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Noch immer lag Brandgeruch über der Insel Cozumel.

Malvina setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt prüfte sie mit den Zehenspitzen, ob da irgendwo ein trockener Ast lag, der sie mit lautem Knacken verraten hätte. Sie entfernte sich nach Südwesten hin aus dem Hüttenlager, noch im Schutz der Dunkelheit. Erschauernd wurde ihr bewußt, welchem Grauen sie alle entronnen waren.

Nach wie vor war nicht geklärt, wodurch jenes verheerende Buschfeuer entstanden war, das della Roccas Stützpunkt um ein Haar vernichtet hätte. Jetzt, zwei Stunden vor Beginn des Morgengrauens, lastete der Geruch der verkohlten Bäume und Pflanzen schwer und beklemmend über dem Erdboden. Er wurde vom Nebel offenbar nach unten gedrückt und drang sogar bis in die unversehrte Pflanzenwelt des südwestlichen Dickichts vor.

Malvina hatte sich in ein dunkles Tuch gehüllt. Mit ihrer braunen Haut und dem langen schwarzen Haar war sie nicht mehr als ein Schatten in der Nacht. Dennoch war sie von Angst erfüllt. Wenn es der Zufall wollte, daß jemand aufwachte und ihr Verschwinden entdeckte, war es aus mit ihr.

Der Korse verstand keinen Spaß.

Das hatte er zuletzt bei Zardo gezeigt, dem er die Hölle bereitet hatte. Und Dubuque, der Kreole, war aus einem nicht minder lächerlichen Grund hingerichtet worden.

Nein, Malvina gab sich keinen Illusionen hin, während sie lautlos in das Dickicht vordrang. Wenn della Rocca sie erwischte, würde er sie als Verschwörerin zum Tode verurteilen. Welche Exekutionsart mochte er diesmal anwenden? Nachdem Dubuque erschossen und Zardo gehängt worden war, würde er sie womöglich köpfen. Damit mußte sie rechnen. Immerhin war sie im Begriff, zwei Freundinnen zu unerlaubtem Tun anzustiften.

Ein wenig von ihrer Angst verlor sie, als sie endlich den Treffpunkt erreichte. Eine kleine Lichtung, die von einem blassen Streifen Mondlicht erhellt wurde. Malvina war die erste, die an Ort und Stelle eintraf.

Sie lehnte sich gegen die knorrigen Luftwurzeln einer Mangrove und horchte auf ihren Herzschlag, der hämmernd ging und sich kaum beruhigte. Sie wußte, in Sicherheit war sie erst wieder im Lager, wenn sie neben dem verfluchten Kerl lag, der hoffentlich noch recht lange im Traumland blieb.

Malvina lächelte.

Eine gewisse Macht über die Männer hatte sie allerdings. Wenn sie ihre weiblichen Waffen gezielt genug einsetzte, konnte sie so ziemlich jeden Kerl um den Finger wickeln. Außer della Rocca, vielleicht. Der Korse war ein höllisch harter Hundesohn. Weibsbilder bedeuteten für ihn eben nicht mehr als Weibsbilder – eine niedere Sorte Mensch, mit der man beliebig umsprang, fast wie mit Sklaven.

Gewiß, er hatte seine Favoritinnen im Stützpunkt. Aber dennoch hatte es keine der Frauen auch nur im Ansatz geschafft, ihn ein bißchen zu beeinflussen.

Ein kaum hörbares Rascheln drang durch die nächtliche Stille. Ungewollt zuckte Malvina zusammen. Die Befürchtung, etwa doch verfolgt worden zu sein, schnürte ihr für Sekunden die Kehle zu. Dann aber atmete sie auf.

Consuela, die Andalusierin, trat als erste auf die Lichtung, dichtauf gefolgt von Laurinda, der Portugiesin. Sie hatten es nur gemeinsam gewagt, sich vom Lager zu entfernen.

„Seid ihr verfolgt worden?“ fragte Malvina hastig.

