Читать книгу The Night - Byung-uk Lee - Страница 4
Holz und Blut
ОглавлениеDie Asphaltstraße zog sich durch den dichten Wald wie ein Fluss aus Beton. Jack trieb auf diesem Fluss, der kein Ende zu nehmen schien. Nach ca. zwei Meilen bildete er sich schon Geräusche im Geäst ein, das die Straße mit ihren unheimlichen, hölzernen Pranken säumte. Oder vielleicht war es doch keine Einbildung?
Der Lichtkegel der Taschenlampe bewegte sich hektisch durch die Schwärze der Nacht und der giftig weiße Nebel verhieß nichts Gutes. Bei jedem Knacken, Rascheln oder Knarren riss Jack den Lichtstrahl in die Richtung der Geräuschquelle. Die dumpfe Helligkeit zerriss die Dunkelheit nur für einen kurzen Augenblick. Ganz ruhig bleiben, Jack. Du bist doch nicht abergläubisch. Es sind bestimmt nur irgendwelche Rehe, die zwischen den Bäumen umherspringen.
Die Wanderung durch die Finsternis zehrte an seiner Hoffnung, jemanden zu finden, der sie aus ihrer Misere befreien konnte. Ein Schrei zerriss die Stille der Nacht. Als ihm klar wurde, dass dieses markerschütternde Geräusch aus seiner Kehle gedrungen war, bedeckte ein eiskalter Schauer seine gesamte Haut. Der weiße Nebel wäre für ihn fast zur Todesfalle geworden. Denn er stand vor der Brücke, die sie Tage zuvor mit dem Wagen überquert hatten. Oder das, was von ihr übrig war. Als er mit der Taschenlampe durch den weißen Schleier leuchtete, erkannte er vage die riesigen Betonstücke, die unter ihm im bedrohlich rauschenden Fluss trieben. Die Brücke war eingestürzt und unpassierbar für ihren gestrandeten Chevrolet. Fast wäre er in die Tiefe gestürzt und er wollte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er gefallen und auf die scharfkantigen Felsgesteine, die wie Reißzähne aus dem Flussbett ragten, gestürzt wäre.
Aus dem Gestrüpp vernahm er seltsame Geräusche, die er keinem ihm bekannten Tier zuordnen konnte. Über die Straße konnte er keine Hilfe holen und sie waren bereits zu weit entfernt vom Wirtshaus. Jack zitterte am ganzen Leib, aber war sich nicht sicher, ob die zunehmende Kälte dafür verantwortlich war. Irgendetwas schien zwischen den pechschwarzen Stämmen zu lauern. Ob es ein Tier oder ein anderes ihm unbekanntes Wesen war, vermochte er nicht zu beurteilen. Dann erfasste sein Geist wieder die rationale Vernunft, die für einen Augenblick in der Tiefe seiner ängstlichen Seele untergetaucht war. Er verließ den harten Asphalt und betrat nun den feucht schmierigen Waldboden. Dicke Moose machten seine Schritte lautlos, was bei einer lauernden Gefahr vielleicht sein Leben retten konnte. Die hohen Bäume hatten ihn nun vollkommen eingeschlossen, sodass die sichere Straße nicht mehr sichtbar war.
Das Knacken im Gestrüpp und die rauschenden Baumkronen, die vom kühlen Luftzug erfasst wurden, steigerten seine Nervosität ins Unermessliche.
Als der Lichtkegel etwas länger auf einen Baumstamm verharrte, bekam es Jack mit blanker Furcht zu tun. Denn die Rinde des Stammes schimmerte seltsam rötlich. Er trat näher und fuhr mit dem Zeigefinger über das raue Holz. Sein Geist erstarrte. Es war Blut. Ein ganzes Rinnsal floss den Stamm hinunter. Jack erbrach fast, als der eisenhaltige Geruch von Fäulnis seine Sinne erschütterte.
Vielleicht nur ein totes Tier, das in der Baumkrone liegt.
