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Wenn das einer mitschreiben würde, dachte Dr. phil. Roman Assberger (43) am 20. März 2020 um kurz nach elf Uhr vormittags.

Vor einer Viertelstunde hatte er seinen Koffer am Robert Gabriel Mugabe International Airport aufgegeben. Er hatte die Boarding Card und seinen Reisepass dem Officer bei der Sicherheitskontrolle vorgelegt und den Ausreiseschalter passiert, wo man ihm die maximale Dauer des Visums in seinem Pass – 9. April – kurzstempelte auf heute. Nach dem Handgepäckröntgen zog er die Schuhe wieder an und steckte die Geldbörse wieder ein, packte die USB-Sticks aus der Jacke zurück in die Hosentasche und das Notebook zurück in den Rucksack, und schlenderte in Richtung Gate.

Dort entdeckte er aus dem Nichts, das vor ihm lag, einen alten Bekannten.

Assberger, der gute Mensch. Erst von Harare, dann von Sankt Augustin. Keiner wird ihn kennen und keiner wird was wissen wollen von seinem selbstlosen Gehabe. Diesem ungemein feinen Getue. Keiner wird ihn kennen wollen, den guten Menschen Assberger mit seinen altengelsgrauen Locken.

Der Coronascheiß hat in Deutschland alle ausgelaugt. Covid-19 wird, wenn es vorbei ist, das Nullthema der nächsten Jahre sein. Denn wir brauchen Abstand, sagen die einen, darunter ich.

Sie wollen wieder was totschweigen, höre ich die anderen aus der Zukunft meckern.

Wir würden nur das Überwältigende verdrängen, keifen sie: die Biologie, die Fehlbarkeit von Menschenkörper und Menschengeist. Den Eingriff in ihre Grundrechte. Die Bundesrepublik kassiere ihr Miteinander, der Staat als einvernehmlich vereinnahmender Vereinzelnder. Der Souverän, der alle isoliere und die Ausnahme auf Dauer stellen könnte.

Euren Agamben habt ihr studiert. In der Botschaft läge er ungelesen auf dem Stapel, wenn ich nicht in der Lockdownlangeweile zugegriffen hätte. Erst aus Interesse nach der Spritztour mit Chefchen, dann zunehmend widerwillig, und hopp!, zurück zu den Ungelesenen.

Ach Gottchen, euer Wohlstandsgebaren, sage ich. Es strengt an. An Zim geht das alles nicht so leicht vorbei wie an euch.

Tungamirai Zvagarisa (68) erkannte ihn sofort. Er lachte breit, ließ den Unterkiefer aufschnappen und ‚what a surprise!‘ sagen.

„Professor!“, staunte auch Assberger. Kurz zuckte ihm der Arm, doch den Handshake unterließ er, das Reiben der Flächen und Ballen aneinander. Stattdessen klopfte er sich mit der linken Faust an den Brustkorb, über dem Rucksackriemen, und deutete eine Verbeugung an.

„Für dich immer noch Tunga“, klopfte auch der Alte sich. „Soweit waren wir beim letzten Mal, oder nicht?“

„Das kostet mich einen Kaffee“. Assberger zeigte auf die Stühle neben dem Gate, zwischen Bookshop und Juwelier. „Wenn du den Augenblick Zeit hast“.

„Den sollte ich mir nehmen, Roman. Die Taucherbrillen können warten“.

Taucherbrillen, grinste Assberger. Charmant ging anders, aber so war Zvagarisa. Die Spottdrossel, die Mai Bob Poetry erfunden hatte – und ihn, Assberger, die neue Lyrik labeln ließ in den Journals für afrikanische Literaturen – mit der fiktiven Mutter Mugabe, die ihren Sohn rundmachte und den N’ganga anwies, ihm die Zunge aufzuschlitzen und Mhiripiri in die Wunde zu reiben.

Taucherbrillen! Im Niemandsland hinter dem Gate, zwischen der Kamerastation und den Immigration-Schaltern fingen sie die Eingereisten ab, reichten Formulare des Gesundheitsministeriums, forderten lippenlos zum Ausfüllen auf. Zimbabwe ist auf der Hut, sollten ihre Mundschutze, Latexhandschuhe und Brillen bedeuten. Es schützt seine Menschen vor dem Virus. Also ausfüllen, wo und wann man zuletzt mit wem, in welchem Land. Und dann kräuseln sie die Stirn, langen nach dem Stift, streichen Telefonnummern und Adressen durch, setzen das Formular neu auf. Weiter, der Nächste. Sie greifen sich auch die Kugelschreiber der Ankommenden und schmuggeln so deren kleine Fracht ins Land, ihre Daten und Fingerabdrücke, ihr Epithel, ihren kleinen Schweiß.

