Читать книгу Geschichten zum Zurücklehnen - Caledonia Fan - Страница 5
ОглавлениеBeim letzten Sonnenstrahl
Die Eingangstür stand sperrangelweit offen und das schlanke Rosenstämmchen, das neben ihr wuchs, war abgebrochen.
Ruckartig blieb Johannes stehen und hielt seine kleine Schwester am Arm fest.
„Was ist?“, fragte sie arglos.
Offensichtlich hatte sie nichts bemerkt. Leise vor sich hin summend war sie neben ihm her gehopst in der Vorfreude darauf, gleich zu Hause zu sein.
„Die Tür ist offen!“ Seine Hand umklammerte ihren dünnen Arm wie ein Schraubstock. „Etwas stimmt nicht!“
Ängstlich sah sie zu ihm auf.
Der Zehnjährige ließ seinen Blick über den liebevoll gepflegten Garten schweifen. Die kleine Holzbank, die der Vater noch gezimmert hatte, war umgeworfen worden. Fußspuren, viel größer als die der Mutter, auf den geplünderten Kohl- und Kartoffelbeeten, überall zertrampelte Wiese und zerknickte Blumen. Das Gatter für die Ziegen war leer, das Tor daran aus den Angeln gerissen. Selbst die Milchkannen, auf deren Sauberkeit die Mutter so sehr achtete, lagen verstreut herum. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, den er nicht kannte.
Angst ergriff ihn. Er wollte nach der Mutter rufen, weil seine Beine wie gelähmt waren, doch er bekam kein Wort aus seiner Kehle.
Sein Korb mit den Pilzen fiel unbeachtet auf den Boden, als er den Zeigefinger auf die Lippen legte und Eva in die Büsche neben dem schmalen Weg drängte.
„Du wartest hier“, flüsterte er. „Egal, was passiert, du rührst dich nicht vom Fleck!“
Ihre großen, blauen Augen waren weit aufgerissen und ihre Lippen bebten. Er wusste, dass er ihr Angst machte, aber er wollte erstmal alleine ins Haus gehen.
Beruhigend strich er seiner Schwester über den blonden Scheitel und nickte ihr noch einmal zu, bevor er sich umdrehte und davonhuschte.
Seine nackten Füße ermöglichten es ihm, sich geräuschlos an die offene Haustür heranzuschleichen. Kurz lauschte er. Es klapperte kein Geschirr und es roch auch nicht nach der abendlichen Kohlsuppe. Die Mutter sang nicht wie gewohnt und als er den Fuß auf die Schwelle setzte, wusste er schon, dass sie nicht da war.
Das Innere des Häuschens war verwüstet. Jemand hatte alle Schränke aufgerissen. Die wenigen Sachen, die ihnen gehörten, lagen verstreut herum, verschmutzt und teils zerrissen. Sogar die kleine Truhe mit den Spielsachen war umgekippt. Teller und Tontöpfe fand er zerschlagen auf dem Boden und selbst der Vorratsraum unter den Dielen war gefunden und leergeräumt worden.
Über allem lag dieser seltsame Geruch und mit einem Mal wusste Johannes, was hier passiert war.
„Die Trolle“, flüsterte er in namenlosem Entsetzen. Er hatte davon erzählen hören. Erst letzte Woche war ein Händler vorbeigekommen, der Neuigkeiten mitgebracht hatte. Der Mann berichtete von Dingen, die ihm eine Gänsehaut beschert hatten, von geplünderten Häusern und verschwundenen Menschen. Und von diesem Geruch, den die furchterregenden Wesen zurückließen.
Obwohl er vor Angst schlotterte, wusste er, dass ihm und Eva keine Gefahr mehr drohte. Die Eindringlinge waren weitergezogen. Zum nächsten Haus, zum nächsten Dorf ...
Eva! Sie wartete auf ihn!
Er sprang auf und hastete aus dem Häuschen und durch den verwüsteten Vorgarten bis zu dem Gebüsch, in dem er sie zurückgelassen hatte. Sie war noch da, kauerte am Boden, die kleinen Arme um die Knie geschlungen.
„Ist alles gut?“, wisperte sie und sah hoffnungsvoll zu ihm auf.
Er schüttelte den Kopf. „Komm“, meinte er, „wir gehen ins Haus.“
Nachdem Eva sich in den Schlaf geweint hatte und er – neben ihr auf der Bettkante sitzend – unzählige Male über die blonden Zöpfe gestrichen hatte, schlich er zurück in den großen Raum. Mit bebenden Fingern nahm er ein Schwefelhölzchen aus der roten Holzschachtel, zündete die Petroleumlampe an und setzte sich an den Tisch.
Erst jetzt wurde ihm mit aller Deutlichkeit bewusst, dass er allein war mit der kleinen Schwester. Es gab nichts Essbares mehr im Haus bis auf zwei Kanten Brot, die sie vorhin gefunden hatten. Die Mutter war verschwunden. Mit Sicherheit hatten die Trolle sie mitgenommen.
Entschlossen ballte er die Fäuste. Er würde sie zurückholen. Das konnte nicht schwer sein. Er brauchte nur den Spuren zu folgen, die diese grausamen Eindringlinge hinterlassen hatten.
Aber erst musste er Eva zur Nachbarin bringen. Sie war schon alt, doch sie würde sich um die Schwester kümmern.
Am nächsten Morgen machten sie sich auf den Weg. Eva hielt die Stoffpuppe fest an sich gepresst. Johannes trug ein Bündel mit ihren Kleidungsstücken. Ab und zu betrachtete er seine Schwester liebevoll. Sie war erst sechs und das Verschwinden der Mutter hatte sie verstört. Trotzdem versuchte sie tapfer zu sein.
Er seufzte, als er merkte, wie sie seine Hand umklammerte. „Die alte Lene wird sich freuen, dass du kommst“, versprach er. „Du weißt, wie gern sie dich bei sich hat.“
Eva nickte, doch sie hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und sah starr auf den Weg.
Johannes drückte beruhigend ihre kleinen Finger und verließ dann den schmalen Pfad, der von ihrem Häuschen ins Dorf hinab führte. Die einfachen Katen, die er durch die Bäume von hier aus entdecken konnte, standen eng zusammengerückt. Aber niemand war zu sehen. Unbehaglich fragte er sich, ob die Trolle auch dort alles verwüstet hatten.
Genau wie ihre kleine Familie wohnte Lene, die unendlich viele Jahre zählen musste, nicht bei den anderen Dörflern. Er wusste von der Mutter, dass die Leute Angst vor ihr hatten und sie als alte Hexe bezeichneten.
Eva und Johannes jedoch liebten sie.
Gleich würden sie ihr Haus sehen können. Eva wollte vorauslaufen, doch ihr Bruder hatte mit einem Mal ein ungutes Gefühl. Er ließ ihre Hand nicht los.
