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Römisch eins. Ankunft

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Die Männer sind jetzt fünfzig, sechzig Meter hinter ihm. Alles was es bedarf ist ein Schuss, der die Stille zerbricht.

Josef saß weiter hinten, sein Blick folgte unaufmerksam der Landschaft, die an ihm vorbeizog. Der Bus fuhr qualvoll langsam durch die Biegungen der Straße. Kleine Dörfer und karstige Bauernhöfe unterbrachen die Getreide- und Maisfelder, ab und zu ein Waldstück, welches sich schamhaft auszubreiten versuchte. Wenige Autos, überhaupt wenig Verkehr, kaum Leute unterwegs, die Dörfer zu meist halbe Ruinenstädte, niedergebrannnte, aufgegebene Häuserzeilen, die an eine fröhlichere Zeit erinnerten. Das einzig Schöne war die Sonne, sie brannte schon Tage lang erbarmungslos hernieder. Josef hatte etwas Farbe bekommen. Der Bus war nicht gut gefüllt, ein paar Leute bloß, eine Frau mit einem Neugeborenen, ein paar Männer und vor ihm eine kleine Familie. Die zwei Töchter teilten sich einen Platz, obwohl es genug freie Plätze gab, daneben als Aufsicht die Mutter, und der Vater über den Gang ihr gegenüber. Die beiden Mädchen hatten sich zu ihm umgedreht und versteckten ihre Köpfe hinter der Lehne. Verrückt, sagten sie, wenn sie ihre Köpfe hervortaten, immer abwechselnd, einmal die eine, verrückt, dann die andere, verrückt, dann lachten sie und begannen von vorn. Die Mutter hatte versucht sie zu beruhigen, aber es war ihr nicht gelungen, sie hatte aufgegeben. Sie hatte Josef gebeten nicht darauf einzugehen, dann würden sie schon nachlassen, so die Mutter. Verrückt, verrückt, Lachen. Und dieses Verrückt hatte sich in Josefs Kopf gebohrt. Und er war ja auch verrückt. Warum fuhr er mit diesem Bus? Warum war er nicht geflogen, von Hamburg nach Berlin. Vierundfünzig Minuten höchstens? Statt dessen fuhr er mit dem ?erlandbus, der etliche Male hielt, Leute stiegen aus, stiegen ein. Die Reise dauerte zwei Tage durch Mecklenburg und Brandenburg hindurch. Mecklenburg, seine Freunde hatten den Kopf geschüttelt, ob er verrückt sei? Ja, er war verrückt, wer fuhr schon durch Mecklenburg? Aber er hatte Angst gehabt, deutlich mehr Angst als ihm die Unruhen in Mecklenburg anhaben konnten. Marie war Schuld. Er möge sie besuchen, so hatte sie gesagt, und er war los gefahren, allerdings hatte er die längst mögliche Reiseroute gewählt. Zwei Tage Aufschub, so hatte er gedacht. Verrückt. Er wusste er würde dieser Frau verfallen, er wusste, er würde Marie heiraten, obwohl sie nichts gemein hatten, obwohl diese Ehe nie gut enden konnte, er würde sie heiraten, einfach weil es möglich war, wenn sie es wollte. Kinder wollte sie, eine Familie, einen Hund. Ein Hund, das erschien Josef als wirklich verrückt. Ein Hund war wie ein Kind, das nie erwachsen wird. Diktatoren wünschen ein Wesen über das man herrschen konnte. Aber Marie sah das anders, ein Hund, so sie, sei eine Aufgabe, ein Sinn im Leben, etwas das es zu erledigen gilt, ein Lebenwesen, da könne man nicht aufgeben, nur weil man mal müde oder lustlos sei. Ein Hund eine charakterbildende Maßnahme. Diktatorenträume, so Josef. Aber sie würde ihren Hund bekommen. Josef wusste, das er keine Kraft hatte, nein zu sagen. Ihre wippenden Brüste, ihre klirrenden Armreifen, ihr Schmollmund. Sie würde ihn zugrunde richten, vernichten. Aber er wünschte sich das, nichts mehr als das, ihre Hand zu halten, während sie redete - worüber auch immer - und an ihren Haaren zu riechen. Das war Glück, das konnte Glück sein. Sie waren schon Stunden lang unterwegs, zuerst war es noch schnell gegangen von Hamburg aus, auf neuem guten Straßenbelag, aber jetzt versackte die Geschwindigkeit in der Hinfälligkeit des Asphalts. Immer wieder musste der Bus stark abbremsen, immer wieder gab es ein Schlagloch oder ein Bächlein zu durchqueren. Es hatte schon Wochen lang nicht mehr geregnet, ansonsten wären es wohl noch mehr Pfützen und Sturzbäche gewesen, die es zu durchqueren galt. Verrückt, sagte das eine kleine Mädchen, versteckte sogleich wieder ihren Kopf hinten den Lehnen, verrückt, so das andere, auch deren Kopf verschwand sogleich daraufhin wieder und dann Lachen. Nur noch eins Komma fünf Tage dachte Josef, irgendwann werden sie schon einschlafen. Wiedermal wurde der Bus langsamer. Josef sah aus dem Fenster, ein Militärposten am Rande der Straße, vorne vor dem Bus nur ein Soldat mit einem Stoppschild in den Händen. Gelangweilt sahen die Soldaten den Bus halten, sie rechneten nicht damit das er weiterfuhr, das er ihre so zu nennende Straßensperre durchbrach. Der Busfahrer stoppte vollständig und öffnete stöhnend die Tür, die sich schnaufend aufschob. Ein Soldat trat herein und winkte die