„Bestimmt nicht“, antwortete Consuela und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wir sind mindestens zwanzigmal stehengeblieben und haben gehorcht. Aber da hat sich nichts gerührt hinter uns.“

„Vielleicht hätten wir uns besser irgendwo beim Lager getroffen“, sagte Laurinda leise, „hinter einer Hütte oder so.“

„Damit die Mistkerle nur die Ohren zu spitzen brauchen, um uns belauschen zu können?“ entgegnete Malvina scharf. „Ich will euch nicht vorschreiben, was ihr zu tun habt. Und ich will euch auch nicht mit Gewalt auf meine Seite ziehen. Ihr müßt frei entscheiden. Nur macht euch um Himmels willen nichts vor, was die Gefahr betrifft. Della Rocca ist wie eine Viper, wenn er Unrat wittert. Muß ich euch das erst noch erklären?“

„Mir nicht“, entgegnete Consuela sofort. „Ich bin lange genug bei dem wilden Haufen.“

„Ich auch!“ sagte Laurinda mit gedämpfter Empörung. „So einfältig, wie ihr beide meint, bin ich nun auch wieder nicht. Ich hatte nur gemeint, ob wir es mit der Vorsicht nicht übertreiben.“

Die Andalusierin legte ihr die Hand auf die Schulter.

„Laß dir gesagt sein, Amiga, in della Roccas Nähe kann man nicht vorsichtig genug sein. Und damit meine ich – Schluß der Debatte. Laß uns anhören, was Malvina zu sagen hat. Bevor wir hier Wurzeln schlagen, wollen wir lieber entscheiden, was wir tun.“

Die Portugiesin nickte nur.

„Danke, Consuela“, sagte Malvina. „Ihr könnt euch vorstellen, daß mich bei diesen verfluchten Kerlen nichts mehr hält. Ich meine, gegen Dubuque als Gefährten hätte ich nicht unbedingt etwas einzuwenden gehabt. Aber Quebracho war mir doch zehnmal lieber. Und jetzt habe ich niemanden mehr, seit es ihn in Campeche erwischt hat.“

„Niemanden?“ entgegnete Laurinda grinsend. „Du hast Theodoro, ist das nichts?“

„Der springende Punkt“, erwiderte Malvina wütend. „Der Kerl hat ja bei mir das Faß zum Überlaufen gebracht!“

„Dabei ist er so ein reizender Bursche“, sagte Consuela in freundschaftlichen Spott.

„Laß die dummen Witze“, sagte Laurinda, „dafür ist jetzt wirklich keine Zeit. Ich kann Malvina verstehen. Dieser Theodoro ist das reinste Brechmittel. Sonst hat er nie eine abgekriegt, und jetzt auf einmal mußte ihn della Rocca Malvina zuteilen. Ich frage mich bloß, warum?“

Malvina schnaubte verächtlich.

„Das kann ich dir leicht beantworten. Irgendwie hat er es mir natürlich doch krumm genommen, daß er wegen mir – Dubuque hinrichten mußte. Hätte ich Dubuque den verdammten Perlenbeutel zurückgegeben, wäre alles nicht passiert! Aber ich mußte ja so starrköpfig sein, den Beutel zu behalten. Einerseits war es dem Korsen natürlich ganz recht, im Falle Dubuque mal wieder zeigen zu können, wer hier das Kommando hat. Andererseits ist ihm wohl klargeworden, daß er einen guten Mann verloren hat – vor allem nach dem Fiasko in Campeche. Also erhält das Miststück, das für alles verantwortlich war – ich nämlich –, was es verdient.“

„Siehst du das nicht ein bißchen übertrieben?“ fragte Consuela.

„Es spielt keine Rolle. Es ändert nichts daran, daß ich meine Entscheidung getroffen habe. Erstens bin ich hier nur noch der Fußabtreter. Zweitens habe ich im Gefühl, daß sich irgend etwas tun wird. Ich könnte mir vorstellen, daß della Rocca mit seiner gesamten Mannschaft abhaut und uns einfach sitzenläßt.“

Die beiden Europäerinnen starrten die braunhäutige junge Frau ungläubig an.