„Warte hier“, raunte er, „ich schaue erst mal, ob sie da ist, und dann hole ich dich.“
Eva nickte gehorsam und er lief um die Felsgruppe herum, die den Blick auf die Kate der Alten versperrte. Nach drei Schritten blieb er wie angewurzelt stehen und schaute auf das Bild, das sich ihm bot. Mühsam versuchte er, das Grauen zu fassen.
Lene würde sich nie wieder um Eva kümmern. Weggeworfen wie eine nutzlose Strohpuppe lag die alte Frau neben der zertrümmerten Haustür. Ihre gebrochenen Augen starrten blicklos in den Himmel.
Die Trolle waren hier gewesen und hatten schlimmer gewütet als bei ihnen zu Hause.
Er schluckte schwer, denn er erkannte, dass er die kleine Schwester mit sich nehmen musste auf seine gefährliche Reise. Niemand, nicht einmal der Priester im Dorf würde sie bei sich aufnehmen. Ihre Mutter war von der Dorfgemeinschaft verstoßen worden und das galt ebenso für die Kinder.
Rasch drehte er sich um und kehrte zu Eva zurück.
„Lene ist nicht da“, beschied er ihr auf ihren fragenden Blick hin. „Ich muss dich mitnehmen.“
Evas Augen leuchteten auf. Das war ihr geheimer Wunsch gewesen. „Ich bin ganz brav“, versprach sie, „und ich werde nicht jammern oder weinen.“
„Das darfst du auch nicht. Schließlich müssen wir Mutter finden. Das wird ein langer Marsch und wir werden im Freien schlafen und Beeren und Pilze essen.“
„Das ist nicht schlimm“, versicherte sie.
„Gut.“ Johannes seufzte und sah zurück zum Hügel, wo wie ein Gruß zum Abschied der Dachfirst ihrer Kate zwischen den Baumwipfeln hervorlugte. „Dann gehen wir jetzt.“
Sie wanderten vier Tage. Die erste Nacht verbrachten sie in einer Höhle im Wald, eng aneinandergeschmiegt und trotzdem vor Kälte zitternd. In der zweiten schliefen sie am Feuer eines Holzfällers und in der dritten in der Hütte eines Köhlers. Jeden, dem sie begegneten, fragten sie nach den Trollen. Die Spur, welche die wüste Horde hinterlassen hatte, war unübersehbar und die beiden Kinder folgten ihr.
Der Weg führte vorbei an zerstörten Gärten und geplünderten Häusern. Oft fanden sie nur noch rauchende Trümmer und so mancher Bewohner hatte den todesmutigen Versuch, Heim und Habe zu verteidigen, mit dem Leben bezahlt. Deshalb ging Johannes immer allein in die verlassenen Behausungen und suchte nach Essbarem. Den Anblick wollte er Eva ersparen.
Am Abend des vierten Tages begegneten sie Elmar, einem reisenden Händler, der schon öfter bei ihnen gewesen war und der Mutter Ziegenkäse abgekauft hatte. Er erkannte sie wieder und nahm sie auf seinem Eselskarren mit ins nächste Dorf. Im Wirtshaus bezog er ein Zimmer und bestellte für die ausgehungerten Geschwister heiße Suppe. Als Eva satt und zufrieden im Bett lag und schlief, erzählte Johannes dem freundlichen Mann, wohin sie unterwegs waren.
Der Händler machte ein bedenkliches Gesicht. „Nur ihr beide?“, fragte er zweifelnd. „Habt ihr keine anderen Verwandten?“
Johannes schüttelte den Kopf.
„Am liebsten würde ich ganz allein gehen“, gestand er, „aber ich weiß nicht, wem ich meine Schwester anvertrauen soll.“
Elmar nickte verstehend. „Dein Mut ehrt dich, mein Junge“, meinte er nach einer Weile. „Ich halte deinen Plan für sehr gefährlich, aber vielleicht schaffst du es ja tatsächlich. Deshalb werde ich für drei Nächte ein Zimmer bezahlen, damit die Kleine ein Dach über dem Kopf hat. Bis dahin musst du die Trollfeste erreicht haben. Du hast großes Glück: Unten im Gastraum sitzt der alte Freder. Er ist in seiner Jugend einmal dort gewesen und weiß, wie du hingelangen kannst. Komm, lass uns hinuntergehen und mit ihm reden.“
Nachdem Johannes dem Alten die ganze Geschichte erzählt hatte, stützte der mit sorgenvollem Gesicht die Ellenbogen auf den Tisch und faltete die Hände. Er überlegte lange und rieb sich ab und zu das von einem eisgrauen Bart bedeckte Kinn. „Die Trolle sind nicht die Monster, als die sie gelten“, meinte er bedächtig und sog an seiner Pfeife. „Einst lebten sie und die Menschen friedlich nebeneinander. Mein Großvater hat noch Handel mit ihnen getrieben. Aber irgendwann setzte jemand das Gerücht in die Welt, dass sie kleine Kinder fressen und Neugeborene aus ihren Wiegen rauben. Von da an wurden sie verfolgt und gejagt.“
Er nahm einen Schluck Bier aus seinem Humpen, stellte ihn wieder auf die fleckige, hölzerne Tischplatte und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum vom Bart. „Sie rotteten sich zusammen, zogen sich in eine riesige Eishöhle tief in den Schneebergen zurück und wählten den Stärksten aus ihrer Mitte zum König.“
Er hob die Hand und deutete aus dem Fenster auf eine weiß überzuckerte Gebirgskette in der Ferne, über deren Grat gerade die Sonne versank. „Da sie aber dort nichts anbauen können und niemand mehr mit ihnen handelt, gehen sie auf Raubzüge und sammeln Vorräte. Ja, sie sind nicht zimperlich dabei, doch sie sind keine Mörder.“
„Keine Mörder?!“ Johannes war empört aufgesprungen und ballte die Fäuste. „Die alte Lene ist tot und wir ... ich habe auch andere Tote gesehen!“
„Setz dich wieder“, beschwichtigte Freder ihn und nickte den besorgt herüberspähenden Tavernengästen beruhigend zu. „Ich bin sicher, der Tod der Greisin war ein Unfall. Sie ist gebrechlich gewesen. Ein kräftiger Schubs, ein Anschlagen mit dem Kopf und bumm – aus. Die anderen Toten waren Männer mit Waffen, die meinten, die Trolle aufhalten zu können, stimmt’s? Und auch wenn diese nicht morden – wehren tun sie sich wohl.“
Er nickte bekräftigend.
„Sie haben unsere Mutter mitgenommen!“, klagte Johannes. Für einen Moment bröckelte seine Tapferkeit und Tränen traten ihm in die Augen. Ärgerlich blinzelte er sie weg.
