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Algophobie

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Nenne mir dein Verhältnis zum Schmerz, und ich will Dir sagen, wer Du bist!1 Dieser Spruch von Ernst Jünger lässt sich auf die Gesellschaft als ganze übertragen. Unser Verhältnis zum Schmerz verrät, in welcher Gesellschaft wir leben. Schmerzen sind Chiffren. Sie enthalten den Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Gesellschaft. So hat jede Gesellschaftskritik eine Hermeneutik des Schmerzes zu leisten. Werden Schmerzen allein der Medizin überlassen, verfehlen wir ihren Zeichencharakter.

Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide. Die Algophobie hat eine Daueranästhesierung zur Folge. Jeder schmerzhafte Zustand wird vermieden. Verdächtig sind inzwischen auch Liebesschmerzen. Die Algophobie verlängert sich ins Gesellschaftliche. Konflikten und Kontroversen, die zu schmerzhaften Auseinandersetzungen führen könnten, wird immer weniger Raum gegeben. Die Algophobie erfasst auch die Politik. Konformitätszwang und Konsensdruck nehmen zu. Die Politik richtet sich in einer Palliativzone ein und verliert jede Vitalität. Die »Alternativlosigkeit« ist ein politisches Analgetikum. Die diffuse »Mitte« wirkt palliativ. Anstatt zu streiten und um bessere Argumente zu kämpfen, ergibt man sich dem Systemzwang. Eine Postdemokratie macht sich breit. Sie ist eine palliative Demokratie. Daher fordert Chantal Mouffe eine »agonistische Politik«, die schmerzhafte Auseinandersetzungen nicht scheut.2 Zu Visionen oder einschneidenden Reformen, die schmerzen könnten, ist die palliative Politik nicht fähig. Lieber greift sie zu kurzwirkenden Analgetika, die systemische Dysfunktionen und Verwerfungen nur verschleiern. Die palliative Politik hat keinen Mut zum Schmerz. So setzt sich das Gleiche fort.

Der heutigen Algophobie liegt ein Paradigmenwechsel zugrunde. Wir leben in einer Gesellschaft der Positivität, die sich jeder Form von Negativität zu entledigen sucht. Der Schmerz ist die Negativität schlechthin. Auch die Psychologie folgt diesem Paradigmenwechsel und geht von der negativen Psychologie als »Psychologie des Leidens« zur »Positiven Psychologie« über, die sich mit Wohlbefinden, Glück und Optimismus beschäftigt.3 Negative Gedanken sind zu vermeiden. Sie sind unverzüglich durch positive Gedanken zu ersetzen. Die Positive Psychologie unterwirft selbst den Schmerz einer Leistungslogik. Die neoliberale Ideologie der Resilienz macht aus traumatischen Erfahrungen Katalysatoren für Leistungssteigerung. Es ist sogar vom posttraumatischen Wachstum die Rede.4 Das Resilienztraining als seelische Kraftübung hat aus dem Menschen ein möglichst schmerzunempfindliches, permanent glückliches Leistungssubjekt zu formen.

Die Glücksmission der Positiven Psychologie und das Versprechen einer medikamentös herstellbaren Dauerwohlfühloase sind einander verschwistert. Die US-amerikanische Opioid-Krise hat paradigmatischen Charakter. An ihr ist nicht nur die materielle Gier einer Pharmafirma beteiligt. Ihr liegt vielmehr eine verhängnisvolle Annahme zur menschlichen Existenz zugrunde. Allein eine Dauerwohlfühl-Ideologie kann dazu führen, dass Medikamente, die ursprünglich in der Palliativmedizin eingesetzt wurden, im großen Stil auch an Gesunde verabreicht werden. Nicht zufällig bemerkte der US-amerikanische Schmerzexperte David B. Morris schon vor Jahrzehnten: »Die heutigen Amerikaner gehören wahrscheinlich zur ersten Generation der Erde, die ein schmerzfreies Dasein als eine Art Verfassungsrecht ansieht. Schmerzen sind ein Skandal.«5

Die Palliativgesellschaft fällt mit der Leistungsgesellschaft zusammen. Der Schmerz wird als ein Zeichen der Schwäche gedeutet. Er ist etwas, das es zu verbergen oder wegzuoptimieren gilt. Er verträgt sich nicht mit der Leistung. Die Passivität des Leidens hat keinen Platz in der vom Können beherrschten Aktivgesellschaft. Der Schmerz wird heute jeder Möglichkeit des Ausdrucks beraubt. Er ist dazu verurteilt zu verstummen. Die Palliativgesellschaft lässt nicht zu, den Schmerz zu einer Passion zu beleben, zu versprachlichen.

Die Palliativgesellschaft ist ferner eine Gesellschaft des Gefällt-mir. Sie verfällt einem Gefälligkeitswahn. Alles wird geglättet, bis es Wohlgefallen auslöst. Like ist das Signum, ja das Analgetikum der Gegenwart. Es beherrscht nicht nur die Sozialen Medien, sondern alle Bereiche der Kultur. Nichts soll wehtun. Nicht nur die Kunst, sondern das Leben selbst hat instagrammable zu sein, das heißt frei von Ecken und Kanten, von Konflikten und Widersprüchen, die schmerzen könnten. Vergessen wird, dass der Schmerz reinigt. Von ihm geht eine kathartische Wirkung aus. Der Kultur der Gefälligkeit fehlt die Möglichkeit der Katharsis. So erstickt man in den Schlacken der Positivität, die sich unter der Oberfläche der Gefälligkeitskultur ansammeln.

