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2. Gelsomina

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Das mit Air Force One war natürlich ein leeres Versprechen von Falo. Genau gesagt hat er es auch gar nicht versprochen, ich habe es mir nur ausgemalt. Andererseits, wenn Falo Schöndorff so viel Macht besäße, das Flugzeug des Präsidenten über die Welt zu schicken, brauchte er nicht mich verzweifelt um Hilfe anzuflehen, denn jeder abgestandene Ersatzschauspieler, auch Colin Aberthau, würde ihm bedingungslos aus der Hand fressen, auch den letzten noch nicht gedachten Wunsch von den Augen ablesen und ihn vorauseilend erfüllen.

Beinahe ebenso gut wie mit der Präsidentenmaschine ist uns aber der Flug mit Transcosmic International bekommen, dieser kleinen Fluglinie für Teuerflieger, die nie überbucht ist, wo man nie ein weniger als halb volles Champagnerglas neben sich stehen hat (wenn man denn überhaupt Champagner mag, ich bleibe bei Kaffee), wo man auch während des Fluges per Handy telefonieren kann (wenn's denn unbedingt sein muss), und wo Hunde n einen Platz in der Kabine buchen können und mit Futter der Marke Canis Voluptus in fünf Geschmacksrichtungen verwöhnt werden. Für mich allein hätte ich Falo nur ein Touristenticket in Rechnung gestellt, aber schließlich kann ich Harry nicht zumuten, in diesen engen Sitzen zu reisen, mit Hühnerbeinen und Fahrrädern um und über sich. Oder gar in einem Plastikkäfig im Laderaum. Grässlich!

Transcosmic fliegt nicht nach Neapel aber immerhin nach Rom, und da haben wir, auf Falos Kosten, einen Leihwagen vorbestellt. Das war schwieriger als erwartet, denn wer Transcosmic fliegt, der fährt Mercedes und keinen Mini. Irgendwie haben wir es aber doch geschafft, und so kann Harry gemütlich von seinem speziell für den Mini konstruierten Hundesitz (kein Zuschlag für Sperrgepäck bei Transcosmic!) die Welt betrachten. Er hätte nie im Leben gedacht, dass er noch ein zweites Mal nach Europa kommt. Ich auch nicht. Aber es gefällt uns hier, denn Hunde, Katzen, Papageien, Goldfische und andere Mitbewohner dieser Erde genießen im Alten Europa wesentlich größere Rechte und Freiheiten als in der Neuen Welt.

So trundeln wir die Autostrada in Richtung Süden hinab. Wir möchten unbedingt noch bei Tageslicht ankommen, denn in der Dunkelheit verlieren selbst alteingesessene Neapolitaner außerhalb ihres Viertels die Orientierung. In der Ewigen Stadt haben wir uns nicht mit Besichtigungen aufgehalten, mit Rücksicht auf Falo, der wartet schon seit Stunden händeringend in der Hotelhalle in Neapel. Aber auf dem Heimweg möchten wir unbedingt ein paar Tage Urlaub in Rom machen. Ich muss Harry doch den Vatikan zeigen! Das wird sicherlich interessant für ihn. Er ist zwar nicht katholisch, aber man muss ja auch kein Filmstar sein, wenn man sich in Hollywood umsehen will. Und danach gibt's einen Kaffee an der Piazza Navona! Die Fontana di Trevi werden wir uns schenken, da gehen nur die Touristen hin, um ihr Kleingeld einzuwerfen, aber wir sind keine Touristen, wir sind Reisende. Bis jetzt bin ich mir auch nicht sicher, ob wir das Kolosseum besichtigen sollten. Ich kenne es schon, und ich weiß nicht, ob ich Harry die schrecklichen Geschichten zumuten kann, die sich dort abgespielt haben, mit Löwen, Gladiatoren und Märtyrern. Er ist doch sehr sensibel.

Nach einer Stunde wird es Harry langweilig. Vielleicht kann er auch mit der italienischen Landschaft nicht viel anfangen, ein Hund hat in dieser Beziehung doch andere Maßstäbe als wir. Er windet sich zwischen den Sessellehnen nach vorn und nimmt auf dem Beifahrersitz Platz. Das Navigationsgerät habe ich ausgeschaltet, denn diese tonlose Frauenstimme nervt ihn, und er bellt dann ganz ungehemmt und ausdauernd zurück. Zu unserer Linken ragt ein Berg in den Himmel, nicht ganz in den Himmel, aber doch so hoch, dass vor weit über tausend Jahren dort schon ein Kloster entstand, weil die Mönche ihrem Herrn so nahe wie möglich sein wollten.

"Das ist ein historischer Ort, Harry, den du dir merken solltest. Er heißt Monte Cassino und war im zweiten Weltkrieg Schauplatz einer mörderischen Schlacht. Dreißigtausend Soldaten sollen hier umgekommen sein, und das wundervolle, historische Kloster war nur noch ein tiefer Krater im Berg. Zum Glück haben die Deutschen damals die Kunstschätze rechtzeitig in Sicherheit gebracht, und das Kloster ist später wieder aufgebaut worden."

Harry starrt angespannt und mit einem leisen, bedauernden Fiepen auf die andere Seite, wo sich gerade ein Schwarm großer Vögel niederlässt. So ist er nun mal. Ich erwarte ja auch gar nicht, dass ihn meine Geschichten interessieren. Aber statt nur "Setz dich oder "Braver Harry" zu sagen, kann ich ihm doch genauso gut erzählen, was mir gerade durch den Kopf geht.