„Du sagtest, sie kann guten Ziegenkäse machen. Die Trolle sind grobschlächtig, aber nicht dumm. Sie werden sie für sich arbeiten lassen. Schließlich haben sie eure Ziegen mit weggeschafft. Zugegeben, das war nicht sonderlich klug, denn die haben in der Höhle im Berg kein Futter und werden deshalb keine Milch geben. Wenn du den Trollkönig so weit bringen kannst, dass er sich auf einen dauerhaften Handel mit Käse einlässt, darf deine Mutter vielleicht heimkehren. Oder –“, er stockte kurz, „ist sie sehr schön?“
„Die Schönste der Welt“, gab Johannes leise, aber inbrünstig zurück.
Freder wiegte sorgenvoll den Kopf. „Hm, das ist nicht gut“, meinte er bedächtig. „Es heißt, der Trollkönig sammelt schöne Dinge wie Trophäen. Er schließt sie in Eis ein, damit er sie immer wieder betrachten kann. Ich weiß nicht, ob an den Geschichten etwas Wahres ist, aber sollte deiner Mutter dieses Schicksal zugedacht sein, wirst du sie wahrscheinlich nicht zurückgewinnen.“
„Ich werde es auf jeden Fall versuchen“, versicherte Johannes mit fester Stimme.
Sie redeten bis in die Nacht. Freder erklärte den Weg und alles, was er über die Trollfeste wusste. „Wenn du angekommen bist, suche einen Troll, der dich verstehen kann. Einige von ihnen sprechen noch die Sprache der Menschen. Hast du einen gefunden, erkläre ihm, warum du gekommen bist. Lass dich nicht abweisen! Er wird dich zu seinem König bringen. Erweise ihm den Respekt, der ihm zusteht, und halte deine Gefühle im Zaum. Du hilfst deiner Mutter nicht, wenn du ihn verärgerst. Sei also schlau und vorsichtig. Überlege, bevor du sprichst. Schlage ihm einen Handel mit Ziegenkäse vor. Er wird nicht widerstehen können. Und ... falls du nichts erreichen kannst, komm zurück. Deine Schwester braucht dich. Du bist für sie verantwortlich. Sie kann hierbleiben, solange du unterwegs bist, aber du musst zurückkommen. Egal, ob mit oder ohne Mutter.“
Johannes schluckte. Die beiden Männer sahen ihn ernst an, als würden sie erwarten, dass er nach dieser langen Reihe von Ermahnungen und Anweisungen seinen Plan aufgeben würde.
Doch das kam nicht in Frage. Tief atmete er durch. „Ich gehe bei Sonnenaufgang“, verkündete er entschlossen.
Das Tal lag noch in Nebel gehüllt, als er sich auf den Weg machte. Elmar, der Händler, hatte ihn bis ans Dorfende begleitet und war dort stehen geblieben. Ein letztes, aufmunterndes Nicken und Johannes wandte sich dem Gebirge zu.
Ihn plagte ein schlechtes Gewissen, denn er hatte sich nicht von Eva verabschiedet. Die Schwester schlummerte noch selig, als er in die Kleider geschlüpft und hinter Elmar aus dem Zimmer geschlichen war. Der Händler hatte versprochen, ihr alles zu erklären, und auch Freder wollte sich um die Kleine kümmern.
Rasch schritt der Zehnjährige aus, denn der Weg, der vor ihm lag, war weit und gefahrvoll. Morgen würde er die Schneeberge erreichen und hinaufsteigen. Der Zugang zur Feste war für Trolle gemacht und nicht für Kinder, die nur halb so groß waren wie diese. Doch Johannes war voller Zuversicht. Nach all dem, was Freder erzählt hatte, erschien ihm seine Mission nur noch halb so gefährlich. Er würde bis zum Trollkönig vorstoßen und von ihm angehört werden. Und wenn der auch nur einen Funken Verstand besaß, dann ließ er die Mutter und die Ziegen ziehen, denn nur so konnte er weiter Käse erhalten.
Bis zum Mittag kam er gut voran. Ab und an hob er den Blick zu den schneebedeckten Gipfeln. Seine Augen suchten nach dem Eingang einer Höhle. Immer wieder vergewisserte er sich anhand der einfachen Zeichnung, die ihm Freder gemacht hatte, dass er auf dem richtigen Weg war. Nachdem er im Schatten einer hohen Kiefer die Hälfte seines Brotkantens und einen Apfel hungrig verschlungen und sich mit einigen Handvoll kalten Wassers aus dem Bach erfrischt hatte, wanderte er weiter. Der Weg stieg beständig an.
Am Abend erreichte Johannes wie geplant die Hütte eines alten Holzfällers, dem er die Münze zeigte, die Freder ihm mitgegeben hatte. Der zahnlose Mund des Alten murmelte etwas Unverständliches, aber seine Hand wies auf den Stall neben seinem Heim.
Johannes fand sauberes Stroh und sogar Heu, woraus er sich eine weiche Schlafstatt bereitete. Die Ziege, die den Eindringling in ihrer Behausung gleichmütig duldete, spendete ihm Wärme. Zugedeckt mit Freders löchrigem, uraltem Schaffell schlief er tief und traumlos und erwachte am nächsten Morgen frisch gestärkt. Der wortkarge Holzfäller reichte ihm einen Becher Milch und aus dem Bartgestrüpp drang ein Murmeln, das Johannes als gute Wünsche für den weiteren Weg deutete.
Er dankte dem Alten, hob die Hand zum Gruß und wanderte wieder los, immer in Richtung der Berge. Am späten Vormittag änderte sich die Landschaft. Die Bäume blieben unter ihm zurück und wichen Büschen und windzerzausten Krüppelkiefern. Es wurde steiler und manchmal musste er anhalten, um zu verschnaufen.
Mit jedem Meter, den er an Höhe gewann, nahm die Kälte zu. Er holte den dicken Reiseumhang aus dem Bündel und legte ihn um. Immer öfter hauchte er in seine klammen Hände. Der Weg war an manchen Stellen vereist und tückisch, seine Schuhe drohten mehrmals abzurutschen. Der Wind wurde stärker und pfiff ihm um die frostgeröteten Ohren. Er brachte unzählige winzige Eiskristalle mit sich, die wie Nadeln ins Gesicht stachen, als wollten sie Johannes damit zur Umkehr bewegen.
Nachdem er eine besonders schwierige Steigung überwunden hatte, blieb er keuchend stehen und schaute zurück ins Tal. Klein und verträumt lagen weit unter ihm die Katen des Dorfes im Schein der Mittagssonne. Neben ihm gluckerte der Gletscherbach. Er hob den Kopf und sah sich suchend um. Direkt vor ihm war der große Felsbrocken, der wie ein Schweinskopf aussah. Er hatte über Freders Vergleich gelacht, aber jetzt, als er den Felsen sah, musste er zustimmen.