„Was ein Zufall“. Warum treffe ich dich ausgerechnet heute, schob Assberger hinterher. Ausgerechnet hier?

Weil ich ein Black-face-White-mask Zimbo bin, antwortete Zvagarisa mit einem Blick, der alles sagte. Assberger übersah den Blick absichtlich. Er wollte nicht aufdringlich sein und wurde belohnt mit einer einfacheren Erklärung. Als Cookie gab es die zu seinem Cappuccino, den die Kellnerin vor ihm abstellte und gleich abkassierte.

„Weil es Zeit wurde“, sagte Zvagarisa. „Nicht wegen des Virus“. Nicht nur deswegen, meinte er. Es sei eine reine Vorsichtsmaßnahme, dass er zurückgekommen sei. Das und der Wunsch seiner Mutter.

Der Kontrast zwischen der Wirklichkeit am 20. März und seinen Mutter-von-Mugabe-Gedichten fällt Assberger auf.

„Vorsichtsmaßnahme?“

Noch klang es nicht nach einer Rücksichtslosmaßnahme, was Zvagarisas Familie von ihm verlangte. Doch verrechnet mit dem, was in den Landsleutebriefen stand, die Assberger aus der Botschaft erhielt, war ihre Begegnung außerordentlich. War dieser Augenblick ein besonderer, den das Futur II regierte und über den es seine zukünftig rückblickende Käseglocke stülpte, das ‚es wird das letzte Mal gewesen sein‘? Zum letzten Mal traf einer aus dem europäischen Epizentrum der Pandemie ein in einem Land, das noch keine Fälle vorwies. In dem die Uni und die Mount Pleasant School aufhatten, mit ganz normalem Campusbetrieb tagsüber, ehe Zebrakiss und die gesegneten Kleinbusse die auswärtigen Studierenden in die Vororte fuhren, und ganz normalem Abtrieb der Schüler in braunen Uniformen nachmittags um halb vier. In dem das Leben durch Mbare pulste, die Autoschlangen vor den Tankstellen unendlich waren wie immer, und nur der Spar in Groombridge die Kunden aufforderte, vor Betreten des Ladens die Spender mit Desinfektionsflüssigkeit zu nutzen.

„Sie verlangen einiges von mir“. Um einen Tick zu Assberger verschoben, beschäftigten Zvagarisa die gleichen Gedanken. „Kann ich dagegen an?” Die grauweißen Bartstoppeln umspielten ein gequältes Lächeln. „The call of Shonadom. Der Ruf von Familie und Wildnis”, spottete er. „Sinnlos, sich dem zu widersetzen. Neunzig ist meine Mutter. That settles it. Und du?“

Ich? Habe mich auch nicht wiedersetzt, dachte Assberger. „Ich habe es auch nicht versucht“, sagte er. Neue Passagiere trudelten ein, die mit ihm auf ET 863 nach Addis Abeba gebucht waren. Sie nahmen auf den freien Stühlen Platz, orderten auch Kaffee, dazu Sandwiches. Assbergers Gegenüber schien das zu amüsieren: das und die Umkehrung des Gebots vom Last Call, den er provozierte, um den Flughafen über den Eingang zu verlassen. Last call for passenger Tungamirai Zvagarisa to proceed to the mugshot stop, then to virus registration, immigration desk and custom office.

„Du redest in Zungen”, hörte Assberger ihn sprechen. Zvagarisa hielt die Tasse mit beiden Händen gegriffen, befingerte sie, führte sie an den Mund. Das Spiel mit Situationen und den passenden Worten ist mein Turf, sagte sein Blick, nicht deiner. „Du reist aus, weil du warum eingereist warst?“

„Ich war bei Mufato“. Assberger sah ihm in die Augen. „Bei ihm und ein paar anderen, Chikere von Englisch und der German Section“.

„Bei Chikere? Einfach so?“

„Auf Gastdozentur“.

„Um diese Zeit?“

Hätte ich das absehen können?, wollte Assberger entgegnen, besann sich aber. Um diese Zeit, mit dem Virus als Bedrohung im Gepäck, flog schließlich auch Zvagarisa durch die Welt, die Frage konnte er so nicht gemeint haben.

„Es ging nur jetzt“, antwortete er stattdessen. „Im deutschen Vorlesungsfrei, während hier Semester ist. Eine kurze Kurzzeitdozentur, schmale drei Wochen, die vorgestern nochmal kürzer gemacht wurde“.