In einem Kommentar zu Auktionen moderner und zeitgenössischer Kunst heißt es: »Ob Monet oder Koons, ob Modiglianis beliebte Liegeakte, ob Picassos Frauengestalten oder Rothkos sublime Farbfelder, selbst überrestaurierte Pseudo-Leonardos-Trophäen auf dem obersten Preisniveau müssen offenbar auf den ersten Blick einem (männlichen) Künstler zuzuordnen und gefällig bis zur Banalität sein. Langsam schließt zumindest auch eine Künstlerin in diesen Kreis auf: Louise Bourgeois setzte einen neuen Rekord für eine gigantische Skulptur. 32 Millionen für Spider aus den Neunzigerjahren. Aber selbst Riesenspinnen sind eben weniger bedrohlich als ungeheuer dekorativ.«6 Bei Ai Weiwei wird selbst die Moral so verpackt, dass sie zum Like animiert. Moral und Gefälligkeit treffen sich in einer gelungenen Symbiose. Die Dissidenz verkommt zum Design. Jeff Koons hingegen inszeniert eine moralfreie, ostentativ dekorative Kunst des Gefällt-mir. Die einzig sinnvolle Reaktion gegenüber seiner Kunst ist, wie er selbst hervorhebt, »Wow«.7

Die Kunst wird heute mit aller Gewalt ins Korsett des Gefällt-mir eingezwängt. Diese Anästhesierung der Kunst macht auch nicht Halt vor den alten Meistern. So werden sie sogar mit dem Modedesign kurzgeschlossen: »Begleitet wurde die Schau ausgesuchter Porträts von einem Video, das demonstrierte, wie gut sich zeitgenössische Designer-Kleider und historische Gemälde etwa von Lucas Cranach dem Älteren oder Peter Paul Rubens farblich aufeinander abstimmen lassen. Und natürlich fehlte nicht der Hinweis, dass es sich bei historischen Porträts um eine Vorform der heutigen Selfies handele.«8

Die Kultur der Gefälligkeit hat vielfältige Ursachen. Sie geht zunächst auf die Ökonomisierung und Kommodifizierung der Kultur zurück. Die Kulturprodukte geraten immer stärker unter den Zwang des Konsums. Sie müssen eine Form annehmen, die sie konsumierbar, das heißt gefällig macht. Diese Ökonomisierung der Kultur geht mit der Kulturalisierung der Ökonomie einher. Konsumgüter werden mit kulturellem Mehrwert versehen. Sie versprechen kulturelle, ästhetische Erlebnisse. So wird das Design wichtiger als der Gebrauchswert. Die Konsumsphäre dringt in die Kunstsphäre. Konsumgüter präsentieren sich als Kunstwerke. Dadurch vermischen sich Kunst- und Konsumsphäre, was zur Folge hat, dass nun die Kunst sich ihrerseits der Konsumästhetik bedient. Sie wird gefällig. Ökonomisierung der Kultur und Kulturalisierung der Ökonomie verstärken einander. Eingerissen wird die Trennung zwischen Kultur und Kommerz, zwischen Kunst und Konsum, zwischen Kunst und Werbung. Künstler geraten selbst unter den Zwang, sich als Marken zu etablieren. Sie werden marktkonform und gefällig. Die Kulturalisierung der Ökonomie betrifft auch die Produktion. Die postindustrielle, immaterielle Produktion macht sich die Formen künstlerischer Praxis zu eigen. Sie hat kreativ zu sein. Die Kreativität als ökonomische Strategie lässt aber nur Variationen des Gleichen zu. Sie hat keinen Zugang zum ganz Anderen. Ihr fehlt die Negativität des Bruches, die schmerzt. Schmerz und Kommerz schließen einander aus.

Als die Kunstsphäre, scharf getrennt von der Konsumsphäre, ihrer eigenen Logik folgte, erwartete man von ihr keine Gefälligkeit. Künstler hielten sich vom Kommerz fern. Adornos Diktum, die Kunst sei »Fremdheit zur Welt«9, hatte noch seine Gültigkeit. Die Wohlfühlkunst ist demnach ein Widerspruch. Die Kunst muss befremden, stören, verstören, ja auch schmerzen können. Sie hält sich anderswo auf. Sie ist zu Hause im Fremden. Gerade die Fremdheit macht die Aura des Kunstwerkes aus. Der Schmerz ist der Riss, durch den das ganz Andere Einzug hält. Gerade die Negativität des ganz Anderen befähigt die Kunst zu einem Gegennarrativ zur herrschenden Ordnung. Die Gefälligkeit hingegen setzt das Gleiche fort.

Die Gänsehaut ist, so Adorno, das »erste ästhetische Bild«.10 Sie bringt den Einbruch des Anderen zum Ausdruck. Das Bewusstsein, das nicht zu erschauern vermag, ist ein verdinglichtes. Es ist unfähig zur Erfahrung, denn diese ist »in ihrem Wesen der Schmerz, in dem das wesenhafte Anderssein des Seienden gegenüber dem Gewohnten sich enthüllt«.11 Auch das Leben, das jeden Schmerz ablehnt, ist ein verdinglichtes. Allein das »vom Anderen Angerührtsein«12 erhält das Leben lebendig. Sonst bleibt es in der Hölle des Gleichen gefangen.

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