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2.

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Old Donegal Daniel O’Flynn legte den Kopf in den Nacken und versuchte den Morgenhimmel zu erkennen. Dunstschwaden verhinderten es noch immer. Der Nebel wollte nicht weichen. Er hing wie eine zähflüssige Suppe über dem Atlantik.

„Und ich sage euch, wir kriegen eine Flaute, bei der die Segel auf und nieder stehen! Verdammt, ich merke das in jeder Faser von meinem Holzbein. Dieses Kribbeln, dieses verfluchte Kribbeln …“

Den alten Seebären störte es nicht, daß niemand hinhörte. Er wußte auch, daß sie sich alle eins grinsten. Es war immer das gleiche mit diesen jungen Kerlen. Nie nahmen sie ernst, was er ihnen prophezeite. Wenn es aber dann tatsächlich passierte, kriegten sie regelmäßig das große Schlottern.

Immerhin hatte er die sieben Weltmeere schon befahren, als die meisten von ihnen noch in den Windeln lagen. Logisch also, daß er eine Menge mehr Geschichten kannte als alle zusammen auf der „Isabella VIII.“.

Die Männer auf dem Achterdeck der schlanken Galeone gaben sich denn auch keine Mühe, ihr Grinsen zu verbergen.

„Keine besondere Leistung“, meinte Ben Brighton, „bei diesem Luftzug auf eine Flaute zu tippen.“

Noch standen die Segel der „Isabella“ prall, aber ihre Fahrt hatte in den frühen Morgenstunden mehr und mehr nachgelassen. Die zuvor kabbelige See hatte sich auf beunruhigende Weise beruhigt.

„Mal den Teufel nicht an die Wand, Ben.“ Philip Hasard Killigrew gab dem Schiffszimmermann die aufgerollten Zeichnungen zurück. Alle Instandsetzungsarbeiten, von Ferris Tucker geplant und peinlich genau festgehalten, waren erledigt. Nichts erinnerte mehr an die Narben, die die Galeone vor den Caicos-Inseln davongetragen hatte. Laut und deutlich fügte der Seewolf hinzu: „Für Schwarzmalerei und Zukunftswunder ist letzten Endes Old Donegal allein zuständig.“

Die Männer, die an der vorderen Schmuckbalustrade des Achterkastells standen, drehten sich nicht um. Der zornige Knurrlaut, der vom Besanmast herübertönte, war indessen nicht zu überhören. Old O’Flynn und die beiden Söhne des Seewolfs waren dort damit beschäftigt, Tauwerk aufzuschießen und die Nagelbank zu klarieren.

Ferris Tucker deutete mit dem Daumen über die Schulter. Der Schiffszimmermann der „Isabella“ war ein rothaariger Riese mit einem Kreuz so breit wie ein Rahsegel.

„Das mit dem Holzbein“, sagte er gedehnt, „würde ich schon glauben.“

Ben Brighton konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Der breitschultrige Erste Offizier und Stellvertreter des Seewolfs schüttelte den Kopf, daß die dunkelblonden Haare flogen.

„Holz lebt nicht, Ferris. Es dehnt sich aus und zieht sich zusammen. Aber daß es lebt, kannst nicht einmal du mir erzählen.“

„Habe ich auch nicht behauptet“, entgegnete Tucker. „Es geht um etwas ganz anderes. Leute, denen irgendwo ein Körperteil fehlt – ein Arm oder ein Bein –, die haben manchmal die merkwürdigsten Schmerzen. Ich erinnere mich an einen Kerl in der ‚Bloody Mary‘ in Plymouth. Dem hatten sie schon vor zehn Jahren das rechte Bein abgesägt. Trotzdem juckte ihm regelmäßig der rechte große Zeh, den er gar nicht mehr hatte. Immer bei Wetterumschwung.“

„Phantomschmerzen.“ Hasard nickte. „So nennt man das. Eine bekannte Tatsache.“

„Hm“, brummte Ben Brighton. „Laß das den Alten bloß nicht hören, sonst kommt er aus dem Phantasieren nicht mehr heraus.“

Philip Hasard Killigrew nickte. Seine klaren blauen Augen blitzten amüsiert. Mit seiner Körpergröße von mehr als sechs Fuß überragte er die anderen Männer. Breite Schultern und schmale Hüften unterstrichen sein imposantes Äußeres, und seine schwarzen Haare hatten manchen verblüfft, der ihn für einen typischen Engländer hielt.

