sie sind sehr pünktlich«, klang es in diesem Augenblick vom Haus her. In der geöffneten verglasten Eingangstür stand die Dame des Hauses. Lächelnd bat sie Dr. Lindau ins Haus. »Wir haben noch ein paar Minuten Zeit«, sagte sie, »und können uns noch einen Drink genehmen.« Fragend sah sie ihren Besucher an. »Whisky? Kognak? Ginfizz?«

»Wie bitte? Ach so.« Dr. Lindau fuhr aus seinen Gedanken hoch. Hatte ihn schon der feudale Bungalow von außen beeindruckt, so war er nun von der Eleganz im Innern überrascht. Dazu kam noch die Erscheinung der Hausherrin, die ein raffiniert geschnittenes Abendkleid trug, das ihre fraulichen Attribute ungemein vorteilhaft zur Geltung brachte. »Ja, dann bitte ich um einen Kognak«, sagte Dr. Lindau.

Er bekam ihn sehr schnell. Katharina Helbrecht zog einen Ginfizz vor. »Auf einen schönen und genussreichen Abend«, sagte sie und trank Dr. Lindau zu.

Sekundenlang war Schweigen zwischen den beiden festlich Gekleideten. »Sie wohnen wirklich sehr schön hier, gnädige Frau«, ergriff Dr. Lindau schließlich wieder das Wort und versuchte, den fordernden und verheißungsvollen Blicken Katharina Helbrechts auszuweichen, was ihm aber nur zum Teil gelang. Der Duft ihres Parfüms stieg in seine Nase und verwirrte ihn ein wenig.

»Ich möchte Sie um etwas bitten«, kam es leise und weich über die Lippen der Konsulwitwe.

»Ja?«, fragte Dr. Lindau und setzte hinzu: »Wenn ich Ihre Bitte erfüllen kann …« Er sprach nicht weiter und sah Katharina Helbrecht nur fest an.

»Sie können Sie sogar sehr leicht erfüllen«, entgegnete die Dame des Hauses lächelnd. »Nennen Sie mich nicht immer gnädige Frau!«

Überrascht hob Dr. Lindau die Augenbrauen an. In irgendeinem Winkel seines Kopfes schien plötzlich ganz leise, kaum vernehmbar eine Art Alarmsignal anzuschlagen. »Wie sonst?«, fragte er mit etwas gepresst klingender Stimme und trat einen Schritt zurück.

»Wie wär’s mit Katharina?«, fragte die Frau. »Das ist mein Vorname, wie Sie sicher wissen.« Ein eigenartiger Glanz war in ihren Augen. Das Zurückweichen des Mannes, den sie für sich gewinnen wollte, war ihr nicht entgangen. Sie deutete es auch richtig, aber es beeindruckte sie nicht sonderlich und änderte schon gar nichts an ihrem einmal gefassten Entschluss, ihr Ziel zu erreichen. Diesen Mann wollte sie haben, und sie redete sich ein, dass ihr das auch gelingen würde. Bisher hatte sie noch nie Schwierigkeiten gehabt, einen Mann, der ihr gefiel, zu erobern. Unwillkürlich musste sie lächeln, als sie zurückdachte, nämlich daran, dass die Herren der Schöpfung sich immer einbildeten, dass sie es seien, die eine Eroberung gemacht hätten, und nicht umgekehrt. Es war für sie immer leicht gewesen. In diesem Fall allerdings räumte sie ein, dass es doch ein wenig komplizierter sein würde. Dr. Lindau war aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie hatte bereits erkannt, dass er sich keineswegs leicht von weiblichen Reizen beeindrucken und einfangen ließ. Wahrscheinlich war es nicht zuletzt auch das, was sie umso mehr an diesem Mann reizte. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie die Erkenntnis gewonnen, dass sie Dr. Lindau liebte. Sicher – so war es auch bei den anderen Männern gewesen, die nach dem Tode ihres Mannes vorübergehend in ihr Leben getreten waren. Da hatte sie sich auch eingebildet, sie zu lieben, bis sich dann aber herausgestellt hatte, dass es immer nur eine Art Sinnesrausch gewesen war, der wahrscheinlich ihrem Verlangen entsprungen war, nachzuholen, was sie während der Ehe mit ihrem älteren Mann entbehrt hatte. Jetzt, bei diesem Arzt, war sie sich aber sicher, dass es sich nicht nur um einen Rausch handelte, der zeitlich begrenzt war. Nein, diesmal war es mehr, viel mehr, war es ernst. Sie fühlte, dass sie nur mit Dr. Lindau ihr ersehntes, etwas verspätetes Glück würde finden können.

»Ist das Ihr Ernst?«, fragte Dr. Lindau in die Gedanken Katharina Helbrechts hinein.

»Ja«, antwortete sie leise und sah Dr. Lindau tief in die Augen. »Würde Ihnen das denn so schwerfallen?«, fragte sie.

Dr. Lindau wand sich etwas. Ihm schien der Hemdkragen plötzlich zu eng zu werden. »Schwerfallen zwar nicht, aber es ist für mich ungewohnt«, stieß er hervor. »Ich, der Arzt, und Sie, meine Patientin …«

»Wir sind jetzt doch völlig privat«, fiel Katharina dem Arzt ins Wort. Sie griff nach ihrem Glas, trat dicht vor Dr. Lindau hin. »Also?« Nur dieses eine Wort kam fragend über ihre Lippen, und ihr Blick ließ den Dr. Lindaus nicht los.

Dem wurde es plötzlich warm. Es war schwer, sich der Ausstrahlung dieser Frau zu entziehen. Aber das wollte, musste und würde er. Er nahm es sich in dieser Sekunde fest vor. Natürlich räumte er ein, dass Katharina Helbrecht eine wirklich reizvolle und liebenswerte Frau war, die einen Mann mit allem, was sie zu bieten hatte – von ihrem Geld dabei einmal ganz abgesehen – durchaus glücklich machen konnte, und dass bestimmt viele Männer, wären sie jetzt in seiner Lage gewesen, ohne zu überlegen zugegriffen hätten. Nur er konnte es nicht. Katharina Helbrecht war ihm gewiss sehr sympathisch, und ihre Gesellschaft empfand er auch als angenehm. Mehr aber nicht. Sein Innerstes wollte da einfach nicht mithalten. Im gleichen Augenblick aber sagte er sich, dass er sich eigentlich nichts vergab, wenn er ihrer Bitte nachkam und sie beim Vornamen nannte. Letztlich lag es ja auch an ihm, die Distanz zu wahren. Dazu war er nun aber entschlossen. Um Katharina Helbrecht nicht vor den Kopf zu stoßen, ging er also auf ihr Verlangen ein. »Ja, dann also – trinken wir auf den bevorstehenden Abend …, Katharina«, sagte er und trank das Glas leer.

Katharina tat es ihm nach. »Ich nehme doch an, dass ich Sie auch Hendrik nennen darf. Oder?«, gab sie zurück, leise und beinahe flüsternd.

Dr. Lindau stutzte und fragte sich, woher Katharina seinen Vornamen wusste. Eine entsprechende Frage versagte er sich aber, weil er erkannte, dass es keine Schwierigkeit war, seinen Vornamen zu erfahren. Es gab ja Adressbücher, Telefonbücher und nicht zuletzt auch das Namensschild an der Tür zu seinem Sprechzimmer. »Ich glaube, es wird Zeit zu fahren, wenn wir pünktlich in der Oper sein wollen«, sagte er stattdessen.

»Sie haben recht, Hendrik«, entgegnete Katharina, griff nach ihrem Umhang und ihrer eleganten Theatertasche. »Fahren wir also.«

Dr. Lindau schluckte. Sekunden später verließ er mit seiner attraktiven Begleiterin den Bungalow, half ihr galant beim Einsteigen in den Wagen und setzte sich dann hinter das Steuer, startete und fuhr los – Richtung München.

Bei Holzkirchen, 35 km vor der Stadtgrenze, da, wo die von München kommende Bundesstraße 13 die Straße kreuzte, auf der er sich befand, musste er kurz anhalten, um einige in Richtung Süden fahrende Wagen erst vorbeizulassen, ehe er weiter konnte. Unter den Vorbeifahrenden war auch ein kleiner weißer Fiat, der in etwas gemäßigtem Tempo vorbeifuhr.

Katharina Helbrecht stutzte plötzlich, als dieser Fiat vorbeirauschte. Er erregte deshalb ihre Aufmerksamkeit, weil er eine dunkle Abgaswolke hinter sich ließ. Doch das war nicht der eigentliche Grund dafür, dass sie stutzte. Ihr war es lediglich vorgekommen, als hätte sie in der Beifahrerin in diesem kleinen Fiat ihre Tochter Alice erkannt. Ehe sie aber noch genauer hinblicken konnte, war es schon zu spät. Von dem Fiat war nur das das stumpfe Heck zu sehen, umhüllt von einer Abgaswolke.

Vielleicht habe ich mich nur geirrt, mich durch eine Ähnlichkeit täuschen lassen, dachte sie. Minuten später, Dr. Lindau fuhr gerade die Ausfahrt zur Schnellstraße hinauf, hatte sie das schon wieder vergessen und lenkte ihre Gedanken den Stunden zu, die vor ihr und Hendrik Lindau lagen.

*

»Ist was?«, fragte Peter Steinach und steuerte seinen schon etwas altersschwachen Fiat die über Weyarn, Miesbach und Hausham nach Schliersee und weiter führende Straße entlang. »Du bist plötzlich so nachdenklich.«

Alice Mangold schüttelte den Kopf. »Es ist nichts«, erwiderte sie. »Ich hatte nur gedacht, ich hätte meine Mutter vorhin gesehen, als wir über die Kreuzung fuhren.«

»Ach so …«, gab Peter gleichmütig zurück und konzentrierte sich wieder auf die vor ihm liegende Straße. »Wir sind auch gleich am Ziel, in fünfzehn bis zwanzig Minuten.«

Alice gab keine Antwort. Sie dachte an ihre Mutter. Das kann sie nicht gewesen sein, redete sie sich ein. Sie wusste, dass die Mutter einen roten Ferrari fuhr und nur in ganz besonderen Ausnahmefällen sich in einem anderen Wagen mitnehmen ließ – wohin auch immer.

Ich habe mich eben getäuscht, dachte sie und schob die Gedanken daran beiseite.

Es war ein großes Haus, vor dem Peter keine zwanzig Minuten später den Wagen anhielt. Alice zählte sieben Fahrzeuge, die bereits neben und vor dem Haus geparkt waren.

»Wir kommen anscheinend gerade richtig«, meinte Peter Steinach. »Die Fete scheint schon begonnen zu haben. Also dann – hinein ins Vergnügen.« Er fasste nach Alices Hand und zog das hübsche Mädchen mit ins Haus. Seine Annahme erwies sich als richtig – die Fete war schon in vollem Gange. Alice schätzte, dass etwa fünfzehn Personen anwesend waren, Jungen und Mädchen ihrer Altersgruppe. Irgendwo in den drei ineinandergehenden Räumen ertönte laute Musik.

»Hallo, Peter …, hallo, Alice.«, klang es von einigen Seiten. Einige der Mädchen und Jungen kamen von der gleichen Fakultät.

Alice gab die Begrüßungsrufe zurück und mischte sich unter die Gesellschaft, der man anmerkte, dass sie in bester Stimmung war. Volker Rein­egger hatte für entsprechende Getränke gesorgt, vorwiegend für Cola und Rum. Natürlich gab es auch Alkoholfreies zu trinken, aber auch ein paar härtere Sachen wie Kognak, Gin und diverse Liköre. Volker Reinegger konnte sich solche Ausgaben leisten, denn sein Vater war nicht gerade arm.

»Komm, Alice, jetzt tanzen wir!« Peter umfasste Alice und schwenkte sie im Rhythmus der aus den Lautsprechern dröhnenden Musik herum. Irgendjemand legte dann eine neue Platte auf. Peter Steinach, der sich rasch einen Kognak einverleibte, griff wieder nach Alice.

»Augenblick, Peter, jetzt bin ich erst einmal dran.« Es war Volker Reinegger, der das sagte und Alice auch sofort mit Beschlag belegte. Alices Herz klopfte schneller. Das war das, was sie sich schon seit einiger Zeit gewünscht hatte – einmal mit dem Volker zu tanzen, ihm nahe zu sein und mit ihm zu plaudern. Aus dem letzteren wurde allerdings nicht viel, da wegen der lauten Musik und den ebenso lauten Unterhaltungen der anderen kaum etwas zu verstehen war.

Alice war ein klein wenig enttäuscht, als Volker nach zwei Tänzen eines der anderen Mädchen beglücken wollte. Deshalb aber blieb sie beileibe kein Mauerblümchen. Es waren noch andere da, die gern mit ihr tanzen wollten und es auch taten. Das aber wiederum sehr zum Ärger von Peter Steinach, der sich von dieser Fete erhofft hatte, in einen etwas engeren Kontakt mit Alice zu kommen. Er hatte aber immer das Nachsehen, weil ein anderer schneller war. Die Folge davon war, dass er dem Kognak zusprach, mehr als ihm guttat.

Alice ließ sich sehr schnell von dem Trubel und der herrschenden Ausgelassenheit mitreißen, und das ohne Alkohol. Es machte ihr einfach Spaß. Sie wehrte sich auch gar nicht besonders, wenn dieser oder jener sie etwas fester in die Arme nahm und vielleicht sogar versuchte, ihr einen Kuss zu rauben. Bei dem letzteren jedoch blieb sie hart, auch wenn sie dabei lachte. Küssen wollte sie sich nun nicht lassen.

Einer der jungen Männer hatte es darauf besonders hartnäckig abgesehen. Immer wieder versuchte er es, glücklicherweise in einer Art, die Alice nicht schockierte. Glück aber hatte er nicht.

Alice kannte ihn gar nicht, sah ihn zum ersten Mal, und sie fand ihn nicht unsympathisch. Gerhard hieß er – seinen Familiennamen hatte sie nicht mitbekommen – und er wohnte in Gmund, also an der Nordspitze des Tegernsees. In München studierte er Forstwirtschaft. Er verstand, interessant und charmant zu plaudern und sparte auch nicht mit Komplimenten, die Alice gar nicht ungern hörte. Sie wunderte sich auch nicht darüber, dass ihr früheres Interesse für Volker Reinegger mehr und mehr abflaute und schließlich überhaupt verschwand. Gerhard gefiel ihr besser, was natürlich nicht hieß, dass sie sich in ihn verliebt hatte. Ihr Herz hielt sie sich frei für den wirklich Richtigen, wobei sie nicht die geringste Vorstellung hatte, wie der aussehen sollte. Im Augenblick jedenfalls genügte es ihr, dass sie sich mit Gerhard gut unterhielt und sich freute, dass er ständig an ihrer Seite war. Er wimmelte sogar einen seiner Freunde ab, mit dem zusammen er in dessen Auto von Gmund herübergekommen war.

»Es gibt noch mehr nette Mädchen hier, mit denen du anbandeln kannst«, sagte er fast brüsk zu ihm, wenn er versuchte, Alice zum Tanz zu holen. »Sie gehört mir.«

Das wiederum gefiel Alice nicht sehr. »Ich gehöre niemandem«, belehrte sie den eifersüchtigen Gerhard. »Noch nicht«, fügte sie lächelnd hinzu.

Gerhard nahm diese Belehrung nicht sonderlich ernst. Sie reizte ihn höchstens dazu, in seinen Bemühungen um Alices Gunst nicht nachzulassen.

Eine ganze Weile ließ sich Alice das noch belustigt gefallen, doch dann kam der Augenblick, wo sie langsam genug davon hatte und die Bemühungen ihres heißblütigen Verehrers aus Gmund schon etwas banal fand. Doch nicht nur das, sondern auch eine gewisse Müdigkeit machte sich bei ihr bemerkbar. Es ging immerhin schon langsam auf die Mitternachtsstunde zu. Alice war nun einmal nicht der Typ von jungen Mädchen, der Gefallen daran fand, bis in die frühen Morgenstunden hineinzufeiern. Bei den bisherigen geselligen Zusammenkünften mit Freunden, Freundinnen und Kommilitonen – relativ selten war es vorgekommen, dass sie daran teilgenommen hatte – war sie nie länger als bis elf Uhr nachts geblieben.

»Ich bin müde«, sagte sie, als Gerhard sie wieder zum Tanzen animieren wollte, »und möchte nach Hause.«

»Was? Jetzt schon?«, wunderte sich Gerhard. »Es ist doch gerade erst elf vorbei.«

»Na und?«, gab Alice zurück. »Ich bin nun mal kein Nachtfalter.« Suchend sah sie sich dabei nach Peter Steinach um, konnte ihn aber nicht entdecken. Wo mochte er nur stecken? Er hatte ihr doch versprochen, sie wieder nach Hause zu fahren, das heißt, hinüber zum Tegernsee, nach Rottach, weil sie die Nacht und den folgenden Sonntag im Haus ihrer Mutter verbringen wollte.

Ob sie überhaupt zu Hause war? Das fragte sich Alice in diesem Augenblick. Sie wusste es nicht. Dreimal hatte sie am Vortage und auch an diesem Samstagvormittag versucht, die Mutter telefonisch zu erreichen. Ohne Erfolg aber. Sie machte sich darüber keine großen Gedanken, denn sie wusste, wie sie ins Haus kommen konnte. An einer bestimmten Stelle des Bungalows, der nur ihr und der Mutter bekannt war, befand sich immer ein Reserveschlüssel.

»Für alle Fälle …«, hatte die Mutter damals gesagt, »… damit du auch ins Haus kannst, wenn ich einmal nicht da bin.«

Alice hatte also keinen Grund, sich nun Sorgen zu machen. Nur eines hoffte sie – dass die Mutter, falls sie in dieser Nacht noch nach Hause kam, nicht etwa auch ihren Freund mitbrachte. Das hätte sie doch als etwas peinlich empfunden.

»Na, ihr beiden …« Der Gastgeber stand plötzlich vor Alice und Gerhard, »… wie amüsiert ihr euch?«

»Im Augenblick nicht besonders«, erwiderte Gerhard. »Alice ist müde und möchte nach Hause.«

»Was? Schon?«, wunderte sich Volker Reinegger. »Jetzt geht es doch erst richtig los?«

»Ohne mich«, erklärte Alice entschlossen. »Ich bin wirklich müde, und niemand hätte große Freude an mir.«

»Ich verstehe«, entgegnete Volker und gab sich ganz gentlemanlike. »Hast du ein Auto?«

»Nein, Peter Steinach hat mich hergefahren«, antwortete Alice. »Wo ist er eigentlich? Er hat mir versprochen, mich wieder …«

»O weh«, fiel Volker dem hübschen Mädchen lachend ins Wort.

»Der Peter Steinach, tja, auf den wirst du jetzt wohl verzichten müssen. Der liegt flach, weil er etwas zu viel dem Kognak zugesprochen hat. Vor morgen früh ist der nicht zu gebrauchen.«

Alice blickte Volker Reinegger fassungslos an. »Aber wie komme ich jetzt fort von hier?«, brachte sie stockend über die Lippen.

»Hm, wenn ich nicht irre, wohnst du in München.« Volker Reinegger kratzte sich am Kinn.

»Ja, aber dahin will ich heute nicht, sondern hinüber zum Tegernsee, nach Rottach, zu meiner Mutter, die dort ein Haus hat«, erklärte Alice.

»Na, das ist ja nicht sehr weit«, meinte Volker. »Da müsste sich doch jemand finden lassen, der dich hinüberfährt.«

Da blitzte es in Gerhards Augen auf. »Schon gefunden«, sagte er lächelnd. »Ich bringe Alice nach Hause.« Suchend sah er sich nach seinem Freund Michel um, in dessen Wagen er hergekommen war, und winkte ihn heran, als er ihn entdeckte.

»Tja, dann wäre das ja geklärt. Ihr entschuldigt mich!« Volker Reinegger gesellte sich wieder zu einer kleinen Gruppe.

»Das finde ich nett, dass du mich …«

»Ist doch selbstverständlich«, fiel Gerhard seinem Schwarm gönnerhaft ins Wort. »Michel«, wandte er sich an seinen nähergetretenen Freund, »wir fahren jetzt gleich nach Rottach. Alice will nach Hause zu ihrer Mutter.« Scharf sah er Michel an und blinzelte verstohlen mit dem rechten Auge.

Michel, nicht gerade das, was man als einen männlichen Typ bezeichnen konnte, der sich deshalb auch nur zu gern im Fahrwasser des gut aussehenden Gerhard bewegte, hatte verstanden. Er nickte und feixte ein wenig. »Sofort?«, fragte er.

»Ja«, bestätigte Gerhard. »Anschließend fahren wir natürlich wieder hierher zurück.«

Damit war alles abgesprochen, und ohne sich groß von den anderen zu verabschieden, verließen Alice, Gerhard und Michel wenige Sekunden darauf das Haus.

»Darf ich bitten!« Michel deutete auf den viertürigen schwarzen Wagen, der eigentlich seinem Vater gehörte, der ihm aber großzügigerweise öfters überlassen wurde. So wie eben an diesem Samstagabend.

Erleichtert stieg Alice ein – in den Fond des Fahrzeuges, annehmend, dass Gerhard auf dem Beifahrersitz Platz nehmen würde. Doch da hatte sie sich geirrt. Gerhard setzte sich einfach an ihre linke Seite und gab Michel, der schon hinter dem Steuer saß, das Startzeichen. »Also dann los, Michel!«, rief er.