„Wie kommst du denn darauf?“ fragte Consuela kopfschüttelnd.

„Zähl doch mal zwei und zwei zusammen“, entgegnete Malvina. „In Campeche haben sie ihm zum ersten Male die Jacke vollgehauen. Was das bedeutet, ist doch wohl klar. Die Dons sind es langsam leid, sich dauernd die Perlenvorräte abnehmen zu lassen. Also tun sie was und fahren schwere Geschütze auf. In Campeche hat es so richtig schön gewirkt. Della Rocca ist kein Dummkopf. Er weiß, womit er in den anderen Perlenfischerorten zu rechnen hat. Was müßte er also vernünftigerweise tun?“

„Verstehe“, sagte Laurinda gedehnt. „Er nimmt sein Schiff, klaubt alles zusammen, was er an Schätzen versteckt hat, und haut ab nach Korsika.“

„Wo er hingehört“, fügte Consuela grimmig hinzu.

„Das kann uns egal sein“, sagte Malvina wegwerfend. „Wenn er uns in Ruhe läßt, kann er meinetwegen hingehen, wo der Pfeffer wächst. Hauptsache, wir unternehmen etwas, bevor es zu spät ist.“

„Du meinst“, entgegnete Laurinda, „er würde uns alle umbringen lassen, bevor er verschwindet?“

„Bei della Rocca muß man mit allem rechnen.“ Die Braunhäutige zog die Schultern hoch. „Aber so schlimm muß es gar nicht mal kommen. Es genügt, wenn er uns ohne Essen und Trinken hier sitzenläßt. Etwas Wasser könnten wir uns vielleicht noch beschaffen. Aber Eßbares? Man kann sich nicht ständig von Kokosnüssen und Grünfutter ernähren.“

Consuela blickte sie eindringlich an.

„Du willst damit sagen, wir sollten uns einen Vorrat beiseite schaffen und dann bei passender Gelegenheit verschwinden?“

„Erst mal“, erwiderte Malvina, „muß ich euch fragen, ob ihr überhaupt mitmachen wollt. Ich möchte euch zu nichts überreden, wovon ihr nicht überzeugt seid.“

Beide Frauen schüttelten sofort den Kopf.

„Du weißt schon, warum du uns angesprochen hast“, sagte Consuela. „Laurinda und ich haben die Nase genauso voll wie du, das steht fest. Die Kerle behandeln uns wie den letzten Dreck. Aber wir sind eben nicht solche dummen Hühner wie die anderen, die sich alles gefallen lassen. Ich, für meinen Teil, bin dabei. Darüber brauchen wir uns nicht mehr lange zu unterhalten.“

„Das gleiche gilt für mich“, sagte Laurinda mit eifrigem Nicken.

„Also gut“, entgegnete Malvina lächelnd. „Ich habe natürlich gewußt, daß ich mich in euch nicht täusche. Ihr müßt euch darüber im klaren sein, was für ein Risiko wir eingehen.“

Die drei Frauen wechselten einen Blick.

„Ich sehe da überhaupt keinen Unterschied“, sagte Consuela. „Egal, was wir tun – unser Kopf steckt so oder so in der Schlinge. Also können wir ebensogut versuchen, ihn rechtzeitig herauszuziehen.“

Malvina nickte.

„Klar. Bleibt also noch die Marschroute. Ich schlage vor, daß wir versuchen, auf direktem Weg die Ostküste weiter südlich zu erreichen. Dazu brauchen wir vor allem Proviant, einen Trinkwasservorrat und Waffen.“

„Damit fangen wir am besten sofort an, wenn wir zurück im Lager sind.“ Laurinda stemmte unternehmungslustig die Fäuste in die Hüften. „Schaffen wir möglichst schnell möglichst viel auf die Seite. Um so eher können wir verschwinden.“

Das wichtigste war besprochen. Die drei Frauen vereinbarten eine Stelle abseits vom Lager, wo sie ihre Vorräte verstecken würden. Dann verließen sie den Ort ihres geheimen Treffens getrennt, um so unauffällig wie nur möglich zu den Hütten zurückzukehren.