„Du musst raus, willst aber nicht?“

Assberger dachte an die Zynikerin in der Botschaft, die ihm die Landsleutebriefe ins Postfach stopfte und am Dienstag beim Lunch klargemacht hatte, was er in den nächsten Stunden zu tun hatte. Zehn Intensivbetten für das gesamte Land, vierzehn Millionen Einwohner. Internationale Krankenhäuser: Fehlanzeige. Den Rettungsflug bezahlen Sie selbst. Nur dass keiner hierher, um Sie. Denn über Johannesburg ist zu. Der Landweg über Beitbridge? Noch offen, aber. Wenn Sie mich fragen – Sie fragen mich das gerade, oder? – solange Sie noch können, besorgen Sie sich ein Ticket.

„So sieht das aus. Ich muss wollen, und will es eigentlich nicht. Selbst mit Mufato war es angenehm“. Assberger zwirbelte sich eine graue Locke aus der Stirn, affektiert wie Mufato mit seinen Dreadlocks über Schlips und Kragen und einem schwarzen Jackett. Zvagarisa verstand die Anspielung und lächelte müde. „Er macht jetzt auch in contagious Zimlit“.

„Ist nicht wahr!“ Zvagarisa winkte ab. Er und Mufato, eine unendliche Geschichte über zwei Literaturleben, in denen der eine den anderen im falschen wähnte, und sich selbst im richtigen. Texter versus Textexeget. Professor honoris causa gegen Ordinarius. Fast siebzig und nicht mal promoviert gegen Mitte Vierzig und ohne ein einziges Gedicht, eine einzige Shortstory, ohne sich ein einziges Mal als Sarungano versucht zu haben.

„Ich habe ihn rumgekriegt, wir wollten Gunther Geltinger ins Shona übersetzen. Kennst du Geltinger? Und kaNhuta mit den Kleinen aus der Deutschabteilung“. Und oral history machen zu Gukurahundi, die Zeugnisse endlich aufzeichnen und übersetzen ins Englische. Oder für Afrika Wunderhorn, wenn Indra mitspielt. Und und und.

„In Soltau habe ich reingelesen“. Zvagarisa schüttelte sich, wollte weg vom Thema Mufato. „Viel Glück bei der Verlagssuche“. Schwul in Zim und Necklacing mit Benzin in alten Autoreifen „Das wird nicht einfach. Und was ist kaNhuta?“

„Der kleine Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat“.

„Auch noch Koprophilie?“ Er wurde heiter. „Wird ja immer besser“.

„Ein Kinderbuch. Was war in Soltau?“

„Ein Writer‘s Retreat“. Künstlerwohnung im Dachgeschoss, idyllisch über einem Flüsschen in einer alten Mühle. „Vor fünf Tagen angetreten“, aus Bayreuth eingesprungen für ein Schweizer Künstlerehepaar auf Coronaflucht, „und eigentlich bis April gebucht“.

Assberger nickte und zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht hast du Recht“, sagte er. „Vielleicht hätten wir weniger auf contagious Germlit setzen sollen“.

„Die es sowieso nicht gibt“, lachte Zvagarisa. „Die Keime wachsen von Afrika nach Deutschland, heißt es in den Schriften des Weisen Tungamirai. Umgekehrt steckt es nicht an“.

Umgekehrt war man immun, sollte das heißen. 1980, nach anderthalb Jahrhunderten war Schluss mit dem Drill auf Europa und seiner Definitionshoheit darüber, was Sprache Schönes konnte, Gutes zustande brachte, Wahres fabrizierte. Tungamirai Zvagarisa, damals ein Twen, war aufgestanden, rebellierte in Harare, schrieb zurück und gegen an. Er folgte einer Einladung nach Bremen und dichtete aus dem unmöglichen Dort weiter. Probierte es auch gegen das Bremendort und entwarf ein mögliches Nichtzim, eines, das man sich fangen könne wie einen Schnupfen. Kam zu hängen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Unausgeglichen, schrieb er sich den Groll von der Seele als Artist in Residence und fremdelte mit dem einzig falschen Ort. Nach einem halben Jahr war er down and out am Ostertor, ein hansestädtischer Dambudzo Marechera.

Nur dass er überlebte. Dass er Menschen an sich heranließ und den Gastgeber und die Universität am Stadtrand, mitten ins Feld gebaut wie ein Dorf aus hartem Lehm und mit entschieden zu wenig Strohdächern. Keinem einzigen Strohdach, um genau zu sein, „Not a Single One“ gewann ihm einen kleinen Literaturpreis, den er mit grimmiger Miene entgegennahm und dann doch den weiten Kiefer öffnete, um zu lächeln.