Eine ganze Weile war Schweigen im Innern des Autos. Weder Michel noch Gerhard sprachen ein Wort, als der Wagen den Ort verließ und auf die direkt hinüber zum Tegernsee führende Landstraße einbog. In Alice meldete sich mit einem Mal ein etwas beklemmendes Gefühl. Ihr war, als würde etwas Unangenehmes auf sie zukommen, dem sie nicht auszuweichen vermochte. Sie merkte, dass der links neben ihr sitzende Gerhard immer näher an sie heranrückte. Zweimal war sie dieser Annäherung schon ausgewichen. Nun ging es nicht mehr. Sie saß inzwischen schon ganz dicht an der rechten hinteren Wagentür.

»Was soll das, Gerhard?«, fragte sie energisch. »Du hast doch genügend Platz. Weshalb rückst du mir so dicht aufs Fell?«

Gerhard lachte leise. »Dreimal darfst du raten«, erwiderte er. »Habe ich mir nicht einen Kuss für mein Entgegenkommen verdient?«, fragte er und legte seinen Arm um Alices Schulter.

»Lass den Quatsch!«, fauchte Alice und versuchte sich, aus dem Zugriff des jungen Mannes zu befreien. Es gelang ihr nicht. Sie erreichte mit ihren Bemühungen nur das Gegenteil. Der Griff Gerhards wurde fester und fordernder. »Wenn du nicht sofort Ruhe gibst, steige ich aus«, zischte sie.

»Hier auf der gottverlassenen Landstraße und in der Dunkelheit?« Gerhard lachte leise. »Herrgott, sei doch nicht so prüde!«, ließ er plötzlich die Maske des wohlerzogenen jungen Mannes fallen. Durch den genossenen Alkohol angeregt, wurde er immer aggressiver. Seine Hand tastete verlangend über Alices Körper. Jetzt wollte er es genau wissen. Wozu sonst hatte er sich den ganzen Abend mit diesem Mädchen abgegeben, statt sich einem der anderen hübschen Mädchen zu widmen?

Der Wagen fuhr jetzt schon an der Ostseite des Tegernsees entlang und näherte sich Rottach.

Alice kam es vor, als hätte ihr Begleiter plötzlich fünf oder noch mehr Hände, die sie an ihrem Körper fühlte. Zornig schrie sie Gerhard an, als sich dessen Gesicht dem ihren bis auf wenige Zentimeter näherte! »Ich will nicht … Lass mich los!« Mit aller Kraft wehrte sie sich gegen die Zudringlichkeiten des jungen Mannes. Ihre rechte Hand kam dabei an den Türgriff der nicht verriegelten Seitentür. Erneut warf Alice ihren Oberkörper zurück, als Gerhard sie küssen wollte. Ungewollt drückte sie dabei den Türgriff herunter, und die Seitentür öffnete sich – gerade in dem Augenblick, in dem Gerhard sich fester an sie drängen wollte. Alice spürte plötzlich keinen Halt mehr auf ihrer rechten Seite. Sie verlor das Gleichgewicht, spürte sekundenlang den Fahrtwind und im nächsten Augenblick stürzte sie aus dem glücklicherweise nicht allzu schnell fahrenden Auto. Das ging alles so schnell, dass sie nicht einmal Zeit hatte, einen Schrei auszustoßen. Sie spürte lediglich einen dumpfen Schlag auf ihrem Kopf und einen plötzlichen stechenden Schmerz in ihrem Leib. Dann schwanden ihr die Sinne.

Gerhard starrte entgeistert auf den leeren Platz neben ihm.

»Bist du verrückt geworden, Gerhard?«, fuhr Michel auf und drosselte das Tempo. »Du kannst sie doch nicht aus dem Wagen werfen.«

»Hab ich doch gar nicht«, schrie Gerhard mit heiserer Stimme. »Die Tür ging plötzlich auf.« Angst erfasste ihn. Hastig drehte er sich um. Da sah er, wie sich Alice vom Straßenrand aufrichtete. »Scheint nichts passiert zu sein«, stieß er hervor und wandte sich wieder an Michel. »Fahr weiter, schnell! Sie wird schon weiterkommen.« Er war völlig durcheinander und konnte nicht klar denken. So etwas wie Panik hatte ihn erfasst. Aber nicht nur ihn, auch seinem Freund Michel. Den sogar nicht wenig. Der dachte an seinen Vater, vor dessen Zorn er sich fürchtete, wenn er erfuhr, was in seinem Wagen geschehen war. Statt nun auf das Bremspedal zu treten, wie er es vor Sekunden noch hatte tun wollen, trat er das Gaspedal tiefer durch. Keinem der beiden jungen Männer fiel es ein, sich um Alice zu kümmern. Beide redeten sich in diesen Paniksekunden einfach ein, dass dem Mädchen nicht viel passiert sein konnte, nachdem sie sich nach dem Sturz aus dem Auto wieder aufgerichtet hatte, wie Gerhard es gesehen hatte. Michel fuhr jedenfalls weiter. Aber nicht mehr zurück zur Fete, sondern um den Tegernsee herum in Richtung Gmund.

Dass Alice in diesen Minuten bewusstlos am Straßenrand lag, wussten sie gar nicht. Alice hatte nach dem Sturz tatsächlich versucht, wieder auf die Beine zu kommen, und hatte es auch geschafft. Aber nur für Sekunden. Dann war sie mit einem Wehlaut wieder zusammengebrochen und bewusstlos liegen geblieben.

Sie merkte auch nicht, dass etwa zwanzig Minuten später ein von der Arbeit kommender Radfahrer sie fand, bis zum nächsten Telefon fuhr und die Rettung verständigte, die auch nach wenigen Minuten eintraf.

Mit heulender Sirene und rotierendem Blaulicht wurde Alice sofort in die Klinik am See gefahren, weil sie die nächstgelegenste war.

*

Dr. Köhler, der den Nachtdienst hatte, kam gerade von einem Rundgang durch die Stationen zurück und wollte einen von der Nachtschwester schon vorbereiteten Kaffee trinken, als er von der Schwester in der Notaufnahme verständigt wurde, dass die Rettung eine Verletzte gebracht hatte.

»Nichts mit dem Kaffee«, rief er der Nachtschwester zu und eilte in die Notaufnahme hinunter. Die kurze Information des Notarztes sagte ihm nichts. Ein Unfall, das war sicher. Aber welcher Art und mit was für Auswirkungen?

Dr. Köhler reagierte sofort. In aller Eile untersuchte er die junge Frau, aus deren Personalausweis hervorging, dass sie Alice Mangold hieß, Studentin war und in München wohnte. »Auf jeden Fall eine Gehirnerschütterung«, murmelte Dr. Köhler. »Sofort zum Röntgen!«, befahl er den diensthabenden Schwestern. »Alle Körperregionen, damit wir sehen, ob noch weitere Schäden vorhanden sind.«

Er fuhr auch selbst mit zur Röntgenabteilung.

Wenig später hatte er die Aufnahmen im Lichtkasten und erschrak. Die Aufnahmen zeigten ihm einen lebensgefährlichen Milzriss, der einen sofortigen Eingriff erforderlich machte. Der Chirurg war notwendig. »Lassen Sie die Patientin in den OP bringen!«, befahl er der Schwester. »OP-Alarm! Ich versuche Dr. Hoff und den Chefarzt zu erreichen!«

Im Stationszimmer der Chirurgie hängte er sich an den Telefonapparat. Bei Dr. Hoff hatte er zum Teil Glück, bekam aber nur dessen Frau an den Apparat.

»Mein Mann ist nicht hier, er ist bei Freunden und spielt Skat.«

»Bitte verständigen Sie ihn!«, bat Dr. Köhler. »Er wird dringend in der Klinik gebraucht. Ein Notfall.«

Frau Hoff versprach, ihrem Mann sofort Bescheid zukommen zu lassen.

»Danke.« Dr. Köhler seufzte verhalten und wählte die Nummer des Chefarztes. Wieder hatte er insofern Pech, als sich nicht Dr. Lindau meldete, sondern seine Tochter, die Leiterin der Kinderstation. »Bei Dr. Lindau, Astrid Mertens am Apparat …«

»Frau Kollegin, wir haben einen Notfall eben eingeliefert bekommen«, berichtete Dr. Köhler der Kinderärztin. »Ich brauche den Chef.« Mit wenigen Worten erklärte er.

»Tut mir leid, aber mein Vater ist nicht da«, erwiderte Astrid und sah auf die Uhr. Sie war schon im Bett gewesen, als der Anruf kam. »Ich werde aber versuchen, ob ich ihn erreichen kann«, gab sie Dr. Köhler zu verstehen.

»Bitte tun Sie das!«, bat der aufgeregt. »Es ist wirklich dringend, und ich selbst fühle mich in diesem Fall überfordert.«

»Ich tue, was ich kann, Herr Köhler«, versicherte sie und legte mit einem leisen Gruß auf. Was aber konnte sie wirklich tun? Wie und wo konnte sie jetzt, da es schon langsam auf Mitternacht zuging, ihren Vater erreichen? Sie wusste nur, dass er nach der Oper mit Frau Helbrecht irgendwo essen wollte. Aber wo?

»Was ist denn, Liebling? Wer hat angerufen? Die Klinik?« Es war Alexander Mertens, der das fragte und vom Bett aus durch die offen stehende Schlafzimmertür zu seiner Frau hinsah.

»Ja, es war die Klinik – Dr. Köhler«, antwortete Astrid und berichtete mit wenigen Worten. »Wo soll ich Papa jetzt finden?«, fügte sie fragend hinzu. »Ob er mit der Konsulswitwe noch in irgendeinem Restaurant sitzt?«

»Na, vielleicht ist er bei ihr zu Hause«, meinte Alexander lächelnd. Es sollte ein Scherz sein.

Astrid stutzte. »Gar nicht so verkehrt gedacht, mein Lieber«, stieß sie hervor. »Wie ich die Dame einschätze, ist das gar nicht so unwahrscheinlich. Paps hat sie nach Hause fahren müssen, und da wäre es eigentlich durchaus denkbar, dass er von ihr noch zu einem Drink eingeladen wurde. Ja, so könnte es sein. Ich versuche es …«

»Was denn?«, fragte Alexander erstaunt.

»Ich werde bei Frau Helbrecht anrufen«, erklärte Astrid und griff auch schon nach dem Telefonbuch. Hastig blätterte sie darin. Sekunden später fand sie tatsächlich das, was sie suchte – die Telefonnummer von Katharina Helbrecht.

»Das ist sie«, murmelte sie und wählte auch schon die Anschlussnummer.

*

Ein wirklich angenehmer und genussreicher Abend lag hinter Dr. Lindau. Das gestand er sich ehrlich ein. Die gelungene La Traviata-Aufführung hatte ihn sogar vorübergehend vergessen lassen, dass die attraktive Katharina es auf ihn abgesehen hatte. Ihr bisheriges Verhalten ihm gegenüber war jedenfalls danach gewesen. Mit Zufriedenheit hatte er aber registriert, dass sie während des ganzen Abends – weder während der Opernaufführung noch in dem Restaurant, in dem sie nach der Oper gegessen hatten – mehr als die charmant plaudernde Gesellschafterin gewesen war und keinerlei Anstalten einer Annäherung gemacht hatte. Sollte er sich etwa geirrt haben? War seine Skepsis unbegründet gewesen? Jedenfalls hatte er es nicht bereut, die Einladung angenommen zu haben. Irgendwie fühlte er sich innerlich gelöst.

Dass Katharina ihre Absicht, den Chefarzt der Klinik am See für sich zu gewinnen, keineswegs aufgegeben hatte, wusste er natürlich nicht. Katharina war klug genug, um zu erkennen, dass man bei Dr. Lindau nicht mit der Tür ins Haus fallen durfte. Drei Dinge erschienen ihr zur Erreichung ihres Zieles wichtig zu sein – der richtige Zeitpunkt in der richtigen Umgebung in der richtigen Stimmung. Deshalb hatte sie sich auch während des ganzen Abends zurückgehalten und ihre Gefühle für Hendrik Lindau etwas gebremst.

Das wiederum hatte bei Dr. Lindau zur Folge, dass er nicht ablehnte, als er nach der Heimfahrt von Katharina noch zu einem abschließenden Drink in ihr Haus gebeten wurde.

»Fühlen Sie sich wie zu Hause, Hendrik!«, hatte sie gleich nach dem Betreten des Hauses lächelnd gesagt. »Ich kleide mich nur rasch etwas um und bin gleich wieder zurück.«

Vor wenigen Minuten war das gewesen.

Nun stand sie wieder vor Dr. Lindau. Statt des Abendkleides trug sie jetzt ein raffiniert geschnittenes Hauskleid.

»Ich habe eine Flasche Sekt kaltgestellt.« Katharina reichte Dr. Lindau die Flasche. »Wollen Sie sie bitte aufmachen?«, bat sie.

Dr. Lindau schluckte. Unwillkürlich versteifte er sich ein wenig, und in seinem Innern meldete sich wieder eine Stimme, die ihn zur Vorsicht riet.

Geschickt öffnete er die Flasche aber und schenkte die beiden Gläser voll, die ihm Katharina hinhielt.

»Also dann …« Katharina trat dicht vor Hendrik Lindau hin und stieß mit seinem Glas an. »Trinken wir auf …« Fragend sah sie den Arzt an. »Ja, auf was eigentlich?«

Dr. Lindau zwang sich zu einem Lächeln. »Ich würde sagen, auf den schönen Abend, den wir hinter uns haben, und ich möchte mich dabei gleichzeitig dafür bedanken«, erwiderte er.

»Einverstanden«, gab Katharina zurück, »aber auch auf …«, sie sah Dr. Lindau fest und tief in die Augen, »das, was wir lieben.«

Leise klirrten die Gläser aneinander. Dr. Lindau wurde plötzlich warm. Die Nähe dieser Frau, ihr Duft und ihre verlangenden Blicke irritierten ihn. Ihr Gesicht kam dem seinen näher, und ihre Hand legte sich auf seine Schulter.

»Hendrik, es war ein schöner Abend«, flüsterte Katharina, »und ich wünsche mir, dass noch viele solcher Abende …« Sie sprach nicht weiter, denn in diesem Augenblick läutete das Telefon. Sie zuckte zusammen. Über ihrer Nasenwurzel bildete sich eine kleine Unmutsfalte. Ausgerechnet jetzt, wo sie sich schon fast am Ziel ihrer Wünsche glaubte, musste jemand anrufen. Wer konnte das sein? Rolf etwa? Oder Alice, ihre Tochter? Wer auch immer es sein mochte – sie hatte keine Lust, sich zu melden.

Doch da läutete es schon wieder und es klang irgendwie fordernd.

»Das Telefon«, sagte Dr. Lindau. »Wollen Sie nicht rangehen?«

»Wozu?«, gab Katharina zurück. »Ich bin einfach nicht zu Hause.«

»Es könnte aber vielleicht wichtig sein«, wandte Dr. Lindau ein. »Ein Anruf zu dieser Zeit …«

»Ja, schon gut, Hendrik«, fiel Katharina ihrem Gast unwillig ins Wort. Sie spürte, dass die romantische Stimmung dahin war, ging zum Telefon und meldete sich. Sekundenlang lauschte sie und hielt dann Dr. Lindau den Hörer hin. »Für Sie, Hendrik«, stieß sie hervor. »Es ist Ihre Tochter.«

»Meine Tochter?« Nichts Gutes ahnend griff Dr. Lindau nach dem Hörer und meldete sich. »Astrid, was ist los? Ist etwas geschehen?«, fragte er. Was er in der nächsten Minute zu hören bekam, gab seinen Zügen einen gespannten, aber auch entschlossenen Ausdruck. »Danke, Astrid«, beendete er das kurze Gespräch. »Ruf in der Klinik an und gib Bescheid, dass ich sofort losfahre! In spätestens zwanzig Minuten bin ich dort. Köhler soll Dr. Hoff kommen lassen und OP-Alarm geben.« Beinahe sanft legte er den Hörer auf und wandte sich an Katharina. »Ich muss sofort in die Klinik, Katharina«, sagte er. »Tut mir leid, aber ein Notfall wurde eingeliefert, und wir müssen schnellstens operieren.«

»Aber …, aber …«, stotterte die Dame des Hauses fassungslos, »… Sie können mich jetzt doch nicht allein lassen.«

»Ich muss«, betonte Dr. Lindau. »Oder haben Sie vergessen, dass ich Arzt bin?«

Katharina wollte noch etwas sagen, aber da schloss sich schon die Tür hinter Dr. Lindau. Sekunden später vernahm sie das Geräusch des abfahrenden Wagens. Wütend starrte sie die Sektflasche und die beiden Gläser an. Unbeherrscht griff sie nach einem Glas und warf es an die Wand. Mit leisem Klirren zerbrach es, und die Scherben fielen auf den Teppich.

*

Fast zur gleichen Minute wie Dr. Lindau traf auch Dr. Hoff in der Klinik ein. Im Operationssaal ließen sie sich von Dr. Köhler kurz berichten und sahen sich die Röntgenaufnahmen an.

»Sieht nicht gut aus«, meinte Dr. Lindau. »Wir müssen sofort operieren, wenn wir eine weitere innere lebensgefährdende Blutung verhindern wollen.«

»Eine riskante Sache bei dem immer noch bewusstlosem Zustand der Patientin«, warf Dr. Hoff ein.

»Ursache?«, wandte sich Dr. Lindau fragend an Dr. Köhler.

»Ich habe eine Commotio cerebri festgestellt«, antwortete der Gefragte. »Das Röntgenbild zeigt aber keine Blutungen oder Bruchstellungen. Ich vermute aber einen traumatischen Schock.«

»Das scheint auch der Fall zu sein«, stieß Dr. Lindau hervor. »Die kühl-feuchte Haut und der kaum merkbare Puls …, ja, ja …«

Aus dem Hintergrund tauchte plötzlich Anja Westphal, die Stellvertreterin des Chefarztes auf. Sie hatte die Bemerkungen der beiden Kollegen gehört. »Schlimm, wie?«, sagte sie.

»Du auch hier?«, fragte Dr. Lindau verwundert.

»Dr. Köhler hat mich verständigt, weil der Kollege Reichel nicht erreichbar ist«, erwiderte die Ärztin. »Ich übernehme also die Narkose.«

»Ein riskantes Wagnis, Frau Kollegin«, wandte Dr. Hoff ein. »Sie wissen so gut wie ich, dass bei einem traumatischen Schock größte Vorsicht …«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen, Herr Hoff«, fiel die Ärztin dem Chirurgen energisch ins Wort. »Zu Ihrer Beruhigung – ich habe die Patientin vorher untersucht und bin der Meinung, dass wir es wagen können. Eine gleichzeitige Infusion wird uns dabei unterstützen.«

»Du hast recht, Anja«, pflichtete Dr. Lindau seiner Stellvertreterin bei. »Wir müssen es sogar wagen, sonst stirbt uns die Patientin unter den Händen weg. Das Risiko einer Narkose ist nicht größer als das einer inneren Verblutung. Also …« Er sah Dr. Hoff, Anja Westphal und Dr. Köhler der Reihe nach auffordernd an, »… zögern wir nicht länger.«

Dr. Hoff nickte nur und verließ mit Dr. Köhler den OP, um sich für den Eingriff umzukleiden.

»In sechs Minuten, Anja«, rief Dr. Lindau der Ärztin zu und folgte den schon vorausgegangenen beiden Kollegen, während Anja Westphal sofort damit begann, die Narkose einzuleiten.

Sie schaffte es auch in den geforderten sechs Minuten. Als die drei Ärzte, jetzt in OP-Kleidung, wieder im OP erschienen, konnte sie die Patientin zum Eingriff bereitmelden.

Wenige Minuten nach Mitternacht begann die Operation. Etwas über eine Stunde dauerte sie. »Das war wirklich höchste Zeit«, stieß Dr. Lindau hervor. Anerkennend sah er Dr. Hoff an. »Gute Arbeit«, lobte er.

»Danke, aber allein hätte ich es nicht geschafft«, wehrte er bescheiden ab. »Wie sieht es bei Ihnen aus, Frau Kollegin?«, fragte er die Ärztin.

»Schwacher Kreislauf, aber stabil im Großen und Ganzen«, kam die Antwort.

Dr. Lindau nickte zufrieden. »Die Patientin gehört dir«, rief er Anja Westphal zu. »Sie kommt auf die Intensivstation. Das weitere weißt du ja selber.«

»Alles klar.« Anja Westphal gab den beiden OP-Schwestern einige Anweisungen, während die drei Ärzte den OP verließen, um sich wieder umzukleiden.

Minuten später verließen sie den OP-Trakt und bald darauf auch die Klinik. Nur Dr. Lindau und Dr. Hoff natürlich, denn Dr. Köhler hatte ja noch Dienst bis zum Morgen.

»Also dann …« Dr. Lindau verabschiedete sich mit einem Händedruck von Dr. Hoff und fuhr nach Hause – ebenso wie Dr. Hoff.

Obwohl er leise das Doktorhaus betrat, wurde Dr. Lindau doch von seiner Tochter gehört. Im Morgenrock stand sie plötzlich vor ihm, als er die Treppe nach oben gehen wollte.