Es gelang ihnen. Eine Stunde nach dem verschwörerischen Gespräch im Dickicht hatten sie wieder ihre Plätze auf den Nachtlagern eingenommen, wo ihre Gefährten nach wie vor schnarchten, was das Zeug hielt. Der Abend und die Nacht waren alkoholreich genug gewesen, um die Kerle wieder einmal in einen Dauerschlaf bis in die Mittagsstunden zu versenken.

Der neue Tag war der 20. Juli im Jahre des Herrn 1595. Ein Tag, den der Satan höchstpersönlich an sich gerissen haben mußte. Denn er eröffnete ihn mit einem höllischen Konzert von Pauken und Trompeten. Das dröhnte, schmetterte und hämmerte, als ob alle Fegefeuer-Heizer dienstfrei hätten, um sich am Lärmorchester zu beteiligen.

Della Rocca verfluchte den Gehörnten für diesen nervtötenden Höllenlärm, wünschte ihm die Pest an den Hals und schwor ihm, daß er ihm einen Tritt in den Hintern verpassen werde, wenn er ihn nur zu fassen kriegte.

Es dauerte eine Weile, bis der Korse begriff, daß sich der ganze Teufelstanz innerhalb seines Schädels abspielte. Mit der Wiederkehr seiner Sinne gelang es ihm, die komplette Höllencrew zum Teufel zu schicken. Was aber blieb, war dieses verfluchte Dröhnen und Hämmern. Es war drauf und dran, seinen Kopf von innen her zu sprengen. Und immer noch schien der Höllenfürst seine Hand im Spiel zu haben. Della Rocca fühlte sich fallengelassen wie ein heißes Exemplar jener Frucht, die man in der Neuen Welt entdeckt, in die Alte Welt verfrachtet hatte und dort Pomme de Terre nannte – Erdapfel, Kartoffel. Ja, verdammt, dieser gehörnte Hurensohn ließ ihn hohnlachend in die Wirklichkeit fallen. Und die war schlimmer als alle Pauken und Trompeten zusammen.

Denn nach und nach fielen ihm die jüngsten Geschehnisse ein.

Er stieß einen Wutschrei aus und fuhr in seiner Koje hoch. Im nächsten Moment sank er mit einem ächzenden Schmerzenslaut wieder zurück. Es war, als hätte er versucht, seinen eigenen Schädel in die Luft zu jagen. Ein Wunder, daß sein dröhnender Kopf nicht auseinandergeflogen war wie ein soeben gezündetes Pulverfaß.

Er zwang sich, bewegungslos liegenzubleiben. Doch die Wut brodelte und kochte in ihm.

Das Logbuch der Perlen war verschwunden.

Zardo, der Hundesohn, hatte es geklaut. Aber selbst angesichts des Zappeltodes am Strick hatte der Mistkerl nicht verraten, wo er den Folianten versteckt hatte.

Bis zum Dunkelwerden hatte della Rocca am Vortag nach dem Buch gesucht. Ohne Erfolg. Aus lauter Verzweiflung hatte er in der Kapitänskammer der „Bonifacio“ einen mächtigen Schluck zur Brust genommen. Rückblickend gesehen, hatte es wenig genutzt. Er hatte seinen Zorn vorübergehend vergessen. Aber das war auch alles.

Jetzt, an diesem Morgen, da die Sonne so widerwärtig durch die Bleiglasfenster blinzelte, sah alles noch schlimmer aus als vorher.

Ohne das Perlenbuch war er ein Nichts. Die eine Truhe, die er in der Bucht nahe Havanna geborgen hatte, war zwar ein sanftes Ruhekissen. Ein gutes finanzielles Polster, mit dem sich auskommen ließ. Aber der Inhalt an Perlen reichte nicht, um damit das königliche Leben zu führen, das er sich für den Rest seiner Tage vorgestellt hatte.

Er mußte etwas unternehmen. Daran führte kein Weg vorbei.

Endlose Minuten, wie Ewigkeiten, waren vergangen, als er es wagte, sich langsam aus der Koje zu wälzen. Noch behutsamer richtete er sich auf, um den Dröhnschädel zu überlisten.