Es ist ein Apriltag, wie wir ihn daheim nur aus dem Fernsehen kennen. Wir sind graue Himmel gewöhnt, Wolken in 264 Grautönen, aus denen sich 264 Regentöne über die Welt ergießen, vom Fisselregen bis zum Wolkenbruch. Dabei hält Vancouver noch nicht einmal den Weltrekord an Regentagen. Kürzlich habe ich einen Norweger kennengelernt, der seinen Wohnsitz nach Vancouver verlegt hat. In seinem heimischen Bergen herrscht an 364 Tagen des Jahres schlechtes Wetter – außer in Schaltjahren –, und durch den Umzug hat er sein Kontingent an Sonnenschein mit einem Schlag verdoppelt. Doch hier, am Nordende von Süditalien, strahlt die Sonne von einem fast wolkenlosen Himmel. Es ist so warm, dass ich das Fenster auf meiner Seite ganz und gar heruntergedreht habe. Beim Mini kurbelt man noch mit der Hand. Der Fahrtwind weht mir angenehm ins Gesicht, denn wir fahren höchstens hundertzwanzig, aber jedesmal, wenn uns einer der riesigen Laster überholt, hebt uns seine unsichtbare Schleppe beinahe in die Lüfte.

Langsam, wie ein Foto in der Entwicklerschale, gewinnt schräg vor uns der nächste mythische Berg an Gestalt. Der Berg, der Vulkan, Il Vesuvio. Er gehört zu den Aristokraten der Gipfel, nur der heilige Fuji ist ihm ebenbürtig, und vielleicht aus einer anderen Familie, nicht verwandt oder verschwägert, der Mount Everest. Aber der ist nur durch rücksichtsloses Geschiebe von Kontinentalplatten gewissermaßen aus der Erde herausgequetscht worden, er ist eine Art versteinerte Zahnpasta aus der Tube. Dagegen haben sich die Vulkane aus eigener Kraft, getrieben von ihrem inneren Feuer, über das Land erhoben und es unter ihre Herrschaft gezwungen. Und sie beherrschen es heute noch wie mittelalterliche Fürsten, lassen sich in ihrem Prunk verehren, in ihrem Zorn fürchten, sind launenhaft und unberechenbar.

Die Monotonie der Autobahn wirkt einschläfernd, auch Harry ist schweigsam geworden. Dazu kommt, dass wir in drei Tagen dreimal drastisch die Zeitzone gewechselt haben, von Shanghai nach Vancouver und dann nach Italien. Mein Körper weiß wirklich nicht mehr, ob er sich im Einschlaf oder im Aufwachmodus befindet. Gefühlsmäßig neige ich wohl eher zum ersten, doch ist das zweite in unserer Situation unbedingt vorzuziehen. Il Vesuvio, jetzt ist er deutlich zu sehen, auch sein kleiner Sohn, der daneben ehrfurchtsvoll zu ihm hochblickt. Bald werden zu unserer Linken die Hafenanlagen beginnen, und wenn wir nur immer geradeaus fahren, können wir unser Hotel gar nicht verfehlen.

* * *

In den Kindertagen des Massentourismus, vor hundert Jahren, waren diese Hotels an der kleinen Halbinsel – es ist wohl eher eine Viertelinsel oder gar nur ein Landvorsprung – der Dernier Cri. Man fuhr vor, modern und fortschrittlich im Automobil oder traditionsverbunden in der Carrozza, wurde empfangen von weißbehandschuhten Türstehern und devoten Pagen, die keinen Kaugummi kannten. Der Chauffeur fand Unterkunft für das Vehikel und auch für sich selbst im rückwärtigen Teil des Hotels, während die Herrschaften den grandiosen Ausblick aufs Meer genießen konnten, je nach Himmelsrichtung bis Capri oder zu den Hängen des Vesuvs. An der Uferpromenade, die heute nur noch Via Irgendwas heißt, haben sich wohl damals schon die Souvenirhändler aufgereiht, und lange vor ihnen existierte bereits der winzige, weltberühmte, schlagerverschmalzte Fischerhafen: "Saanta Luciiia!".

Das Parken ist heutzutage etwas schwieriger geworden, und das Vorspiel an der Hotelauffahrt, einst üppig besetzt mit Wagenschlagöffner, Gästebegrüßer, Gepäckdiener, Oberpagen und Laufjungen, wird heute von einem einzigen, arthritisgeplagten, höchstens sechzig Kilo wiegenden Uraltneapolitaner aufgeführt, der während der Dienstzeit seinen Krückstock nicht benutzen darf. Das Foyer des Hotels hat immer noch einen Anflug von Grandezza, doch der Kronleuchter, nur mit zwei Fünfundzwanzig-Watt-Birnen bestückt, bringt noch nicht einmal den spiegelnden Marmorboden zur Geltung. Im Halbdunkel erwarten uns freudestrahlend Falo und Colin Aberthau. Falo umarmt mich glückselig und schmatzt mir begeistert auf beide Backen. Er hat sich schnell an italienische Sitten gewöhnt. Aberthau kann auch in dem Schummerlicht ein zufriedenes Grienen nicht ganz verbergen, bezähmt aber seinen Enthusiasmus, reicht mir nur die Rechte und verkündet, es sei eine Freude, mich wiederzusehen. Harry, den Falo längst auf den Arm genommen hat, ignoriert er geflissentlich, und als ich die beiden einander formell vorstelle, sagt er nur "schön." Harry und Colin Aberthau werden in dieser nächsten Woche wohl keine unverbrüchliche Freundschaft schließen.