»Nun?«, fragte sie nur.

»Du bist noch auf, Astrid?«

»Noch ist übertrieben«, kam die Antwort. »Schon wieder, ist besser gesagt. Also was war los, Paps?«, fragte sie gespannt.

»Astrid, ich bin müde«, gab Dr. Lindau mit einem etwas gequält wirkendem Lächeln zurück. »Ich erzähle es dir morgen, beziehungsweise …«, er sah auf die Uhr, »… heute, denn wir haben ja schon Sonntag. Ich bin jedenfalls noch rechtzeitig in die Klinik gekommen, wenn du das wissen willst. Gute Nacht.«

»Schlaf gut, Paps!«, gab Astrid zurück, wartete, bis ihr Vater in der oberen Etage angelangt war, löschte dann das Licht und begab sich wieder zurück ins Bett.

Dr. Lindau hatte es ebenfalls eilig, die wohlverdiente Nachtruhe zu finden. Zehn Minuten später war er schon eingeschlafen, und das Doktorhaus lag dunkel da.

*

Obwohl es Sonntag war und er eigentlich etwas länger hätte schlafen können, hielt es Dr. Lindau nicht im Bett. Ihn beschäftigte die in der Nacht eingelieferte und operierte Patientin. Vollkommen angekleidet erschien er bald darauf im Erdgeschoss bei seiner Tochter und dem Schwiegersohn, die gerade mit dem Frühstück beginnen wollten. »Da komme ich ja gerade zur rechten Zeit«, sagte er. »Guten Morgen …«

Astrid und Alexander gaben den Morgengruß zurück. »Wir dachten, dass du heute etwas länger schlafen würdest«, meinte die junge Kinderärztin. »Aber bitte, nimm Platz, es ist alles bereit!«

»Danke.« Dr. Lindau setzte sich und frühstückte. Da er seine Tochter kannte, wartete er erst gar nicht auf deren Fragen, sondern berichtete zwischen Kaffee und Brötchen. »Der Eingriff kann als erfolgreich angesehen werden«, schloss er. »Ein wenig Sorge macht mir nur der Schock des Mädchens.«

»Wie ist das eigentlich passiert?«, wollte Alexander Mertens wissen. »Autounfall oder …?«

Dr. Lindau zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, erwiderte er. »Das werden wir erst erfahren, wenn die Patientin hoffentlich bald den Schock überwunden hat. Deshalb fahre ich auch jetzt anschließend in die Klinik.«

Astrid schob ihre Tasse beiseite und sah ihren Vater fragend an. Als Ärztin war sie natürlich an den medizinischen Ausführungen ihres Vaters interessiert. Als Frau aber und als seine Tochter war sie nun neugierig, wie der gestrige Abend für den geliebten Paps verlaufen war, und sie scheute sich auch nicht, danach zu fragen.

Dr. Lindau machte auch kein Geheimnis daraus und erzählte. Es war nur zu verständlich, dass er Katharinas Helbrechts Annäherungsversuch für sich behielt. Das ging weder seine Tochter noch deren Mann etwas an.

»Also ein gelungener Abend«, meinte Alexander Mertens.

»Das kann ich nicht leugnen«, bestätigte Dr. Lindau und stand auf.

»Und weiter war nichts, Paps?« In Astrids Zügen war ein gespannter Ausdruck. »Hat die Dame denn nicht versucht, dich zu umgarnen, dich einzufangen?«, fragte sie.

Dr. Lindau lachte verhalten. »Sehe ich so aus, als ob ich mich einfangen ließe?«, gab er fragend zurück, grüßte und ließ Tochter und Schwiegersohn allein zurück.

Die hörten ihn wenig später wegfahren.

Dr. Lindau begab sich gleich nach seinem Eintreffen in der Klinik direkt zur Intensivstation, wo er Dr. Bernau mit der Stationsschwester antraf. Er grüßte kurz und überflog als Erstes die Eintragungen auf der Krankentabelle.

»Keine Änderung?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Dr. Bernau. »Die Patientin ist zwar wach, spricht aber nicht. Ich vermute eine Bewusstseinsstörung als Folge der Gehirnerschütterung.«

Dr. Lindau betrachtete das Mädchen, das zwar die Augen offen hatte, aber teilnahmslos an die Zimmerdecke starrte. »Fräulein Mangold, können Sie mich verstehen?«, fragte er, bekam aber keine Antwort. Nur die offenen Augen und ein kurzes Zucken der Augenlider zeigte, dass Leben in der Patientin war. »Antworten Sie bitte, wenn Sie können!«, ließ Dr. Lindau nicht locker. »Ich möchte Ihnen helfen. Was ist geschehen?«

Diesmal reagierte Alice Mangold ein wenig. Sie wandte den Kopf und blickte den Chefarzt an, sagte jedoch kein Wort und drehte den Kopf gleich wieder zur anderen Seite.

Dr. Lindau seufzte verhalten. »Daran ist meiner Meinung nach nicht die Gehirnerschütterung allein schuld«, sagte er zu Dr. Bernau gewandt, »sondern der Schock, den sie durch das Erlebte erlitten hat.«

»Wie lange kann der denn anhalten?«, murmelte Dr. Bernau fragend.

»Das sollten Sie eigentlich wissen, Herr Kollege«, gab Dr. Lindau zurück. »Dieser Zustand kann sich morgen schon ändern, aber er kann durchaus noch eine Woche anhalten«, fügte er erklärend hinzu. »Auf jeden Fall braucht die Patientin absolute Ruhe. Ich wünsche, dass sie unter ständiger Aufsicht ist.« Diese Worte richtete er an die Adresse der Stationsschwester. »Sorgen Sie bitte dafür!«

»Selbstverständlich, Chef.« Die Schwester machte sich sofort ein paar kurze Notizen.

»Außerdem möchte ich sofort verständigt werden – auch wenn es nachts ist – wenn diese Schockeinwirkung nachlässt und die Patientin halbwegs ansprechbar ist«, wies Dr. Lindau die Stationsschwester noch an. »Hat man inzwischen feststellen können, ob und wo die Patientin Familie oder Angehörige hat, die verständigt werden könnten?«, wandte er sich dann fragend an Dr. Bernau.

Der verzog das Gesicht. »Leider nein«, erwiderte er. »Die Patientin hatte lediglich eine Art Studentenausweis bei sich, aus dem ihr Name – Alice Mangold – hervorgeht und dass sie in München wohnt.« Fragend sah er den Chefarzt an. »Sollen wir die Polizei einschalten?«, wollte er wissen.

Dr. Lindau dachte kurz nach und schüttelte dann den Kopf. »Nein«, beantwortete er Dr. Bernaus Frage. »Noch nicht. Ich möchte mit der jungen Dame erst selbst sprechen. Dann können wir weitersehen.«

Damit war diese Kurzvisite beendet, und die beiden Ärzte verließen wieder die Intensivabteilung. Nur die Stationsschwester blieb noch zurück, um den Tropf und einige an die Patientin angeschlossene Messapparate zu kontrollieren.

Dr. Lindau hielt sich nun auch nicht länger in der Klinik auf. »Ich bin ja auf jeden Fall zu Hause zu erreichen, wenn etwas los sein sollte«, gab er Dr. Bernau zu verstehen und verabschiedete sich von ihm.

Wenige Minuten später saß er bereits in seinem Wagen und fuhr nach Hause, zurück ins Doktorhaus. Diesen dienstfreien Sonntag wollte er genießen – mit einem kurzen Spaziergang vielleicht und mit dem Lesen eines Buches, das er schon vor einiger Zeit begonnen hatte und womit er endlich fertig werden wollte.

Ganz kurz dachte er auch an den gestrigen Abend, an die Oper und damit auch zwangsläufig an die Konsulswitwe. Er hatte natürlich gemerkt, dass sie ihm seinen abrupten Abgang übel genommen hatte. Natürlich bedauerte er das, denn in gewisser Hinsicht war sein hastiger Aufbruch, das beinahe fluchtartige Verlassen ihres Hauses nicht gerade höflich gewesen. Doch seine Verantwortung und Pflicht als Arzt hatte ihm keine andere Alternative gelassen.

Sie wird sich schon wieder beruhigen, dachte er und schob auch sofort alle Gedanken, die sich mit Katharina Helbrecht beschäftigten, energisch beiseite.

Dass sich Katharina Helbrecht aber noch lange nicht beruhigt hatte und zu Hause in ihrem eleganten Heim sich grübelnd den Kopf zerbrach, wie sie trotz dieses verpfuschten gestrigen Abends doch noch ihr Ziel erreichen konnte, ahnte Dr. Lindau in diesen Sekunden nicht.

*

Hoffnungsvoll schlug Dr. Lindau am nächsten Tag, kaum dass er sein Sprechzimmer und Büro betreten hatte, das Rapportbuch auf. Ihn interessierten vor allem die Eintragungen der Intensivabteilung, die Alice Mangold betrafen. Zu seinem Leidwesen musste er feststellen, dass sich an dem Zustand der Patientin anscheinend noch nichts geändert hatte. Die Schockwirkung und die damit verbundene angenommene Bewusstseinsstörung war noch nicht abgeflaut. Nachdenklich schlug Dr. Lindau das Rapportbuch zu. Wenn er nur gewusst oder wenigstens geahnt hätte, was die wirkliche Ursache dieses Zustandes war, dann wäre es natürlich leichter, eine entsprechende Behandlung oder Therapie einzuleiten. So aber konnte man sich nur in Geduld üben.

Es klopfte, und Marga Stäuber betrat das Zimmer.

»Ja, Frau Stäuber?« Dr. Lindau sah seine Sekretärin fragend an. »Wie viel haben wir?«, wollte er wissen und meinte damit eventuelle Wartezimmerpatienten.

Die Sekretärin verstand. »Stellen Sie sich vor, Herr Doktor – keinen einzigen«, erwiderte sie. »Ist das nicht erstaunlich?«

Dr. Lindau lächelte. »Ich halte das eher für ein gutes Zeichen«, sagte er.

»Wie Sie meinen, Herr Doktor«, entgegnete die Sekretärin und legte ihrem Chef einen dünnen Ordner auf den Schreibtisch. »Das sind die Sachen, die ich heraussuchen sollte und die Sie für Nürnberg benötigen«, erklärte sie.

»Nürnberg?« Dr. Lindau hob verwundert die Augenbrauen an. In der gleichen Sekunde aber erinnerte er sich. »Stimmt«, stieß er hervor. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.«

»Aber ich«, gab Marga Stäuber mit Betonung zurück. »Die Tagung findet Mittwochvormittags statt.«

»Wenn ich Sie nicht hätte, Frau Stäuber …«, entgegnete Dr. Lindau lobend und lächelte.

Geschmeichelt warf sich Marga Stäuber in die Brust. »Man kennt doch seine Pflichten«, meinte sie. »Wann fahren Sie denn?«, wurde sie sachlich.

»Hm …« Dr. Lindau überlegte kurz und erklärte dann: »Ich denke, dass ich morgen Nachmittag nach Dienstschluss fahren werde. Bestellen Sie doch bitte gleich ein Zimmer für mich!«

»Mach ich«, versicherte die Sekretärin. »Für eine Nacht oder für zwei?«

»Nur für eine, denn ich komme am Mittwochabend wieder zurück.« Dr. Lindau sah auf die Uhr. »Tja, da wir keine Wartezimmerpatienten haben, kann ich mit der Visite etwas früher beginnen«, sagte er. »Geben Sie es durch – in fünfzehn bis zwanzig Minuten fange ich auf der Kinderstation an!«

Marga Stäuber nickte und verschwand wieder in ihr Vorzimmer.

Dr. Lindau erhob sich und wollte auch gehen, als durch eine andere Tür seine Assistentin Bettina Wendler eintrat.

»Keine Patienten heute?«, fragte sie.

»Wie Sie sehen – nein«, antwortete der Chefarzt. »Was machen denn die Analysen der zweiten Gewebeprobe von Frau Gerber?«, wollte er wissen.

»Sie bekommen Sie gegen Mittag, Herr Doktor«, erwiderte Bettina Wendler.

»Gut.« Dr. Lindau ging zur Tür. »Ich bin die nächsten zehn Minuten auf der Intensivstation und anschließend bei der Visite, falls etwas sein sollte«, rief er seiner Assistentin zu und ging.

Minuten später stand er schon vor dem Bett von Alice Mangold. Eine ganze Weile betrachtete er die apathisch daliegende junge Patientin, ehe er zu fragen begann. Seine Stimme klang verhalten, dabei aber beschwörend.

»Was ist passiert, Fräulein Mangold? Hatten Sie einen Unfall? Können Sie sich daran erinnern?«

Alice wandte den Kopf und sah den Arzt an. In ihren Augen war plötzlich ein schwaches Blinken. »Ich …, ich weiß … nicht …«, kam es dann aber stockend und kaum vernehmbar über ihre Lippen.

In Dr. Lindaus Züge trat ein gespannter Ausdruck. Endlich, dachte er, ist eine Reaktion erkennbar. Erneut stellte er Fragen. »Sind Sie mit dem Auto verunglückt?«

»Auto …, ja …, die Musik und …, und … die vielen Hände …«, flüsterte Alice und verzog das Gesicht. Das Nachdenken schien ihr Schmerzen zu bereiten. »Wo …, wo bin ich?« In ihren Augen war plötzlich ein Ausdruck von Furcht und Fassungslosigkeit. Man merkte ihr an, dass sie sich anstrengte, ihr Denkvermögen, ihre Erinnerung zu mobilisieren.

So sehr Dr. Lindau dieses hübsche Mädchen auch leidtat, so sehr aber war er auch zufrieden, dass die Patientin langsam Reaktionsfähigkeit erkennen ließ – auch wenn es ihr im Augenblick noch nicht möglich war, diese in richtige Bahnen zu lenken. »Ich bin Dr. Lindau, der Chefarzt der Klinik am See und …«

»Klinik …«, flüsterte Alice verwundert.

»… und will Ihnen helfen«, sprach Dr. Lindau. »Sie wurden gefunden und hatten eine schwere lebensbedrohende innere Verletzung und eine Gehirnerschütterung. Wir haben Sie operieren müssen, um Ihr Leben zu retten.«

»Mein …, mein Leben … retten …«, murmelte Alice, und in ihren Augen blitzte es kurz und schwach auf. »Dr. … Li…, Lind…au«, kam es stockend über ihre Lippen.

»Was meinten Sie mit den vielen Händen, Fräulein Mangold?«, fragte Dr. Lindau leise. »Das ist doch Ihr Name – Alice Mangold.«

Wieder war ein schwaches Aufleuchten in den Augen der Patientin zu erkennen. Ein verhaltenes Seufzen entrang sich ihrem Mund. Es klang fast wie das Stöhnen eines Menschen, der sich in Not befand.

Dr. Lindau spürte, dass sich die Patientin bemühte, nachzudenken, sehr angestrengt sogar, aber dass sie resignierte, weil es ihr nicht richtig gelingen wollte. Er sah ein, dass es keinen Zweck hatte, jetzt noch länger mit der Patientin zu reden. »Ruhen Sie sich jetzt aus, Fräulein Mangold«, redete er auf das Mädchen ein. »Es wird schon wieder werden. Ich komme wieder, und dann können Sie mir vielleicht schon mehr erzählen.« Sanft strich er mit der Hand über Alices Wange, lächelte und ging leise aus dem Zimmer.

Mit einer gewissen Befriedigung berichtete er später – die Visite und die daran anschließende Ärztebesprechung war beendet – seiner Stellvertreterin Frau Dr. Westphal von dem ersten Gespräch mit Alice Mangold.

»Das würde ja bedeuten, dass ihr Schock sich zurückbildet, wenn auch langsam«, meinte die Ärztin.

»Genau«, bestätigte der Chefarzt und fügte hinzu: »Und damit kommt auch sehr bald wieder das Erinnerungsvermögen, das glücklicherweise nicht vollkommen gestört ist, wie ich feststellen konnte.«

»Also nur Bewusstseinsstörungen oder Erinnerungslücken«, entgegnete Anja Westphal.

Dr. Lindau nickte. »Genau«, bestätigte er. »Wenn ich mich jetzt nicht irre, so möchte ich fast sagen, dass wir die Patientin bis spätestens morgen in einem Normalzustand haben werden.«

»Na, ich weiß nicht …« Anja Westphal war etwas skeptisch.

»Wir werden ja sehen«, meinte Dr. Lindau. »Auf jeden Fall rede ich heute noch einmal mit ihr, und auch morgen.«

Das tat er auch. Noch zweimal an diesem Tag ging er in die Intensivabteilung und versuchte sein Glück. Ruhig und gleichermaßen beschwörend redete er auf Alice ein und stellte seine Fragen. Zu seiner Erleichterung konnte er feststellen, dass Alice mit jedem Mal besser reagierte und dass sich ihr Erinnerungsvermögen mehr und mehr einstellte.

Als er nach Dienstschluss nach Hause fuhr, wusste er wenigstens schon, dass Alice Mangold auf einer Party gewesen war und dann in einem Auto gefahren war. Wohin und mit wem hatte sie aber nicht sagen können, so sehr sie sich auch angestrengt hatte.

Erst der folgende Tag – es war der Dienstag, an dem Dr. Lindau zu der Tagung nach Nürnberg fahren wollte – brachte den entscheidenden Durchbruch bei Alice Mangold.

Es war kurz vor Mittag, als Dr. Lindau wieder bei ihr war und mit ihr sprach. Ihre Blicke waren klar, und der bisherige dumpfe Druck in ihrem Kopf war fast ganz verschwunden. Sie beantwortete die verschiedenen Fragen des Arztes relativ flüssig, ohne erst angestrengt nachdenken zu müssen. Die Erinnerung an den Samstagabend, an die Fete und an das, was danach gefolgt war, hatte sich wieder eingestellt. Bis auf einige Details, an die sie sich beim besten Willen im Augenblick nicht entsinnen konnte.

»Ich weiß nur, dass ich im Auto weggefahren bin«, erzählte sie Dr. Lindau. »Wohin?« Sie sah den Chefarzt verzagt an. »Keine Ahnung«, sprach sie weiter. »Nach Hause wahrscheinlich …«

»Nach München also?«, warf Dr. Lindau dazwischen.

»Nein, das glaube ich nicht«, murmelte Alice.

»Mit wem sind Sie gefahren?«, bohrte Dr. Lindau weiter. »Können Sie sich daran erinnern?«

»Es war …, war …« Ein gequälter Ausdruck legte sich über Alices hübsches Gesicht. »Ich weiß es nicht«, stieß sie hervor. »Es fällt mir nicht ein.«

Dr. Lindau nickte. »Gut, lassen wir das vorerst«, ergriff er das Wort. »Wie aber sind Sie aus dem Auto auf die Straße gekommen?«, wollte er wissen. »War es ein Unfall?«

Nachdenklich blickte Alice den Arzt an, der ihr so großes Vertrauen einflößte. »Kein Unfall«, sagte sie. »Es …, es … waren die Hände, vor denen ich Angst hatte und dann …, dann ging die Tür plötzlich auf und …« Sie sprach nicht weiter, sondern starrte schweigend vor sich hin.

»Dann sind Sie aus dem Auto gefallen. War es so?« Zwingend sah Dr. Lindau die Studentin an.

Die wich dem Blick des Chefarztes aus. »S…, so muss es wohl gewesen sein«, erwiderte sie mit leiser Stimme.

Dr. Lindau spürte, dass er jetzt nicht mehr aus Alice herausbekommen würde. Sie musste erst die wenigen noch fehlenden Erinnerungen finden. Lächelnd strich er der Patientin über die auf der Bettdecke liegende Hand. »Ich lasse Sie jetzt in Ruhe, Fräulein Mangold«, sagte er. »Morgen komme ich wieder zu Ihnen, und dann reden wir weiter. Heute Nachmittag fahre ich nämlich nach Nürnberg und komme erst morgen gegen Abend wieder. Ich verspreche Ihnen aber, dass ich sofort zu Ihnen komme, wenn ich zurück bin. Kopf hoch, junge Dame! Wir kriegen Sie schon wieder vollkommen in Ordnung.«

Ein schwaches Leuchten war in Alices Augen. »Danke, Herr Doktor«, flüsterte sie. »Auch dafür, dass Sie mir das Leben gerettet haben.«

Dr. Lindau winkte ab. »Also dann bis morgen Abend«, sagte er und ging. Auf dem Weg hinunter in sein Büro fiel ihm plötzlich etwas ein. Etwas verwundert registrierte er, dass Alice Mangold während aller Gespräche, die er bisher mit ihr geführt hatte, nicht ein einziges Mal von irgendwelchen Angehörigen, von Eltern oder auch von Freunden gesprochen hatte, die eventuell zu verständigen gewesen wären. Sollte es da wirklich niemanden geben?

*

Fast drei volle Tage brauchte Katharina Helbrecht, um ihre maßlose Enttäuschung über den Ausgang des Samstagabends einigermaßen zu überwinden. Dabei hatte sie sich schon so nahe an ihrem Ziel geglaubt. Wenn dieser Anruf in der Nacht nicht gekommen wäre, hätte sie es bestimmt geschafft, Hendrik für sich zu gewinnen. Dessen war sie sich sicher. Er war ja schließlich auch nur ein Mann, in dessen Adern warmes Blut floss. Katharina war nicht an einem vorübergehenden Liebesabenteuer mit dem gut aussehenden Chefarzt der Klinik am See interessiert. Nein, sie wollte ihn ganz für sich und für immer, weil sie ihn liebte. Zumindest redete sie sich das ein, und es war ihr auch tatsächlich ernst damit.