Halbwegs versöhnt, kehrte er nach Harare zurück, in das mögliche Zim, das gerade dabei war, seine Potentiale zu verschleudern. Zvagarisa rebellierte erneut, trennte seine Sprache von der Mugabes, das Geschriebene von der Korruption, das Gesagte von den kriminellen Eliten und ihren Komplizen im Ausland. Mai Bob Poetry entstand und andere Interventionen, die den Rohstoff Sprache und seine Schöpfer, die Geschichten und ihre Erzähler kostbar, knapp und rein halten sollten. Gehört wurde er damit nicht im eigenen Land, wie auch? Dafür vernahm man ihn über ein, zwei Sommer hinweg in Südafrika, wo sein Ansatz entdeckt wurde als Mittler zwischen den Kulturfunktionären des ANC, die seit 1994 nur noch die Wahrheit sprechen lassen wollten in den Theatern und TV-Stationen, und den Pan-Afrikanisten, denen die neue Wahrheit nicht traditionell genug erschien, not indigenous enough.

Zvagarisa steckte die Eliten des großen Nachbarn an, hielt Assberger in seiner Dissertation fest. Contagious Zimlit war geboren, das Schlagwort eines Afrikanisten, das nötig war, um ihn auch in Deutschland ins Gespräch zu bringen. Wieder ins Gespräch. BIGSAS in Bayreuth und Bremen buhlten um ihn, sie boten ihm Senior Fellowships an, und er nahm sie beide, zuerst das in Bremen.

In Lusaka machten sich Tatortreiniger über die Flugzeugkabine her. So kam es Assberger vor, der von dem Zwischenstopp überrascht wurde. Mit kleinen Staubsaugern, Plastikmüllbeuteln und frischen Kopfkissenbezügen, Desinfektionsspray und grellgelben Warnwesten kämmte sich der Trupp durch die Sitzreihen und putzte den letzten Rest Zimbabwe aus den Polstern, ehe die Reihen sich wieder füllten und jeder Platz neu besetzt wurde von nordwärts Flüchtenden, die über Addis den Kontinent verließen.

Nur er und der Rapper, eine afrikanische Celebrity mit dickem Predigerkreuz um den Hals, den er nicht kannte, waren durchgebucht nach Äthiopien. Assberger nutzte das ungesicherte WLAN am Boden, um in die Mails zu gehen.

‚Bob‘s white Thimble‘, las er im Betreff und öffnete die Nachricht. Ein Foto vom Flughafentower in Harare, etwas unscharf und geschossen von Zvagarisa, als der durch die Checks war und das Gebäude verlassen hatte. Assberger erkannte die Anspielung, die blütenweiße Haube auf einem umgestülpten Becher aus Zement. Der Tower sah tatsächlich aus wie ein Fingerhut, mit dem man Dinge zusammenflickt, ohne sich die Nadel ins Fleisch zu jagen. Ein Land, ein Jackett aus buntem Stoff für die Party Rallies, eine Fahne oder notdürftig eine Koalition.

‚What a surprise! Mein Freund, komm gut an deine destination (dein destiny). Bleib gesund, and let us keep in touch. Ich bin on my way und leiste mir ein cab nach Mazowe. Last European luxury. Last flamboyance before I shed off the skin and tune to simple Shona Alltag. Another hug – Yours Tunga‘.

Mazowe. In Assberger kitzelte etwas, unangenehm elektrisch, wie eine schlechte Vorahnung, geboren aus einer Erinnerung. Vor fünf Tagen hatte er mit dem Mountain Club of Zimbabwe den Iron Mask Range bestiegen und eine atemberaubende Sicht auf die drei Mazowes genossen, das Dorf, den Fluss und den Stausee hinter dem Damm. Vor fünf Tagen, als Zvagarisa den Retreat in Soltau antrat. Jetzt hatten sie beide die Seiten gewechselt, tauschten die Plätze. Er wird in diesem Moment an seinem ankommen, und wer weiß wie lange bleiben.

Wohnt Mai Tungamirai in einer der strohgedeckten Hütten südlich der Hügelkette, die von oben putzig aussahen, wie Spielzeugfarmhäuschen? Zieht Zvagarisa dort ein, macht sich in ihrer Enge breit? Oder lebt die Mutter geräumiger im Dorf an der A 11, hinter der ausgepumpten Tankstelle, neben den Waisenhäusern der mildtätigen Heiligen Grace aus dem Buch Zim, vorletztes Kapitel?