Panisch flüchtete Jack tiefer in das schwarze Herz des Hexenwaldes und wäre fast über eine dicke Wurzel gestolpert, die wie eine pulsierende Hauptschlagader den moosigen Boden bedeckte. Mit Entsetzen stellte er fest, dass auch die anderen Bäume bluteten. Und als sich das Wurzelwerk unter seinen Füßen mit einem knarrenden Geräusch in Bewegung setzte, wich all seine Vernunft der Furcht. Jack rannte los, ohne zu wissen, wohin. Er rannte einfach los. An ihm zischten die blutigen Stämme vorbei. Durch den unebenen Boden schmerzten ihm die Knöchel und der eisige Wind schnitt sich in seine Wangen. Der wolkenverhangene Himmel und die dichten Baumkronen dämpften das Licht der Sterne und des bleichen Mondes, sodass nur seine Taschenlampe sein letzter, lunarer Rettungsanker war. Doch auch dieser würde irgendwann erlöschen. Die Ersatzbatterien lagen noch bei Claire im Auto.
Er war bereits lange Zeit unterwegs, da erblickte er eine alte Blockhütte, deren Bretter bereits stark verwittert und mit scheußlich fauligem Moos bedeckt waren. Es musste allerdings jemand darin hausen. Denn die schmierigen Scheiben wurden durch ein schwaches Licht erleuchtet. Wahrscheinlich das einer Kerze. Jack konnte nirgendwo einen Generator geschweige denn eine Stromleitung orten. Hektisch donnerte er mit der Faust gegen die dünne Holztür. Ein mürrisch aussehender Förster mit grauem Spitzbart öffnete ihm.
„Was suchst du hier?“, knurrte der Mann forsch.
„Entschuldigen Sie. Mein Name ist Jack Milford. Meine Frau und ich hatten eine Autopanne. Haben Sie vielleicht ein Telefon?“ Jack kam sich wie ein kleiner Schuljunge vor, der an Halloween vor Türen um Süßigkeiten bettelte.
„Nein, ich benutze hier gar keine elektronischen Geräte.“ Das Knurren des Försters klang nun etwas sanfter.
„Haben Sie vielleicht Werkzeug, damit ich meinen Wagen reparieren kann? Ich möchte hier schnell weg. In diesem Wald gehen unheimliche Dinge vor sich.“
Das hagere Gesicht beugte sich vor und im schwachen Schein der Taschenlampe erkannte Jack, das ein Auge des Försters von grauem Starr befallen war, wodurch das faltige Gesicht des Alten noch verwelkter wirkte.
„So, so unheimliche Dinge willst du gesehen haben? Was denn für welche?“ Die Stimme des Alten war nun von Misstrauen zerfressen.
„Blutende Bäume, bewegtes Wurzelwerk und dieser Gott verdammte Nebel. Eigentlich glaube ich nicht an solche Märchen, aber ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Bitte, helfen Sie mir!“, stotterte Jack, denn die bewegungslose, kalte Mimik des Försters schlug ihm wie ein eisiger Hauch ins Gesicht.
Nachdem sich der Alte als Gordon Dixon vorgestellt hatte, bat er Jack in seine schwach beleuchtete Hütte einzutreten. Das Kerzenlicht warf fleckige Schatten auf die staubigen Möbel und die Holzvertäfelungen wurden von Kadavern geziert. Abgeschlagene Köpfe von Hirschen und Bären. Das Ganze glich einem Museum für prähistorische Tierarten.
„Wo steht der Wagen?“
Gelassen ließ sich Gordon auf ein staubiges Sofa fallen und schlug die Beine übereinander. Mit einem süffisanten Lächeln auf den Lippen betrachtete er Jack, der sich in der kleinen Hütte umsah. Die ganze Misere, in der er sich befand, schien den greisen Waldhüter in höchstem Maße zu amüsieren.
„Ein paar Meilen Nordöstlich. Meine Frau, ich will sie nicht so lange alleine lassen“, antwortete Jack etwas ruhiger. Sein hoher Adrenalinspiegel hatte sich im Laufe des Gespräches auf seltsame Weise verflüchtigt.