Schade, dass ich nicht mehr seine Patientin bin, dachte sie. Diese Überlegung ließ sie plötzlich stutzen. »Warum eigentlich nicht?«, murmelte sie fragend vor sich hin. »Als Patientin wäre ich in seiner unmittelbaren Nähe.« Das war es ja, was sie anstrebte – seine Nähe. Dann würde sich bestimmt eine Gelegenheit ergeben, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Schließlich lebte man ja in einer modernen und aufgeschlossenen Zeit, in der es nicht allein dem Mann zustand, die Initiative in Liebessachen zu ergreifen. Das konnte eine Frau heutzutage auch, und Katharina verspürte auch keine Hemmungen, sich einem Mann, dem Mann, den zu lieben sie sich einbildete, zu offenbaren.

Fast den ganzen Dienstagnachmittag dachte sie darüber nach und dann plötzlich glaubte sie die Lösung gefunden zu haben. »Ich werde mich als Patientin in die Klinik legen lassen, als Privatpatientin«, flüsterte sie. »Dann muss Hendrik persönlich die Behandlung übernehmen.«

Katharina wusste auch schon, wie sie das anstellen konnte. Sie war schließlich noch bis vor wenigen Tagen wegen ihres Herzleidens bei Dr. Lindau in Behandlung gewesen. Das schien ihr jedenfalls ein guter Vorwand zu sein, um als Patientin in der Klinik aufgenommen zu werden. Dieses Herzleiden konnte ja wiedergekommen sein, redete sie sich ein. Außerdem war sie eine Frau, in der auch etwas schauspielerische Begabung steckte. Es würde ihr also nicht allzu schwerfallen, Herzkrämpfe oder etwas ähnliches ein wenig vorzutäuschen.

Katharina hatte diese Gedanken und Überlegungen kaum zu Ende gebracht, da war sie auch schon fest entschlossen, ihr Vorhaben auszuführen. Noch an diesem Tag wollte sie das tun. Es fehlten nur noch wenige Minuten bis sechs Uhr abends, als sie zum Telefon griff und den Notarzt in Rottach anrief.

»Bitte kommen …, kommen … Sie rasch zu mir!« Sie nannte ihren Namen und ihre Adresse. »Ich …, ich glaube, ich habe einen …, einen Herzanfall.« Bewusst sprach sie mit schwacher und stockender Stimme, und es klang fast echt.

Der Notarzt versprach sein sofortiges Kommen.

Zehn Minuten später ließ Katharina ihn ins Haus. Es war ein junger Arzt. Er stellte ihr etliche Fragen, kontrollierte ihren Puls und horchte das Herz ab.

»Schmerzen?«, fragte er. »Welcher Art?«

Katharina hatte sich die Antworten schon bereitgelegt. »Schmerzhaftes Stechen in der linken Brustseite und das Gefühl, dass ich ersticke«, stieß sie hervor. »Doktor, ich habe Angst. Mir ist außerdem so schwindlig.«

Der Arzt nickte. »Ihr Puls- und Herzschlag ist zwar regelmäßig, aber Vorsicht ist schon geraten«, sagte er. »Legen Sie sich ins Bett und nehmen Sie diese Tabletten ein!« Aus seiner Tasche holte er eine Tablettenschachtel und gab sie Katharina. »Wenn Sie morgen keine Besserung spüren, dann lassen Sie in der Klinik ein EKG machen und …«

»Morgen?«, fiel Katharina dem Arzt ins Wort und bemühte sich, kurzatmig zu wirken. »Heute noch möchte ich das, Doktor. Ich war wegen …, wegen dieses Herzleidens … bis vor wenigen Tagen noch Privatpatientin in der Klinik am See.« Mit ein paar Worten berichtete sie davon. Dass sie dabei ein wenig übertrieb, war in ihrer Situation verständlich. »Ich …, ich … habe dort Injektionen bekommen«, setzte sie hinzu.

»Was für welche?«, wollte der Arzt wissen.

»Das weiß ich nicht.«

»Hm«, der Arzt sah die attraktive Frau prüfend an. »Ich wusste nicht, dass Sie wegen Herzanfälligkeit in klinischer Behandlung sind oder waren, Frau Helbrecht. So gesehen, wäre es sicher besser, wenn wir Sie in die Klinik bringen.«

»Ja, bitte tun Sie das«, brachte Katharina leise über die Lippen. »Jetzt gleich, sofort. Ich habe Angst und will nicht die Nacht hier im Hause verbringen.« Fast flehentlich sagte sie das.

»Ich verstehe Sie, Frau Helbrecht«, gab der Arzt zurück, »kann Sie aber insoweit beruhigen, dass Sie in keiner Lebensgefahr schweben. Gut …«, er überlegte kurz, »… ich bringe Sie in die Klinik am See. Als Privatpatientin?«, fügte er fragend hinzu.

Katharina nickte. »Ja, auf meine eigenen Kosten«, entgegnete sie.

»Ja, dann wollen wir«, sagte der Arzt. »Können Sie gehen?« Man musste ihm zugutehalten, dass er noch jung war und wenig Erfahrung mit Patienten hatte. Ein allzu großer Menschenkenner war er anscheinend auch nicht. Vielleicht hätte er dann den Unterschied zwischen einem echten und einem vorgetäuschten Leiden erkannt. Er sah auch nicht das kurze zufriedene Aufblitzen in den Augen der Frau, als er mit ihr aus dem Haus zum wartenden Notarztwagen ging.

Kurz nach halb sieben Uhr abends war es, als Katharina Helbrecht zur Klinik am See gefahren wurde.

*

Dr. Bernau, der an diesem Tag den Abenddienst versah, wollte gerade in die Kantine der Klinik gehen, um einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen, als er beim Durchqueren der Halle den Notarztwagen vor der Klinik halten sah. Abwartend blieb er stehen und blickte erwartungsvoll dem Notarzt entgegen, der in Begleitung einer attraktiven Frau Sekunden später die Halle betrat.

»Neuzugang?«, fragte Dr. Bernau, und es klang nicht gerade begeistert.

»Frau Helbrecht aus Rottach«, stellte der Notarzt Katharina vor. »Verdacht auf Perikarditis. Frau Helbrecht war bis vor Kurzem noch Privatpatientin von Dr. Lindau«, setzte er hinzu, »und bestand auf die Einlieferung in die Klinik.«

»Sie möchten also aufgenommen werden, wenn ich Sie richtig verstehe?«, fragte Dr. Bernau. »Als Privatpatientin?«

»So ist es«, gab Katharina zurück. Dr. Bernau nickte. Er stellte keine weiteren Fragen mehr. Jedenfalls meinte er, dass ihm das als Assistenzarzt bei einer Privatpatientin des Chefs nicht zustand. Es sei denn, es handelte sich um eine akute mit irgendeiner Gefahr verbundenen Krankheit oder Verletzung.

Das schien aber in diesem Fall nicht vorzuliegen. Jedenfalls sah diese Frau nicht danach aus. »Befund?«, wandte er sich fragend an den Notarzt.

»Keiner«, kam die Antwort. »Abgesehen von den von Frau Helbrecht angegebenen Schmerzen und der Kurzatmigkeit und zeitweiligem Luftmangel.«

»Gut, ich übernehme die Patientin«, sagte Dr. Bernau und verabschiedete den Kollegen vom Notdienst mit Handschlag.

Eine Schwester führte Katharina später in eines der drei Zimmer, die für eventuelle Privatpatienten vorgesehen waren.

»Hier, diese Tabletten schlucken Sie bitte, Frau Helbrecht!« Die Schwester legte zwei Tabletten in eine kleine Schale und stellte diese auf den Nachttisch. »Schlafen Sie gut«, wünschte sie und ließ Katharina allein.

Der hatte es zwar auf der Zunge gelegen, nach Dr. Lindau zu fragen, aber sie hatte es sich im letzten Moment versagt. In etwa zwölf Stunden würde sie ihn ja ohnedies sehen – bei der täglichen Visite nämlich. Damit gab sie sich zunächst einmal zufrieden. Der erste Schritt zur Erreichung ihres Zieles war jedenfalls getan. Morgen, wenn sie mit Hendrik allein war, wollte sie ihm rückhaltlos gestehen, was sie veranlasst hatte, sich als Patientin in die Klinik legen zu lassen, obwohl sie keine krankhaften Beschwerden hatte. Er würde das – nein, er musste das einfach verstehen, redete sie sich ein. Diesmal würde auch kein störender Anruf dazwischenkommen, wenn sie ihm ihr Herz ausschüttete. Das aber hatte sie sich fest vorgenommen.

Beruhigt schlief sie bald darauf ein, nachdem sie die beiden Tabletten geschluckt hatte. Als sie nach einem wirklich erholsamen Schlaf wieder aufwachte, war sie in bester Stimmung. Die Schwester, die ihr das Frühstück brachte, fragte sie nach dem Beginn der Visite.

»In einer Stunde etwa, Frau Helbrecht«, kam die Antwort.

Von diesem Augenblick an bemächtigte sich Katharinas eine leichte Nervosität. Immer wieder fragte sie sich, wie Hendrik wohl reagieren würde. Sie brachte sich den Samstagabend wieder in Erinnerung – den Opernbesuch, das anschließende Essen und auch das leider sehr kurze Beisammensein in ihrem Bungalow. An seine Blicke und an seine gelöste Stimmung nach der Oper erinnerte sie sich, und sie war sich sicher, dass sie in seinen Blicken, mit denen er sie angesehen hatte, Interesse gelesen hatte. »Er muss auf mich eingehen«, flüsterte sie und wartete auf die Visite.

Die kam eine gute halbe Stunde später. Mit ihr aber auch eine Enttäuschung für Katharina. Es war nicht der sehnlichst erwartete Dr. Lindau, der das Zimmer betrat, sondern eine Ärztin, die sich freundlich lächelnd vorstellte.

»Ich bin Dr. Westphal, Frau Helbrecht«, sagte sie. »Sie wurden gestern eingeliefert und zwar mit Herzbeschwerden, wie ich im Rapport gelesen habe. Wie fühlen Sie sich?«

»Danke, aber wo ist Herr Dr. Lindau?«, gab Katharina zurück. »Ich bin seine Privatpatientin.« Sie betonte das »seine« besonders.

»Mir ist bekannt, dass Sie Privatpatientin des Chefarztes sind, Frau Helbrecht«, entgegnete die Ärztin. »Aber leider ist Dr. Lindau nicht hier. Er befindet sich auf einer Tagung in Nürnberg.«

Katharina wurde blass. »In Nürnberg? Das ist ja furchtbar«, entfuhr es ihr.

Erstaunt sah Anja Westphal die Patientin an. »Was ist denn daran so furchtbar?«, fragte sie. »Dr. Lindau kommt doch heute am späten Nachmittag oder am frühen Abend wieder zurück.«

»Wirklich?«, fragte Katharina.

»Ich sage es Ihnen doch.« Anja Westphal wunderte sich ein wenig über das etwas seltsame Verhalten der Patientin. »Ich möchte mich jetzt aber ein wenig mit Ihnen beziehungsweise mit Ihren Beschwerden befassen, Frau Helbrecht«, wurde sie sachlich.

»Nein, Frau Doktor«, gab Katharina fast heftig zurück. »Ich warte dann lieber, bis Dr. Lindau wieder hier ist. Er soll sich meiner annehmen, denn schließlich bin ich seine Privatpatientin.« Unwillig blitzte es in ihren Augen auf. »Bitte sorgen Sie dafür, dass ich umgehend mit Dr. Lindau sprechen kann, sobald er wieder hier ist! Bitte!«

Anja Westphal gab es auf, sich noch mehr zu wundern. »Nun gut, Frau Helbrecht«, ergriff sie das Wort, »da bei Ihnen im Augenblick keine akute und ernste Gesundheitsgefährdung vorliegt und Sie sich nur dem Chefarzt anvertrauen wollen, werde ich Sie jetzt nicht weiter behelligen.«

»Danke, aber Sie geben Dr. Lindau bestimmt Bescheid?«, vergewisserte sich Katharina.

»Wenn Sie es wünschen – ja«, versicherte die Ärztin. »Natürlich nur dann, wenn er nach seiner Rückkehr noch einmal in die Klinik kommt. Andernfalls würden Sie erst übermorgen früh mit ihm rechnen können.« Sie wandte sich zum Gehen. »Auf jeden Fall aber läuten Sie, falls sich erhebliche Beschwerden bei Ihnen einstellen sollten!«, ermahnte sie die Patientin noch und verließ das Zimmer.

Katharina gab keine Antwort. Sie bemühte sich, ihren Unmut und ihre Enttäuschung zu unterdrücken. Ein langer Tag in einem Klinikbett – vielleicht sogar noch eine ganze Nacht – lag vor ihr. Dieses Wissen brachte sie etwas durcheinander. Sie konnte jetzt nur hoffen, dass Hendrik nach seiner Rückkehr noch einmal in die Klinik kam.

*

Früher als gedacht war die Tagung in Nürnberg beendet gewesen. Dr. Lindau hielt sich daher auch nicht länger auf, sondern fuhr schon am Nachmittag wieder zurück nach Auefelden. Im Grunde genommen hätte er an dieser Tagung gar nicht teilzunehmen brauchen. Doch er war dazu eingeladen worden und hatte nicht absagen können.

Ein verlorener Tag, dachte er. Etwas Umwälzendes, etwas Neues, war bei diesem Treffen im kleinen Kreis jedenfalls nicht herausgekommen.

Der normale Dienst war schon beendet, als er in der Klinik eintraf und den diensthabenden Arzt – es war Dr. Bernau – aufsuchte.

»Das ging aber schnell, Chef«, meinte Dr. Bernau. »Ich dachte, dass Sie erst am späteren Abend zurück sein würden. Es ist ja gerade erst fünf Uhr vorbei.«

Dr. Lindau winkte lächelnd ab. »Die Tagung war früher beendet«, entgegnete er nur kurz und fragte sogleich nach Alice Mangold. »Wie sieht es aus? Ist sie den Schock los?«

»Ich glaube ja«, antwortete Dr. Bernau. »Jedenfalls ließ die Kollegin Westphal heute Nachmittag etwas Derartiges verlauten. Ich war vor zehn Minuten bei der Patientin.«

»Und?« Fragend blickte Dr. Lindau den jungen Kollegen an.

Dr. Bernau zuckte mit den Schultern. »Sie schlief vorhin«, erwiderte er. »Wollen Sie zu ihr?«

»Nein«, gab Dr. Lindau zurück. »Wenn sie schläft, dann wollen wir sie nicht stören. Sonst noch etwas? Neuzugänge?«, wollte er noch wissen.

»Nichts Aufregendes«, antwortete Dr. Bernau und berichtete kurz. »Das heißt, Ihre Privatpatientin wurde gestern Abend vom Notarzt eingeliefert«, fügte er hinzu. »Herzgeschichte.«

»Meine Privatpatientin?« Verwundert sah der Chefarzt Dr. Bernau an. Im ersten Augenblick wusste er nicht, wer damit gemeint war. Doch schon in der nächsten Sekunde ahnte er etwas. An Privatpatientinnen hatte er in den vergangenen Wochen und Monaten eigentlich nur eine gehabt – die Konsulswitwe aus Rottach nämlich. »Sie meinen doch nicht etwa Frau Helbrecht?«, fragte er.

»Genau die ist es«, bestätigte Dr. Bernau. »Bei der Gelegenheit fällt mir ein, dass die Dame so schnell wie möglich, also gleich nach Ihrer Rückkehr, mit Ihnen sprechen möchte. Frau Westphal hat mich gebeten, es Ihnen zu sagen, falls Sie in die Klinik kommen.«

Ein nachdenklicher Ausdruck legte sich über Dr. Lindaus Züge. »Sagten Sie Herzattacke?«, fragte er.

»Verdacht auf Perikarditis, wie der Notarzt meinte«, antwortete Dr. Bernau.

»Haben Sie keine Untersuchungen vorgenommen?«

»Bei einer Privatpatientin des Chefarztes?«, gab Dr. Bernau fragend zurück und schüttelte den Kopf. »Nein, denn es handelt sich um keinen Notfall«, erklärte er. »Außerdem wollte die Dame nur von Ihnen behandelt und untersucht werden. Das hat sie ausdrücklich gesagt. Sogar die Kollegin Westphal bekam das heute Vormittag zu hören.«

Dr. Lindau sagte dazu nichts. Er überlegte kurz. »Wo liegt Frau Helbrecht?«, fragte er dann.

»Zimmer sieben der Privatabteilung«, erwiderte Dr. Bernau.

»Gut, dann werde ich zu ihr gehen und mich um sie kümmern«, murmelte der Chefarzt.

»Soll ich mitkommen?«, fragte Dr. Bernau.

Dr. Lindau winkte ab. »Nicht nötig«, gab er zurück. »Ich will nur hören, was sie mir zu sagen hat. Die medizinische Seite erledigen wir morgen.« Er nickte Dr. Bernau freundlich zu und entfernte sich.

Sekundenlang zögerte er noch, als er vor dem Zimmer Nr. 7 stand, straffte sich dann aber, klopfte an und trat ein.

Katharina Helbrecht, die aufgerichtet im Bett saß, bekam große glänzende Augen. Hastig legte sie den kleinen Handspiegel und ihren Lippenstift beiseite. In Erwartung des Erscheinens des geliebten Mannes hatte sie eben noch ein wenig Make-up aufgelegt und ihre Lippen nachgezogen. »Endlich«, rief sie lächelnd. »Seit gestern warte ich schon auf Sie, lieber Hendrik.« Mit einer schnellen Bewegung schwang sie ihre Beine aus dem Bett und saß dann, nur mit einem Nachthemd bekleidet, auf der Bettkante.

Dr. Lindau verzog bei der vertraulichen Anrede etwas das Gesicht. »Gnädige Frau«, ergriff er das Wort, und seine Stimme klang ein wenig rau. »Sie sind jetzt Patientin in meiner Klinik, und ich bin Ihr behandelnder Arzt. Ich schlage vor, dass wir hier die Form wahren und alles Private und Persönliche so lange beiseite lassen.«

Katharina zuckte unmerklich zusammen. In ihren Augen blitzte es kurz und ungehalten auf. Sogleich aber hatte sie sich wieder unter Kontrolle und lächelte. »Aber ich bin ja gar nicht Patientin«, erklärte sie mit leiser Stimme.

»Nein?« Dr. Lindau war irritiert. »Weshalb sind Sie dann hier? Sie wurden doch meines Wissens vom Notarzt hergefahren.«

Katharina stand auf und trat dicht vor den Chefarzt hin. Seinen Blick suchend, sagte sie: »Ich habe einen Herzanfall nur vorgetäuscht.«

Dr. Lindau blieb fast die Luft weg. »Wozu das denn?«, fragte er.

Katharina straffte sich. Jetzt oder nie, ging es ihr durch den Kopf. »Ist das denn so schwer zu erraten?«, fragte sie und bemühte sich, Dr. Lindau tief in die Augen zu sehen. »Ich wollte einfach in Ihrer Nähe sein, nachdem Sie sich seit Samstag nicht mehr gemeldet haben.« Sie trat noch einen Schritt näher, fast bis auf Körperfühlung. »Falls Sie es noch nicht gemerkt haben sollten, Hendrik«, sprach sie mit leiser, aber eindringlicher Stimme weiter, »dann will ich es Ihnen jetzt und hier sagen – ich liebe Sie nämlich.« Während sie die letzten Worte sagte, legte sie blitzschnell ihre Arme um Dr. Lindaus Nacken.

Dr. Lindau war von Katharinas Worten und ihrem Überfall – anders konnte man ihr augenblickliches Verhalten kaum bezeichnen – so überrascht, dass er sekundenlang an gar keine Abwehrbewegung denken konnte. Erst als er ihren Mund ganz nahe vor seinem Gesicht sah, schüttelte er seine Erstarrung ab. Er versuchte, die um seinen Hals liegenden Hände der Frau zu entfernen. Das aber gelang ihm nicht auf Anhieb, denn Katharina klammerte sich mit aller Kraft an ihn.

»Frau Helbrecht, was ist in Sie gefahren?«, entfuhr es Hendrik Lindau. »Das ist doch Irrsinn, was Sie da tun. Lassen Sie mich sofort los!«, wurde er energisch und unmissverständlich scharf.

»Aber ich liebe dich doch, Hendrik«, stieß Katharina erregt hervor und versuchte erneut, einen Kuss anzubringen. »Du magst mich doch auch. Ich weiß es. Du willst es dir nur nicht einge…«

»Schluss jetzt!«, unterbrach Dr. Lindau sie hart. Fast brutal griff er nach Katharinas Armen und löste sie mit einem Ruck von seinem Nacken. Mit einem zweiten Ruck stieß er Katharina von sich. Dieser Stoß war so stark – von ihm sicher ungewollt – dass Katharina mit einem leisen spitzen Schrei rücklings auf das Bett fiel. Dr. Lindau war so erregt, dass er nicht auf seine Worte achtete, als er hervorstieß. »Sie haben die Beherrschung verloren, Frau Helbrecht. Aber für diese Art von Leiden bin ich nicht zuständig.« In der gleichen Sekunde wurde ihm aber bewusst, dass er sich jetzt doch ein wenig im Ton vergriffen hatte. »Entschuldigen Sie bitte«, kam es heiser über seine Lippen, »aber unter diesen Umständen halte ich es für besser, dass Sie sich einen anderen Arzt und eine andere Klinik suchen. Tut mir leid.« Abrupt drehte er sich um und verließ grußlos das Zimmer. Mit finsterer Miene strebte er wenig später dem Ausgang der Klinik zu. Jetzt wollte er nur noch nach Hause. Das eben Erlebte hatte sein Inneres aufgewühlt.