Er schaffte es, seinen wichtigsten Körperteil in einem Stück zu behalten. Mit dem Rücken lehnte er sich an das Schapp neben der Koje und hielt den Kopf mit beiden Händen. Langsam und vorsichtig nahm er die Hände herunter. Es erstaunte ihn, daß die teuflischen Paukenschläger und die satanischen Trompeter nicht von neuem ihr mißtönendes Konzert begannen.

Nichtsdestoweniger schwankte die Welt um ihn herum beträchtlich. Das Nachspiel seines Saufabends war noch lange nicht durchgestanden. Die Welt! Er stieß einen verächtlichen Knurrlaut aus. Wovon, zum Teufel, redete er? Diese Kapitänskammer war nichts als eine erdrückende hölzerne Enge, da gab es nichts mehr, was noch irgendeine weitreichende Bedeutung gehabt hätte.

Ja, früher, bis vor kurzem, war er der gerissenste Bursche unter der Sonne gewesen. Da hatte er seinen Kopf noch zum Denken benutzt, und niemand hatte ihm das Wasser reichen können. Und von dieser Kapitänskammer aus hatte er begonnen, einen Teil der Welt zu regieren. Sein Einfluß war gewachsen und gewachsen. Eines Tages hätte sein Vermögen ausgereicht, um ihn aus der Abgeschiedenheit seiner Kammer ausbrechen und an das Licht der Öffentlichkeit treten zu lassen.

Mit seinem unermeßlichen Reichtum hätte er sich zum König von Korsika aufschwingen können.

Ein verdammter Bastard hatte ihm den Weg verbaut. Ein hirnloser Narr hatte das Ergebnis seiner Gedankenarbeit zerstört – mit einem lächerlich simplen Schachzug zerstört. Die Erkenntnis schmückte gallig bitter. Was nutzte alle Geistesarbeit, wenn sie durch rohe Gewalt oder Diebstahl zerstört werden konnte! Della Rocca legte die Handflächen auf das Schapp und schob sich behutsam davon weg. Es gelang ihm, sich auf beiden Beinen zu halten, doch das Dröhnen in seinem Schädel nahm wieder zu. Im Rhythmus seiner tapsigen Schritte schwoll es an und ab.

Er zwang sich, durchzuhalten. Er mußte diesen hinterhältigen Bastarden beweisen, daß er cleverer war als alle zusammen.

Die Worte hallten in ihm nach, und er verharrte jäh, als er das Schott eben geöffnet hatte.

… als alle zusammen!

Hölle und Teufel, daran hatte er überhaupt noch nicht gedacht! Zardo, dieser Mistkerl, hatte womöglich Komplicen gehabt. Das konnte bedeuten, daß sie sich ins Fäustchen lachten, weil sie inzwischen das Weite gesucht hatten – mit seinem Logbuch der Perlen!

Von plötzlich aufwallender Panik getrieben, stürmte della Rocca an Deck. Er kümmerte sich nicht um sein Kopf dröhnen, das jetzt einer unablässigen Folge von tosend heranrauschenden Flutwellen glich. Mit langen Sätzen rannte er über die Kuhl, beugte sich über die Backbordverschanzung und verspürte unendliche Erleichterung.

Die Zweimastschaluppe lag noch da.

Möglich also, daß Zardo doch keinen Komplicen gehabt hatte. Der Kerl hätte gut daran getan, noch in dieser Nacht mit der Schaluppe zu verschwinden. Andererseits ging es nicht von heute auf morgen, genügend brauchbare Kumpane zu finden, mit denen man eine Crew bilden konnte, die etwas taugte.

Das Wasser in der Bucht war noch einigermaßen kühl. Della Rocca hievte mehrere Pützen davon hoch und goß es sich über den Kopf, indem er sich weit nach außenbords beugte. Es war eine Wohltat. Das Dröhnen ließ nach. Angenehme Kühle durchdrang seine Gedanken, und er konnte wieder logische Überlegungen anstellen.