Insassen heraus. Der Busfahrer selbst als erster herausgetreten, öffnete die Türen des Stauraums unter der Kabine. Die ersten holten, so als wüssten sie, was zu tun sei, ihre Koffer und Kartons aus dem Verschlag und stellten sie auf die Straße, öffneten sie und holten ihre Papiere hervor. Josef verfuhr ebenso, obwohl es für ihn neu war, er hatte zum ersten Mal im Leben eine Militärsperre betreten. Er reckte seinen Ausweis in die Höhe, wartend. Der Busfahrer öffnete unterdessen auch die Motorhaube und ein Soldat durchsuchte den Motorraum nach Waffen oder ähnlichem. Die anderen Soldaten prüften nun die Reisenden, nur zwei blieben hinten in einem kleinen Häuschen stehen, ihre Sturmgewehre locker in den Händen haltend, den Gurt über den Rücken oder eigentlich dem Hals gespannt, in Erwartung, so schien es. Die kleinen Mädchen schwiegen jetzt, sie sagten nichts, versteckten sich hinter den Beinen ihres Vaters. Verrückt, hätte Josef jetzt gerne gesagt, aber er ließ es. Die Soldaten fanden nichts, ein jeder durfte seine Koffer beziehungsweise Kartons wieder verschließen und zurück in den Bus packen, dann setzten sie sich wieder hinein. Auch der Busfahrer schloß den Motorraum wieder und setzte sich auf seinen Sitz. Manche der Leute wurden gefilzt, und Josef erschloss es sich nicht, warum der eine durchsucht wurde und der andere nicht. Er selbst schien für die Soldaten vollständig uninteressant. Hamburg, sagten sie als sie seinen Ausweis sahen. Hamburg, dann noch einmal. Der Soldat gab ihm den Ausweis zurück und fragte, was er hier wolle? Nach Berlin, antwortete Josef wahrheitsgemäß, aber den Soldaten interessierte das nicht wirklich, er sagte, er könne den Koffer wieder einpacken, obwohl er ihn nicht durchsucht hatte. Er gehörte hier nicht her, das merkte Josef nun deutlich. Er setzte sich zurück in den Bus. die Mädchen waren auch wieder da, aber sie schwiegen, sahen verängstigt aus dem Fenster. Der Bus ruckte kurz, fuhr wieder an, obwohl sich noch nicht alle wieder gesetzt hatten. Die Fahrt ging weiter, weiter durch die Trostlosigkeit Mecklenburgs. Ein Hügel, eine Biegung nach der anderen hindurch. Später bogen sie ein, hielten an einem Gasthof oder eigentlich an einer Speiserei, es war lediglich ein halbes Haus, überdacht mit einer Plane, oben, im ersten Stock sah man noch eine halbes Bad, ein Spiegel, ein Waschbecken, Haken, eine Türöffnung an der Wand hängen, der Fußboden bereits weggebrochen. Nun hatte man eine Plastikplane zwischen den Enden des Erdgeschoßes und zwei Balken gespannt und so ein Restaurant erschaffen, man war drinnen wie draußen. An einigen Stellen hatte die Plane Löcher, kleine Gefäße, Eimer standen dort, den Regen zu sammeln. Der Bus hielt eine Stunde. Pause, sagte der Fahrer und entstieg, die Tür hinter sich offen lassend. Verrückt, sagte das eine Mädchen zu Josef gewendet, der bereits auf dem Gang stand, dann lief sie lachend ihrer Schwester und Familie nach. Josef stieg aus, er genoß die Stille, die Sonne, die seine Haut erhitzte, drehte sein Gesicht sehnend ihr entgegen, träumend. Es roch nach verbranntem Holz, so als würden die Speisen hier auf brennendem Holz gegrillt. Mehrere Tische waren im Raum verteilt, einige auch draußen, abseits des beplanten Geländes. Josef setzte sich dort hin, so das er die Sonne halb im Gesicht (rechts) spürte, ein leichtes Blenden und Blinzeln, das ihn behinderte, trotzdem drehte er den Kopf von Zeit zu Zeit, die Augen geschlossen der Sonne entgegen. Atmete tief aus, genoss es. Die Strapatzen der Reise fielen von ihm ab, und er merkte, das er hungrig war. Wie ein Wolf, dachte er, wie ein Löwe. Aus einem Nebenraum trat eine junge Frau, die Bedienung, immer wenn sie an ein Tisch kam, hob sie die Arme um zu schreiben und immer wenn sie den Tisch verließ, ließ sie die Arme wieder hängen, jedesmal klirrten ihre Armreifen dabei, so das Josef nicht umhin kam ihr mit den Augen durch den Raum zu folgen. Einmal als sie schon fast bei ihm war, lächelte er und sie lächelte ihn an und sagte, gleich, einen Moment noch und wendete sich an einen anderen Tisch. Schließlich klirrten die Armreifen auch für Josef. Mit den Armreifen der Frauen ist das wie mit den Glöckchen der Katzen, dachte Josef, man hört sie kommen, man hörst sie gehen, man hört sie leise im Nebenraum herumstreichen, und man muss unweigerlich den Kopf wenden, muss wissen, was sie gerade tut, die Katze, wie auch die Frau. Und sie spielen damit, kennen und nutzen ihre Macht. Langweilt sie sich, muss sie nur mit dem Ärmchen wackeln und schon wendet man sich ihr zu. Vielleicht, so dachte Josef, verliert sich das im Laufe einer Ehe, wenn man sich satt gehört hat, wenn es einen nicht mehr interessiert, das sie da ist.