Ich lasse Colin in dem Glauben, nur seinetwegen hätten wir daheim alles fallen lassen. Er sagt, es sei eine große Ehre, von John Watson fotografiert zu werden, aber was er meint ist, es sei für John Watson eine besondere Ehre, den großen Colin Aberthau auf dem Set fotografieren zu dürfen, und schließlich – er kann zwischen den Zeilen sprechen wie sonst nur ein Politiker auf einer Wahlveranstaltung – habe er mir doch diesen einmaligen und sicherlich ungemein lukrativen Job verschafft.

* * *

Ein Neapolitaner würde, wie die meisten Bewohner der Mittelmeerküsten, um diese Zeit von seiner Siesta zurück an die Arbeit gehen, aber wir sind müde und hungrig und finden Mittagsschläfchen dekadent. Harry teilt diese Ansicht nicht unbedingt, aber hungrig ist er auch. Der Regisseur lädt seinen Hauptdarstellerstar und seinen Fotografenfreund zu einem kleinen Abendmahl.

"Wir gehen nur über die Straße, du kennst das Restaurant, John. Wir bekommen einen netten Tisch, und Harry darf auch hinein, wenn er keinen Lärm macht. Ich habe gesagt, er ist der Hauptdarsteller. Verzeihung, Colin, das war eine unvermeidliche Notlüge."

Colin nimmt es gelassen. Was soll er auch sagen? Ja, ich kenne das Restaurant. Auf einer Bewertungstabelle würde ich in der Rubrik Küche "eher mittelmäßig" ankreuzen, und unter Preis "eher teuer." Kein Neapolitaner würde mit seiner Familie dort dinieren, aber alle bringen sie ihre Freunde von auswärts hierher. Es ist ja auch malerisch, romantisch, "Saanta Luciiia", mit den kleinen Booten und Yachten, mit der Brücke, die zum Castel dell'Ovo hinüberführt, einer mittelalterlichen Trutzburg, zu deren Füßen sich einige Häuser gruppieren. Das Kastell würde heute noch gern die Stadt gegen die Sarazenen beschützen, nur reisen die jetzt im Urlaub lieber nach Capri oder Amerika.

Natürlich sprechen wir beim Essen in erster Linie über das Projekt, beklagen Roberto di Gallos Hinscheiden – bei Colin klingt es eher nach einem Lippenbekenntnis –, und diskutieren den Arbeitsplan für die nächste Woche. Falo ist zum Glück gegen Ausfall von Drehzeit versichert und drückt deshalb nicht allzu sehr aufs Tempo, aber ich will bei aller Freundschaft nicht mehr als die versprochene Woche bleiben.

Das Drehbuch hat Falo selbst verfasst. Vor ein paar Jahren hat ihm ein Freund ein altes, handgeschriebenes Manuskript geschenkt, das, wie so viele RembrandtPorträts und verschollene ShakespeareKomödien, beim Abriss eines alten Hauses in einer Kiste entdeckt wurde. Es ist, sagt Falo, eine Art Familiensaga, verfasst in schlechtem Italienisch von einem alten Mann, dem es offenbar ein Herzensanliegen war, diese Begebenheiten der Nachwelt zu überliefern. Ich selbst kann es nicht lesen, erstens, weil meine Sprachkenntnisse dafür nicht ausreichen und zweitens, weil ich diese altertümliche Handschrift wohl nicht einmal in Englisch entziffern könnte.

"Ich, Gennaro Philomeno De Trimonti, dem Tode ins Auge blickend, wie er an jedem anbrechenden Tag um einen Schritt näher rückt, wie er ohne Freude, ohne Erbarmen am Ende meines Lebensfadens nagt, schreibe dies nieder, damit die Welt die wahre Geschichte meines Großvaters erfahre, des Duca Carlo Federico Augusto De Trimonti."

Falo war begeistert. Er hat das Manuskript nicht als historisches Dokument genommen, sondern als Roman über Blut und Macht, Liebe und Rache, Gier und Tod. Sein Film wird keine Dokumentation, nicht einmal Dokutainment. Er nimmt einfach die Person dieses italienischen Landadligen und stellt sie dar, wie sein Enkel sie verklärt hat, pompös und großartig, großzügig und herzlos, ein Mensch, der alles dem Schein opfert, der bella figura, der aber am Ende doch von der Wirklichkeit eingeholt wird.

"Er muss ein Vulkan gewesen sein", erklärt Falo, "unberechenbar, Herr über Leben und Tod. Heute verschenkt er großzügig, was hundert Leibeigene über das Jahr seinem besten Weinberg abgetrotzt haben, morgen lässt er in einer wütenden Eruption zwanzig Fischer ins Meer treiben, weil die wegen des Sturmes nicht hinausfahren wollen. Würde er heute leben, wäre er das Oberhaupt einer mächtigen MafiaFamilie, stünde auf der ForbesListe der hundert reichsten Milliardäre und besäße noch seinen großen Palazzo hier in der Stadt und all die Prunkvillen auf Capri, in Positano und weiter oben im Land, zwischen seinen Feldern und Weinbergen."

