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2.

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Das Wasser war glasklar und ruhig. Geradezu sanft leckte der schwache Wellengang auf gelbweißen Strand, der wie mit einem riesigen Hobel geglättet zu sein schien.

Es gab ein vernehmliches Knirschen und dann einen Ruck, als der Kiel des Beibootes vom Sand gehemmt wurde. Ferris Tucker und Smoky zogen die Riemen ein. Hasard folgte ihnen mit einem federnden Satz ins knöchelhohe Uferwasser. Gemeinsam zogen sie das Boot höher an Land, wo sie für einen Atemzug verharrten.

Der Dschungel war so lebendig wie überall in den tropischen Breiten der Welt. Schrille Stimmen drangen aus der unergründlichen grünen Tiefe. Kekkernde Laute ähnlich denen, die der Schimpanse Arwenack ausstieß, gellende Schreie und keifendes Gelächter, das an menschliche Stimmorgane erinnerte.

Als die drei Männer weiter den schmalen Streifen Sandstrand hinaufgingen, stob ein Schwarm buntgefiedeter Vögel aus den Baumkronen auf. Während sie mit wirbelndem Flügelschlag landeinwärts flohen, stießen sie ein ohrenbetäubendes protestierendes Gezeter aus.

Ferris Tucker, der riesenhafte rothaarige Schiffszimmermann, blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Habt ihr das gesehen?“ rief er verwundert. „Diese Viecher sehen alle aus wie Sir John im Kleinformat.“

„Vielleicht wachsen sie noch!“ Smoky, der bullige Decksälteste, grinste unbeeindruckt.

Hasard runzelte die Stirn. Auch er hatte diese papageienähnlichen Kleinvögel noch nirgendwo auf der Welt beobachtet. Aber vielleicht wäre es für Naturforscher oder Wissenschaftler nichts Neues gewesen.

Daß sie eben einen Schwarm von Sittichen aufgescheucht hatten, konnte keiner der drei Männer wissen.

Bei näherem Hinsehen bemerkte Hasard, daß dieser Regenwald offenbar doch seine Besonderheiten hatte. Da gab es riesige Baumfarne, wie er sie in den tropischen Breiten der Neuen Welt noch nirgendwo gesehen hatte. Aber auch Vertrautes war vorhanden – Kokospalmen, Brotfruchtbäume und Mangroven mit ihren Stelzwurzeln. Auf der Landzunge herrschte dagegen eine gemäßigte Vegetation vor, überwiegend Kasuarinen von niedrigem Wuchs.

Feuchte, stickige Luft schlug den Männern aus dem Dschungel entgegen. Dorthin vorzudringen, hatte keinen Sinn.

Hasard deutete zum Südende der Bucht.

„Sehen wir uns da drüben um.“

Ferris Tucker und Smoky folgten dem Seewolf, der mit weit ausgreifenden Schritten voranging. Radschloßdrehling und Entermesser waren die einzigen Waffen, die Hasard bei sich trug. Ferris und Smoky waren mit einschüssigen Pistolen und Entermessern ausgerüstet.

Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie die „Isabella“, die zwei Kabellängen vom Ende der Landzunge entfernt vor Anker lag. Mit aufgegeiten Segeln lag die schlanke Galeone ruhig wie ein Klotz im schwachen Wellengang.

Wie eine Pier, von einer Laune der Natur angelegt, ragte die Landzunge mehr als hundert Yards weit schnurgerade in das kristallklare Wasser hinaus. Der Boden der kleinen Halbinsel war nur leicht gewölbt und mit knapp hüfthohen Kasuarinen überwuchert. Begleitet von der lärmenden Geräuschkulisse des Regenwaldes, drang Hasard als erster in das dichte Gestrüpp vor.

Dann, als er den höchsten Punkt der Landzunge erreichte, prallte er unwillkürlich zurück.

Ferris Tucker und Smoky, die sich hinter ihm raschelnd ihren Weg bahnten, verharrten gleichfalls.

„Das ist doch nicht zu …“ stieß der Schiffszimmermann hervor und unterbrach sich vor Überraschung selbst.

Eine Flußmündung teilte den Regenwald auf der nördlichen Seite der Landzunge. Aber das allein wäre noch kein Grund zur Verblüffung gewesen.

Nahe dem jenseitigen Ufer der Mündung, etwa eineinhalb Kabellängen entfernt, lag ein zweimastiges Schiff vor Anker. Es war kleiner als die „Isabella“ und von gedrungener Bauweise. Hasard schätzte es auf etwa einhundert Tonnen. Der Konstruktion nach handelte es sich um eine jener Karacken, wie sie im Mittelmeerraum üblich waren.