Wie findet er sich zurecht? Und: ja, sie hatten sich umarmt beim Abschied, über den geleerten Cappuccinotassen. Erst die zweite Umarmung war virtuell und definitiv keimfrei, another hug.

Addis war die Hölle, eine Coronaparty der besonderen Art. Eine für das Virus selbst. Rastafarifarbene Jets entließen Tausende über Nabelschnüre aus Stahl in den Transitbereich und nuckelten sie eine Infektionszeit später über dieselben Gangways wieder ein. Für den Sicherheitsabstand, auf den er in den kommenden Tagen geeicht wurde, hätte man den Rest der Stadt gebraucht, ein Freilandterminal für Reisende, die nur weiter wollten. Assberger war froh, schlechtgewissenhaft froh über die OP-Maske, die ihm der Ehemann der Head of German beim Abschied in Harare zugesteckt hatte. Die Frankfurter Schlange kam auf hundertfünfzig Meter, dreimal fünfzig eng nebeneinander vor dem Gate. An den nächsten Schaltern fertigte Ethiopian Beijing und Tokyo-Narita ab, die Passagiere sahen aus wie Lackierer oder Forensiker, alle trugen weiße Einwegoveralls. In der Frankfurter Schlange hatte nur jeder dritte einen Mundschutz, und jeder zweite davon hatte ihn auf.

Und dann schlug der Tag um. Die ersten vier Stunden des 21. März verschlief Assberger vor einem stockdunklen Waschmaschinenauge am Notausstieg. Bei der Passkontrolle am Boden begegnete ihm zum ersten Mal der Anderthalbmeter, als Streifen klebte das Maß gelbschwarzgelb auf dem Fußboden. Am Ticketautomat im leeren Fernbahnhof zog er sich die Fahrkarte, der ICE leistete sich eine Bummelfahrt nach Köln Hauptbahnhof, in der Nacht zuvor hatte jemand an den Gleisschrauben gefummelt, ein Attentat zur falschen Zeit. Das Virus duldete nichts und niemanden mehr neben sich.

+++ Ein 38jähriger ‚Caucasian Man‘, verlautbart Obadiah Moyo, amtierender Minister of Health, kehrt am 15. März von einem Besuch in Großbritannien zurück in sein Domizil an den Vic Falls. Am 20. März, während Assberger im Flieger sitzt und Zvagarisas Schwestern, ein Schwager und seine Nichte Yemurai mit zwei Neffen und den Enkelkindern zusammenkommen, um ihn willkommen zu heißen, ein Bira zu Ehren seines verstorbenen Vaters zu veranstalten und ein Zicklein zu schlachten, wird der weiße Mann positiv getestet. Zimbabwe hat seinen ersten offiziellen Coronafall +++

+++ 21. März. Im Wilkins Hospital in Harare wird ein junger Mann positiv getestet und umgehend in Quarantäne genommen. Der zimbabwische Staatsbürger war am 9. März aus New York City eingereist. „Thirty-year-old Zororo Makamba was ‚alone and scared‘, according to his older brother” (Shinai Nyoka, BBC News Harare) +++

+++ 21. März, 21 Uhr, Applaus aus offenen Fenstern in den Städten in Deutschland. ‚Alles wird gut‘, schreiben, malen und heften Kinder an die Glasscheiben zur Straße hin. Morgen, am 22. März, begibt sich die Bundeskanzlerin in Quarantäne. Ein Arzt, der ihr eine Impfung verabreicht hatte, erwies sich als infiziert; ein erster, zweiter und am 30. März auch dritter Test fallen negativ aus. Angela Merkel hat nichts, geht aber auf Nummer Sicher und spielt die Rolle des Vorbilds. Roman Assberger geht nachmittags lange alleine spazieren. Er hat ausgeschlafen und ist ohnehin Single, zweieinhalb Stunden bei blauem Himmel, Sonnenschein und kaltem, strammem Wind regen ihn an. Abends setzt er sich an den Tätigkeitsbericht für den Förderer seiner Kurzzeitdozentur, den Deutschen Akademischen Austauschdienst. In Nordrhein-Westfalen wird eine Kontakt-, aber keine volle Ausgangssperre verhängt +++