Falo hat an den meisten dieser Orte schon abgedreht. Es bleiben nur noch ein paar Szenen in Neapel und auf Capri. Er sagt, er will die Landschaft benutzen, um die Spannung und Zerrissenheit der Hauptcharaktere durch die Wahl ihrer Kulisse zu demonstrieren. Ich weiß nicht, wie er das zustandebringen will, aber schließlich ist es sein Film, seine Idee. Colin Aberthau nickt wissend, gibt salbungsvolle und gelegentlich sogar intelligente Bemerkungen ab und freut sich offensichtlich, dass er vor solch arkadischem Hintergrund sein Genie zur Geltung bringen darf. Er ist ein Mensch, der überall hinpasst, sich in jeden Rahmen einfügt . Er würde ungeniert auch in jedem Bollywood-Film singen und tanzen und dabei nicht einmal deplatziert wirken. Wenn ihn trotzdem kaum einer kennt, so liegt das an der fehlenden Ausstrahlung.

Während unseres Gesprächs taucht immer wieder der Kellner auf, höflich und effizient, aber nicht aufdringlich. Nach Landesbrauch beginnen wir mit Antipasti, getrockneten Tomaten in Öl, gebratenen Auberginen, allerlei Seegetier und ähnlichen Leckereien. Da wir zu dritt sind und keiner von uns mehr Auto fährt, haben wir uns auf zwei Flaschen Wein verständigt. Zu den Vorspeisen gibt es Greco di Tufo, einen sehr angenehmen Weißwein aus der näheren Umgebung. Colin war mehr für einen Chardonnay, möglichst aus Kalifornien. Er bestellt nur Chardonnay, das ist für ihn ein Markenbegriff wie Budweiser als Gegensatz zu Becks. Auch beim Rotwein zu den Hauptgerichten wird er überstimmt. Falo, der ja auch die Rechnung übernimmt, bestellt einen nicht gerade billigen Barolo von der Villa Jolanda.

"Mich wundert, dass die hier einen solch ausgesuchten Wein im Keller haben. Die Rebsorte Nebbiolo kennen eigentlich nur Leute, die wirklich was davon verstehen. Und so einer hat mir auch den Tipp gegeben", setzt er bescheiden hinzu. "Dieser Wein war schon zu Caesars Zeiten populär. Er stammt ursprünglich aus Gallien, aus Südfrankreich also, und die römischen Eroberer waren davon so begeistert, dass sie ganze Wagenlasten mit Amphoren nach Rom schickten. Heute wird der beste im Piemont angebaut."

Die Deutschen geben sich ja gern als Weinkenner, das gilt ihnen als wichtiger Bestandteil der Allgemeinbildung, und ich muss zugeben, Falo versteht wirklich was davon. Wenn er uns in Vancouver besucht, hat er immer eine Flasche mit einem unbekannten Etikett im Gepäck, die uns nach dem Essen noch einen äußerst genussvollen Abend beschert. Zum Primo, dem ersten Hauptgericht, hat man traditionellerweise die Wahl zwischen Pasta und Risotto in mehreren Variationen. Wir bestellen einmütig Farfale alla Salsa Rossa, Schmetterlingsnudeln mit Tomatensoße, denn die Tagliatelle ai Frutti die Mare würden vermutlich bei jeder Gesundheitsinspektion sofort beschlagnahmt und zur Sondermülldeponie verfrachtet. Zumindest die Vongole, die kleinen Muscheln, stammen direkt aus dem Golf von Neapel, wo das Meer nur noch einen Wassergehalt von vierzig Prozent besitzt und im Übrigen aus Altöl, Plastikfetzen und viel Sch...limmerem besteht. Dass es nicht riecht wie die Kanäle von Venedig im Hochsommer, das verdanken wir nur der brennenden Sonne, die alle Duftstoffe sofort verdunsten lässt und den Winden, die alles verwirbeln und auf Meer hinaustragen.

* * *

Ja, dieser Trimonti! In seiner Epoche war er absoluter Herr über Leben und Tod in seinem kleinen Reich. Seine ungetreue Ehefrau und ihren Liebhaber soll er eigenhändig umgebracht haben, in dessen Villa, in dessen Bett. Ihre abgesäbelten Köpfe ließ er auf zwei spitzenbesetzten Paradekissen anrichten und die ganze blutige Szene von einem Maler für die Nachwelt festhalten. Zur Warnung. Einen Trimonti betrügt man nicht. Einem Trimonti kommt man nicht in die Quere. Colin ist wie geschaffen für diese Rolle. Mit seinem länglichen, ovalen Gesicht und dem hohen Haaransatz, der sich in ein paar Jahren zur Stirnglatze entwickeln wird, wirkt er wie der Prototyp des italienischen Landadeligen. Die scharfe römische Nase und der allmorgendlich vor dem Spiegel geübte stechende Blick verleihen ihm die Unerbittlichkeit, mit der er die noch verbleibenden Szenen des Films durchschreiten wird. Er wird den Niedergang des europäischen Adels nicht mehr erleben, er wird seine Schlösser, seine Ländereien großzügig verpfänden, damit ihm die Bankiers untertänigst mehr Geld vorstrecken. Der Enkel wird seine Abende damit verbringen, den vergangenen Glanz aufzuschreiben, während er dem letzten Stückchen Land sein täglich Glas Wein abringt und der Palazzo in der Stadt, den kein Banker haben wollte, Stein um Stein zerbröselt.