- Einmal das Menü?, fragte das Mädchen.

- Ja.

- Fisch oder Fleisch?

- Was ist das für Fisch?, fragte Josef.

- Tunfisch aus der Dose.

- Dann Fleisch. Und nach einer kleinen Pause, oder ist das auch aus der Dose?

- Nein, nein, sagte das Mädchen lachend, so als wäre das vollständig abwegig.

- Noch was zu trinken?, fragte sie.

- Eine Kola.

Dann lächelte sie, fest die Lippen aufeinander gepresst, sagte Danke und ging hinfort, Josef folgte ihr mit den Augen nach. Die Vorspeise: Eine Suppe, eine Consum?, Rinderbrühe mit Einlage. Knoblauch in ganzen Stücken, der auf der Zunge zerging und sich aufzulösen schien, Mais noch am Kolben in kleine Stücke gehackt, Kartoffeln und Möhren. Sie schmeckte. Das Hauptgericht: Kleine Hackbällchen verlängert mit Reis, dazu Kartoffelstampf und über allem eine würzige Soße aus Tomaten, Zwiebeln, Paprika und Chili. Die Soße über den Stampf gegossen, serviert in einer Schale, über allem noch einmal gut ein Millimeter Öl, in dem alles zu ertrinken drohte, so als wäre die Soße aus einem Glas, einer Dose und nicht selbstgemacht. Dazu einen Salat, sehr saures Dressing, Kürbiskerne und Getreide drüber gestreut, etwas Käse. Es schmeckte. Zum Nachtisch einen heißen Schokoladenpudding, serviert in einem Glas. Sehr heiß, aber lecker, trotz der sich immer wieder bildenden Haut oberhalb des Puddings. Er sei nicht von hier, sagte die Frau mehr als das sie ihn fragte.

- Ja. Hört man das?

- Sie lächelte, nickte dabei.