+++ 23. März. Assbergers neunzehnjährige Tochter zeigt sämtliche Symptome inklusive Atembeschwerden in der Nacht. In Assbergers Haus lebt sie in einer kleinen Wohnung, eigener Wasserhahn, separater Eingang, und erhält von ihrem Hausarzt ein Test Kit. Große Ausnahme, meint der Mediziner. Assberger selbst nimmt ihr den Abstrich, er trägt die Atemschutzmaske aus Zimbabwe, während Zvagarisa in das Rostrot eines reifen Morgens tritt, halb elf ist es, und die Wäsche von der Leine nimmt. Wenigstens das lässt er sich nicht nehmen, es sind schließlich seine T-Shirts und Unterhemden, Socken und Shorts, die seine Mutter eine Nacht lang eingeweicht und klopfsauber gewaschen hat (‚hapana anoramba‘, keine Widerrede). Zororo Makamba stirbt, und wird zum ersten Covid-19-Todesopfer in Zimbabwe. Makamba ist nicht irgendwer, sondern ein Broadcaster, dessen State of the Nation-Clips auf Youtube seit Jahren steil gehen. Makamba tritt (trat) in den Clips mit der Raute vor seine Follower, Daumen an Daumen und Zeigefingerspitze an Zeigefingerspitze. Dass dies eine Brücke zur deutschen Kanzlerin in ihrer Quarantäne schlägt, fällt nur Assberger auf +++

Lieber Tunga, schreibt Assberger dienstags, das Ding nimmt uns in Einzelhaft. Selbst mir geht Homeoffice nach drei Tagen auf den Sender, und ich bin wie die meisten anderen Nichtsnützigkeitswissenschaftler, die ich kenne (wie vermutlich auch du), sehr gerne ein Schreibtischtäter. Die Unis in Deutschland haben zu, meine stellt hektisch um auf Online-Lehre mit Präsenzzeit, aber ohne –ort. Die Hörsäle werden auch nach Ostern, wenn die Vorlesungen wieder losgehen, leer bleiben. Skype boomt, aber der heißeste Scheiß ist Zoom, die Hochschulen kaufen Lizenzen wie bei euch die Leute Airtime und bei uns Klopapier und Nudeln.

Du kennst den Campus bei euch oben in Mount Pleasant, die Hörsäle und die Bibliothek, das Stadion und die Tennisplätze, den Basketballcourt, die Unikapelle, Crop Sciences und das Confuzius Institute, die Studentenwohnheime, Gästehäuser, die weiten Wege und die Trampelpfade. Die Hochschulkatzen, das trockene Gras. Sich dort zu bewegen, zu grüßen, das Wimmeln von tausend Studierenden, das Geplausch und Geplapper, die offenen Horizonte, der Small Talk, das Lächeln und Lachen und das Einladende. You know what I mean. Meine letzte Runde über den Campus, spätnachmittags in den Sonnenuntergang, ist vier Tage her. Ich muss mir die Gedanken daran verbieten, sonst kommen die Phantomschmerzen. Denn die amputieren uns hier. Wir haben Kontaktsperre, dürfen nur zu zweit raus (ich alleine). Sie isolieren und rationieren und rationalisieren das Rationieren und Isolieren. Nicht dass ich Berührungen begehre ohne Latexhandschuhe und Mundschutz, aber die Möglichkeit … stattdessen der harte Anderthalbmeter.

Du tust einem wirklich leid, schrieb Zvagarisa abends zurück. Seine Antwort hatte eine harte Kante. Really, I pity you. Wann kommt das Ergebnis für dein Kind?

Ich wünschte, ich hätte auch eins, stand ungeschrieben dahinter. Dann wäre ich nicht alleine (anders alleine als Roman), wäre nicht das einzige Kind weit und breit, hauptamtlich und in Vollzeit unter dem Rockschoß meiner alten Mutter. Morgens Weißbrot, abends Sadza, nachmittags schiebt sie sich mit einer ausgeblichenen Jutetasche der Universität Bayreuth und einer Harke in den Pferch und gräbt Zwiebelknollen aus. Kaffee trinkt sie für ihr Leben gern, italienischen Espresso aus der Caffeteria am liebsten, und Kaffeetrinken heißt immer auch: reden. Man hört nichts Gutes aus Europa, sagt sie und will, dass ich ihr Rede und Antwort stehe. Wie viele Deutsche hat es hingerafft? Muchinguri sagt, es sei das Werk Gottes, punishing those that imposed sanctions on us. Nicht, dass man den Worten einer Verteidigungsministerin einfach so glauben sollte. Aber dennoch, warum so viele? Du verstehst, warum deine Schwestern sich Sorgen gemacht haben, Mwanangu. Es ist gut, dass du jetzt hier bist. In deinem Retreat warst du wirklich für dich allein? Und das Bett war wirklich frisch bezogen? Du hättest die Laken in Jik einweichen sollen. Ich habe mir eine Karte von Deutschland zeigen lassen von deiner Schwester Rundizai, mein Gott. So viele Meilen, Mai Tunga schlägt die Hände über dem Kopf zusammen, von hier nach da und Frankfurt Airport. Du bleibst erst mal hier, wo du bist, bei mir.