Alles in allem durfte er unbesorgt sein.

Immerhin war zu bezweifeln, daß es unter all den Kerlen auch nur einen gab, der ausreichend Grips hatte. Denn den brauchte man schon, wenn man mit dem Logbuch der Perlen etwas anfangen wollte. Die Ortsangaben, durch Ziffernkombinationen verschlüsselt, machten das Logbuch zum Buch mit sieben Siegeln. Die Zeichnungen allein waren für einen unwissenden Betrachter wertlos, denn er hatte ja keine Ahnung, welcher Küstenabschnitt auf der jeweiligen Buchseite abgebildet war.

Oder?

Möglich allerdings, daß einer der Kerle ein gutes Vorstellungsvermögen hatte und in der Lage war, sich anhand der Ortsskizzen zu erinnern, um welchen Platz an einer karibischen Küste es sich handelte. Eine solche Möglichkeit war jedoch in höchstem Maße unwahrscheinlich.

Im Verlauf seiner Jahre als Seefahrer hatte della Rocca immer wieder festgestellt, daß einfache Gemüter nicht fähig waren, sich in die kartographische Vogelperspektive hineinzudenken. Nach seinem Ermessen gab es in der gesamten Mannschaft keinen einzigen Kerl, der eine solche Denkfähigkeit hatte.

Zum hundertsten Male überdachte der Korse seine Sicherheitsmaßnahmen hinsichtlich der Perlenverstecke und gelangte zu dem Schluß, daß seine Kerle viel zu blöde und stur waren, um ihn zu übertölpeln. Noch viel weniger würden sie es fertigbringen, die Geheimzahlen zu entschlüsseln. Lesen, Schreiben und Rechnen waren Künste, die sie nicht gelernt hatten.

Eine Ausnahme bildeten lediglich Moleta, der Bootsmann, und Manoel Ribas, der Lotse auf der „Bonifacio“.

Auf Ribas konnte er sich verlassen, ihn würde er auch mitnehmen, wenn er von hier für immer verschwand. Am besten sollte das noch in der nächsten Nacht geschehen, und zwar mit der Zweimastschaluppe.

Auf Moleta konnte er getrost verzichten, dem durchtriebenen Kerl traute er sowieso nicht über den Weg. Steckte der Bursche vielleicht sogar mit Zardo unter einer Decke? Zwar hatte er ihn mit aufgehängt, aber das konnte ebensogut Tarnung gewesen sein. Klar, auf diese Art und Weise hatte Moleta seinen Mitwisser leicht und elegant beseitigt.

Der Korse begriff nicht, wie absurd seine Gedankengänge waren. Noch viel weniger erkannte er, wie unendlich weit er davon entfernt war, das Verschwinden des Logbuchs auf andere Weise zu erklären. Beinahe starrsinnig war er darauf fixiert, den oder die Schuldigen innerhalb seiner Mannschaft zu suchen.

Nur in den eigenen Reihen, davon war er überzeugt, konnte überhaupt jemand wissen, daß er an verschiedenen Stellen ein Vermögen an Perlen gehortet hatte. Um so mehr war er jetzt entschlossen, reinen Tisch zu machen, bevor ein Mitwisser heimlich mit der Schaluppe verschwand. Verdächtig war da in erster Linie Moleta, der Hundesohn, der wahrscheinlich wie kein anderer wild darauf war, die Perlenverstecke zu plündern.

Della Rocca kippte sich einen letzten Eimer Wasser über den Kopf, wandte sich um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Verschanzung. Es galt, einen geeigneten Weg zu finden, um rasch und ohne Komplikationen die eigenen Zelte hier abzubrechen.

Nun, da sein Kopf wieder schmerz- und dröhnfrei war, brauchte der Korse nicht einmal lange zu überlegen. Im Handumdrehen hatte er die richtige Idee gefunden. In Gedanken beleuchtete er den Einfall noch einmal von allen Seiten und war dann sicher: Es würde reibungslos funktionieren.

Ein breites Grinsen malte sich in die Züge della Roccas.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 511

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