Das er aus Hamburg sei, sagte er. Hamburg und sie wiederholte den Namen seiner Stadt, so sehnsuchtsvoll wie man das eigentlich nur bei fremden Inseln macht, die weit entfernt liegen, schon beinahe ins Mystische entrückt. Sie blieb bei ihm stehen, wollte wohl noch etwas sagen, schwieg aber und dann als Josef schon glaubte, es käme nichts mehr, sagte sie nur, das er auf sich aufpassen solle und berührte ihn leicht an der Schulter. Ihr Gesicht hatte ein echtes Flehen, eine echte Anteilnahme, dann sank ihre Hand klirrend von seiner Schulter herunter, verzagt ging sie fort, schaute noch mal kurz über ihre Schulter zu ihm zurück, doch er sah das nicht, er aß etwas Suppe. Die Zeit verging schnell in der Hitze des Tages, essend, träumend flogen die Minuten dahin und dann setzte sich der Fahrer auf und ging schnellen Schrittes zum Bus. Josef und die anderen folgten, er schaute sich, bevor er einstieg, noch einmal nach der Frau um, aber sie war nicht da. Das Kassieren hatte der Wirt selbst übernommen. Der Bus fuhr langsam, behäbig auf die Straße zurück um ihr zu folgen. Die kleinen Mädchen fielen in einen tiefen Schlaf und interessierten sich nicht mehr für Josef. Die Nacht brach herein und auch Josef schlief einen leichten, träumenden Schlaf, die vorbei huschenden Lichter noch leicht registrierend. Einmal hielt der Bus kurz in der Einöde, da einer der Reisenden ausstieg. Der Fahrer folgte, gab ihm den Koffer und fuhr dann weiter. Josef hatte das nur leichthin mitbekommen, er dachte kurz daran, hier ebenso auszusteigen und zum Gasthof zurück zu laufen, ihr zu sagen, das sie keine Angst haben müsse, und sie würde dann taumelnd in seine Arme sinken, aber wahrscheinlich träumte er das schon. Fühlte ihre Wärme. Die Nacht war wie der Tag wolkenlos. Dann um Mitternacht hielt der Bus ein weiteres Mal, das Vibrieren der Motoren rückte Josef kurz zurück, er legte sich von der einen Seite auf die andere, er stöhnte. Dann flackerte das Licht im Bus kurz auf, nur um dann umso strahlender alles zu erleuchten. Schlaftrunken sahen die Reisenden auf, aus den Augenwinkeln gegen das grelle Licht an. Ein Soldat war eingetreten, ging durch die Reihen der Sitze. Ausweiskontrolle. Ein zweiter Soldat blieb im Türraum stehen, halb im Bus, halb auf der Treppe, das Gewehr im Anschlag, die Leute, die der andere Soldat im Rücken hatte im Zielsucher.

- Hamburg, fragte der Soldat, die Daten auf Josefs Ausweis kontrollierend.

- Josef nickte.

- Folgen, sagte er.

- Josef verstand nicht.

- Aussteigen!

- Wieso?

- Aussteigen!

Weshalb, fragte Josef noch einmal und erhob sich dann doch. Ging den Gang entlang, auf den anderen Soldaten zu. Der erstere in seinem Rücken. Josef sah noch einmal auf die kleinen Mädchen, die verängstigt ihre Köpfe im Körper der Mutter begruben. Weit aufgerissene, angstvolle Kinderaugen, und Josef dachte, verrückt. Mitleidige Blicke überall, nur die fest ins Nirgendwo gerichteten Augen der Soldaten. Der Fahrer hatte den Verschlag bereits geöffnet.

- Welcher ist ihr Koffer?, fragte einer der Soldaten.

- Der braune, Josef zeigte auf ihn.

- Der da?

- Ja.

Der Soldat zog mehr als er ihn trug, den Koffer hervor aus dem Verschlag, einfach zu Boden. Hinter Josef im Dunkeln standen noch drei dunkle Gestalten mit Sturmgewehren. Die Nacht war dunkel, nur das Licht des Buses erleuchtete Josef und die anderen. Außerhalb dieses Lichtkreises war alles in Nacht gehüllt. Der Busfahrer schloß den Verschlag, dadurch verschwand noch etwas mehr Licht. Der Busfahrer sagte etwas zu Josef hin, so etwas wie Kopf hoch oder ähnliches. Fahren sie weiter, herrschte einer der Soldaten den Fahrer an.

- Und ich?, fragte Josef in die Nacht hinein.

- Keine Antwort.

Josef sah sich um, sah die Soldaten an, die anders als die bei der letzten Kontrolle nicht einheitlich gekleidet waren. Zwar alle in olivgrüner Tarnfarbe, aber doch jeder anders, nicht zusammen gehörig. Einer der Soldaten in der Nähe zu Josef trug sogar eine amerikanische Uniform (vielleicht Marine, vielleicht Army), der andere eine alte Uniformhose der Nationalen Volksarmee, wie aus der Zeit gefallen. Und während das Licht im Bus wieder erlosch und eines der Mädchen ihm zuwinkte, zum Abschied, der Bus sich zuerst langsam, dann aber immer schneller entfernte, wurde Josef bewusst, die Unruhe hatte ihn erreicht.

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