Auch die andere Seite von Trimontis facettenreichem Charakter könnte Colin gut darstellen, wenn Falo diese Szenen nicht schon überwiegend mit Roberto di Gallo abgedreht hätte. Vierunddreißig Jahre war er alt, als er sich selbst zum Witwer machte. Das war 1694, und zu jener Zeit war er bereits ein bekannter Komponist. Falo benutzt seine Motetten und Madrigale äußerst geschickt als Hintergrundmusik zum Film. Nun konnte ein Mann wie Trimonti so gut wie ungestraft irgendwelche Bauern oder Tagelöhner töten, aber ein blutiger Mord an zwei hochgestellten Adelspersonen war dann doch etwas anderes. Trimonti musste bei Nacht und Nebel nach Rom fliehen, Was damals nichts anderes bedeutete als in den Vatikan. Dort fand er zunächst Zuflucht, später auch Vergebung durch den Papst persönlich. Letztere allerdings erst nach einer großzügigen Spende, die nicht unerheblich zu seinem späteren finanziellen Niedergang beitrug. Mehrere seiner Kompositionen, stilistisch an Orlando di Lasso orientiert, sind im Petersdom uraufgeführt worden. Die Manuskripte befinden sich immer noch in den Vatikanischen Bibliotheken. Erst fünf Jahre später konnte der Herzog Carlo Federico Augusto De Trimonti heimkehren. Ein Vierteljahrhundert dauerte sein langer Abstieg, und bis heute weiß man nicht genau, wie sein Leben endete.

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Als zweites Hauptgericht, il Secondo, gibt es entweder Gamberoni Portofino oder Vitello al Limone. Die Gamberoni, die Garnelen, lassen wir aus den bereits erwähnten Gründen links in der Küche liegen. Das Kalbsschnitzel mit Weißwein und Zitronensaft könnte ausgesprochen köstlich sein, wäre der Koch nur mit dem hier allgegenwärtigen Olivenöl ein bisschen sparsamer umgegangen. Vielleicht hätten wir dazu doch lieber einen weißen Wein bestellen sollen, sinniert Falo, aber zwei Männer, ein Wort, und zumindest ist es kein Chardonnay. Zum Abschluss serviert der Camariere noch eine Macedonia. Diese Bezeichnung für einen Obstsalat hat mich so verwundert, dass ich sie gegoogelt habe. Angeblich ist der Name von den wirren Zuständen des kleinen Balkanlandes abgeleitet – oder auch umgekehrt. Mit Komplimenten des Hauses bringt der Kellner noch drei Gläschen Limoncello, einen schmackhaften Zitronenlikör, den jede anständige neapolitanische Hausfrau selbst in der Küche braut. Und schließlich bestellen wir noch einen caffè, wie der Espresso auf Italienisch heißt. Nicht für Colin, der könnte danach nicht schlafen, behauptet er. Insgesamt war das ein typisches Geschäftsessen, wie man es nur über Spesenkonto genießen kann, aber immerhin haben wir beinahe alle wichtigen Probleme geklärt oder wenigstens angesprochen. Für Harry lassen wir uns ein Schnitzel und eine Handvoll Schmetterlingsnudeln (ohne rosa Soße) einpacken, mehr will er nicht. Er darf sie leider nicht im Restaurant genießen, aber wir sind ja schon froh, dass er überhaupt hereingelassen wurde.

* * *

Im Hotel erwartet uns Gelsomina, Harrys ständige Begleiterin für unsere Zeit in Neapel. Ja, sie heißt tatsächlich so, wie die unsterbliche, leider schon lange verstorbene Giulietta Masina in Fellinis Film La Strada. Sie sieht aber gar nicht aus wie die echte Gelsomina. Eher wie die junge Sofia Loren: schön, aber natürlich nicht so schön wie Sally. Keine Frau der Welt kann Sally in puncto Schönheit das Wasser reichen, Punktum. Gelsomina besitzt den selben breiten, sinnlichen Mund wie ihr Wunschbild, die großen Augen mit einer Iris in der Farbe von dunklem Bernstein. Die Augenbrauen sind durch geschicktes Nachziehen geschwungen wie auf manchen alten Fotos von Sofia, die Haare kurz, nicht bis zu den Schultern reichend, ihre Farbe ein ins Schwarze gehendes Dunkelbraun wie Sofia in Hausboot. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie in dem Film auch diese kleine Perlenkette trägt, aber Gelsomina hat ihn sicherlich viele Male gesehen und würde die Inkarnation nicht durch falsche Zutaten verzerren. Und so eine kleine Perlenkette, wie man sie früher von Oma zur Firmung bekommen hat, passt ja ebenso gut zu einem vorgespiegelten Kindermädchen im Film wie zu einer TeilzeitHundegouvernante in Neapel. Es fehlt nur noch, dass sie anfängt zu singen: Prego, prego, anybody may go, dann fühle ich mich endgültig auf einer Zeitreise, ein halbes Jahrhundert zurück in die Glanzzeit von Hollywood.. Leider hatte ich nie Gelegenheit, mit Sofia zu arbeiten, dafür bin ich etwas zu spät ins Filmgeschäft gekommen.