Das Ziel der „Isabella“, die vor der afrikanischen Küste auf Nordostkurs segelte, war die Straße von Gibraltar.

Im Mittelmeer, so hoffte Hasard, würden sie jener geheimnisvollen Seekarte auf den Grund gehen können, deren Zeichen ihnen bislang immer noch ein Rätsel waren. Jetzt allerdings, nachdem der handige Südwest über Nacht abgeflaut war, sah es nicht mehr so aus, als ob sie Gibraltar in einem zügigen Törn erreichen würden.

Wie zur Bestätigung ließ das Großsegel plötzlich ein müdes Klatschen hören.

Die Blicke aller Männer richteten sich nach oben, und da war sie, diese häßliche Wellenbewegung, die durch das Tuch lief. Noch einmal blähte es sich, als wollte es sich gegen das Unvermeidliche auflehnen. Aber dann folgte wieder jenes Klatschen, und es pflanzte sich wie eine ansteckende Krankheit auf die übrigen Segel fort.

Großmars-, Fock- und Vormarssegel und schließlich auch das Lateinsegel am Besanmast stimmten in das Konzert ein, dessen schlagende Lautmalerei der gesamten Crew einen Schauer über den Rücken jagte.

„Seht ihr!“ Old Donegal Daniel O’Flynn blickte die beiden Söhne des Seewolfs triumphierend an. „Habe ich nun recht gehabt oder nicht?“

„Natürlich, Mister O’Flynn“, sagte Hasard junior artig.

„Du hast doch meistens recht, Sir“, fügte Philip junior hinzu.

Der alte O’Flynn lächelte geschmeichelt. Die Zwillinge waren so ziemlich die einzigen an Bord, die seinen Geschichten noch immer mit Spannung lauschten. So störte es ihn wenig, daß er kaum noch erwachsene Zuhörer fand. Dafür entschädigte ihn die Begeisterung in den Augen der Jungen.

Äußerlich ähnelten sich die beiden wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen, und schon jetzt, mit ihren knapp elf Lebensjahren, standen sie ihren Mann bei den kleinen Arbeiten, die sie zu verrichten hatten.

Old O’Flynn lehnte sich an den Besanmast und würdigte die Männer bei der Schmuckbalustrade keines Blickes.

„Wißt ihr“, sagte er zu den Zwillingen und senkte seine Stimme, wie im Verschwörerton, „ich kann euch sogar jetzt schon voraussagen, was als nächstes passiert.“

„Wirklich?“ Hasard junior sah ihn mit großen Augen an.

„Was ist es? Bitte erzähl es uns, Sir.“ Philip junior hob Sir John, den karmesinroten Ara-Papagei, von der Nagelbank und setzte ihn auf seine Schulter, als müsse es auch der Vogel für die nun folgende Geschichte bequemer haben.

Sir John wiegte sich hin und her, stieß ein heiseres Krächzen aus und plusterte sein Gefieder auf. Er fuhr mit dem Schnabel durch das Haar des Jungen und genoß es offenkundig, alle Aufmerksamkeit für sich zu haben. Denn Arwenack, der Schimpanse, hatte es vorgezogen, im Logis zu bleiben, wo der Rest der Crew noch mit der Morgenmahlzeit beschäftigt war.

„Da gibt es nicht viel zu sagen“, begann der alte O’Flynn. „Es ist nur so, daß wir auch ohne Wind weiter auf Nordostkurs laufen werden.“

Die beiden Jungen sperrten den Mund auf.

„Ohne Wind?“ fragte Hasard junior.

„So ist es. Natürlich nur mit sehr geringer Fahrt. Aber euer Vater und alle anderen Schlaumeier werden nachher aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Wenn ich alles richtig mitgekriegt habe, sind wir nämlich nur noch ein paar Seemeilen von den Kanarischen Inseln entfernt. Und da gibt es so eine merkwürdige Erscheinung. Manche behaupten, es wäre eine ganz einfache Meeresströmung. Aber das ist es nicht allein. Ich habe von Sachen gehört, die hier passiert sind …“ Old O’Flynn schüttelte sich und legte eine Pause ein, um die Spannung der Jungen zu steigern.