Sanft dümpelte der Zweimaster im Brackwasser. Der Namenszug am Bug war verwittert und auf die Entfernung nicht zu entziffern.

Keine Menschenseele rührte sich an Deck.

„Scheint so, als ob wir nicht die ersten Europäer im unbekannten gelobten Land sind“, murmelte Smoky.

Hasard wandte sich halb um.

„Das wird sich noch herausstellen. Ihr beide nehmt das Beiboot und pullt zurück zur ‚Isabella‘. Ben soll zwölf Mann einteilen und mit der großen Jolle in die Flußmündung schicken. Ich werde mich ein wenig umsehen und erwarte euch da drüben am Ufer.“

„Allein?“ fragte Ferris Tucker stirnrunzelnd.

Der Seewolf nickte.

„Von den Menschenfressern habe ich noch keine Spur entdeckt. Beeilt euch. Ich will wissen, was es mit diesem Zweimaster auf sich hat.“

„Waffen?“ erkundigte sich Smoky knapp.

„Musketen und Pistolen“, entschied Hasard. „Und genügend Pulver und Blei.“

„Aye, aye, Sir.“ Die beiden Männer wandten sich ab und liefen im Trab zurück zum Beiboot.

Hasard setzte seinen Weg durch das hüfthohe Gestrüpp fort. Die Landzunge war schmal und maß kaum mehr als zwanzig Yards. An der Flußmündung gab es keinen weißen Strand wie in der Bucht. Hier war der Uferstreifen, der das grüne Dickicht vom Wasser trennte, grau und morastig. Rinnsale durchzogen den Boden wie dunkle Adern. Vorsichtig setzte Hasard einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt sank er mit den Stulpenstiefeln bis zu den Knöcheln ein.

Unablässig spähte er zu der Karakke hinüber. Der Name des Schiffes begann mit einem „S“, soviel konnte er jetzt schon feststellen. Aber noch immer bewegte sich an Bord nichts. Kein menschlicher Laut war zu hören, der sich vom Lärm des Dschungels abgehoben hätte.

Eine plötzliche Bewegung entstand vor Hasards Füßen.

Der Seewolf stoppte seine Schritte und blickte in eins dieser fußbreiten Rinnsale, in dem etwas lebendig geworden war. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, seinen Augen nicht trauen zu können.

Das Tier, das er da offenbar aus seiner Ruhe aufgescheucht hatte, war eigentlich ein Witz. Er blinzelte verblüfft und wollte sich bücken, um zuzupakken. Aber es bewegte sich viel zu rasch, halb watschelnd, halb schwimmend. Der Körper des Tieres, etwa zwanzig Zoll lang, war dicklich und fast plump, das Fell ähnelte dem eines Seehundes. Das Erstaunliche war aber, daß dieses Tier den Schnabel und auch die Schwimmfüße einer Ente hatte – vier Entenfüße und einen Entenschnabel.

Hasard schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte nicht schnell genug reagiert, um das komische Etwas zu fangen. Jetzt verschwand es mit eiligen Watschelbewegungen im Dikkicht.

Ungewollt mußte der Seewolf an die Worte des alten O’Flynn denken. Die Welt war voller Wunder, und immer wieder gab es Entdeckungen, die alte Schulweisheiten einfach auf den Kopf stellten.

Hasards Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als unvermittelt Riemenschläge zu hören waren. Er blickte zum Ende der Landzunge und erkannte die Jolle der „Isabella“. Die Männer pullten mit kraftvollen Schlägen, und das Boot lief zügige Fahrt. Über dem Buschbewuchs der Landzunge waren weiter entfernt die Masten der Galeone zu erkennen.

Die Jolle nahte rasch heran. Schon von weitem sah Hasard, welche Männer aus der Crew Ben Brighton ausgewählt hatte.

Auf der Achterducht saß Edwin Carberry und hielt die Ruderpinne. Der Profos reckte sein mächtiges Rammkinn vor und spähte abwechselnd zu dem am Ufer wartenden Seewolf und zu dem fremden Zweimaster.

Die Riemen bedienten neben Ferris Tucker und Smoky der junge O’Flynn, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan und Stenmark.