Zwei Stunden lagen noch vor ihm nach Aussage des Alten. Abschätzend musterte er den Stand der Sonne, die den Berggrat überschritten, seinen Pfad aber noch nicht erreicht hatte. Vor Einbruch der Dunkelheit musste er bei der Eishöhle sein. Was dann kam, wusste er nicht. Aber eines war klar: Wenn die Trolle ihm kein Quartier für die Nacht gewährten, würde er in den Schneebergen erfrieren.
Unbehaglich zog er bei diesem Gedanken die Schultern hoch, packte sein Bündel mit dem Brotkanten und Freders Fell fester und machte sich wieder auf den Weg.
Als sich eine Öffnung im Fels vor ihm auftat und der Pfad geradewegs dort hineinführte, wusste er, dass er am Ziel war.
Er blieb stehen und duckte sich instinktiv hinter einen schulterhohen Felsbrocken. Wachen, sagte er sich und musterte beklommen den Eingang, vor dem zwei struppig behaarte und zerzauste Wesen standen. Wieso? Hat Freder nicht gesagt, jeder könne in die Festung? Vielleicht ist das heute nicht mehr so ...
Johannes schluckte schwer. Er hatte noch nie einen Troll gesehen. Aus der Entfernung erschienen sie ihm riesenhaft, um einiges größer als Elmar, und beide hielten einen hölzernen Speer in der Faust. Die Erzählungen von Lene und Mutter hatten sie in seiner Fantasie als turmhohe, furchterregende Monster erstehen lassen. Mehr Augen als Menschen sollten sie haben, aber wie viele es genau waren, wusste keiner zu sagen. Es wurde nur immer wieder gewarnt, dass man nicht direkt hineinschauen durfte, weil jeder, der es wagte, seinen freien Willen verlor. Ihr Fell enthielte Eisennadeln, die einem die Haut aufrissen, wenn man damit in Berührung kam. Ihre Hände würden fast über den Boden schleifen, so lang seien ihre Arme.
Was er jetzt vor sich sah, beruhigte Johannes. Die Trolle ragten nicht turmhoch auf und ihre muskelbepackten Arme waren nur wenig länger als normal. Allerdings endeten sie in Pranken von der Größe eines Schubkarrenrades. Die grobschlächtigen Wesen hielten sich gebückt, wodurch tatsächlich der Eindruck entstand, dass die kräftigen Hände am Boden schleiften. Ihr Fell war verfilzt, von undefinierbarer Farbe und sicher kratzig. Stellenweise sah man kahle Hautstellen. Da drin gibt es ganz bestimmt keine Eisenspitzen, versicherte sich Johannes im Stillen.
Die Wächter hatten ihn bemerkt und beäugten ihn misstrauisch. Beklommen schluckte er. Was hatte Freder gesagt? Einige Trolle verstehen noch die Sprache der Menschen. Wenn du einen solchen findest, erkläre ihm, warum du gekommen bist.
Er fasste sich ein Herz, schob sich hinter dem Felsbrocken hervor und marschierte auf den zu, der ihm am nächsten war. Mit jedem Schritt schien dieser zu wachsen. Als er schließlich vor dem Wächtertroll stand, reichte er ihm nicht mal bis zur Hüfte. Um in sein finsteres Gesicht sehen zu können, musste er den Kopf in den Nacken legen. Dabei bemerkte er entgegen allen Schilderungen nur zwei Augen, in die er nicht zu blicken wagte und die im Vergleich zu dem massigen Körper winzig erschienen. Das Kinn war kantig und die Haut faltig, grau und spärlicher behaart als der Rest des Ungetüms. Dessen Nase ähnelte einer Gurke und die großen Ohren standen vom Kopf ab wie Scheunentore.
„Verstehst du mich?“, fragte er zaghaft.
Das zottelige Wesen brummte unwillig und machte eine ruppige Geste in Richtung des zweiten Wächters.
Er begriff und stapfte hinüber zu diesem. „Ich möchte zu eurem König“, erklärte er.
Der Trollwächter zog die buschigen Augenbrauen zusammen und musterte ihn.
„Bitte“, beeilte sich Johannes hinzuzufügen.
„Warum?“ Die Stimme des Hünen knarrte wie ein schlecht geschmiertes Gartentor.
„Ich ... ich will ihm einen Handel anbieten“, gab Johannes hastig zurück und dachte dankbar an Freder, der diese Antwort vorgeschlagen hatte.
Der Troll kratzte sich träge den behaarten Bauch. Dann zog er die gurkenförmige Nase hoch und spuckte den Rotz in den Schnee neben sich.
Angewidert wandte sich Johannes ab, als er den Geruch erkannte, den er bei sich zu Hause erstmals wahrgenommen hatte.
„Handel?“, knarrte sein Gegenüber, überlegte kurz und bellte ein, zwei Brocken in einer unverständlichen Sprache zu dem zweiten Wächter hinüber. Dann drehte er sich um und lief in die Höhle hinein.
„Komm!“, befahl er über die Schulter und Johannes beeilte sich, ihm zu folgen.
Die rauen Felswände wurden nach wenigen Metern zu Flächen aus glattem, glänzendem Eis. Sie schimmerten wie Spiegel und ließen das Innere der Höhle in einem unwirklichen Blau erstrahlen. Die Festung der Trolle war unerwartet hell, obwohl sie tief in den Berg hineinführte. Dampfwölkchen bildeten sich vor dem Mund von Johannes und sein Blick wanderte an glitzernden Säulen empor, die höher aufragten als die höchsten Kiefern des Waldes. Ab und zu sah er andere Trolle, die ihn unverhohlen anstarrten. Trotz der klirrenden Kälte, die ihn zittern ließ, trug keiner von ihnen Schuhe oder Kleidung oder gar ein umgehängtes Fell. Der Frost schien den Wesen nichts auszumachen.
Die gigantische Höhle schien ein verzweigtes Labyrinth zu sein. Längst hatte er in dem Gewirr aus Gängen, Gewölben und Kammern die Orientierung verloren. Würde er den Rückweg allein finden?
Irgendwann kamen sie an einen klaftertiefen, kreisrunden Abgrund, der die Mitte der Feste zu bilden schien. Über dem gigantischen Loch wölbte sich eine riesige Kuppel. Ganz oben schien das Eis sehr dünn zu sein, denn es schimmerte Sonnenlicht hindurch, das die Höhle bis in die tieferen Stockwerke erhellte und Fackeln unnötig machte.
So müssen die Paläste der Könige aussehen, von denen Lene immer erzählt hat, dachte Johannes staunend.
Steile und beängstigend schmale Pfade aus Eis schmiegten sich an die Wände der tiefen Klamm, wanden sich spiralförmig abwärts und verbanden so die tieferen Stockwerke miteinander. Der barfüßige Troll ging mit sicheren Schritten voran, als sie einen dieser rutschigen Abstiege betraten. Es gab kein Geländer oder Seil zum Festhalten und Johannes musste höllisch aufpassen, um nicht abzurutschen auf dem glatten Untergrund.