Verwundert blickte Dr. Bernau dem Chefarzt nach, der an ihm vorbeigestürmt war, ohne seinen Gruß zu erwidern.

Fünfzehn Minuten später sollte er sich abermals wundern, als nämlich die am Vortag vom Notarzt eingelieferte Patientin, diese Frau Helbrecht, voll angekleidet an ihm vorbeilief – ebenfalls dem Ausgang der Klinik zu und auf seine erstaunte Frage überhaupt nicht reagierte. Einer Eingebung nachgebend wollte er ihr folgen, um zu erfahren, was das zu bedeuten habe, unterließ es aber, weil er im gleichen Augenblick von seiner Schwester zu einer Patientin gerufen wurde.

Was soll’s, fragte er sich in Gedanken. Sie ist Privatpatientin und muss wissen, was sie tut. Er war schließlich kein Kindermädchen für irgendwelche affektierten Damen, die anscheinend mit ihren Problemen nicht fertig wurden. Kopfschüttelnd folgte er der Schwester.

*

Zorn stand in Katharinas Augen, als sie den Pförtner anfuhr, ihr ein Taxi zu bestellen.

»Sofort, meine Dame – in wenigen Minuten ist ein Wagen hier und …«

Katharina hörte schon nicht mehr die Antwort des Mannes, der sich über das aufgebrachte Wesen der Frau wunderte, von der er nicht wusste, ob sie eine verspätete Besucherin war oder eine Patientin, die jetzt erst am Abend entlassen worden war.

Katharina, die vor dem Eingang der Klinik auf das Taxi wartete, war aber mehr als aufgebracht. Ihr ganzes Innenleben hatte eine Wandlung erfahren. Es war nicht der Stoß Dr. Lindaus, der sie aufs Bett geworfen hatte, durch den sich ihre Empfindungen um 180 Grad gedreht hatten. Nein, es war die Art und Weise, wie sie von einem Mann, dem sie ihre Liebe gestanden hatte, abgewiesen worden war. Ihr klangen immer noch die Worte des Arztes im Ohr.

»Das wird er mir büßen«, flüsterte Katharina. Sie brauchte erst gar nicht in sich hineinzuhorchen, um zu ergründen, ob da noch etwas von dem Gefühl für Dr. Lindau war. Nein, es war weg. Nichts mehr war von dem geblieben, was sie als Liebe zu diesem Mann betrachtet hatte. Etwas anderes war daraus geworden – nämlich Hass. Ja, sie hasste Dr. Lindau jetzt, und von dieser Erkenntnis bis zu dem Entschluss, sich für diese Niederlage zu rächen, war es nur ein ganz kurzer Gedankensprung. Sie würde ihm diese blamable, aber auch schmerzhafte Zurückweisung heimzahlen. Dazu war sie jetzt fest entschlossen, wenn sie auch noch nicht genau wusste, wie und in welcher Form das geschehen sollte. Auf jeden Fall sollte er merken, was er ihr angetan hatte, und er sollte es auch nie wieder vergessen. »Ungestraft darf kein Mann mich in einer solchen Art und Weise brüskieren und beleidigen«, stieß sie unbeherrscht hervor.

Da kam auch schon das bestellte Taxi, und Katharina stieg ein. »Nach Rottach!«, rief sie dem Fahrer herrisch zu und nannte die genaue Adresse.

Die Fahrt dahin dauerte nicht lange. Als Katharina bezahlt hatte und ausstieg, sah sie als Erstes das Auto vor ihrem Bungalow stehen. Sie kannte es, denn es gehörte Rolf Sternau. An den hatte sie in den vergangenen Tagen überhaupt nicht gedacht. Es gefiel ihr auch nicht, dass er gerade jetzt bei ihr auftauchte. Zu einem Zeitpunkt, an dem sie anderes im Kopf hatte als Zärtlichkeiten und banales Liebesgeflüster, worauf Rolf ja sicher aus war.

»Hallo, Liebling …« Der Fotoreporter kletterte aus seinem Fahrzeug und trat auf Katharina zu. »Ich warte schon eine gestrichene halbe Stunde, weil ich mir dachte, dass du nicht allzu weit weg sein kannst, denn dein Wagen steht ja neben dem Haus.«

Katharina gab keine Antwort, schloss die Haustür auf und begab sich ins Innere, ohne ihren jungen Freund zum Eintreten aufzufordern. Sie wusste, dass er ihr ohnehin folgte.

Das tat Rolf Sternau auch. Erstaunt musterte er die Frau, die er als seine feste Freundin betrachtete und vielleicht sogar als seine spätere Ehefrau. Ihr aufgeregtes Wesen, das Fahrige in ihren Bewegungen, als sie sich einen doppelten Kognak einschenkte und ihn in einem Zug austrank, machte ihn stutzig. »Was ist los mit dir?«, fragte er. »Ich habe gestern einige Male bei dir angerufen, auch heute, aber du warst nicht zu Hause. Warst du verreist?« Prüfend sah er Katharina an. »Quatsch«, brummte er. »Verreist warst du nicht, denn sonst wäre dein Wagen nicht hier.«

»Ich war in der Klinik, wenn du es schon wissen willst«, gab Katharina mehr als unwirsch zurück.

Rolf Sternau erschrak. »Warst du krank?«, fragte er. »Weshalb bist du so durcheinander, so aufgeregt? Ist etwas passiert?«

»Das kann man wohl sagen«, entfuhr es Katharina. »Wenn man als Frau schutzlos einem Arzt ausgeliefert ist, dann kann alles Mögliche …« Erschrocken brach sie mitten im Satz ab. Was hatte sie jetzt gesagt? Schutzlos ausgeliefert? Hinter ihrer Stirn überschlugen sich die Gedanken. Der Hass auf Dr. Lindau brach sich wieder Bahn. Wäre das nicht eine Lektion, eine Revanche für das was ihr angetan worden war?

Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein, hatte sie den letzten Satz mit verhaltener Stimme vor sich hin gesagt.

Rolf Sternau hatte die Worte verstanden. »Was redest du da?« Betroffen starrte er Katharina an. »Wer hat dir was angetan?«

»Der Chefarzt Dr. Lindau von der Klinik am See«, brach es aus Katharina hervor. »Er hat mich zutiefst gedemütigt.« Sie erlebte in diesen Sekunden noch einmal im Zeitraffertempo die Szene in dem Krankenzimmer. Von dieser Warte aus betrachtet, entsprachen ihre Worte auch in gewissem Sinne der Wahrheit – von ihrem Standpunkt aus gesehen.

Für Rolf Sternau jedoch bekamen Katharinas Andeutungen einen völlig anderen Sinn. Da er die Zusammenhänge ja nicht kannte, ließen Katharinas Worte für ihn nur einen einzigen Schluss zu. Katharinas aufgebrachtes Wesen, ihre augenblickliche Zerfahrenheit und ihr verhaltenes Seufzen schienen ihm nur noch eine Bestätigung für das zu sein, was er annahm. »Was genau hat er dir angetan, dieser Dr. Lindau?«, fragte er beschwörend.

»Bitte erspare mir Details!«, fuhr Katharina auf.

»Schon gut, ich habe verstanden.« Wütend blitzte es in den Augen des jungen Mannes auf. »Diesen Leuten, die sich als Götter in Weiß aufführen, muss man das Handwerk legen«, knurrte er. »Willst du Anzeige erstatten?«, wandte er sich fragend an Katharina, die sich ein zweites Glas Kognak eingeschenkt hatte.

»Anzeige?«, wiederholte Katharina und wurde sich plötzlich der Bedeutung und der Tragweite dieses Wortes bewusst. »Wozu und was würde ich damit erreichen?«

»Na, erlaube mal«, fuhr Rolf Sternau entrüstet auf. »Ich meine …«

»Rolf«, fiel Katharina dem jungen Mann unbeherrscht ins Wort, »ich möchte darüber nicht mehr sprechen. Lass mich bitte jetzt allein!«

»Aber …«

Katharina ließ Rolf gar nicht aussprechen. »Geh jetzt!« Fast herrisch, wie ein Befehl klang es, wie sie das sagte.

Rolf Sternau schluckte. Einerseits verstand er wohl, dass Katharina jetzt allein sein wollte, um das von ihr angedeutete Erlebte zu verarbeiten, andererseits aber war er irgendwie verwirrt. Eines jedoch wusste er jetzt schon sehr genau. Er war schließlich ein Pressemann und war in diesen Sekunden entschlossen, diese Sache auch pressemäßig zu bearbeiten. Nicht allein deshalb, um der Öffentlichkeit ein Warnsignal zu geben, sondern auch, um Katharina eine Art Genugtuung zu verschaffen. Ja, gleich morgen wollte er das tun. »Ist schon gut, Liebling, ich geh ja schon«, sagte er. »Ich melde mich wieder.« Mit nachdenklicher Miene verließ er den Bungalow. Erst als er in seinem Wagen saß und abfuhr, fiel ihm erstaunt ein, dass er von Katharina weder einen Kuss zur Begrüßung noch einen zum Abschied bekommen hatte. Auf irgendeine Art gefiel ihm das nicht. Energisch aber lenkte er seine Gedanken in eine andere Richtung – auf das, was er sich für den kommenden Tag vorgenommen hatte, nämlich sich diesen Chefarzt der Klinik am See einmal anzusehen und möglicherweise auch ein Foto von ihm zu machen.

Rolf Sternau wusste jedenfalls, was er sich als junger strebsamer Fotoreporter schuldig war. Sich und der Öffentlichkeit.

*

Lächelnd begrüßte Dr. Lindau seine augenblickliche Sorgenpatientin Alice Mangold. Er hatte sie sich bis zum Schluss der Visite aufgehoben.

»Ich glaube, unsere junge Dame ist überm Berg«, meinte die ihn begleitende Ärztin Dr. Westphal.

Der Chefarzt überflog die Eintragungen auf der Krankentabelle und nickte zufrieden. »Der Meinung bin ich auch«, pflichtete er der Kollegin bei. »Aber hören wir unsere Patientin doch an«, wandte er sich an Alice. »Nun, wie fühlen Sie sich, Fräulein Mangold?«, fragte er. »Haben Sie noch Erinnerungslücken?«

»Nein, Herr Doktor«, erwiderte Alice. »Ich weiß jetzt alles.«

»Darf man es hören?«, fragte Dr. Lindau.

Einen Augenblick zögerte Alice, doch dann nickte sie und erzählte, was in jener Samstagnacht geschehen war.

»Allerhand«, entfuhr es Anja Westphal unwillig. »Die beiden müssten Sie anzeigen.«

Nachdenklich sah Alice die Ärztin an und dann den Chefarzt. »Ich weiß nicht, ob das viel Sinn hätte«, erwiderte sie mit leiser Stimme. Sie hatte darüber in der vergangenen Nacht nachgedacht. »Im Grunde genommen war es ja meine Schuld, dass ich aus dem Auto gefallen bin, weil ich ja selbst die Seitentür öffnete.«

»Ja, möglich«, wandte die Ärztin ein, »aber das konnte nur deshalb geschehen, weil jener junge Mann von Ihnen …, hm …, weil Sie sich gegen seine kompakten Annäherungsversuche wehren mussten. So habe ich Ihre Worte jedenfalls verstanden.«

»Das ist richtig«, räumte Alice ein. »Nur …, ja, wie soll ich das sagen? Dieser Gerhard hatte eben auf der Fete etwas zu viel getrunken, und da werden die Jungs dann meistens ein wenig frech. Das habe ich schon einige Male erlebt.« Sinnend sah sie Dr. Lindau an. »Er hat mir ja nichts weiter getan, und ich möchte ihm mit einer Anzeige nicht sein Studium verpfuschen.«

»Nichts getan?«, ergriff Dr. Lindau wieder das Wort. »Das ist ja ein wenig untertrieben«, meinte er lächelnd. »Sie waren immerhin an der Grenze eines Exitus, Fräulein Mangold …«

»Aber Sie haben mich gerettet, Herr Doktor, und ich lebe«, fiel Alice dem Chefarzt ins Wort. »Das allein zählt doch. Oder?«

»Gewiss«, bestätigte Dr. Lindau. »Allerdings muss ich meiner Kollegin recht geben«, fuhr er fort. »Die beiden Jünglinge hätten eine Lektion verdient. Nicht nur für den handgreiflichen Annäherungsversuch, der dann Ihren Sturz aus dem Wagen zur Folge hatte, sondern wegen der unterlassenen Hilfeleistung. Die beiden sind Ihren Worten nach einfach weitergefahren und haben Sie hilflos neben der Straße liegen lassen. Das ist ein ziemlich schwerwiegender Delikt und ist strafbar.«

»Ja, ich weiß«, murmelte Alice. »Aber ich weiß nicht, ob es sich lohnt, daraus nun eine große Affäre zu machen. Es sind doch Kommilitonen, Studenten, so wie ich eine Studentin bin, und wir wollen doch …« Sie brach mitten im Satz ab.

Dr. Lindau sah Alice Mangold ernst an. Ihn imponierte ihre Einstellung. Eine Art Korpsgeist, wie er in früheren Zeiten unter Studenten fast eine Selbstverständlichkeit war, schien in ihr zu sein. »Es ist Ihre Entscheidung, Fräulein Mangold«, sagte er.

»Auf jeden Fall haben Sie meine volle Unterstützung – ich meine, was entsprechende Atteste anbelangt oder Ähnliches – falls Sie doch Anzeige erstatten wollen.«

»Danke, Herr Doktor«, flüsterte Alice. »Sie sind sehr lieb zu mir. Ich werde nachdenken.«

»Tun Sie das.« Dr. Lindau reichte der Patientin die Hand. »Wir sehen uns später noch.«

»Ach, Herr Doktor …«

»Ja?« Dr. Lindau, schon im Gehen, wandte sich um.

»Muss ich denn ständig im Bett bleiben?«, fragte Alice.

Dr. Lindau wechselte einen Blick mit der schon an der geöffneten Tür stehenden Anja Westphal. »Hm, ich verstehe«, beantwortete er die Frage der Patientin. »Im Bett ist es auf die Dauer langweilig, und Sie möchten sicher gern das Zimmer dann und wann verlassen.« Bruchteile von Sekunden überlegte er. »Also gut«, ergriff er dann wieder das Wort. »Wenn Sie es schaffen, aufzustehen – ich habe keine Einwände. Allerdings möchte ich wegen der relativ frischen Operation nicht, dass Sie das ohne Hilfe tun. Wenn Sie also Lust verspüren, ein Weilchen aus dem Zimmer zu kommen, vielleicht in die Kantine oder hinunter in die Halle möchten, dann läuten Sie, und eine Schwester wird Sie dahin bringen, wohin Sie mögen, und Sie dann wieder auf Ihr Zimmer geleiten. Zufrieden, kleines Fräulein?«

»Danke, vielen Dank«, stieß Alice freudig hervor. »Sie sind der beste Arzt, den ich kenne.«

Dr. Lindau winkte verlegen ab. »Übertreiben Sie nicht«, sagte er lächelnd, »obwohl ich mich über solch ein Lob natürlich auch freue.« Er wandte sich an seine Kollegin und bat sie, entsprechende Weisungen wegen der eben besprochenen Hausausflüge der Patientin an das Pflegepersonal weiterzugeben.

»Das erledigte ich«, versicherte die Ärztin.

»Frau Doktor«, meldete sich Alice noch einmal zu Wort, »kann ich vielleicht gleich anschließend …?« Ihr war plötzlich der Gedanke gekommen, ihre Mutter anzurufen.

»Ist gut«, erwiderte die Ärztin. »Ich schicke Ihnen in fünf Minuten eine Schwester her, die sich um Sie kümmern wird.«

Hinter ihr und Dr. Lindau schloss sich die Tür, und Alice blieb allein. Aber nicht sehr lange. Tatsächlich erschien schon nach wenigen Minuten eine der Schwesternschülerinnen, um sie bei einem Spaziergang durch die Klinik zu betreuen.

Als Alice wenig später am Arm der Schwester auf den Gang trat, konnte sie gerade noch den Chefarzt den Aufzug betreten sehen, der ins Erdgeschoss hinunterfuhr.

Das war in etwa der gleichen Minute, in der ein gut aussehender junger Mann mit etwas gelocktem Haar die Klinik betrat, sich zur Pförtnerloge wandte und fragte, wo er den Chefarzt Dr. Lindau finden konnte.

»Dr. Lindau? Tja, der ist wohl jetzt noch bei der … Nein, dort kommt er gerade.« Der Pförtner deutete zum Aufzug hin, den der Chefarzt eben verließ.

»Danke.« Rolf Sternau, er war dieser junge Mann, griff nach seiner über der Schulter hängenden Kamera und ging dem vom Pförtner bezeichneten Arzt entgegen. Er hatte nicht die Absicht, ein langes Gespräch zu führen. Nur ein Foto wollte er von dem Mann, der nach Katharinas Andeutungen anscheinend seine Position als Arzt missbrauchte.

»Verzeihung – Herr Dr. Lindau?«

»Ja.« Fragend sah Dr. Lindau den jungen Mann in dem Lederblouson an.

Auf die Kamera, die dieser Mann in der Hand hielt, achtete er zunächst gar nicht. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.

»Nicht viel, Herr Doktor«, erwiderte Rolf Sternau. »Nur ein Foto möchte ich von Ihnen.«

Dann ging alles blitzschnell. Ehe Dr. Lindau noch reagieren und etwas erwidern konnte, hatte Rolf Sternau schon die Kamera hochgehoben. Ein Blitzlicht flammte auf, und die Aufnahme war gemacht.

»Was soll das, junger Mann?«, entrüstete sich Dr. Lindau. »Wer sind Sie, und wozu fotografieren Sie mich?« Ärgerlich funkelte er den Fotoreporter an.

»Nichts für ungut, Herr Doktor – ich brauche nur Ihr Foto für eine …, eine Reportage über Kliniken, Ärzte und Chefärzte und so weiter«, erwiderte Rolf Sternau und zog sich langsam zurück.

»Darüber hätten Sie aber vorher mit mir sprechen müssen«, wurde Dr. Lindau ungehalten.

»Wir werden bestimmt noch miteinander sprechen«, gab Rolf Sternau süffisant lächelnd zurück und drehte sich um. Was er wollte, hatte er jetzt. Nur einen entsprechenden Text musste er noch finden.

Dr. Lindau wollte noch etwas sagen, aber da war der junge Mann, von dem er gar nicht wusste, wer er war, schon außer Hörweite. Aufdringliches Volk, diese Zeitungsleute, dachte er, zuckte mit den Schultern und setzte seinen Weg zu seinem Büro fort.

Dieser aufdringliche Zeitungsmann Rolf Sternau drehte sich am Klinikausgang noch einmal um. Er sah den eben fotografierten Chefarzt gerade hinter einer breiten verglasten Flügeltür verschwinden. Er wollte nun die Klinik wieder verlassen. In diesem Augenblick aber bemerkte er noch etwas, das ihn stutzen ließ. Er sah an der Seite einer Krankenschwester eine junge Frau – ihrer Bekleidung nach eine Patientin – kommen und die Halle betreten.

»Das ist doch nicht möglich«, stieß er leise hervor. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, so hätte er jetzt geglaubt, seine Katharina zu sehen. Diese frappante Ähnlichkeit mit ihr irritierte ihn. Diese junge Frau, die da aus dem Aufzug gekommen war und von der Schwester nun zu einer der gepolsterten Sitzbänke geführt wurde, war eine verjüngte Ausgabe Katharinas.

Herrgott, ja natürlich, dachte Rolf Sternau. Katharina hatte doch eine Tochter. Das wusste er. Zu Gesicht bekommen hatte er sie allerdings noch nie – weder persönlich noch auf einem Foto. Ob sie das dort war, die nun auf der Polsterbank Platz genommen hatte? Allein, ohne die sie begleitende Schwester.

Natürlich, das musste Katharinas Tochter sein. Verdammt hübsch ist sie, sinnierte Rolf Sternau. Hübscher noch als Katharina und vor allem jünger. In diesen wenigen Sekunden des Überlegens begann sich in dem jungen Mann – von ihm selbst wahrscheinlich noch gar nicht einmal bewusst erkannt – eine Wandlung abzuzeichnen. Unwillkürlich verglich er in Gedanken Katharina mit dem dort auf der Polsterbank sitzenden Mädchen. Obwohl er immer gewusst hatte, dass Katharina wesentlich älter war als er, hatte es ihn bisher jedenfalls nicht beeindruckt. Plötzlich aber, in diesen wenigen Sekunden, wurde ihm der Altersunterschied zwischen Katharina und ihm ziemlich deutlich bewusst und brachte ihn zum Nachdenken.

Sogleich aber verdrängte er diese Überlegungen wieder und richtete sein Interesse erneut auf das Mädchen auf der Polsterbank, von dem er annahm, dass es Katharinas Tochter sei.