Hasard watete ins seichte Uferwasser und schwang sich an Bord, noch bevor der Kiel des Bootes Grundberührung hatte. Geschickt manövrierten die Männer die Jolle sofort wieder in Richtung Flußmitte. Hasard blieb aufrecht im Bugraum stehen, während sie auf die Karacke zuglitten.

„Komische Sache, was, wie?“ rief Ed Carberry von der Achterducht her. „Scheint so, als ob es da nicht eine einzige lausige Kakerlake an Bord gibt!“ Seine Reibeisenstimme dröhnte laut über die ruhige Wasserfläche und übertönte sogar den Lärm aus dem Regenwald.

„Weck die Kakerlaken mit deinem Gebrüll nicht auf“, empfahl Ferris Tucker grinsend. „Unnötigen Ärger brauchen wir wirklich nicht.“

„Wer hat denn hier gebrüllt, du Holzwurm?“ schnaubte Carberry. „Wenn ich mal ’ne sachte Bemerkung von mir gebe, ist das noch lange kein Grund, sich gleich in die Hosen zu machen. So was ist mir noch nicht passiert, daß ein erwachsener Mann das Flattern kriegt, wenn er nur einen verrotteten wurmstichigen Kahn sieht.“

Ferris Tucker wollte aufbrausen.

„Ruhe!“ mahnte Hasard. „Heb dir deine Kommentare für später auf, Mister Carberry.“

Der Profos schluckte, und Ferris Tucker quittierte es mit einem grimmigen Nicken.

Hasard konnte mittlerweile den Namenszug am Bug des Zweimasters entziffern.

„Speranza“, „Hoffnung“, stand dort in hölzernen Lettern, die von Wind und Seewasser sichtlich angegriffen waren. Dem Namen nach mochte es sich um ein italienisches Schiff handeln, doch es gab kein Nationalitätszeichen, das diese Vermutung untermauerte. Im übrigen war noch immer kein Lebenszeichen zu erkennen. Wenn sich wirklich eine Menschenseele an Bord aufhielt, dann konnte das Herannahen der Jolle mittlerweile nicht mehr unbemerkt geblieben sein.

Auf ein Kommando des Seewolfs holten die Männer die Riemen ein. Langsam glitt das große Beiboot der „Isabella“ auf die Steuerbordseite der Karakke zu. Eine wenig vertrauenerweckende Jakobsleiter hing von der offenen Pforte im Schanzkleid nach unten.

Hasard prüfte die Festigkeit der Hanfwindungen, ehe er aufzuentern begann. In Höhe des Schanzkleides gab er den Männern einen Wink. Nacheinander folgten sie ihm, wobei jeweils nur einer die Jakobsleiter benutzte. Edwin Carberry vertäute die Jolle.

Die Decksplanken waren glitschig, von einem dünnen moosähnlichen Belag überzogen. Es war anzunehmen, daß das Schiff bereits seit Wochen hier vor Anker lag.

Der Seewolf und seine Männer sahen sich um. Zeichen eines Kampfes gab es nicht, keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung. Oder doch?

Hasards Blick fiel auf das offene Kombüsenschott, das halb aus seiner Verankerung gerissen war.

„Ferris, Smoky!“ sagte er und ging voraus. Die beiden Männer folgten ihm.

Hasard stieg als erster in das Halbdunkel der Kombüse. Fauliger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Brechreiz, der augenblicklich in ihnen aufstieg, konnte nicht nur von verdorbenen Lebensmitteln herrühren.

Hasard tastete sich nach rechts voran, an irgendwelchen Schapps entlang, deren Holz sich fettig-glitschig anfühlte.

Unvermittelt stieß er mit der rechten Fußspitze gegen etwas Weiches. Er verharrte und blickte zu Boden.

Nur quälend langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, das dort unten noch intensiver war.

Im nächsten Augenblick verstärkte sich der Brechreiz bis zur Unerträglichkeit. Doch gleichzeitig drückte ihm eine unsichtbare Faust die Kehle zu.

Es war ein menschlicher Körper, der dort am Boden lag, bestialisch zugerichtet.

Ferris Tuckers Stimme meldete sich in jähem Entsetzen aus der anderen Ecke der Kombüse.

„Um Himmels willen!“ Die Worte des hünenhaften Schiffszimmermanns gingen in einen gurgelnden Laut über.

Hasard drehte sich um und erfaßte jetzt die düstere Szenerie in ihrer ganzen grausigen Deutlichkeit.

Smoky stand im Licht, das durch das offene Schott hereinflutete, würgte und hielt sich die Hand vor den Mund.