Der Troll führte ihn bis an ein großes, zweiflügeliges Tor in der dritten Ebene. Dort brummte er für eine der beiden davorstehenden Wachen wieder ein paar seiner unverständlichen Worte und deutete auf seinen menschlichen Begleiter. Dann drehte er sich um und verschwand.
Verblüfft sah Johannes dem Davonschlurfenden nach, doch ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern. Einer der Trolle vor dem Tor, der inzwischen einen Türflügel geöffnet hatte, winkte ihm.
Der Raum, den er betrat, hatte nichts gemein mit den Geschichten, die Lene über die märchenhaften Thronsäle von Königen erzählt hatte. Es gab keinen Thron, keine Diener, keine Krone.
Der Herrscher der Trolle saß an der Stirnseite eines gewaltigen Holztisches in einem überdimensionalen, ins Eis gemeißelten Sitz, der mit weichen Fellen ausgelegt worden war. Er hatte den Kopf an die Lehne gelegt und schnarchte. Auf der Tischplatte vor ihm standen ein wuchtiger Kerzenleuchter und ein mächtiger Trinkkelch aus Zinn, ähnlich denen, die Johannes im Wirtshaus bei Freder gesehen hatte.
Auf einen kurzen, bellenden Laut des Begleiters hin öffnete der Schlafende träge ein Auge. Als er Johannes erblickte, riss er beide auf und setzte sich gerade hin.
„Was haben wir denn da?“, knurrte er und schickte seine Wache mit einer Handbewegung wieder zurück nach draußen.
Johannes stand stocksteif, unfähig, sich zu rühren. Er starrte den Troll an, dessen breite Schultern und dunkles Fell ihn schon rein äußerlich aus der Masse hervorstechen ließen. Sein deutlich verständlicher Satz in der Menschensprache zeigte, dass er nicht nur stärker, sondern auch klüger zu sein schien als seine Untertanen. Der Blick, mit dem er ihn musterte, verriet im Unterschied zu dem stumpfen Glotzen der Wächtertrolle und Türsteher eine gefährliche Schläue.
Instinktiv spürte Johannes, dass er sich vor dem Trollkönig in Acht nehmen musste. Er räusperte sich einmal, bevor er entschlossen seinen Namen nannte.
„Johannes“, wiederholte sein Gegenüber bedächtig und lehnte sich wieder zurück in die Felle. Die Stimme war tief, sonor, nicht so knarrend wie die des Wächtertrolls. „Was führt ein Menschenjunges hierher ins ewige Eis?“
„Ich suche meine Mutter.“ Er hatte keine Sekunde gezögert mit seiner Antwort und bemühte sich um Festigkeit in der Stimme. „Eure ... Untergebenen haben sie mitgenommen.“
„Deine Mutter.“ Der Trollkönig zog das Wort in die Länge, als müsse er überlegen.
Johannes wartete ungeduldig, obwohl er am liebsten laut „Gib sie uns zurück!“ geschrien hätte. Es fiel ihm schwer, ruhig stehen zu bleiben, doch er durfte den Herrscher nicht verärgern. Dann wäre alles verloren. „Ist sie hier? Kann ich sie mit ... nach Hause nehmen?“ Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und er war sicher, dass er kein weiteres Wort hervorbringen konnte, ohne zu weinen anzufangen.
Das schwarzbehaarte Wesen erhob sich aus dem Stuhl. Eines der Felle rutschte zu Boden und Johannes sah, dass die Sitzfläche aus blankem Eis bestand. Unwillkürlich schauderte er.
„Meine Untergebenen haben viele Dinge von ihrem letzten“, der Herrscher der Trolle stockte kurz, „Ausflug mitgebracht. Kostbare, nützliche und welche, die einfach nur schön anzusehen sind.“ Die Worte kamen langsam, er war es offenbar nicht gewohnt, in der Sprache der Menschen zu reden.
Johannes sank der Mut. Es heißt, der Trollkönig sammelt schöne Sachen wie Trophäen, hörte er Freder in seinem Kopf. Was, wenn die Mutter tatsächlich als eines dieser Mitbringsel angesehen worden war und die Trolle sie gar nicht wegen des Ziegenkäses mitgenommen hatten?
Sein Herz hämmerte in der Brust und seine eiskalten Hände umklammerten den dicken Knoten des Bündels. Bebend ließ er die Musterung des Königs über sich ergehen. Sein Gefühl sagte ihm, dass, je länger dieser mit einer Antwort zögerte, die Wahrscheinlichkeit zunahm, die Mutter zurückzubekommen.
„Wir brauchen sie“, wisperte er erstickt. „Meine Schwester ist noch so klein.“
Immer noch schwieg der Troll, der wie ein Turm hinter dem Tisch aufragte. Sein behaartes Gesicht zeigte keine Regung, während die schwarzen Augen ihn musterten. Es war nicht zu erkennen, was er dachte, und Johannes fühlte sich unter dem forschenden Blick zunehmend unbehaglich.
„Komm mit“, befahl der König und schlurfte an ihm vorbei zur Tür.
Johannes folgte, ohne zu wissen, wohin es ging und ob er die Höhle je wieder verlassen würde. Eva, flüsterte er in Gedanken, ich finde Mutter und bringe sie mit nach Hause, versprochen.
Sie traten auf den blau schimmernden Korridor hinaus. Ihr Weg führte aufwärts. Eine Ebene nur und es wurde wieder heller. Am Ende eines schnurgeraden Ganges angekommen, blieb der König stehen.
Johannes hob den Kopf und riss die Augen auf. Ungläubig staunend ließ er den Blick über den Anblick wandern, der sich ihm bot. Eine Tür gab es nicht, nur eine Verbreiterung des Ganges zu einer Art Saal, angefüllt mit Säulen aus Eis. Manche so hoch, dass sie die gewölbte Decke trugen, andere kleiner als er selbst. Ein dünner Lichtstrahl fiel auf jedes der weißen Gebilde und erleuchtete es.
Sonnenlicht?
Wie ist das möglich, fragte er sich erstaunt. Sie befanden sich weit unten in einer klaftertiefen Eishöhle. Er hob den Kopf noch höher, um zu sehen, wo die zarten Lichtfinger herkamen, doch geblendet musste er den Blick wieder senken.
Zögernd trat er näher an die Säulen heran, obwohl er am liebsten davongerannt wäre. Die durchsichtigen, leuchtenden Stelen beherbergten Dinge. In der ersten befand sich eine Muschel. Das Eis hatte man so poliert, dass es glatt wie eine Fensterscheibe war. Jedes Detail auf der makellosen Schale konnte er erkennen.
Wie im Traum ging er weiter, obwohl sein Herz hart gegen die Rippen hämmerte. Dampfwölkchen kamen aus seinem halbgeöffneten Mund und die klammen Finger schob er in die Achselhöhlen.