»Das will ich jetzt wissen«, brummte er vor sich hin, straffte sich und schritt entschlossen zu der Polsterbank hin.

*

Interessiert beobachtete Alice das Hin und Her in der Halle – gehfähige Patientinnen, Schwestern und solche, die zu irgendwelchen ambulanten Behandlungen in die Klinik kamen. Eine halbe Stunde hatte sie mit der Schwester verabredet, von der sie dann wieder in ihr Zimmer geleitet werden sollte.

Alices Blicke schweiften nach links und fielen auf einen jungen Mann mit dunklen gelockten Haaren. Er trug einen Lederblouson und hatte eine Kamera über der rechten Schulter hängen. Unerhört gut sieht er aus, dachte sie. Ob er hier jemanden besucht?

Plötzlich stutzte Alice, als sie merkte, dass dieser junge Mann direkt auf sie zukam und Sekunden später vor ihr stehen blieb.

»Fräulein Helbrecht?«

Überrascht sah Alice den jungen Mann an. »Nein«, erwiderte sie leise. »Ich heiße Mangold, Alice Mangold. Aber wie kommen Sie darauf, dass ich Helbrecht heißen könnte?«, wurde sie neugierig. In ihren Augen zeigte sich Interesse, und plötzlich meldete sich eine leise Ahnung in ihr.

»Weil Sie einer Dame ungeheuer ähnlich sehen, die mir nahesteht, und dem Äußeren nach ihre Tochter sein könnten«, kam die Antwort. »Übrigens – mein Name ist Rolf Sternau, und ich bin Fotoreporter.«

Alices Ahnung nahm Formen an. »Hat denn Ihre Dame oder wenn ich so sagen darf, Ihre Freundin, eine Tochter?«, fragte sie.

»Hat sie«, erwiderte Rolf Sternau. »Allerdings habe ich sie noch nie gesehen.«

»Dann muss Ihre Freundin aber wesentlich älter sein als Sie«, meinte Alice und lächelte.

»Ja, leider«, entfuhr es Rolf Sternau. »Aber sie ist eine ungeheuer attraktive Frau, für die ein Mann wohl schwärmen kann.«

Alices Ahnung wurde in diesem Augenblick zur Gewissheit – dieser junge Mann war der Freund ihrer Mutter. Ganz kurz überlegte sie, ob sie zugeben sollte, Katharina Helbrechts Tochter zu sein, ließ es dann aber doch bleiben. Vorläufig wenigstens. Unauffällig musterte sie Rolf Sternau und gestand sich ein, dass er ihr gefiel. Sie konnte ihre Mutter verstehen, dass sie sich diesen jungen Mann zum Freund gewählt hatte. Konnte das aber bei dem bestehenden Altersunterschied gut gehen? Daran zweifelte sie.

»Ja, denn …« Rolf Sternau ergriff wieder das Wort, obwohl er gar nicht richtig wusste, was er sagen sollte. Seine Vermutung war jedenfalls falsch gewesen. Er hätte sich jetzt eigentlich mit einer höflichen Entschuldigung zurückziehen müssen. Eigenartigerweise aber fiel ihm das gar nicht leicht. Diese junge Frau, die er auf höchstens zwanzig schätzte, beeindruckte ihn. Ihre Augen hatten einen wachen Ausdruck, sahen ihn neugierig und interessiert an. In ihm wurde der Wunsch wach, mit diesem Mädchen mit dem wohlklingenden Namen Alice näher bekannt zu werden. Dieses bildhübsche Mädchen war doch etwas ganz anderes als die attraktive gereifte Katharina. Dieses Mädchen strahlte Frische und Natürlichkeit aus. Das hieß natürlich nicht, dass er Katharinas Qualitäten – und die besaß sie ohne Zweifel – herabsetzen wollte. Aber in diesen Sekunden musste er wieder an die trennenden Jahre denken und unwillkürlich rechnete er blitzschnell nach. Wenn er noch in den ersten und damit für einen Mann besten Lebensjahre war, hatte Katharina die ihren schon überschritten. Das machte ihn nachdenklich.

»Was wollten Sie eben sagen?«, fragte Alice in Rolf Sternaus Überlegungen hinein. Ihr Interesse an diesem jungen Mann nahm zu, je länger sie ihn ansah. Er gefiel ihr wirklich, und sie hätte sich gut vorstellen können, näher mit ihm bekannt zu werden. Aber, ging es ihr durch den Sinn, er ist der Freund meiner Mutter, den ich ihr nicht abspenstig machen kann. Anscheinend liebte er die Mutter wirklich, denn sonst würde er sich mit seinen jungen Jahren und seinem wirklich guten Aussehen doch nicht mit ihr liieren. Oder war es Mutters Vermögen, das ihn reizte? Sofort aber schob sie diesen Gedanken beiseite. Nein, sagte sie sich, danach sieht er nicht aus. Verwundert registrierte sie dabei, dass sie im Begriff war, sich für Rolf Sternau zu engagieren. Was ist los mit mir, habe ich etwa gar schon Feuer gefangen? Die Antwort auf diese Frage ersparte sie sich. Sie wusste sie auch gar nicht. Ehrlich aber gestand sie sich ein, dass sie ein wenig bedauerte, dass Rolf Sternau der Freund ihrer Mutter war.

»Was ich sagen wollte?«, ging Rolf Steiner auf Alices vorherige Frage ein. »Hm, die Antwort ist nicht leicht für mich. Es ist schade, dass Sie nicht das sind, was ich angenommen hatte.«

»Sie meinen, die Tochter Ihrer Freundin …«, warf Alice ein. »Und weshalb ist das schade?«, wollte sie wissen.

»Weil ich dann …« Rolf Sternau zögerte etwas und fuhr dann aber fort: »Nun ja, Sie wären dann eben keine Fremde für mich, und ich könnte dann öfter mit Ihnen ein wenig plaudern.«

»Möchten Sie das denn gern?«, fragte Alice leise.

»Ja, sehr gern sogar«, erwiderte Rolf ohne zu überlegen. In seinen Augen war in diesem Augenblick etwas Warmes.

Alice merkte es, und es löste in ihrem Innern eine fast freudige Empfindung aus. »Das können Sie doch«, sagte sie. »Auch wenn Sie Ihre Freundin lieben.«

Rolf Sternau verzog das Gesicht. »Dessen bin ich mir jetzt gar nicht mehr so sicher«, erklärte er leise. »Zugegeben – ich mag Katharina – so heißt die Dame – aber ob ich sie wirklich richtig liebe …?« Fest und tief sah er dem jüngeren Ebenbild Katharinas in die Augen. »Seit ich Sie jetzt gesehen habe, zweifle ich daran«, bekannte er. Das war schon ziemlich direkt.

So empfand es auch Alice, aber es missfiel ihr nicht. Im Gegenteil – so etwas wie wohlige Erregung fühlte sie plötzlich. »Sie werden lachen, Herr Sternau«, sagte sie verhalten, »ich würde mich auch gern noch länger und öfter mit Ihnen unterhalten und mehr von Ihnen wissen wollen.«

In den Augen des jungen Mannes leuchtete es auf. »Wirklich?«, kam es leise über seine Lippen. »Dann dürfte ich Sie auch hier in der Klinik besuchen kommen?«

»Ich würde mich darüber freuen«, bekannte Alice. »Zimmer einundzwanzig in der ersten Etage«, fügte sie hinzu. »Jetzt aber muss ich mich verabschieden.« Sie sah die Schwester auf sich zukommen. »Also …?«

»Ich komme morgen Nachmittag«, versprach Rolf Sternau und ergriff die ihm hingestreckte Hand des Mädchens. »Auf Wiedersehen …«

»Tschüss, bis morgen.« Alice ließ sich von der Schwester wegführen.

Rolf Sternau blickte den beiden nach, bis sie im Aufzug verschwunden waren. Dann erst verließ er in beschwingter Stimmung die Klinik. Als er in seinen Wagen stieg, fiel ihm ein, dass er Alice Mangold nicht einmal gefragt hatte, weshalb sie in der Klinik lag. »Morgen werde ich sie fragen«, murmelte er.

Aber noch etwas fiel ihm plötzlich ein – nämlich der Anlass, der ihn überhaupt in die Klinik am See geführt hatte. Das hieß, dass er jetzt gleich in die Redaktion musste, damit das Foto Dr. Lindaus samt einem dazugehörigen kurzen Text noch in die morgige Ausgabe kommen konnte.

Plötzlich aber musste er an Katharina denken, zu der er eigentlich am Abend hinfahren wollte. Sonderbar aber empfand er es, dass er mit einem Mal gar kein so großes Verlangen danach verspürte. Nachdenklich startete er sein Fahrzeug und fuhr Sekunden später davon.

Mit ein paar Scherzworten auf den Lippen verließ der Postbote das Vorzimmer des Chefarztbüros. Wie jeden Tag hatte er Marga Stäuber die Post übergeben, Briefe und auch Zeitungen.

Marga Stäuber machte sich sofort ans Sortieren. Viel war es an diesem Tag nicht. Einige Patientenpost und ein paar Briefe an die Klinik und an den Klinikleiter. Ein paar medizinische Fachblätter waren dabei und drei Tageszeitungen. Die ersteren legte sie auch gleich zusammen mit der Post für Dr. Lindau auf dessen Schreibtisch. Ihrer Gewohnheit folgend blätterte sie danach die Tageszeitungen durch. Man musste schließlich wissen, was sich in der Welt tat, obwohl sie sich für politische Ereignisse nur am Rande interessierte.

»Gewalt, Krieg …, du meine Güte, wie ist die Welt doch schlecht geworden«, murmelte sie und griff nach der zweiten Zeitung – es waren die TEGERNSEER NACHRICHTEN – schlug sie auf und stutzte. »Na, so etwas, das ist doch unser Chef«, stieß sie erstaunt hervor. Interessiert betrachtete sie das ein wenig unscharfe Foto Dr. Lindaus. »Keine gute Aufnahme«, murmelte sie. »In Wirklichkeit sieht er viel besser aus.« Neugierig las sie den Text unter dem Schwarz-Weiß-Foto. Es war nicht viel, aber es reichte, um Marga Stäuber vor Zorn dunkelrot im Gesicht anlaufen zu lassen.

»Das …, das … ist doch … unerhört«, brach es sich über ihre Lippen. »Eine Frechheit, eine Gemeinheit, dem Chef etwas Derartiges zu unterstellen«, schnaubte sie empört. »Frau Wendler«, rief sie laut nach Dr. Lindaus Assistentin. »Frau Wendler …!«

»Sie haben mich gerufen?« Bettina Wendler erschien im Vorzimmer. »Was gibt es denn?«

»Hier.« Die Sekretärin schob der jungen Frau die Zeitung hin und deutete auf das Foto des Chefarztes. »Lesen Sie mal!«

Verwundert folgte die Assistentin dieser Aufforderung. Es erging ihr ebenso wie Marga Stäuber – sie war empört über diesen kurzen Artikel. Fassungslos starrte sie die Sekretärin an. »Das gibt es doch nicht«, entrüstete sie sich. »Unser Chef soll eine Patientin belästigt haben. Das ist doch lachhaft.«

»Es ist eine Gemeinheit, so etwas überhaupt von ihm zu denken«, regte sich Marga Stäuber auf.

»Was für eine Patientin soll das denn …«

»Es ist kein Name genannt«, unterbrach Marga Stäuber die Assistentin. »Eine Privatpatientin steht hier nur.« In ihre Augen trat ein wildes Funkeln. »He, Bettina«, rief sie aufgebracht aus, »wir haben oder hatten in der letzten Zeit nur eine einzige Privatpatientin, nämlich diese Helbrecht aus Rottach. Nur die kann damit gemeint sein. Wie kommt dieses Frauenzimmer dazu, eine solche Behauptung aufzustellen? Das ist doch die Höhe.«

»Wir müssen sofort den Chefarzt informieren«, schlug Bettina vor.

»Der ist jetzt im OP und operiert«, entgegnete Marga Stäuber.

»Aber seine Tochter, Frau Dr. Mertens, werde ich anrufen«, fügte sie nach blitzschnellen Überlegungen hinzu und griff auch schon nach dem Telefon, wählte die Nummer der Kinderabteilung und hatte Glück – Astrid Mertens meldete sich sofort.

»Was gibt es, Frau Stäuber?«

»Frau Doktor, kommen Sie bitte sofort zu mir!«, bat die Sekretärin.

»Ist etwas geschehen?«, kam die bange Frage der Kinderärztin. »Mit meinem Vater etwa?«

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte Marga Stäuber.

»Ich bin schon unterwegs«, war Astrids Antwort.

Es dauerte auch nur wenige Minuten, da war sie schon zur Stelle. »Wo ist mein Vater?«, fragte sie aufgeregt. »Ist ihm etwas zugestoßen?«

»Ihr Vater ist bei einer Operation«, klärte Marga Stäuber die Tochter des Chefs auf. »Aber lesen Sie bitte das hier!« Sie reichte der Kinderärztin die aufgeschlagene Zeitung.

Astrid las den kurzen Artikel und wurde blass. »Das darf doch nicht wahr sein«, rief sie entrüstet. »Mein Vater und …« Wild schüttelte sie den Kopf. »Das ist doch absurd. Niemals würde Paps sich so verhalten.«

»Dieser Ansicht sind wir auch, Frau Wendler und ich, und ich weiß, dass andere auch so denken«, versicherte die Sekretärin. »Ich frage mich nur, was diese Frau Helbrecht damit bezweckt.«

Erstaunt sah Astrid die Sekretärin an. »Wie kommen Sie auf Frau Helbrecht?«, fragte sie verwundert.

»Weil sie in letzter Zeit die einzige Privatpatientin in unserer Klinik war, und hier steht ja etwas von einer Privatpatientin«, erklärte Marga Stäuber resolut.

In Astrids Gesicht zuckte es. Ihr fiel wieder der Samstagabend ein, aber auch das vermutliche Bemühen der Konsulswitwe, ihren Vater zu umgarnen, was dem allerdings gar nicht sehr gepasst hatte. Eine geradezu schockierende Ahnung wurde in ihr wach. Sollte diese Frau etwa aus verletztem Stolz und gekränkter Eitelkeit …? Astrid dachte nicht weiter, weil ihr das absurd vorkam. Andererseits jedoch, sinnierte sie weiter, gab es genügend Beispiele dafür, dass eine Liebe, die abgewiesen wurde, sehr oft in Hass und in Rachegefühle umgeschlagen waren. Konnte das nun auch bei der Konsulswitwe der Fall sein?

»Man muss dagegen etwas tun«, unterbrach Bettina Wendler die Überlegungen der Kinderärztin.

»Ja, und zwar schnell und sehr energisch«, meinte Marga Stäuber.

Astrid nickte. »Ich werde mit meinem Vater reden«, sagte sie. »Er soll entscheiden, was …« Sie brach ab, weil in diesem Augenblick ihr Vater den Raum betrat.

»Was ist denn hier los?«, fragte er lächelnd. »Eine Versammlung? Oder gar eine Verschwörung?«, fügte er scherzend hinzu. Sofort aber wurde er ernst, als er die Gesichter der drei Frauen sah, denen die Aufregung anzumerken war. »Also?«, fragte er. »Was ist geschehen, dass ihr so betretene Gesichter macht?«

»Das hier.« Astrid reichte ihrem Vater die Zeitung.

Dr. Lindau betrachtete sein Konterfei und las den darunterstehenden Text. Sein Körper versteifte sich. In seinen Augen blitzte es zornig auf, und in seinen Zügen zuckte es. »Das ist eine Infamie«, stieß er hervor. Im Gegensatz zu seiner Tochter brauchte er erst gar nicht zu überlegen. Er war sich sofort klar darüber, wem er diesen rufschädigenden Artikel zu verdanken hatte. Deshalb also das Foto, das der aufdringliche junge Mann am Vortage von ihm gemacht hatte. Klar war ihm aber auch, dass hinter alldem nur Katharina Helbrecht steckte, wenn er auch nicht wusste, in was für einer Art Verbindung diese zu dem Fotoreporter stand. Doch das war im Augenblick nicht so wesentlich. Dr. Lindau war sich aber auch sofort darüber im Klaren, was dieser verleumderische Artikel für Folgen haben konnte – für ihn persönlich und damit auch zwangsläufig für die Klinik. »Komm mit, Astrid!«, sagte er zu seiner Tochter und stürmte in sein Sprechzimmer.

Astrid folgte ihrem Vater. »Dagegen musst du etwas unternehmen, Paps«, erklärte sie mit fester Stimme. »Das ist Rufmord.«

»Das werde ich auch«, gab Dr. Lindau energisch zurück. »Lass dir aber erst erklären, was wirklich geschehen ist …«

»Paps, du brauchst mir nichts zu erklären«, fiel Astrid dem Vater ins Wort. »Ich weiß – und nicht nur ich – dass diese Verdächtigung eine einzige Lüge ist, und ich kann mir auch gut vorstellen, wer dahintersteckt.«

»Ich auch«, entgegnete Dr. Lindau. »Dennoch will ich dir sagen, wie es war.« Mit knappen Worten berichtete er seiner Tochter von dem massiven Annäherungsversuch der Konsulswitwe, als er in ihrem Zimmer gewesen war. »So ist es gewesen«, schloss er.

»So ähnlich habe ich mir das auch gedacht, wenn auch nicht gerade in einem Krankenzimmer unserer Klinik«, gab Astrid zurück. Sie hätte dieser Frau Helbrecht die Augen auskratzen können, wenn sie jetzt hier gewesen wäre. »Was willst du nun unternehmen?«, fragte sie leise.

Dr. Lindau gab keine Antwort. Er griff nach dem Telefon, blätterte kurz in seinem Merkkalender und wählte dann eine Nummer. Es war die von Katharina Helbrecht. Gespannt lauschte er. Das Freizeichen ertönte zwar, aber niemand meldete sich am anderen Ende der Leitung. »Entweder ist sie nicht zu Hause oder aber sie hebt nicht ab«, brummte er.

Astrid wusste, wen er damit meinte. Ein Gedanke meldete sich plötzlich bei ihr. Diese Frau musste man energisch zur Rede stellen, aber nicht per Telefon, sondern persönlich, Auge in Auge. Von dieser Erkenntnis war es nur ein ganz kleiner Sprung zu dem Gedanken, das selbst zu tun. Und zwar sehr bald, von Frau zu Frau. Ja, redete sich Astrid in Gedanken zu, ich werde zu der Dame hinfahren und sie zwingen, ihre ungeheuerliche Behauptung zurückzunehmen und zwar in aller Öffentlichkeit, also in der gleichen Zeitung. »Ich lasse dich jetzt allein, Paps«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. Sie schien es plötzlich eilig zu haben. »Ruf du doch inzwischen die Zeitung an und …«

»Bin schon dabei«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter, die Sekunden später die Tür hinter sich zuzog.

Die Anschlussnummer der Zeitung fand Dr. Lindau im Impressum und wählte sie.

»Redaktion der Tegernseer Nachrichten …«

»Dr. Lindau, Chefarzt der Klinik am See in Auefelden«, stellte sich der Chefarzt vor. »Ich will es kurz machen«, fuhr er fort. »Es betrifft den infamen Artikel mit meinem Foto in Ihrer Zeitung. Wer ist dieser Schmierfink, dem ich das zu verdanken habe? Ich möchte ihn sprechen und zwar sofort.«

Sekundenlang war Schweigen auf der anderen Seite. »Da muss ich Sie leider enttäuschen, Herr Doktor«, kam dann eine andere Stimme, »der dafür verantwortliche Reporter ist zurzeit außer Haus.«

»Dann finden Sie ihn!«, schnaubte Dr. Lindau zornig. »Außerdem verlange ich eine Korrektur oder einen Widerruf oder wie immer Sie das nennen mögen, der diesen ungeheuerlichen Verdacht von mir nimmt. Ich wünsche, dass das schon in der morgigen Ausgabe zu lesen ist, samt einer formellen Entschuldigung.«

»Hören Sie mal …«

»Nein, Sie hören mir zu«, fiel Dr. Lindau dem Sprecher hart ins Wort. »Wenn ich morgen keine zufriedenstellende Berichtigung lese, bekommt Ihre Zeitung noch am gleichen Tag ein Verfahren wegen Rufmord, Verleumdung und Beleidigung angehängt. Ebenso jener Reporter. Was das heißt, können Sie sich ja denken. Guten Tag.« Wütend warf Dr. Lindau den Hörer auf die Gabel.

Von diesem Augenblick an war Dr. Lindau nicht mehr ansprechbar. Schweigsam verrichtete er seinen Dienst und reagierte auch kaum auf diese und jene Loyalitätsversicherung Dr. Hoffs und Dr. Reichels, die in der Zwischenzeit ebenso wie verschiedene andere vom Personal von dem auf ihrem Chefarzt lastenden Verdacht Kenntnis bekommen hatten. Dafür hatte schon – ob bewusst oder unbewusst – Marga Stäuber gesorgt.