Ihre Blicke hingen wie gebannt an seinen Lippen.

„Da hat es mal einen spanischen Kapitän gegeben“, fuhr der Alte fort. „Ihr erinnert euch an Venezuela?“

Philip und Hasard nickten eifrig. Die Geschehnisse, in die die Isabella-Crew am Drachensund verwikkelt gewesen war, lagen noch nicht allzu lange zurück.

„Nun, der Name dieses Kapitäns ist mir entfallen. Spielt auch keine Rolle. Es muß jedenfalls schon zwanzig Jahre her sein, daß dieser Don am Orinoco eine Silberladung an Bord nahm. Vorher mußte er sich mit einem Eingeborenenstamm herumschlagen. Die Wilden wurden zwar besiegt, aber ihr Medizinmann verfluchte das Schiff, und er prophezeite, daß es vor einer fernen Küste ohne Winde in den Schlund der Hölle hinabgezogen würde. Nun …“ Old O’Flynn räusperte sich krächzend und kratzte an seinem Holzbein. „Dieses verdammte Kribbeln will und will nicht aufhören.“

„Weiter!“ drängte Philip junior.

„Nun, was soll ich sagen? Die spanische Galeone mit dem Bauch voller Silber geriet tatsächlich südwestlich der Kanarischen Inseln in eine Flaute. Und genau wie wir uns wundern werden, wunderte sich der Kapitän über diese merkwürdige Strömung. Er hat es in seinem Logbuch notiert. Es befand sich in seiner Kiste, die Jahre später von Seeleuten aus dem Wasser gefischt wurde. Mit seiner letzten Eintragung berichtete der Spanier, daß das Meer glatt wie ein Spiegel gewesen wäre und sich kein Lufthauch geregt hätte. Trotzdem soll da aber eine unerklärliche Macht gewesen sein, die das Schiff immer tiefer hinabzog. Von da an war die Galeone für alle Zeiten verschollen. Vielleicht gehört sie jetzt zu den Geisterschiffen, die manchmal in einer Sturmnacht irgendwo auf den Weltmeeren zu sehen sind.“

„Und wenn es nun die Bohrwürmer waren?“ wandte Hasard junior zaghaft ein. „Die können einen Schiffsrumpf doch auch so durchlöchern, bis …“

„Nein, nein. Das hat der Kapitän alles überprüfen lassen. Ihr müßt euch nun mal damit abfinden, Leute, daß es zwischen Himmel und Erde gewisse Sachen gibt, für die unser menschlicher Verstand einfach zu armselig ist.“

Voller Genugtuung bemerkte Old Donegal Daniel O’Flynn, wie die Söhne des Seewolfs erschauerten.

Eine Donnerstimme, die von der Kuhl herauftönte, riß sie aus ihren düsteren Gedanken.

„Hurtig, hurtig, ihr faulen Rübenschweine! Das könnte euch so passen, was, wie? Erst den Bauch vollschlagen und dann nicht mehr mit dem Hintern hochkommen! Davor wird euch euer Profos bewahren, ihr Stinte! Schwingt die Pützen und schrubbt es euch von der Seele, was euch bedrückt! Wenn ich mich nicht gleich in den Decksplanken spiegeln kann, ziehe ich euch …“

„… die Haut in Streifen von euren Affenärschen!“ fiel ein heiserer Chor von Männerstimmen ein.