Freder hatte recht behalten. Der Raum war die Trophäensammlung des Trollkönigs. Er sah einen wundervollen, blaugrün glänzenden Vogel mit einem Federkrönchen auf dem Kopf, dessen Schwanz ausgebreitet und rund wie ein Wagenrad war. Eine Kette aus rosa schimmernden Perlen. Einen auf die Hinterbeine aufgerichteten Bären, geschnitzt und nur so groß wie seine Faust, aber so fein, als wäre er lebendig. Eine Feder, die in nie gesehenen Farben leuchtete, eine gerade erblühte dunkelrote Rose, ein ...
Ein überraschter Laut entschlüpfte ihm. In der Säule war ein Kind. Ein wunderschönes, blondes Mädchen. Sein Herz schmerzte, so sehr erinnerte ihn die Kleine an Eva. Ihr Gesicht zeigte Staunen und ihre großen Augen blickten verständnislos. Die Hände hielt sie erhoben, als würde sie von innen gegen das Eis drücken.
Das Entsetzen verschlug ihm die Sprache. Muscheln, Federn, Perlen – das alles waren wirklich wunderschöne Dinge. Auch er hatte sie bewundert. Doch bereits der Vogel hatte ihm leidgetan. Aber ein Kind in Eis einzuschließen, war ...
Langsam hob er die Hand und berührte mit einem Finger die spiegelglatte Fläche. „Ist sie ... tot?“, stammelte er verstört.
Vom Trollkönig kam ein Schnauben. „Nein“, grunzte er, „seelenlos.“
„Seelenlos?“ Johannes konnte sich nichts darunter vorstellen. „Was bedeutet das?“
„Ich habe ihr ihre Seele genommen. So ist ihr Körper erstarrt. Erst wenn sie sie zurückerhält, lebt sie wieder.“
„Wie kann man jemandem die Seele nehmen?“ Sein Blick glitt ungläubig über das Kind. Sie sah so lebendig aus. „Und erfriert sie nicht da drin?“
„Nein. Sie fühlt nichts, auch keine Kälte. Ihr Körper ist genauso eingefroren wie ihre Lebenszeit.“
„Was ist mit ihren Eltern? Ihrem Zuhause?“
„Was kümmert mich das?“, knurrte der Trollkönig gereizt. „Sie haben sie nicht beschützt, ganz allein gelassen. Jetzt bleibt sie bei mir.“
„Aber ...“
„Schluss! Du bist nicht ihretwegen gekommen!“
Johannes zuckte zusammen bei den harschen Worten und er schluckte den Rest der Frage hinunter. Es stimmte, ihm konnte es egal sein, warum der Herrscher dieser hässlichen Wesen sich mit so viel Schönheit umgab.
Er war hier, um seine Mutter zu finden.
Zaghaft sah er sich um, denn gleichzeitig fürchtete er sich davor. Ob sie auch in einer der vielen Säulen eingeschlossen ist?, fragte er sich bang. Ihrer Seele beraubt und zu Eis erstarrt wie das kleine, blonde Mädchen?
Ihm wurde klar, dass er es nicht ertragen würde, sie in einer dieser blau leuchtenden Stelen zu sehen. Er wollte weitergehen und sie suchen, doch seine Beine waren schwer wie die Mühlsteine, die der dicke Müller ihm einmal gezeigt hatte.
Der Trollkönig nahm ihm die Entscheidung ab. „Komm!“, grunzte er und Johannes konnte sich wieder bewegen. Mit immer noch wild klopfendem Herzen folgte er dem schwarz behaarten Wesen tiefer hinein in den Saal. Ein Schmetterling mit rot schillernden Flügeln, ein Stück Stoff, glänzend wie Gold, noch ein Vogel, dessen ausgebreitete Schwingen durch den schmalen Lichtstrahl in herrlichem Dunkelgrün leuchteten ... Die Sammlung seines Gastgebers war grauenerregend und wunderschön zugleich. Erstarrtes Leben, eingesperrt in Eis.
Er wusste, dass die Mutter hier irgendwo war, und dieses Wissen wurde so übermächtig in ihm, dass er vor Aufregung zitterte. Irgendeiner dieser dünnen Strahlen aus Sonnenlicht beleuchtete auch ihre Stele.
Während sie durch das Labyrinth der Säulen immer tiefer in das blau leuchtende Gewölbe hineingingen, überschlugen sich seine Gedanken. Die Vorstellung, angesichts dieser Kostbarkeiten dem Trollkönig Ziegenkäse anzubieten, erschien ihm mit einem Male lächerlich. Doch was sollte er sonst vorschlagen? Welche Worte konnten das Wesen, das vor ihm her schlurfte und kein bisschen königlich wirkte, überzeugen?
Irgendwann blieb der Trollkönig stehen und wartete, bis Johannes neben ihn kam.
„Sieh hin“, forderte er und streckte den Arm aus. „Ist sie das?“
Bitte nicht, war alles, was Johannes denken konnte. Bitte, bitte nicht! Lieber Gott, lass es nicht sie sein. Eine andere Frau, mit kurzen, schwarzen Haaren, so dass sie der Mutter nicht ähnlich ist.
Er fühlte einen Stich seines schlechten Gewissens, weil jeder Mensch, der hier eingesperrt war, mit Sicherheit von jemandem schmerzlich vermisst wurde. Aber er wollte lieber eine Fremde sehen als seine schöne Mutter mit den strahlenden Augen und dem Lachen, das er so liebte.
„Sieh hin!“, wiederholte der Trollkönig ungeduldig und schob ihn näher heran.
Er starrte stur zu Boden und wagte nicht den Kopf zu heben. Das Zittern nahm zu und es war nicht die Kälte, die ihn schlottern ließ. Hilflos presste er die Lippen zusammen und knetete den Stoff des schweren Winterumhangs zwischen den schweißfeuchten, eiskalten Fingern seiner Linken. Schließlich gab er sich einen Ruck und sah auf.
Der Atem stockte ihm und gleichzeitig wuchs ein dicker Kloß in seinem Hals. Ein erstickter Laut entrang sich seiner Kehle, halb Schreckensschrei, halb Seufzer, und unwillkürlich streckte er die Hand aus. Wenige Zentimeter vor der kalten, glänzenden Oberfläche verharrten die Fingerspitzen.
Da war sie ...
Sie hatte die Hände gefaltet und rang sie flehend. Ihr Gesicht war verzerrt vom Schluchzen, das sie im Moment des Einfrierens geschüttelt haben musste. Die weit aufgerissenen Augen verrieten namenlosen Schrecken und der geöffnete Mund ließen Johannes die bittenden Worte, sie gehen zu lassen, fast hören.
„Mutter!“
Er trat einen Schritt vor und legte beide Hände aufs Eis, als könnte er ihr so näherkommen. Seine Lippen bebten, als er in ihr verzerrtes Antlitz starrte und unsagbare Angst ergriff ihn, lähmte sein Denken und ließ den Mut in seinem Herzen schmelzen wie den Schnee auf den Bergen in der Frühlingssonne.