*

Die offizielle Besuchszeit in der Klinik am See hatte noch gar nicht richtig begonnen, da fuhr Rolf Sternau schon auf den Parkplatz neben der Klinik. Mit einem Blumenstrauß bewaffnet betrat er die Halle. Beinahe wäre er bei der Pförtnerloge mit einer jungen Dame zusammengestoßen, die im Begriff war, die Klinik zu verlassen. Murmelnd entschuldigte er sich und hörte noch den Pförtner rufen: »Auf Wiedersehen, Frau Doktor.«

Dass diese Frau Doktor die Tochter des Mannes war, den er in der Zeitung eines unkorrekten Verhaltens einer Patientin gegenüber angeprangert hatte, wusste er natürlich nicht. Ebenso wenig wie die Kinderärztin Astrid Mertens ahnte, dass dieser junge Mann, mit dem sie fast zusammengeprallt war, derjenige war, der diesen schändlichen Artikel in die Zeitung gesetzt hatte und dessentwegen sie jetzt nach Rottach zu jener Katharina Helbrecht fahren wollte, um das Ansehen ihres Vaters vor noch größerem Schaden zu bewahren.

Rolf Sternau selbst dachte in diesen Minuten gar nicht mehr an das, was er mit seinem Foto und dem kurzen Artikel ins Rollen gebracht hatte. Seine Gedanken beschäftigten sich mit der reizenden Alice Mangold, die er für die Tochter Katharinas gehalten hatte und die er nun wie versprochen besuchen wollte. Die halbe Nacht hatte er über dieses Mädchen nachgedacht und hatte sich schließlich eingestanden, dass er verliebt war. Von seiner leidenschaftlichen Zuneigung zu Katharina war kaum noch etwas übrig geblieben. Irgendwie war er auch zufrieden, dass Alice nicht Katharinas Tochter war, wie sie ihm ja selbst gesagt hatte. Komplikationen konnten also kaum entstehen. Es wäre ja auch etwas fatal gewesen, wenn er, der Liebhaber der Mutter, nun zu deren Tochter überlief.

Anscheinend war er einer der ersten Besucher an diesem frühen Nachmittag, aber er hatte es eben nicht erwarten können, Alice wiederzusehen. Wenig später stand er vor deren Zimmer, holte noch einmal tief Atem, klopfte und trat ein.

»Da bin ich«, rief er freudestrahlend Alice zu, die aufrecht im Bett saß und in einem Magazin blätterte. »Haben Sie mich erwartet?«, fragte er.

Alice lächelte. Man sah ihr an, dass sie sich über den Besuch sehr freute. Auch sie hatte sich am Abend zuvor noch lange Gedanken über diesen sympathischen jungen Mann gemacht, und auch sie gestand sich ein, dass sie sich in ihn verliebt hatte. »Erwartet?«, gab sie auf Rolf Sternaus Frage zurück. »Ich habe es gehofft, und ich freue mich, dass Sie Wort gehalten haben.«

»Das macht mich ja fast glücklich«, bekannte Rolf, stellte die Blumen in eine Vase, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Fast?« Alice sah ihren Besucher forschend an. »Denken Sie dabei an meine …, hm …, an Ihre Freundin Katharina?«, fragte sie.

Rolf sah das hübsche Mädchen offen ab. »Nein«, bekannte er. »Das ist für mich zu Ende.«

»Aber für sie nicht, oder?« Alice wartete gespannt auf die Antwort.

Rolf winkte lässig ab. »Sie wird es akzeptieren müssen«, entgegnete er. »Außerdem dürfte ihr das nicht so schwerfallen.«

»Weshalb nicht?«, wurde Alice neugierig.

»Nun, weil ich Grund zur Annahme habe, dass sie irgendeinen anderen Mann beglücken möchte«, erwiderte Rolf. »Ihr Verhalten in den vergangenen zwei Wochen mir gegenüber lässt mich das vermuten.«

Alice verzog ein wenig das Gesicht. Obwohl sie wenig, fast gar keinen Kontakt mit ihrer Mutter hatte und ihr deren Lebenswandel nicht sonderlich gefiel, störte es sie doch ein wenig, wenn über sie in einer solchen abwertenden Art gesprochen wurde. Sinnend sah sie ihren Besucher an.

Der war noch nie schüchtern gewesen. Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf. Tief und eindringlich sah er Alice in die Augen. »Ich bin sehr froh, dass Sie mir über den Weg gelaufen sind, Fräulein Mangold«, sagte er mit weicher Stimme.

Alice wich dem Blick nicht aus. Eine wohlige Wärme durchströmte sie. »Über den Weg gelaufen? Ich?« Sie lachte verhalten. »Das waren doch Sie, denn ich saß ja auf der Bank. Im Übrigen – sagen Sie ruhig Alice zu mir!«

»Nichts lieber als das, Alice«, gab Rolf zurück. »Meinen Vornamen habe ich Ihnen ja schon gesagt.«

»Ja – Rolf«, kam es über Alices Lippen.

Da wurde Rolf forsch. Er neigte sich vor. »Darauf ein Küsschen«, flüsterte er, und ehe Alice noch etwas darauf erwidern konnte, spürte sie auch schon Rolfs Lippen auf ihrem Mund. Nicht wild und fordernd, sondern sanft und zärtlich. Ein wohliger Schauer lief über ihren Rücken.

Insgeheim hatte Rolf eine Abwehrbewegung gefürchtet. Doch die blieb aus. Strahlend sah er Alice an. »Es ist schön, dass es dich gibt«, flüsterte er. »Noch schöner aber ist es, dass ich mich in dich verliebt habe. Nein, mehr noch – ich glaube, ich liebe dich.«

»Glaubst du es nur oder …?«

»Ich weiß es jetzt«, versicherte Rolf.

»Ich gestehe, dass auch ich dich nicht nur sehr gut leiden kann, sondern dass ich dich sehr lieb habe«, raunte Alice und wehrte sich nicht, als sie zum zweiten Mal Rolfs Mund auf ihren Lippen fühlte. Plötzlich aber fiel ihr etwas ein. »Aus welchem Grunde warst du gestern überhaupt hier in der Klinik?«, fragte sie neugierig. »Hattest du einen Besuch gemacht oder warst du zu einer Behandlung oder Untersuchung hier?«

»Weder noch«, erwiderte Rolf. »Ich habe ein Foto vom Chefarzt gemacht. Für eine kurze Reportage, die diesem sauberen Arzt bestimmt an die Nieren gehen wird.«

»Sprichst du von Dr. Lindau?« In Alices Augen trat ein wachsamer Ausdruck.

»Ja. Du kennst ihn?«

»Natürlich, denn er hat mir das Leben gerettet und behandelt mich«, antwortete Alice. »Er ist ein fantastischer Arzt.«

»Na, ich weiß nicht, ob das Wort fantastisch ganz angebracht ist«, entgegnete Rolf. »Ich weiß etwas anderes von ihm«, fügte er hinzu.

»Und was?«, wollte Alice wissen. Ein eigenartiges Gefühl überkam sie. In ihr wehrte sich etwas gegen solche abwertenden Worte, wie Rolf sie eben von sich gegeben hatte. Über ihrem Gesicht lag plötzlich ein leichter Schatten. Ihr Lächeln war verschwunden. Auffordernd und ernst sah sie Rolf an.

Der zögerte ein wenig. »Also gut, wenn du es durchaus wissen willst …«, ergriff er das Wort und berichtete in kurzen Sätzen, was er wusste oder zu wissen glaubte. »Ein Arzt, der seine ihm anvertrauten Patientinnen belästigt, der …«

»Das soll Dr. Lindau getan haben?«, fuhr Alice auf. »Unmöglich. Das glaube ich nicht. Du sagst, dass deine Freundin Katharina das angebliche Opfer gewesen ist?«

»Ja, das habe ich dir eben erklärt«, erwiderte Rolf und wunderte sich ein wenig über Alices sichtliche Aufregung.

»Hat sie dir das erzählt?«, fragte Alice mit gepresst klingender Stimme.

»Ja, natürlich, sonst wüsste ich es ja nicht«, antwortete Rolf. »Zumindest waren ihre Andeutungen unmissverständlich«, fügte er hinzu.

In Alice brodelte es. Sie fand es unerhört, den von ihr so geschätzten Dr. Lindau, dem sie außerdem ihr Leben verdankte, in einen solchen scheußlichen Verdacht zu bringen. In ihrem Kopf rastete etwas aus. »Dann lügt meine Mutter«, stieß sie unbeherrscht und unkontrolliert hervor. »Das ist bestimmt ihre Rache für eine Zurückweisung. Ich kenne sie und weiß, dass sie so etwas nicht hinnehmen kann.«

Rolfs Augen wurden groß. Er brauchte einige Sekunden, um das eben Gehörte zu verdauen. »Deine Mutter?«, stieß er dann fragend hervor. »Was hat deine Mutter damit zu tun? Ich verstehe das nicht.«

»Katharina Helbrecht ist meine Mutter«, erklärte Alice. »Du hast gestern schon richtig vermutet.«

»Also doch«, knurrte Rolf. »Verrückt, so etwas. Aber wieso heißt du …?«

»Ganz einfach«, fiel Alice dem jungen Mann ins Wort und klärte ihn mit wenigen Worten über die Familienverhältnisse auf.

»Das …, das ist ja …«, stotterte Rolf und wusste nicht weiter. In der nächsten Sekunde fuhr er aber auf. »Wieso sagtest du, dass Katha, hm …, deine Mutter lügt?«, fragte er erregt. »Man kann sich doch etwas Derartiges nicht aus den Fingern saugen.«

»Meine Mutter kann das«, gab Alice betont zurück.

»Aber warum? Weshalb? Was sollte sie damit bezwecken?«, drang Rolf in das Mädchen. Im gleichen Augenblick wurde ihm ziemlich deutlich klar, was für Folgen es für ihn haben musste, wenn Alice recht damit hatte, dass ihre Mutter das alles nur erfunden hatte. »Sag mir bitte, warum sie das getan haben sollte!«, bat er.

»Ich will versuchen, es dir zu erklären«, entgegnete Alice und begann auch sofort damit. Sie erzählte von den beiden Ehen ihrer Mutter und besonders von der zweiten, die ihr Alice einen Konsul als Stiefvater beschert hatte. Sie verschwieg auch nicht, dass ihre Mutter aufgrund des Altersunterschieds eine Art Nonnenleben hatte führen müssen und dass sie jetzt als Witwe krampfhaft versuchte, das nachzuholen, was sie versäumt zu haben glaubte.

»Also, dann war ich auch eine dieser Freundschaften, von denen sie sich dieses verspätete Glück erhofft hatte«, murmelte Rolf und senkte etwas beschämt den Blick.

»Wahrscheinlich«, bestätigte Alice. »Aber wie kommt dieser Dr. Lindau ins Spiel?«, wollte er wissen.

»Ich nehme an, dass meine Mutter ihn kennen- und lieben gelernt hat«, erwiderte Alice sinnend. »Er hätte auch altersmäßig zu ihr gepasst. Ihr Pech aber war wahrscheinlich, dass Dr. Lindau an ihr kein Interesse gefunden hat, wobei ich, wie ich meine Mutter kenne, glaube, dass sie ihm ihre Zuneigung mehr als deutlich gezeigt hat, aber zurückgewiesen wurde.« Alice ahnte nicht, wie nahe sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit kam. »Eine Frau aber, deren Liebe zurückgewiesen wird, fühlt sich gedemütigt und in tiefer Seele verletzt und braucht nicht viel dazu, um ihre Zuneigung in Hass und damit verbundenen Rachegelüsten umzuwandeln.« Heftig atmend beendete Alice ihre Erklärungen.

Hinter Rolfs Stirn überschlugen sich die Gedanken. Zorn erfasste ihn – gegen Katharina, aber auch gegen sich, weil er nur ihren Andeutungen, die er für bare Münze genommen hatte, geglaubt hatte. »Was bin ich doch für ein verdammter Idiot«, stieß er wütend hervor. »Ich muss schnellstens etwas unternehmen, denn ich habe das bereits heute in die Zeitung bringen lassen.«

»Du hast was?« Fassungslos sah Alice ihren Besucher an. »Das ist ja böswillige Verleumdung, die dir großen Ärger einbringen wird, wenn Dr. Lindau sich wehrt. Das aber wird er bestimmt tun, ich weiß es. Mein Gott, Mama, was hast du nur angerichtet?«, flüsterte sie und dachte daran, dass man ihre Mutter ja auch zur Rechenschaft ziehen würde.

Rolf Sternau stand abrupt auf. »Ich fahre jetzt gleich zu deiner Mutter und anschließend in die Redaktion«, erklärte er energisch. »Diese Sache muss schleunigst bereinigt werden.« Bittend sah er Alice an. »Darf ich dich trotzdem weiterhin besuchen kommen, solange du noch hier drin bist?«, fragte er leise.

Ein sparsames Lächeln huschte um Alices Lippen. Sie nickte und erwiderte: »Auch wenn ich wieder draußen bin, Rolf.«

»Danke, Alice.« Blitzschnell neigte sich Rolf Sternau zu dem Mädchen hinunter und küsste es. Sekunden später war er verschwunden.

*

Obwohl inzwischen schon wieder zwei Tage vergangen waren, hatte sich Katharina Helbrecht immer noch nicht ganz beruhigt. Die Zurückweisung Dr. Lindaus konnte sie nicht überwinden. In ihrem Kopf war ein wüstes Durcheinander, aus dem sie aber immer wieder der Zorn auf den Chefarzt der Klinik am See hervortat. »Es wird ihm noch leidtun, dass er mich so gedemütigt hat«, flüsterte sie und erinnerte sich an die letzte kurze Unterhaltung mit ihrem Liebhaber Rolf Sternau. Ohne Emotionen registrierte sie für sich, dass der ihr auch nichts mehr bedeutete. Er war eben auch nur einer der Fehlgriffe gewesen, die sie in den vergangenen zwei Jahren getan hatte. Ihr Interesse an ihm war erloschen. Sie war lediglich neugierig darauf, was er wohl nun unternehmen würde, wegen der Andeutungen, die sie ihm gegenüber gemacht hatte. So wie sie ihn kannte und einschätzte, würde er wahrscheinlich mit Dr. Lindau aneinandergeraten. Nicht eine Sekunde lang nahm sie an, dass er ihre Niederlage, als das sie ihr Fiasko mit Dr. Lindau ansah, in die Zeitung bringen würde. Ihr genügte es ja schon, wenn Rolf den Chefarzt mit scharfen Worten in der Klinik attackierte und zwar so, dass es andere auch mitbekamen. Zumindest wäre dann sein guter Ruf angekratzt, und er würde dann keinen leichten Stand haben. Auch wenn er Gegenteiliges vorbrachte. Der Schatten eines Verdachtes würde auf jeden Fall zurückbleiben. Das aber sah sie als ihre Rache an.

Man konnte Katharina Helbrecht in ihrer unfairen, ja, schon verantwortungslosen Handlungsweise im Höchstfall zugutehalten, dass sie sich in ihrer Erregung gar nicht klar darüber gewesen war, was sie mit ihren Andeutungen Rolf gegenüber angerichtet hatte. Es war eben die vielleicht doch verständliche Reaktion einer zutiefst verletzten Frau gewesen.

Plötzlich schreckte Katharina auf, als es an der Eingangstür ihres Bungalows läutete. Ihr erster Gedanke war, dass es Rolf sein könnte. Sie überlegte, ob sie öffnen sollte. Große Lust dazu verspürte sie nicht. Als das Läuten sich aber wiederholte und stürmischer wurde, ging sie doch zum Eingang und öffnete. Abweisung stand in ihren Augen, als sie nicht Rolf Sternau vor sich sah, sondern eine hübsche junge Frau mit blonden Haaren. »Ja?«, fragte sie unwillig.

»Frau Helbrecht, mein Name ist Astrid Mertens«, kam die Erwiderung, »und ich möchte gern mit Ihnen reden.«

»Worüber?«

»Das sage ich Ihnen im Haus«, antwortete Astrid energisch und, ohne auf eine Entgegnung zu warten, trat sie entschlossen ein, ehe die Dame des Hauses abwehrend reagieren konnte. Obwohl Astrid noch nie in diesem Bungalow gewesen war, schritt sie zielsicher auf die offen stehende Tür zum großen Wohnraum.

»Was soll das? Was wollen Sie?«, fuhr Katharina ihre ungebetene Besucherin an.

Astrid sah die Hausherrin mit blitzenden Augen an. »Ich möchte Sie nur fragen, was Sie sich dabei gedacht haben, meinen Vater so zu verunglimpfen?«, brach es heftig aus ihr heraus.

»Ihren Vater?« Hinter Katharinas Stirn rumorte es. »Wer ist Ihr Vater, und was habe ich mit ihm zu tun?«, verlangte sie zu wissen.

»Dr. Lindau ist mein Vater«, erwiderte Astrid ruhig. »Wissen Sie jetzt Bescheid, Frau Helbrecht?«

Katharina zuckte zusammen. Darauf war sie nicht vorbereitet, dass die Tochter Dr. Lindaus zu ihr kam, um ihr Vorhaltungen zu machen. Ehe sie aber etwas erwidern konnte, wurde ihr von Astrid Mertens eine aufgeschlagene Zeitung vors Gesicht gehalten. Sie erkannte sofort den Mann auf dem Foto.

»Lesen Sie den Text darunter!«, forderte Astrid die Konsulswitwe energisch auf, »und dann sagen Sie mir, ob das stimmt!«

Katharina brauchte erst gar nicht zu lesen. Sie ahnte, was da gedruckt stand. Dieser Idiot, schimpfte sie in Gedanken auf Rolf Sternau. In dieser Form hatte sie sich ihre Rache an Dr. Lindau nicht vorgestellt. Eine Lektion hatte sie ihm erteilen wollen, nicht mehr und nicht weniger. Und nun das. Von einer Sekunde auf die andere wurde ihr mit geradezu schmerzhafter Deutlichkeit klar, was sie mit ihren erregten Worten vor zwei Tagen angerichtet hatte. Trotz dieser Erkenntnis aber wehrte sie sich dagegen, jetzt klein beizugeben. Wilder Trotz meldete sich in ihr.

»Nun, Frau Helbrecht?«, drängte Astrid ungeduldig. »Ich höre.«

Unwillig blitzte es in Katharinas Augen auf, weil ihr diese Art der Befragung nicht behagte. »Wenn ich Ihnen nun sagen würde, dass das den Tatsachen entspricht?«, stieß sie aufgebracht hervor. »Was dann?«

Astrid straffte sich. Böse sah sie Katharina Helbrecht an. »Dann würde ich sagen, dass Sie eine gemeine Lügnerin sind«, erwiderte sie scharf. »Sie hätten dann eine Anklage zu erwarten – wegen böswilliger Verleumdung, Rufmord und noch einiges mehr. Das verspreche ich Ihnen.« Etwas gedämpfter setzte sie hinzu: »Das kann Sie für einige Zeit hinter Gitter bringen. Denken Sie einmal daran!«

Katharina wurde blass. In ihrem Innern war ein Chaos, ein Dilemma, das von Sekunde zu Sekunde größer wurde. Ihr war plötzlich ungeheuer elend zumute. Verwirrt, ja, fast verzweifelt starrte sie ihre Besucherin an. Sie suchte nach Worten und wusste dabei gar nicht einmal, was sie eigentlich sagen sollte. Klar war ihr nur, dass sie in eine Situation geraten war, in der sie sich wie ein gehetztes Tier vorkam. In diesen Sekunden wurde ihr bewusst, dass sie keine Chancen hatte, vor der von dieser jungen Frau angedrohten Anklage davonzukommen. Sie wusste, dass dann Aussage gegen Aussage stand. Dass man dem Chefarzt einer Klinik aber sicher eher glauben würde als ihr, wurde ihr auch klar. Was sollte sie nur tun? Wie sollte sie sich jetzt verhalten? Sie schien gar nicht zu merken, dass ihre Augen feucht wurden.

Das aber entging Astrid nicht. Mehr noch – sie spürte, dass diese Frau mit sich kämpfte, und ein Gefühl sagte ihr, dass Katharina Helbrecht im Grunde genommen ziemlich unglücklich sein musste. Ihrer Stimme die vorherige Härte und Schärfe nehmend, redete sie fast beschwörend auf die Konsulswitwe ein. »Frau Helbrecht, ich weiß, dass Sie meinen Vater gernhaben und vielleicht lieben Sie ihn auch. Ich kann auch verstehen, wie einer Frau zumute ist, wenn ihre Liebe zurückgewiesen wird. Das ist deprimierend und auch irgendwie demütigend. Ich bin selbst eine Frau und kann das nachfühlen. Versuchen Sie doch auch, meinen Vater zu verstehen. Er hat meine Mutter sehr geliebt, und es ist ihm unmöglich, eine tiefe Zuneigung zu einer anderen Frau zu empfinden. Ich kenne ihn und weiß, dass er sich nie wieder fest binden wird. Weshalb hassen Sie ihn jetzt so sehr, dass Sie ihm etwas unterstellen …?«

»Ich unterstelle ihm nichts«, fiel Katharina der Tochter Dr. Lindaus ins Wort. Sie war ziemlich am Ende mit ihren Nerven.

»Aber Sie haben doch einem Reporter erzählt, dass er Sie …, dass er Ihnen nahegetreten ist«, hielt Astrid der Frau vor.

»Nein«, fuhr Katharina auf. »Das habe ich nicht gesagt. Nichts dergleichen habe ich behauptet.«

Sekundenlang war Astrid verwirrt. »Dann verstehe ich nicht, wie man das in der Zeitung drucken kann«, stieß sie hervor.