Offenbar bin ich nicht der Erste, dem diese Ähnlichkeit auffällt. Nein, beteuert Gelsomina mit traurigem Augenaufschlag, sie ist nicht mit Sofia verwandt, auch wenn sie es gern wäre. Sie stammt auch nicht aus Pozzuoli, jetzt schon beinahe ein Randviertel im Süden von Neapel, sondern aus Caserta, der nächsten richtigen Stadt in Richtung Norden. Vielleicht lässt sie doch einmal einen Gentest machen, nur zur Sicherheit. Aber wie könnte sie dafür an ein Haar von Sofia kommen? Oder auch nur eine Augenbraue? Arme Gelsomina! Andererseits, solange ihr die Wissenschaft nicht die Realität bescheinigt, kann sie träumen. Ein ganzes Leben lang.

Aber selbst wenn sie nur durch Augenschein verwandt sind, Gelsomina ist stolz auf ihre Sofia. Die filmt zwar nicht mehr, aber jetzt hat sie der Mafia den Kampf angesagt. Oder der Camorra, wie sie in Neapel heißt. Sie hat allen Grund dazu. Mindestens einmal im Jahr versinkt diese Stadt in Unrat, Abfall, Schleim und Gestank. Jedesmal dann, wenn die Bewohner der umliegenden Orte im Stil französischer Bauern auf die Barrikaden gehen, mit denen sie die Müllfuhrwerke fernhalten wollen. Es ist wieder und wieder ein verzweifelter Aufschrei, den die Regierung nach angemessener Frist mit der Ernennung eines Müllbeauftragten beantwortet. Nach einigen Tagen, schlimmstenfalls Wochen, müssen die Blockierer aufgeben und ihrem Broterwerb nachgehen, der Müllbeauftragte schreibt einen Bericht, und die Camorra lässt den Dreck wieder an die alten Plätze kippen oder eröffnet auf irgendeines Bauern Rübenacker eine neue Deponie.

Aus ihrer Handtasche kramt Gelsomina ein nicht mehr ganz frisches Zeitungsblatt hervor. Die viel gelesene, linke Repubblica zeigt, wie sich vor dem angeblichen Geburtshaus von Sofia Loren der Unrat türmt. "Ich habe in Neapel in schwierigen Nachkriegszeiten gelebt", beteuert die Diva. "Es waren harte Jahre, doch die Hoffnung war stark und lebendig. Ich frage mich, ob wir heute noch Recht auf Hoffnung haben. Ich bin von dieser Katastrophe in Zeiten des Friedens erschüttert. Ich sehe im Fernsehen die Bilder dieser Müllkrise und kann die Tränen nicht zurückhalten." Ob das die Bosse rührt, oder gar den Ministerpräsidenten? Das Geschäft mit dem Dreck ist viele Millionen wert. Wie man hier schon seit Kaiser Neros Zeiten weiß: Geld stinkt nicht.

"Meine Freunde und ich wollen eine Aktionsgruppe bilden", sinniert Gelsomina. "Vielleicht will Sofia unsere Ehrenpräsidentin werden. Dann könnten wir richtige Proteste organisieren."

* * *

Harry muss noch ein paar Schritte laufen. Das gibt mir einen guten Vorwand, Gelsominas Eignung als HundeKindermädchen zu testen und etwas mehr über sie zu erfahren. Gelsomina studiert an der Università Federico Secondo, benannt nach jenem StauferKaiser, der in Neapel so allgegenwärtig ist wie Karl der Große in Aachen. Die Süditaliener betrachten ihn ganz als den Ihren, wie die Franzosen seinen Vorgänger aus dem Norden. Er ist auf alle Fälle viel populärer als die Könige, die noch vor hundert Jahren Italien und damit auch Neapel regierten. Die spanischen und bourbonischen Könige aus der Zeit nach Columbus kennt ohnehin kaum einer mehr mit Namen, nur das Castel Nuovo ist im Volksmund noch nach den Herrschern aus Anjou benannt: Maschio Angiouino.

Wir enden auf dem Schlossplatz, der seit einiger Zeit Piazza Plebiscito heißt, Platz der Volksabstimmung. Ist es nicht schrecklich, wie auf der ganzen Welt die schönsten Straßen und Plätze politisiert und damit banalisiert werden? Straße der Republik, Boulevard des ersten April (weiß der Himmel, was da stattgefunden hat), Platz der Verkündung der neuesten Verfassung . Früher hat man die großen Straßen nach großen Städten oder großen Persönlichkeiten benannt, Pariser Platz oder Goethestraße, und die kleineren nach dem täglichen Leben, Buschwindröschenweg, Hufschmiedgasse oder dergleichen. Da wusste man noch, woran man war und musste nicht alle paar Jahre neue Namen lernen.

Das Wunderbare an diesem Platz, na gut, bleiben wir erst einmal bei dem Namen Plebiscito, das Schöne ist, dass darauf kein einziges Auto steht. Er liegt vor uns, wie seine Erbauer sich das einst gedacht hatten, monumental und respekteinflößend. Und an der anderen Seite das Schloss.

"Hundertfünfzig Jahre hat man am Palazzo Reale gebaut", weiß Gelsomina. Erst um 1850 ist er fertig geworden. Und hier, der zweite von links, das ist Federico Secondo, Friedrich II, dem heute noch das Herz der Napolitaner gehört."

In die Fassade sind acht Nischen eingearbeitet, von denen jede ein überlebensgroßes Standbild enthält. Sie repräsentieren die Dynastien, die seit dem 12. Jahrhundert das Königreich Neapel beherrscht haben, angefangen von den Normannen über Friedrich bis Victor Emanuel II.