Das letzte Mal, dass er sie so gesehen hatte, war an dem Abend gewesen, als Männer aus dem Dorf die Bahre mit dem Vater aus dem Haus getragen hatten. Ihre in das Hemd des Toten gekrallten Finger waren vom Dorfältesten mit Gewalt gelöst worden. Mit den hasserfüllten Worten „Fass ihn nicht mehr an, Hexe!“, hatte er sie zur Seite gestoßen. „Du hast ihn auf dem Gewissen mit deinen Zaubersprüchen und Tränken!“
Ihre flehenden Schreie gellten ihm noch heute in den Ohren. Er hatte damals zitternd in der Ecke gekauert, die Arme um Eva geschlungen, die sich schluchzend an ihn klammerte und ihr tränennasses Gesicht an seine Brust presste. Die Mutter war den Männern nachgerannt und am Gartentor mit einem letzten ‚Ich habe ihm nichts getan!‘ zu Boden gesunken.
Er schüttelte den Kopf, als könnte er die Erinnerung an den schrecklichen Tag auf diese Weise vertreiben. Sanft und liebevoll strichen seine Handflächen über die Stelle, hinter der ihre gefalteten Hände erkennbar waren, und hinterließen feuchte Spuren. „Mutter“, flüsterte er rau, „ich bin’s, Johannes. Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen. Evchen wartet so sehr auf dich.“
Sie hörte ihn nicht, das wusste er. Trotzdem konnte er nicht anders. Er musste ihr sagen, dass er da war.
Einen Augenblick schaute er noch in das vertraute Gesicht. Dann gab er sich einen Ruck, drehte sich entschlossen um und hob den Kopf.
„Was muss ich tun, damit Ihr sie gehen lasst?“
Der Trollkönig ließ sich erneut Zeit mit der Antwort. Er schob Johannes zur Seite und trat an die Säule heran. Lange musterte er die eingeschlossene Frau. „Was bist du bereit zu geben?“, fragte er zurück.
Johannes lauschte den Worten nach. Sollte er wirklich mit der Mutter nach Hause gehen können, wenn er etwas bieten konnte, was der König als ähnlich wertvoll oder schön ansah ...?
Tief atmete er ein.
„Alles“, flüsterte er dann und obwohl ihm klar war, was diese Antwort für ihn bedeuten konnte, bereute er sie nicht. Seine Stimme war fest und ohne Zittern.
Der Trollkönig wandte sich zu ihm um und kniff die Augen zusammen.
„Alles?“, fragte er gedehnt.
Johannes wummerte das Herz in der Brust, als er die kräftigen, haarigen Finger spürte, die ihn unter dem Kinn fassten und seinen Kopf anhoben, um ihn langsam hin und her zu drehen. „Weißt du, dass du ein wirklich schönes Kind bist?“
Eiseskälte fuhr ihm in die Glieder. Würde er sich in wenigen Minuten – seiner Seele beraubt – neben der Mutter in einer Stele wiederfinden?
Sein Magen fühlte sich an wie ein Stein und ihm wurde der Mund trocken. „Nein“, murmelte er und versuchte, sich aus dem Griff zu befreien.
Der Trollkönig ließ ihn los und musterte ihn noch einen Augenblick, bevor er sich wieder der im Eis eingeschlossenen Frau zuwandte.
„Ich bewundere deinen Mut“, knurrte er, „und sie hier“, sein gekrümmter Zeigefinger wies auf die Eissäule, „habe ich auch sehr bewundert. Eine der schönsten Menschenfrauen, die ich je gesehen habe. Doch davon ist nichts mehr zu entdecken! Verheult, das Gesicht verzerrt, Rotz an der Nase, das Haar aufgelöst und wirr, die Augen und der Mund aufgerissen – so, wie sie jetzt aussieht, ist sie ein Schandfleck in meiner Sammlung.“
„Hör auf!“, schrie Johannes wutentbrannt und ballte in ohnmächtigen Zorn die Fäuste. Mit einem Satz sprang er zwischen die Stele und den schwarz behaarten Wanst des Trollherrschers und breitete die Arme aus, als könnte er damit die Mutter vor der Beschimpfung schützen. Bebend starrte er den König aus zornfunkelnden Augen an. Seine Wut hatte ihn die förmliche Anrede gänzlich vergessen lassen. Erst als er sah, wie der Trollkönig die buschigen Augenbrauen zusammenzog, fielen ihm Freders Worte wieder ein. Behandle ihn mit dem Respekt, der ihm zusteht, hatte der Alte gemahnt. Trotzdem entschuldigte sich Johannes nicht, denn dieses Ungeheuer hatte seine Mutter einen Schandfleck genannt.
„Dann lasst sie gehen“, stieß er stattdessen bittend hervor. „Gebt ihr ihre Seele zurück und lasst sie gehen.“
Noch immer stand er schwer atmend mit ausgebreiteten Armen vor der Säule, obwohl ein leichter Schubs des Trollkönigs mit einer der großen Pranken ihn in die nächste Ecke befördern konnte.
„Ich habe noch niemals jemanden gehen lassen“, war die geknurrte Erwiderung. Der König wandte den Kopf und schaute in den hinteren Bereich der Eiskammer.
Johannes wandte seinen Blick nicht von ihm ab. „Sie gehört Euch nicht“, widersprach er ausdruckslos, „es ist unsere Mutter.“
Mit bangem Herzen wartete er auf Antwort, doch der Herrscher der Trolle musterte ihn erneut so seltsam, dass er unwillkürlich den Kopf einzog.
„Ich habe dir ein Angebot zu machen“, meinte der König völlig unerwartet. „Komm mit.“ Er drehte sich um und wandte sich dahin, wo er hingeschaut hatte.
Zögernd ließ Johannes die Arme sinken und starrte auf den fellbedeckten Rücken des davon stapfenden Wesens. Er war so überrascht, dass er unschlüssig stehen blieb.
Der Trollkönig, der ein paar Schritte gegangen war, hielt an, als er es merkte.
„Komm mit!“, knurrte er unwillig. „Muss ich dir alles zweimal sagen?“
Hastig stolperte Johannes ihm nach, denn nichts wollte er weniger, als den Herrscher zu verärgern. Das würde jede Hoffnung auf ein gutes Ende seiner Reise zerstören.
Während sich seine Gedanken überschlugen, was das wohl für ein Angebot war, erreichten sie eine Tür in der hinteren Wand der geräumigen Eiskammer.
Der Trollkönig legte die Hand auf einen gewaltigen eisernen Riegel, der so hoch oben angebracht war, dass ihn nicht einmal ein erwachsener Mann erreichen konnte.
Johannes‘ Herz begann erneut wild zu hämmern. Was war hinter diesem Eingang, dass er so gesichert wurde? Immer wieder musste er an seine Antwort denken auf die Frage, was er zu geben bereit war.