Katharina kämpfte mit sich. Ihre in ihrem tiefsten Innern doch vorhandene Wahrheitsliebe, ihre Fairness blieb Sieger. »Ich …, ich … war erregt und habe etwas gefaselt, dass mir Ihr Vater etwas angetan hat.« Leise und stockend kamen die Worte über ihre Lippen. »Natürlich hat er mir etwas damit angetan, dass er mich zurückwies.« Fast flehend sah sie Astrid an. »Ich kann doch nichts dafür, dass Rolf das anders aufgefasst hat.« Sie war dem Weinen nahe.

Irgendwie tat Astrid die Frau leid. Doch sie war erleichtert, dass Katharina Helbrecht nicht auf dem bestehen blieb, was die Zeitung schrieb. »Frau Helbrecht, ich danke Ihnen, dass Sie sich – nun ja, dass Sie sich besonnen haben. Ich hoffe, dass Sie jetzt aber auch bereit sind, offiziell eine Gegendarstellung abzugeben, die meinen Vater von diesem schrecklichen Verdacht befreit.«

»Ja«, flüsterte Katharina.

»Gut, und ich verspreche Ihnen, dass ich meinen Vater von einer Anzeige wegen …, nun, Sie wissen schon …, abbringen werde.« Astrid überlegte kurz. »Wichtig ist, dass Sie jenem Herrn, ich glaube, Sie nannten ihn Rolf, so schnell wie möglich dieses Missverständnis erklären, damit es morgen schon in der Zeitung steht.«

»Ich …, ich hoffe und denke, dass Rolf heute noch zu mir …« Sie brach ab, weil es in diesem Augenblick an der Eingangstür läutete. »Vielleicht ist er das schon«, sagte sie dann und ging hinaus, um zu öffnen.

*

Astrid bekam runde Augen, als Katharina Helbrecht wieder hereinkam – aber in Begleitung von zwei Herren. Den einen kannte sie sehr gut. Es war ihr Vater, der zweite, jüngere, war ihr unbekannt. »Paps, was machst du denn hier?«, fragte sie überrascht.

»Das könnte ich auch dich fragen«, gab Dr. Lindau zurück. Seine Miene war verschlossen.

»Ich habe mit Frau Helbrecht gesprochen und …«

»Das habe ich jetzt auch vor«, unterbrach Dr. Lindau seine Tochter. »Sehr ernsthaft sogar«, fügte er betont hinzu. »Das ist übrigens Herr Sternau, dem ich diese unangenehme Sache zu verdanken habe.« Er deutete auf den jungen Mann an seiner Seite. »Ich konnte ihn gerade noch festhalten, als er es sehr eilig hatte, die Klinik zu verlassen.«

»Natürlich hatte ich es eilig, weil ich schnellstens mit Katha…, hm …, Frau Helbrecht sprechen wollte«, fuhr Rolf Sternau auf. »Ich sagte es Ihnen doch schon in der Klinik.«

»Dann sagen Sie es jetzt noch einmal, hier und sofort, junger Mann! Und in Gegenwart von Frau Helbrecht!« Finster und auffordernd sah Dr. Lindau den Fotoreporter an.

Der wandte sich auch sofort an die Hausherrin. »Was um Gottes willen hast du mir da eingebrockt, Katharina?«, fragte er mit gepresst klingender Stimme. »Du hast mich in Teufels Küche gebracht. Das kann mich meinen Job kosten.«

»Was willst du eigentlich, Rolf?«, gab Katharina zurück. Ihr zitterten die Beine, und ihr Herz klopfte wild. »Ich habe dir nichts eingebrockt. Du hast nur falsch verstanden.«

»Hast du mir nicht erzählt, dass Herr Doktor Lindau dir in deinem Krankenzimmer zu nahegetreten ist?« Fordernd blickte Rolf Sternau die Frau an, für die er noch vor wenigen Tagen geschwärmt hatte, die er nun aber in einem ganz anderen Licht sah.

»Davon habe ich kein Wort gesagt«, verwahrte sich Katharina. Sie musste sich anstrengen, um nicht die Fassung zu verlieren. »Ich habe dich lediglich wissen lassen, dass …, dass …« Verlegen und beschämt wich sie den prüfenden und gleichermaßen gespannten und erwartungsvollen Blicken Dr. Lindaus aus, »… dass Dr. Lindau mir etwas angetan hat. Wenn du daraus eine Belästigung, ja fast eine versuchte Vergewaltigung in deinem Zeitungsartikel gemacht hast, dann ist das nicht meine Schuld.«

»Augenblick, Katharina«, fuhr Rolf Sternau entrüstet auf. »Bei aller Freundschaft, aber das finde ich nicht fair, dass du mir nun den schwarzen Peter zuschieben willst. Deine Erregung und deine Worte konnten gar nicht anders aufgefasst werden.« Er sah Dr. Lindau fragend an. »Was sagen Sie dazu, Herr Doktor? Hätten Sie nicht auch so reagiert?«, wollte er wissen.

Dr. Lindau runzelte die Stirn, warf Rolf Sternau einen nicht gerade freundlichen Blick zu und sah dann Katharina Helbrecht an. »Frau Helbrecht, ich frage Sie jetzt ernsthaft und eindringlich: Ist es so gewesen, wie Sie es eben gesagt haben? Ja oder nein?« Sein fester Blick zwang Katharina, ihn anzusehen.

»Ja, genauso war es«, kam es ohne Zögern über ihre Lippen.

Dr. Lindau nickte. Sein Gefühl und seine Menschenkenntnis signalisierten ihm, dass Katharina Helbrecht jetzt nicht gelogen hatte.

»Also bin ich jetzt der Alleinschuldige«, stieß Rolf Sternau bitter hervor.

»Der Ansicht bin ich auch«, erklärte Dr. Lindau. »Ihre Schuld besteht schon einmal darin, dass Sie sich nicht die Mühe machten, Fakten, Beweise also, für das zu bringen, was Sie nur andeutungsweise zu hören bekamen. Als Reporter sollten Sie das aber wissen.«

»Paps«, schaltete sich nun Astrid, die bisher geschwiegen hatte, in das Gespräch ein, »ich habe mit Frau Helbrecht gesprochen, und sie ist bereit, dazu in aller Öffentlichkeit – damit meine ich die Zeitung – Stellung zu nehmen, um dich von dem in der Zeitung angedeuteten Verdacht zu befreien. Also bitte, Frau Helbrecht«, forderte sie diese auf. »Den Pressemann haben wir hier, und ich bin Zeugin. Sagen Sie also, was zu sagen ist!«

Katharina wäre am liebsten vor Scham in die Erde versunken, doch sie kam der Aufforderung der jungen Frau nach. »Gut«, presste sie über die Lippen und sah Rolf Sternau fest an. »Ich distanziere mich von der Zeitungsmeldung, die aufgrund eines Missverständnisses zustande gekommen ist, und erkläre, dass ich zu keiner Zeit und nirgendwo von Herrn Dr. Lindau in keiner wie auch immer gearteten Weise belästigt worden bin, und dass sein Verhalten mir gegenüber stets korrekt gewesen ist.« Fest sah sie dann Dr. Lindau an. »Noch mehr, oder genügt das?«, fragte sie leise.

Dr. Lindau nickte. Er verstand, was Katharina Helbrecht mit dieser Frage meinte. »Es genügt, Frau Helbrecht«, erklärte er und wandte sich an Rolf Sternau. »Sie haben es gehört, Herr Sternau«, redete er den jungen Mann an. »Jetzt liegt es an Ihnen. Mit Ihrer Redaktion habe ich bereits telefoniert und eine Frist bis morgen früh gesetzt. Sie verstehen.«

»Ich habe verstanden, Herr Doktor, und werde mein Möglichstes tun«, versicherte er.

»Das genügt nicht«, konterte Dr. Lindau. »Sie müssen alles tun, wenn Sie nicht ein Verfahren an den Hals gehängt bekommen wollen.«

»Soll das heißen, dass Sie auf eine Anzeige wegen …, also, dass Sie mir dann keine weiteren Schwierigkeiten machen werden, die mich meinen Job kosten könnten?«, fragte Rolf Sternau.

Dr. Lindau wechselte einen kurzen Blick mit seiner Tochter und antwortete dann: »Das heißt es, junger Mann.«

Rolf Sternau atmete auf. »Danke«, murmelte er. »Ich mache mich sofort auf den Weg und verspreche Ihnen, dass Sie in der morgigen Ausgabe eine Gegendarstellung finden werden.«

»Das hoffe ich«, brummte Dr. Lindau.

»Rolf«, meldete sich in diesem Augenblick Katharina Helbrecht zu Wort, »mich interessiert nur noch, wie du …«

»Ich weiß, was du wissen willst, Katharina«, fiel Rolf Sternau der Hausherrin ins Wort. »Meine Antwort: Alice, deine Tochter hat mich darauf gebracht, dass es gut ist, an deinen Worten gewisse Zweifel zu hegen. Deshalb wollte ich auch schnellstens mit dir reden. Dass ich Herrn Dr. Lindau in die Arme gelaufen bin, sehe ich jetzt sogar als eine Art Glück an.«

Katharina atmete schwer. »Was sagst du da? Meine Tochter?«, fragte sie ungläubig. »Woher und seit wann kennst du sie denn? Alice wohnt doch in München?«

»Zur Zeit liegt sie in der Klinik am See, und dort habe ich sie auch kennengelernt«, erwiderte Rolf.

»Um Himmels willen, wie kommt Alice in die Klinik? Was ist mit ihr passiert?«, fragte Katharina aufgebracht. »Warum weiß ich das nicht?«

»Alice hat einige Male bei dir angerufen, aber sie konnte dich nicht erreichen«, antwortete Rolf Sternau.

»Aber, was fehlt ihr denn und wie geht es ihr?«, ließ Katharina nicht locker. Fassungslos sah sie von Rolf zu Dr. Lindau.

»Das wird dir Herr Dr. Lindau sicher besser erklären können«, meinte Rolf und wandte sich zum Gehen.

In Dr. Lindaus Gedanken hatte es geklickt, als er den Namen Alice hörte. Er erinnerte sich, dass es zurzeit nur eine Patientin dieses Vornamens gab. »Meinen Sie etwa Fräulein Alice Mangold?«, fragte er den Fotoreporter.

»Ja, die meine ich«, bestätigte der.

»Sie ist Ihre Tochter?«, wandte sich Dr. Lindau erstaunt fragend an Katharina Helbrecht. »Das wusste ich nicht.«

»Wie geht es ihr?«, wollte Katharina wissen.

»Gut, Frau Helbrecht«, versicherte Dr. Lindau und berichtete kurz.

»Mein Gott, ich müsste sie besuchen«, flüsterte Katharina. »Aber ich habe für morgen früh schon einen Flug nach England gebucht«, fügte sie hinzu, »und werde von meiner Freundin dort erwartet.« Einen schnellen kurzen Blick auf Dr. Lindau und anschließend auf dessen Tochter werfend, murmelte sie: »Ich muss für einige Zeit weg von hier, um zu vergessen.«

Dr. Lindau und Astrid sahen sich an. Beide verstanden sofort, was Katharina mit ihren letzten Worten zum Ausdruck bringen wollte.

Rolf Sternau – er war schon an der Tür – drehte sich noch einmal um und rief Katharina zu: »Fliege unbesorgt, ich kümmere mich in der Zwischenzeit um Alice. Und wenn du zurückkommst, werden wir sicher etwas zum Feiern haben. Jetzt aber bitte ich um Entschuldigung, denn ich möchte schnellstens zur Redaktion.« Eine Sekunde darauf schloss sich die Tür hinter ihm, und gleich danach konnten die Zurückgebliebenen ihn davonfahren hören.

»Feiern? Was meint er damit?«, flüsterte Katharina.

Dr. Lindau ahnte, was Rolf Sternau meinte. »Sie kommen sicher darauf, Frau Helbrecht, wenn Sie ein wenig darüber nachdenken. Zwei junge Menschen – na, ich denke, Sie wissen, was ich meine.« Er sah auf die Uhr und nickte seiner Tochter zu. »Da wir nun Klarheit geschaffen haben, können wir wieder fahren«, sagte er an die Konsulswitwe gewandt. »Alles Gute, Frau Helbrecht, ein halbes Leben liegt noch vor Ihnen«, fügte er hinzu, winkte seiner Tochter und verließ mit ihr das Haus.

Katharina Helbrecht hörte sie Sekunden später abfahren. Nachdenklich ließ sie sich in einen Sessel sinken und ließ die Geschehnisse der vergangenen zehn Tage vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Natürlich beschäftigten sich ihre Gedanken auch mit ihrer Tochter und mit dem, was Rolf von Feiern gesagt hatte. Sehr bald kam sie dahinter, was das zu bedeuten hatte. Zuerst war sie überrascht und auch ein wenig betroffen, darüber nämlich, dass ausgerechnet der Mann, der eine Zeit lang ihr Freund gewesen war, nun möglicherweise ihr Schwiegersohn werden konnte. Sonderbarerweise aber war ihr diese Vorstellung nicht einmal so unangenehm.

Der Abend hatte sich bereits über die Landschaft gesenkt, als Katharina sich endlich aus ihrem Sessel erhob – es hätte nicht viel gefehlt und sie wäre darin eingenickt – und daran ging, ihre Koffer zu packen, die sie am nächsten Tag für den Flug nach England mitnehmen wollte. Ihr Inneres hatte sich wieder halbwegs beruhigt. Sie hoffte jetzt nur, dass sie drüben in England alles das vergessen konnte, was mit ihr und Dr. Lindau zusammenhing.

An diesem Abend nahm sie sich aber vor, ihrer Tochter noch vor dem Abflug ein paar Blumen mit lieben Grüßen zukommen zu lassen.

*

Etwas furchtsam sah Alice Mangold dem Chefarzt entgegen, als der ihr Zimmer betrat. »Ist schon Visite?«, fragte sie schüchtern. »Ich habe mich noch gar nicht zurechtgemacht.«

»Aber, aber, Fräulein Mangold, Sie befinden sich doch als Patientin in einer Klinik und nicht bei einem Schönheitswettbewerb«, scherzte Dr. Lindau und griff nach der Krankentafel. »Hm, sieht ja gut aus«, sagte er. »Wenn Sie so weitermachen, können Sie in einer Woche wieder nach Hause.«

»Ja, wirklich?« Alice strahlte.

»Apropos – nach Hause«, blieb Dr. Lindau bei diesem Thema. »Ich wusste nicht, dass Sie die Tochter von Frau Helbrecht sind.«

Alice wurde verlegen. »Anfangs konnte ich das wegen meines Zustandes ja nicht sagen und …, und seit zwei Tagen schäme ich mich dafür, dass …, dass …« Sie wusste plötzlich nicht weiter.

Dr. Lindau begriff. »Sie wissen also Bescheid?«, fragte er.

»Ja, Rolf, Herr Sternau hat es mir erzählt«, gab Alice leise zurück. »Es tut mir auch leid, dass meine Mutter Ihnen so große Unannehmlichkeiten bereitet.«

Dr. Lindau war gerührt. »Vergessen Sie’s!«, entgegnete er mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen. »Ihre Mutter hat nicht das gesagt, was die Zeitung herausgebracht hat. Herr Sternau hat das missverstanden und sich selbst seinen Reim darauf gemacht.«

»Wirklich?« Alice starrte nachdenklich vor sich hin und fuhr plötzlich auf. »Na, dem werde ich etwas erzählen, wenn er kommt«, stieß sie hervor. »Wie konnte er das nur tun – Sie und auch meine Mutter derartig in Misskredit bringen?«

Dr. Lindau ging über diese Bemerkung hinweg. »Sie mögen den jungen Mann wohl, wie?«, fragte er.

»Ja«, bekannte Alice freimütig. »Aber ich werde ihn schon noch dazu bringen, dass er sich zehnmal überlegt, was er tut und was er in der Zeitung schreibt.«

»Ich glaube, dass Sie das schaffen«, gab Dr. Lindau zurück. »Er muss tatsächlich noch einiges lernen.«

»Sind Sie ihm böse, Herr Doktor?«, fragte Alice mit leiser Stimme. »Durch ihn sind Sie ja schließlich in einen schlimmen Verdacht geraten. Aber ich habe ihm gleich, als er mir davon erzählte, gesagt, dass das Unsinn ist.«

»Nett von Ihnen, dass Sie meine Partei ergriffen haben«, anerkannte Dr. Lindau.

»Weil’s doch wahr ist«, entrüstete sich Alice. »Sie und …«

»Schon gut«, unterbrach Dr. Lindau das hübsche Mädchen. Ihm lag nichts daran, dieses Thema weiter zu diskutieren.

»Werden Sie ihn anzeigen, weil er Sie in der Zeitung verleumdet hat?« Bange Erwartung spiegelte sich in Alices Augen.

»Das hängt von ihm ab«, erwiderte Dr. Lindau. »Wenn er es schafft, mich in der heutigen Ausgabe der Zeitung zu rehabilitieren und mich von dem Verdacht reinzuwaschen, dann werde ich versuchen, diese dumme Sache zu vergessen.«

»Danke, Herr Doktor, vielen Dank …« Alice sah zur Tür, durch die eben eine Schwester trat. Sie trug einen riesigen, wunderschönen, in Zellophan eingewickelten Blumenstrauß.

»Für Fräulein Alice Mangold«, sagte sie. »Wurde vor wenigen Minuten abgegeben.« Sie legte die Blumen auf die Bettdecke und entfernte sich wieder.

Alice ergriff erstaunt nach der angehefteten Karte und las sie. »Von meiner Mutter«, rief sie erfreut aus. »Sie fliegt für einige Zeit nach England.« Fragend sah sie den Chefarzt an. »Woher weiß sie überhaupt, dass ich hier in der Klinik liege? Ich habe zwar versucht, sie telefonisch zu erreichen, aber sie war nicht zu Hause.«

»Herr Sternau hat es ihr gesagt«, klärte er die Patientin auf und erzählte mit wenigen Sätzen die wesentlichen Teile der Unterhaltung in dem Bungalow am Tegernsee. »So, jetzt muss ich aber wieder weiter«, schloss er, grüßte freundlich und ging. Er wollte noch in sein Büro, um sich vor der täglichen Visite eventuelle Wartezimmerpatienten vorzunehmen.

Als er aus dem Aufzug stieg, sah er den jungen Mann an, der in diesem Augenblick von draußen in die Halle trat. Es war der Reporter Sternau.

Der hatte in diesem Moment auch den Chefarzt entdeckt und ging eiligst auf ihn zu. »Herr Dr. Lindau«, rief er und schwenkte eine Zeitung. »Ich wollte es mir nicht nehmen lassen, Ihnen die heutige Ausgabe persönlich zu bringen. Hier …« Er schlug die zweite Seite auf. »Ich hoffe, dass das in Ihrem Sinne ist«, sagte er.

Dr. Lindau las mit Spannung den fett gedruckten Artikel. Er war nicht sehr lang, aber inhaltsreich! Er enthielt nicht nur das aufrichtige Bedauern darüber, dass durch ein unseliges Missverständnis der Chefarzt der Klinik am See in einen vollkommen unbegründeten Verdacht geraten sei, sondern auch die offizielle Entschuldigung der Chefredaktion wegen dieses Fauxpas’, sowie eine sich anschließende kurze Erklärung, in der die Untadeligkeit des in der vortägigen Ausgabe zu Unrecht in einen schlimmen Verdacht geratenen Arztes hervorgehoben wurde.

»Zufrieden, Herr Doktor?«, fragte Rolf Sternau mit banger Erwartung.

»Ich akzeptiere, Herr Sternau«, erwiderte Dr. Lindau und sah den jungen Mann ernst an. »Lassen Sie sich das eine Lehre sein!«

»Werden …, werden … Sie jetzt trotzdem noch etwas gegen mich …?«

Dr. Lindau unterbrach die bange Frage Rolf Sternaus. »Für diesmal nein, ich werde nichts gegen Sie unternehmen.«

»Danke, vielen Dank, und ich verspreche Ihnen, dass es ein nächstes Mal nicht mehr geben wird.« Rolf Sternau fiel ein Stein vom Herzen. »Darf ich Sie noch etwas fragen?«, brachte er zögernd über die Lippen.

»Was wäre das?«

»Würden Sie mir erlauben, ganz kurz Alice …, ich meine Fräulein Mangold, zu besuchen?«, bat Rolf Sternau. »Besuchszeit ist zwar …«

Dr. Lindau überlegte kurz. »Einverstanden«, erwiderte er. »Zehn Minuten, dann beginne ich mit der Visite.« In seinen Augen blitzte es plötzlich auf. »Unter einer Bedingung.«

»Ja.«

»Ich möchte heute noch mindestens zehn Exemplare dieser Ausgabe haben, damit alle meine Rehabilitation lesen können«, gab er dem jungen Mann zu verstehen.

»Das geht in Ordnung, Herr Doktor«, versicherte Rolf Sternau. »Ich bringe sie persönlich gleich nach meinem Besuch bei Alice her.«

»Also dann …« Dr. Lindau nickte Rolf Sternau zu und setzte seinen Weg fort. Seine Miene war nicht mehr so finster und verdrossen wie am Vortag.

Rolf Sternau aber lief zum Aufzug und fuhr nach oben.

– ENDE –

Die Klinik am See Jubiläumsbox 4 – Arztroman

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