Vier Menschen waren in diesem engen Raum auf furchtbare Weise gestorben. Ihr Tod war entwürdigend gewesen, ihre Mörder so unvorstellbar bestialisch, daß es selbst den Seewolf an den Rand der Fassungslosigkeit brachte.

„Denkt, was ihr wollt“, sagte Smoky mit erstickter Stimme, „ich muß hier raus. Nichts wie raus!“

Ferris Tucker und Hasard folgten dem Decksältesten. Ihnen ging es nicht viel besser als Smoky. Das freie Atmen an Deck tat ihnen wohl, auch wenn die Luft tropisch feucht und stickig war.

„Hol’s der Teufel!“ polterte Edwin Carberry. „Ich fresse meine eigenen Schuhe, wenn ihr nicht alle drei regelrecht grün im Gesicht seid.“

„Kein Wunder“, sagte Smoky und hielt sich den Magen. „Geht mal selbst da rein.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.

Hasard winkte ab. Er schilderte den Männern, was sie in der Kombüse entdeckt hatten. Mit geweiteten Augen starrten sie ihn an.

„Wie es aussieht, handelt es sich um den Koch, den Schiffsjungen und zwei weitere Männer“, erklärte Hasard. „Sie müssen überrascht worden sein, deshalb konnten sie wahrscheinlich keine Gegenwehr mehr leisten. Die Mörder waren Kannibalen. Menschenfresser.“

„Menschenfresser?“ entgegnete Gary Andrews verblüfft. „Wieso konntet ihr dann noch vier Tote finden? Menschenfresser würden doch nichts übriglassen, oder?“

„Mann, o Mann!“ brüllte Smoky in einem jähen Wutausbruch, mit dem er seinem Entsetzen Luft machte. „Vielleicht hast du schon mal von diesen Asiaten gehört, die nur die Innereien von ihren Hunden fressen. So! Und wenn du das Ganze auf die freundlichen Kannibalen in diesem freundlichen Land überträgst, dann weißt du, was sich da drinnen abgespielt hat!“ Smoky atmete schwer.

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Gary Andrews senkte verlegen den Kopf.

„Wir müssen diesen armen Kerlen zur letzten Ruhe verhelfen“, sagte Hasard nach einer Weile. „Wer übernimmt das freiwillig?“

Edwin Carberry meldete sich zu Wort.

„Jeder von uns packt mit an. Das ist unsere Pflicht. Oder ist jemand anderer Meinung?“

Niemand widersprach.

„Also gut“, entschied der Profos. „Wir bringen die armen Teufel an Land und begraben sie dort. Ein Seemannsgrab können wir ihnen nicht bieten. Dazu sind die Küstengewässer zu flach.“

Der Seewolf packte mit an, als sie die furchtbar zugerichteten Leichen aus der Kombüse holten. Dann, während seine Männer die Toten in Segeltuch rollten und in die Jolle abfierten, untersuchte er die Achterdecksräume.

Seine Vermutung, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse niemand an Bord aufgehalten hatte, bestätigte sich. Den Aufschluß, den er erhofft hatte, fand er in der Kapitänskammer.

So wertvoll das in Schweinsleder gebundene Logbuch war, so flüchtig und unvollständig waren die Eintragungen. Der Kapitän der „Seranza“ schien kein besonderes Interesse an Genauigkeit zu haben. Eine Entdekkernatur war er ganz gewiß nicht, denn es fand sich keinerlei Beschreibung von den Küsten dieses unbekannten Landes.

Doch in sorgfältiger Handschrift war immerhin vermerkt, daß die Karacke vor nunmehr dreizehn Monaten ihren Heimathafen Genua verlassen hatte. Angaben über Kurs und Bestimmungshafen waren bei Reisebeginn nicht eingetragen worden. Kapitän und Eigner der „Speranza“ war ein Genueser namens Nando Marchi, von dem auch die Eintragungen im Logbuch stammten.

Zwanzig Mann hatten zu Beginn der Reise unter seinem Kommando gestanden. Zwei Monate später, bei der Umsegelung des afrikanischen Kontinents, war einer der Mittschiffsleute an einer verschleppten fieberhaften Krankheit gestorben. Der Tote war der See übergeben worden, und Kapitän Marchi hatte die entsprechende Notiz im Logbuch mit der Befürchtung abgeschlossen, daß an Bord eine Seuche ausbrechen könne.