„Ist ja gut. Ich hole nur mein Gewehr.“
Nun erleuchteten zwei Taschenlampen das schwarze Gestrüpp des Hexenwaldes. Mit selbstverständlicher Sicherheit ging Gordon vor. Ihm schienen selbst die blutenden Bäume nicht zu verwundern. Fast so, als würde er geheimnisvolle Dinge über diesen Ort wissen. Die hohen Bäume um sie herum knarrten bedrohlich. Jack umklammerte seine Taschenlampe fester und versuchte, nicht den Anschluss zum eilig voranschreitenden Förster zu verlieren.
Endlich erreichten sie die Straße, aber sie mussten noch einige Meilen laufen, bis sie den Chevrolet erblickten. Der schwarze Umriss des Metallhaufens wurde fahl vom bleichen Mond beleuchtet. Bereits aus der Ferne erkannte Jack, dass etwas nicht stimmte. So rannte er vor. Der Förster hingegen ließ sich Zeit und zündete sich eine Pfeife an.
„Um Gottes willen! Wo ist sie? Hier liegt überall Blut!“
Der Schein der Taschenlampe gab auf dem Asphalt Glassplitter und Blutflecken preis. Zerborsten und zerbeult lag die Beifahrertür weit weg im Gestrüpp. Die Fahrertür stand offen. Sie musste von einer gewaltigen Kraft herausgerissen worden sein. Die beiden Männer leuchteten darauf. Sie sah aus, als hätte etwas mit kräftigen Hieben darauf eingeschlagen und nur einige Glasfragmente krallten sich noch mit letzter Not am Rahmen. Die mächtigen Bäume hinter ihnen waren zur Seite geknickt, da etwas noch Mächtigeres sie entwurzelt hatte.
„Wahrscheinlich ein wildes Tier“, meinte Gordon mit erschreckender Gelassenheit, kniete sich auf den Boden und tippte mit dem Zeigefinger auf die Blutlache. Bevor er den Tropfen zerrieb, roch er noch daran, als wolle er eine Spur aufnehmen. Gerade die verdächtige Ruhe des Alten brachte Milford aus der Fassung. So bekam seine Geduld langsam Risse. Mit wilder Entschlossenheit packte er Gordon am Kragen und fragte ihn, was hier vor sich ginge und was seine Frau verschleppt habe. Doch die Kraft, mit der Milford zugepackt hatte, beeindruckte den Waldhüter nicht sonderlich. Geisterhaft stieg der Qualm der Pfeife in den düsteren Nachthimmel. Jack spürte plötzlich den kalten Lauf des Gewehrs unterm Kinn.
„Schrei mich nicht an, sonst verpass ich dir eine Kugel“, knurrte Gordon erneut, wie ein tollwütiger Hund.
„Sagen Sie mir einfach, was in diesem Wald vor sich geht?“
Es war Jacks Resignation, die den Förster zur Einsicht brachte, so senkte er missgelaunt sein Gewehr. Smaragdartig funkelte im Mondlicht das eine gesunde Auge Jack mit einer Feindseligkeit an, die er nie vor zuvor von einem anderen Menschen erfahren hatte.
„Es gibt Kräfte auf dieser Welt, die man besser nicht kennenlernen sollte. Dunkle und böse Kräfte, die dich mit einem Bissen verschlingen und deine Seele in ewige Verdammnis stürzen. Es sind Dämonen, bösartig und älter als die Menschheit. Sie haben vor uns die Erde regiert und sich in diesem Wald zurückgezogen. Finde deine Frau und lauf mit ihr schnell weg, bevor es zu spät ist.“
Mit diesen Worten verschwand der Alte wieder im Wald. Die hagere Gestalt wurde von der Dunkelheit verschluckt und verschwand zwischen den schwarzen Stämmen. Jack rief ihm noch einige Male hinterher, aber die einzige Antwort war ein Echo und das Pfeifen des Windes, der zwischen den knorrigen Bäumen hindurchfegte.