Zvagarisa hörte es sich ohne Widerworte an, griente und ärgerte sich im nächsten Moment darüber, als er merkte, dass er selbst fast Siebzig war. Nicht nur ihr Erstgeborener, der sich ans Papier verschrieben hatte und dem keine Frau schmackhaft zu machen war, sondern selber heute achtundsechzig Jahre und vierzig Tage alt. Gogo, ich bitte dich!

Am Mittwoch danach nahm er es sich heraus, Mazowe für einen Abend gegen die Stadt einzutauschen, mit lauwarmer Erlaubnis der Alten. In der Gallery Delta traf sich ‚tout Salisbury‘, wie er französelnd meckerte und sich von einer Zimlit Celebrity seiner Generation mit dem Auto abholen ließ, vielleicht Chikere oder Chinodya, vielleicht – eher – jemand anderes. Vierzig Kilometer und eine Welt lagen zwischen der Hütte der Mutter und dem improvisierten Bohei zwischen den Avenues und Eastlea North.

Die Ausstellung junger Künstler, irgendwas mit Artists und Stream X, interessierte niemanden und keiner merkte sich den genauen Titel. Die Bilder und Graphiken und Skulpturen waren Kulisse für eine Bottle- und Belagerungsparty, das witterte Zvagarisa schnell und ließ sich trotzdem fallen. Das Virus war der Belagernde, obwohl es offiziell noch gar nicht Stellung bezogen hatte, und der Garten der Galerie war eine Interzone, in der sich auswärtige Sekretärinnen und Attachés und Botschafter mixten mit den V.I.P.s von Harare.

„Ausgerechnet Zororo Makamba macht den Auftakt“, sprach Chikere oder ein anderer Zimliterat im Halbkreis über einem Glas Sliwowitz.

„Wer weiß, wozu es gut ist“, antwortete der serbische Zahnarzt, Honorarkonsul der Republik Österreich, und schenkte nach. „Promis geben der Krankheit Credibility“. Machen sie zur ernsten Sache für ihre Follower, die leichtsinnige Jugend.

„Aus gut unterrichteten Kreisen“, nickte der britische Kulturattaché und feixte, „wissen wir hier schon heute, was morgen die Royals bekanntgeben werden. Prinz Charles hat es auch“.

„Und wem bringt der was für die Credibility von Covid-19?“, fragte die schlanke Deutsche aus der EU Delegation, ein raspelkurzer Blondschopf mit List im Blick.

Zvagarisa knabberte sich durch eine Handvoll Cracker. Eine Antwort nach seinem Geschmack war das. Er äugelte dem Begleiter der Deutschen zu, einem hochgewachsenen, alterslosen Shona, und bekam ein Zwinkern und Lippenzucken als Wechselgeld.

„Den Evangelikalen hier im Land“, meinte der Anästhesist aus der Newlands Clinic. „Der ZANU/PF. Es ist Gottes Zorn, glaubt es endlich“.

Der Serbe schenkte auch ihm und dem japanischen Botschafter nach. Was seid ihr Schwarzen für Spottdrosseln, dachte er oder ließ es beschwipst fallen. Eine andere Deutsche, Gesandte des Gesandten aus Berlin, schwieg und sprach nur mit den Augen. Sie musterte die Runde.

„Dem Tunga hier“, lallte Chikere oder ein Kollege, „dem bedeutet Charlies Corona was. Hab ich Recht, alter Knabe? Der Henkeltopf ist in deinem Alter, und seine Mom wird sich Sorgen machen. So wie die Queen von Maschonaland Central um dich“.

Zvagarisa quälte sich ein Lächeln ab. Das müsse er der Runde erklären, meinte die Hübsche von der EU. Die Queen von Mashonaland Central? Und war er nicht Senior Fellow in Deutschland? Warum war er dann hier?

„Ich weiß nicht, ob wir was tun können, Sekuru“. Der Anästhesist nahm Zvagarisa beiseite, als der durch war mit seinen spärlichen Erklärungen, den Sorgen auch seiner alten Mutter und der Windsors von Mazowe. Die anderen drifteten ab, hechelten durch, was der Belagerer tagsüber sonst noch angerichtet hatte: der Japaner erklärte sich zur Absage der Olympischen Spiele, die Blonde klagte über Viktor Orbán und alle über das ‚Wuhan Virus‘, wie Donald Trump es ab sofort genannt wissen wollte.