Nichts dergleichen war aber offenbar geschehen. Während die „Speranza“ den Gewässern des Indischen Ozeans entgegengesegelt war, hatte Marchi bei seinen Logbuch-Eintragungen immer mehr Sorglosigkeit walten lassen. Die Angaben über den jeweiligen Kurs waren lückenhaft. Die Namen der Häfen, die die Karakke in Afrika und auf dem indischen Subkontinent angelaufen hatten, waren dem Seewolf völlig unbekannt. Hatte Kapitän Marchi mit Absicht die größeren Hafenstädte gemieden? Es sah fast so aus.

Denn eins fehlte im Logbuch völlig: jedwede Angaben über die Ladung. Ein Kauffahrer war diese „Speranza“ also gewiß nicht, weil Handelsleute und die von ihnen beauftragten Kapitäne stets äußerste Genauigkeit an den Tag legten. Ein Pirat also? Auch diese Möglichkeit schied aus, denn mit ihren insgesamt acht Culverinen an Backbord und Steuerbord war die „Speranza“ lächerlich schwach armiert. – verglichen mit den meist hervorragend ausgerüsteten Hasardeuren der See.

Zu welchem genauen Zeitpunkt der Zweimaster das unbekannte Land erreicht hatte, ließ sich ebenfalls nicht feststellen. Nur soviel: Kapitän Nando Marchi hatte vor zweieinhalb Wochen in dieser Flußmündung ankern lassen, ein Beiboot ausgesetzt und war mit fünfzehn Mann aus seiner Crew flußaufwärts vorgedrungen. Insofern stimmte es also, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse keine weiteren an Bord aufgehalten hatten.

Hasard schlug das Logbuch zu und legte es zurück auf das Pult. Die Luft in der engen Kapitänskammer war zum Schneiden dick. Auf dem Tisch standen eine leere Flasche und zwei Weingläser, die mit einer Staubschicht überzogen waren. Im Schapp neben dem Pult fand der Seewolf einen ganzen Vorrat an Rotwein. Hatte Marchi häufiger zu diesem Vorrat gegriffen als zu Federkiel und Tintenfaß?

Hasard verließ die Kapitänskammer. Seine Männer hatten am diesseitigen Ufer eine kleine Waldlichtung gefunden, wo sie die Toten begruben.

Warum war der Genueser mit dem größten Teil seiner Mannschaft ins Landesinnere aufgebrochen? Welches Reiseziel, welche Aufgabe hatte er überhaupt gehabt, als er Europa verlassen hatte? Fragen, die sich nicht beantworten ließen, vorerst nicht, vielleicht überhaupt nicht. Denn nach dem grausigen Anblick in der Kombüse erschien dem Seewolf das Schicksal der Genueser mehr als ungewiß.

Er stieg unter Deck. Die „Speranza“ hatte nur einen einzigen Laderaum, und der war nicht einmal halb gefüllt. Im Halbdunkel konnte Hasard die Umrisse von Kisten, Fässern und Säcken erkennen. Er fand ein herumliegendes Brecheisen, hebelte einen der länglichen Kistendeckel auf und stieß einen leisen Pfiff aus. Der Inhalt der Kiste schimmerte hell, elfenbeinfarben. Stoßzähne von Elefanten. Sie konnten aus Afrika stammen, möglicherweise aber auch aus Indien. Hasard wußte, daß dieses Elfenbein für Schmuckstücke und andere kunstvolle Gegenstände verwendet wurde. In einem der Säcke, den er öffnete, fand er Felle, die sich weich und flauschig anfühlten. Felle von undefinierbaren kleinen Tieren.

Hasard brach seine Untersuchung ab und stieg zurück auf die Kuhl. Stirnrunzelnd blickte er zum Ufer hinüber, wo seine Männer die vier Gräber zuschaufelten. Wer war dieser Marchi? Ein Händler? Wenn ja, worin bestand dann der Gegenwert, für den er die Waren eingetauscht hatte? Hasard drängte die Fragen beiseite.

Im Vordergrund stand jetzt etwas anderes.

Es war seine Pflicht als Christ und zivilisierter Europäer, der Schiffsbesatzung zu helfen. Denn daß sie in Bedrängnis geraten waren, erschien mehr als wahrscheinlich. Über Beweggründe und Ursachen konnte man später befinden.

Hasard traf seine Entscheidung ohne langes gedankliches Hin und Her. Er wartete die Rückkehr der Jolle ab und schickte seine Männer zur „Isabella“, damit sie einen ausreichenden Vorrat an Proviant und Trinkwasser sowie weitere Ausrüstung an Bord mannten.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 194

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