"Und dort drüben der Palazzo an der Ecke, das ist der Sitz des Admirals. Dort hat sich Admiral Nelson in seine Lady Hamilton verliebt, und heute regiert dort der Herr über die NatoMittelmeerflotte."

Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt und kann mir nicht vorstellen, wozu eine NatoFlotte im Mittelmeer gut sein soll. Um afrikanische BoatPeople abzufangen, ehe sie die Grenzen der Europäischen Union erreichen?

"Sie sollen uns vor den Sarazenen schützen", behauptet Gelsomina mit gespieltem Ernst. "Und das ist das Teatro di San Carlo. Rossini hat hier zehn Opern komponiert. Mozart war übrigens auch in Neapel und hat sich zu Cosi fan tutte inspirieren lassen, wusstest du das?"

Nein, das wusste ich nicht, aber auch vor und nach ihm war wohl jeder, der auf sich hielt oder von dem seine Mitmenschen etwas hielten, wenigstes einmal in Neapel, Goethe zum Beispiel, hat es sogar zu einer Marmortafel gebracht, und die heutigen Neapolitaner sind so stolz auf ihre klassischen Besucher wie die modernen Ägypter auf ihre alten Pyramiden. Wir sollten langsam umkehren, Harry ist genug gelaufen.

"Trinken wir noch einen Kaffee im Gambrinus?"

"Aber nur einen schnellen Espresso."

Das Café kenne ich noch vom letzten Mal, als ich hier war. Wer hier nicht wenigstens einmal einen Kaffee trinkt, ein Törtchen verzehrt und die Belle-Epoque-Innendekoration bewundert, der ist kein seriöser Tourist. Natürlich ist mir auch die Umgebung nicht ganz unbekannt, aber Gelsominas Erzählungen lassen die Farben intensiver leuchten, bevölkern die Bühne mit lebendigen Menschen, auch wenn die längst tot sind.

Am Eingang stoße ich mit einem beleibten Herrn zusammen, der vielleicht einen Limoncello zu viel zu sich genommen hat. Er muss sich mit beiden Händen an mir festhalten, und ich greife automatisch zu, ihn wieder in die Vertikale zu bringen.

"Scusi, Signore", strahlt er mich an und versucht sich an mir vorbeizuschieben. "Americano?" Er babbelt noch ein paar Sätze auf Neapolitanisch und richtet seine Schritte durch die kleine Caféterrasse zur Straße hin. Harry reißt Gelsomina die Leine aus der Hand, springt dem Dicken ans Hosenbein und verbellt ihn, als sei er der Briefträger.

Da schrillen bei mir die Alarmglocken. Mit zwei Sprüngen bin ich hinter dem Mann und drehe ihm mit einem Judogriff den Arm auf den Rücken. Seit meiner Schulzeit habe ich das nicht mehr gemacht, aber es funktioniert noch.

"Scusi, Signore", sage ich ganz freundlich und verstärke leicht den schmerzhaften Druck auf seinen Arm. Dann weiter auf Englisch, schließlich bin ich hier ja ein Americano.

"Sie geben mir jetzt sofort meine Geldbörse zurück, sonst wandern wir zusammen um die Ecke zur Polizei."

Das Polizeirevier ist wirklich zwanzig Schritte um die Ecke, und ich habe vorhin mehrere Polizisten gesehen, die vor dem Eingang ein paar Züge frischen Rauch schnappten. Ausgerechnet Italien hat neuerdings das strikteste Tabakverbot Europas. Der Dicke steht jetzt wieder auf ganz festen Füßen. Er weiß, wann er verloren hat, fummelt unter seinem Hemd und zieht das kleine, flache Lederetui hervor, das sich vor zwei Minuten noch in meiner Hosentasche befunden hatte.

"Scusi, Signore", sagt er wieder. "Un errore. Buona Serata." Cool ist er ja, das muss ihm der Neid lassen. Ein Irrtum sei das gewesen, sagt er, wünscht mir noch einen schönen Abend und wandert gemächlich einer Gruppe vermutlich deutscher Touristen hinterher, die nebenan vor dem Palast ihre Erinnerungsfotos schießen wollen.

Gelsomina kichert immer noch vor sich hin.

"Das hat noch nie ein Tourist fertiggebracht. Einen Taschendieb auf frischer Tat zu ertappen und sogar sein Portemonnaie zurückzubekommen! Wie hast du das nur so schnell bemerkt?"

"Es war in der Tat Harry, der aufgepasst hat. Ich habe mich benommen wie ein Idiot. Den Mann hätte ich noch viel schneller durchschauen müssen als Harry das tat. Er rempelt mich an, er sorgt dafür, dass meine Hände zu tun haben und dass meine Aufmerksamkeit abgelenkt ist. Der grobe Körperkontakt überdeckt die leichte Berührung seiner flinken Finger. Das habe ich alles von einem Profi gelernt, als ich das letzte Mal hier bei einem Film mitarbeitete. In einer Schlüsselszene musste er bei einer Cocktailparty die Gäste und Gästinnen um ihre Brieftaschen und möglichst viele Diamanten erleichtern. Er war so schnell, dass ich seine Hände nie im richtigen Augenblick fotografieren konnte. Wir mussten die Aktion unzählige Male wiederholen, und ich benutzte schließlich eine Kamera, die sonst nur bei Autorennen oder Raketenstarts eingesetzt wird, mit zwölf Aufnahmen pro Sekunde. Die Erinnerung schoss mir auf einmal durch den Kopf, aber Harry war noch eine Sekunde schneller."