Die Deutsche schwieg und beobachtete, auch der alterslose Mann hörte genau zu.

„Ich weiß es zu schätzen“, antwortete Zvagarisa dem jungen Arzt.

„Noch leben wir im Lande Konjunktiv“. Der Arzt fand nicht heraus aus seinen Gedanken. „Das Biest ist noch nicht da, aber wenn es aus dem Sumpf steigt …“

„Dann wünsche ich Ihnen ein gutes Händchen bei der Triage“. Zvagarisa fischte eine Visitenkarte aus dem Jackett. „Wenn ich irgendetwas tun kann, lassen Sie es mich wissen, Doktor“.

Und das wurde missverstanden, diese Geste. Zvagarisa ist aber auch ein Idiot, sowas macht man diskret und nicht vor so vielen Umstehenden.

In Zim gibt es sie noch, die Umstehenden, die auf Tuchfühlung und Horchposten gehen. Immerhin. Physical Distancing: Fehlanzeige. Manchmal imponiert mir dieses Land, seine Regenten tun aus lauter Unfähigkeit das Richtige, nämlich nichts. Ihnen gehen als Beifang mittelgroße Fische wie der Motzer Zvagarisa ins Netz.

Keine Frage, auch hier würde niemand widersprechen, wenn der Souverän sein Völkchen vereinzelte. Wenn er die Leute in die Isolation zwänge, auf anderthalb Meter Abstand voneinander hielte. Dem Ausnahmezustand widersetzte sich hier niemand der Ausgenommenen, sie sind es nicht anders gewohnt. Ein über vierzig Jahre geduldig herangezüchtetes Paradies, ein schönes Agambenland ist Zimbabwe.

Und daheim im Reich, zur selben Zeit, am 24. März? Da gaben die Experten ihren Senf zu allen und allem, Zeit genug hatten sie dafür, freigesetzt wie sie waren. ‚Kontaktsperre könnte rechtswidrig sein‘, ach was! Interview mit einer Juristin im Linksblatt aus Frankfurt. Das aus München berichtete Drolliges über Corona Challenger, die Handläufe und Geländer ablecken. In Polizei-Tweets sind sie einhundertvierzig Zeichen lang berühmt, ehe die Handschellen klicken. Junge spuckten alte Menschen auf der Straße an. Die Nerven von Caravanern in Marokko lagen blank, weil Spanien die Grenze zumacht. Verstörend das fehlende Livepublikum, der fehlende Applaus nach der Pointe und dem gut gesetzten Stich in den Talkshows. Lanz lanzt im leeren Studio, Welke albert vor dem Hausmeister und der Praktikantin. In Zeiten der Not müssen sie Vorbild sein, führen den Verlust der Sinnlichkeit des Hörens vor. Die rabiate Anstalt, Uphoff und von Wagner, sonst wahrlich nicht mein Ding, nahm das Vorbild vorbildlich auf die Schippe. Nur der Himmel ist noch Grenze, the limit is the skype.

Vom Kopf her war Deutschland im Ausnahmezustand. So unnötig.

Das Virus war ein auf die Schnelle sichtbar gemachtes, in den Fokus gerücktes und aufgeblasenes, manifestes. Aber auch eines, das nicht schlimmer war als eine Grippe. Epidemien und Pandemien kommen und gehen, und wir bleiben. So wie wir Eyjafjallajökur überstanden haben, Goldman-Sachs, Madruff und HIV oder Ebola hier unten, und was weiß ich noch. Der Unterschied zur Grippe ist der mediale Reachout, die Coverage, die den politischen Reachout triggerte und die Heinis daheim erfasst hatte, und zwar allesamt. Da könnte ich kotzen, das verstehe ich nicht. Alle blubbern sie was vom Schritt, der nun erforderlich wird. Ich bin eine anstudierte Politologin und keine Sprachwissenschaftlerin, aber man beachte das Passiv, ‚der Schritt, der wird‘.

Das Virus wartet auf das Ende der Knappheit an Antworten auf seine Bekämpfung. Es nutzt den Mangelwarenstatus aus, wie Klopapier. Sobald dem Mangel wirkungsvoll begegnet werden kann (durch einen Wirkstoff aus den Laboren, in denen fieberhaft und in Konkurrenz zueinander geforscht wird um den Grand Prix des ersten Patents), stellt es sich ins Glied. Es gibt nach, es gibt auf. Jede Wette.

Währenddessen und gleich danach

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