„Ho, ho! Ihr habt wohl euren spaßigen Tag!“ brüllte Edwin Carberry. Der Profos der „Isabella“ hatte sich beim Großmast aufgebaut und schob herausfordernd sein mächtiges Rammkinn vor. Er stemmte die Fäuste in die Hüften, wodurch seine bullige Statur noch eindrucksvoller wirkte. „Denkt ihr etwa, wenn der Wind stillsteht, heißt das für euch auch Stillstand, was, wie? Himmel, Arsch und Kabeljau, wenn ihr lausigen Bilgenratten glaubt, daß ihr euch auf die faule Haut legen könnt, dann wird euch gleich der Schlag treffen!“ Carberry blickte in die Runde. „He, Mister Roskill, das hab ich auch schon mal schneller gesehen! Sieht so aus, als ob deine lahmen Knochen nur noch für den Kombüsendienst taugen. Schaffst du’s noch, oder brauchst du Hilfe?“

Sam Roskill, der schlanke ehemalige Karibik-Pirat, lehnte am Backbord-Schanzkleid und holte mit flinken Handbewegungen eine Leine ein, an deren Ende eine mit Seewasser gefüllte Pütz hing. Wie alle anderen arbeitete er mit unvermindertem Tempo weiter.

Die lautstarken Sprüche des Profos’ waren für sie gewohnte Begleitmusik, und jedem einzelnen von ihnen hätte etwas gefehlt, wenn die Anfeuerungen des klotzigen Profos’ einmal ausgeblieben wären.

„Da soll mir doch der Gehörnte persönlich in den Hintern treten“, fuhr Carberry grollend fort, „wenn ich es nicht hinkriege, daß sich dieser verrottete Kahn noch heute in ein sauberes und blitzblankes Schiff verwandelt!“

Die Männer mußten grinsen. Eine Begegnung zwischen Edwin Carberry und dem Gehörnten konnten sie sich mächtig gut vorstellen. Keine Frage, daß der letztere schon nach wenigen freundlichen Worten des Profos’ den Schwanz einziehen und verstört davonschleichen würde.

Was nun Sauberkeit und Ordnung anbetraf, so bot die schlanke dreimastige Galeone ein stolzes Bild, hinter dem sich keiner der Seewölfe zu verstecken brauchte. Carberrys maßlose Übertreibung bezog sich auf die wenigen Sägespäne und Holzreste, die nach den Instandsetzungsarbeiten noch herumlagen.

Seit sie die Kapverdischen Inseln hinter sich gelassen hatten, verfügten die Männer unter Philip Hasard Killigrew wieder über ein Schiff, das so schmuck war wie an seinem ersten Tag.

Keiner von ihnen würde jemals den denkwürdigen Tag vergessen, als sie die achte „Isabella“ daheim in Old England in ihren Besitz übernommen hatten. Der beste Schiffbauer Englands hatte die 300-Tonnen-Galeone entworfen und eine prachtvolle Konstruktion zustande gebracht.

Die Kastelle waren wesentlich flacher, wodurch eine viel schlankere Linienführung als bei anderen Schiffen dieser Klasse erreicht worden war. Ins Auge stachen auch die drei überlangen Masten, die eine größere Segelfläche ermöglichten. Das Ruderhaus auf dem Quarterdeck hatte ein richtiges Ruderrad. Auch damit war die „Isabella“ den plumpen spanischen Galeonen weit voraus, die noch mit dem veralteten Kolderstock auf Kurs gehalten wurden.

Letztlich gingen auch die Kanonen des Dreimasters über das herkömmliche Maß hinaus. Acht 17-Pfünder-Culverinen waren auf jeder Seite der Kuhl mit den Brooktauen festgezurrt. Die überlangen Rohre dieser Geschütze ermöglichten ein genaues Zielen auf mehr als eine Seemeile Distanz. Zusätzlich gab es auf der Back und auf dem Achterdeck je zwei Drehbassen – Hinterlader, die in beweglichen Gabellafetten gelagert waren.

Philip Hasard Killigrew beobachtete die Entwicklung des Wetters voller Sorge. Längst schob die „Isabella“ nicht mehr den weißschäumenden Schnurrbart der Bugsee vor sich her. Und die bisher noch stolz geblähten Segel hingen wie übergroße schlaffe Lappen an den Rahen.

Dem Seewolf und seinen Männern entging keineswegs, daß ihr Schiff in einer kraftvollen Meeresströmung stetig weiter nach Nordosten trieb. Keiner von ihnen war indessen geneigt, diese Tatsache einer übernatürlichen Erscheinung zuzuschreiben.

Seewölfe - Piraten der Weltmeere 233

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