Zurück zum Hotel, jetzt auf dem kürzesten Weg. Wir sind todmüde, Harry und ich, aber um nicht unsozial zu erscheinen, lade ich Mina, so heißt sie unterdessen, noch auf einen Drink in die dämmerige Bar ein, wo man in den tiefen braunen Ledersesseln auf Nimmerwiedersehen versinken kann. Colin sitzt noch an der Theke und schließt sich uns unaufgefordert an. Er verfolgt wohl noch weitergehende gesellschaftliche Absichten. Mit dem AssistenzChef der Rezeption haben wir geklärt, dass Gelsomina Zugang zu meiner Suite erhält. Das zieht zwar einige Augenbrauen hoch, dieser kleine Hund dient zweifellos nur als Alibi, aber ich mache mir über meinen Leumund keine Sorge, und für Gelsomina, meint sie, kann ein schlechter Ruf nur Gutes bewirken. Wir werden morgen früh um halb neun abgeholt, und sie wird mit Harry zum Dreh kommen. Er scheint sie zu mögen, denn er lässt sich willig kraulen. Vielleicht benutzt sie einen ähnlichen Duft wie Sally?

* * *

Wir schlafen schlecht und sind um vier Uhr morgens hellwach. Als wir später gerade nach unten gehen wollen, klingelt das Telefon. Der Empfangschef, oder auch der Unterempfangschef vom Dienst, berichtet, im Foyer erwarteten mich eine junge Dame und ein Herr vom englischen Generalkonsulat. Er sagt inglese, englisch, obwohl es korrekterweise britisch heißen müsste. Die junge Dame bedarf keiner Erklärung, aber was will der Vertreter Ihrer Majestät von mir?

Gelsomina sieht strahlend aus in ihrem geblümten Sommerkleid. Sie nimmt mir Harrys Leine aus der Hand und will sofort mit ihm auf die Straße, aber ich schicke die beiden erst einmal in den Frühstücksraum. Der Engländer stellt sich mit Namen vor, den ich beim Hinhören schon wieder vergessen habe, und nennt seine Funktion in der diplomatischen Hierarchie. Früher hätte man ihn wohl einfach Kulturattaché genannt, aber heutzutage gibt es viel feinere Unterschiede wie Erster oder Zweiter Sekretär, Legationssekretär im Wartestand und wer weiß was. Jedenfalls hat er was mit Kultur zu tun. Ich lade ihn ein, einen Kaffee mit uns zu trinken, und nach einem Blick auf Gelsominas Rücken akzeptiert er mit einer gewandten kleinen Verbeugung. Er lässt es bei einem Caffè Latte bewenden, während ich Mina über Harrys Bedürfnisse instruiere und mich dann selbst am Büfett bediene. Endlich sitzen wir alle, und er kann zur Sache kommen.

"Der Generalkonsul hat von Ihrer Anwesenheit erfahren und würde es als große Ehre betrachten, wenn Sie heute Abend sein Gast sein könnten. Die Zeit ist zu kurz, Ihre Anwesenheit anzukündigen, aber es wäre dann ein Empfang unter einem Doppelstern. Der zweite ist Lady Simone Battle. Sie wird morgen die Premiere von Lucia di Lammermoor dirigieren." Der Erste oder Zweite Sekretär schiebt mir einen Umschlag aus schwerem gehämmerten Papier mit tief eingeprägtem britischem Wappen über den Tisch.

Nun gibt es auch daheim in Vancouver jedes Jahr einige Opernvorstellungen, aber Donizetti hat meines Wissens noch nie auf dem Programm gestanden und Simone Battle wird uns wohl auch in Zukunft nicht beehren. Ja, die würde ich schon mal gern kennen lernen.

"Ich komme gerne, aber ich müsste auch Harry und Signorina Esposito mitbringen. Sie ist gewissermaßen Harrys Mary Poppins und kümmert sich um ihn, wenn ich arbeiten muss."

Wie lange dauert wohl das professionelle Training junger Diplomaten? Er verzieht keine Miene, das heißt, er verzieht sie sehr wohl, zum großen Diplomatischen Strahlegesicht. Aber selbstverständlich sei Harry willkommen, er sei sogar ausdrücklich in die Einladung eingeschlossen. Die Gäste und auch der Generalkonsul selbst möchten ihm unbedingt vorgestellt werden. Schließlich sei Harry eine Berühmtheit und für die Weltgeschichte schon jetzt so bedeutend wie die kapitolinischen Gänse, die einst Rom vor dem Ansturm der Gallier retteten. Und Signorina Esposito: selbst wenn sie nicht die magischen Kräfte von Mary Poppins besäße (offenbar hat er in seiner Kinderzeit einmal den Film gesehen oder gar das Buch gelesen), sie würde ein weiterer Stern des Empfangs. Bedauerlich nur, dass man sie nicht schon früher eingeladen hatte, aber dies solle bestimmt nicht das letzte Mal sein. Wenn man ihm so zuhört, wird der Empfang im britischen Generalkonsulat heute Abend mit Stars und Sternchen heller funkeln als die ganze Milchstraße. Gelsomina wird wohl wie ein Komet mit einem Schweif aus diplomatischen und sonstigen Partikeln durch die Säle ziehen. Hat eigentlich heute schon jemand Colin Aberthau gesehen?

Neapel sehen und sterben

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