Alles.
Entweder würde der Herrscher der Trolle ihm jetzt seinen Preis nennen oder ihn genauso einfrieren wie die Mutter. Gegen Letzteres würde er sich nicht wehren können und ein Entkommen aus dieser Eisfestung war unmöglich. Er hatte sich ihm selbst ausgeliefert.
Zwei Herzschläge lang tauchte Evas verzagtes Gesicht vor ihm auf, ihre tränenüberströmten Wangen an dem Tag, als sie vom Pilzesammeln zurückkamen und das Haus verwüstet fanden. Auch das sanfte Lächeln der Mutter sah er vor sich und hörte förmlich, wie sie seinen Mut lobte und ihn tröstete, weil er es nicht geschafft hatte.
Ein metallisches Scharren holte Johannes zurück in die Wirklichkeit. Der vereiste Riegel war mit einem kräftigen Ruck der behaarten Faust zurückgeschoben worden und der Trollkönig umfasste den mit Reif überhauchten Türknauf. Knarrend öffnete sich die Tür.
In dem Raum war es viel dunkler als in dem mit den Säulen. Das Blau hatte sich in Grau gewandelt. Die Augen von Johannes brauchten einen Moment, um etwas erkennen zu können. Es gab keine leuchtenden Finger aus Sonnenlicht, nur Nischen, immer mehrere übereinander, von groben Händen in die eisigen Wände gehauen.
Zögernd trat er näher, um zu sehen, was darin lag. Es waren Eisgebilde. Jedes hatte eine andere Größe. Manche waren so groß wie sein Kopf, einige nur so klein wie sein Finger. Staunend glitt sein Blick über die rauen, teils scharfkantigen Brocken. Warum hatte der Trollherrscher ihn hierhergebracht?
„Was sind das für Eisstücke?“, fragte er und reckte den Hals, um eines von ihnen näher betrachten zu können.
„Gefäße“, war die einsilbige Antwort.
„Man kann etwas in sie hineintun?“ Johannes wunderte sich, denn er sah weder einen Deckel noch eine Öffnung. „Darf ich?“ Seine erhobene Hand schwebte neben dem ihm am nächsten liegenden Eisklumpen und er sah fragend über die Schulter.
Ein knappes Nicken war die Erlaubnis.
Seine frostklammen Finger umschlossen das raue, kalte Gebilde und nahmen es aus dem Regal. Langsam drehte er es vor seinen Augen und betrachtete es sorgfältig. Es gab nichts Auffälliges daran. Ein einfacher Eisbrocken.
„Wenn du es fallenlässt, stirbt eines der Lebewesen in den Säulen.“
Beinahe wäre genau das passiert, weil Johannes bei diesen Worten erschrocken zusammenzuckte. Er verstand sofort, was der Trollkönig meinte. Gefäße hatte er die Gebilde genannt. Sie bargen die Seelen der eingefrorenen Menschen und Tiere im vorderen Raum.
Vorsichtig legte er den Eisklumpen wieder in die Nische. Bei dem Gedanken, dass dieser vielleicht die Seele des kleinen, blonden Mädchens beherbergte, schüttelte es ihn vor Grauen. Rasch zog er die Hände zurück.
Der Trollkönig hatte sein Verhalten wortlos verfolgt. Als der Brocken wieder an seinem Platz lag, drehte er sich um und ging zu einer Nische an der gegenüberliegenden Wand.
Johannes folgte ihm, wobei sein Blick über die unzähligen Fächer in den Eiswänden glitt. Manche waren leer, aber in den meisten lag etwas. Seelen, sagte er sich, geraubt und eingesperrt. Wie viele es wohl sind? Und ... ob es weh tut, wenn sie einem entrissen wird?
Er traute sich nicht, den Trollkönig zu fragen, denn schon die Vorstellung, dass die Mutter dabei Schmerzen gelitten hatte, ließ ihn sich innerlich krümmen.
„Das ist ihre Seele.“
Johannes starrte auf den Eisklumpen, der in der haarigen Handfläche vor ihm lag. Er war so groß, dass er beide Hände brauchen würde, um ihn zu halten. Hastig verbarg er sie auf dem Rücken. Er wollte das unförmige Gebilde nicht halten, aus Angst, es könne ihm entgleiten.
„Ich sagte dir bereits, dass noch kein Lebewesen, das einmal hier drin eingeschlossen wurde, die Höhle wieder verlassen hat“, erklärte der Herrscher der Trolle. „Aber es gibt etwas, was mich dazu zwingen kann, es freizugeben. Einen Preis, den ich für das Nutzen von Magie beim Entnehmen der Seelen zahlen muss: Verlangt jemand die Herausgabe eines meiner Sammelstücke, darf er darum kämpfen. Gewinnt er, bin ich gezwungen, einem Geschöpf seiner Wahl die Seele zurückzugeben.“
Ich muss also um meine Mutter kämpfen, wiederholte Johannes in Gedanken und er merkte, wie ihn der Mut verließ. Wie sollte er, ein zehnjähriger Junge, einen Kampf gegen einen Troll gewinnen, vielleicht gar gegen den König selbst?
„Ihr lasst meine Mutter gehen, wenn ich siege?“
Der Trollkönig nickte.
„Gegen wen muss ich kämpfen?“ Seine Stimme zitterte ein wenig und er hoffte, dass der Herrscher es nicht bemerkte.
„Gegen die Zeit.“
Der König neigte den Kopf, was ihm etwas Verschlagenes verlieh, und Johannes wurde klar, dass es nicht einfach werden würde, auch wenn er keinen Troll als Gegner bekam. Furcht kroch in ihm hoch und machte ihm das Atmen schwer.
„Wie – geht das?“, fragte er zaghaft.
„Ganz einfach“, gab der Troll schroff zurück. Er wandte sich abrupt ab und trug den Eisbrocken hinaus aus dem Raum direkt bis zu der Eissäule mit Johannes‘ Mutter darin. „Sieh her.“ Und mit diesen Worten ließ er seine Last fallen.
Als würde die Zeit langsamer laufen, sah Johannes mit offenem Mund dem Brocken hinterher. Er war wie gelähmt, machte nicht einmal den Versuch, die Hände vorzustrecken, um ihn zu fangen. Sogar der entsetzte Aufschrei blieb ihm im Hals stecken. Das kostbare Gebilde sauste an seinen Augen vorbei, schlug mit einem dumpfen Laut auf dem Eis des Höhlenbodens auf und zerplatzte vor seinen Füßen.
Fassungslos stierte er auf das, was vor seinen groben Winterschuhen lag. Splitter, kleinere Krümel und Bröckchen ...
Hatte das sein Kampf gegen die Zeit sein sollen? Den Eisbrocken rechtzeitig zu fangen? Dann hatte er versagt. Die Mutter war verloren und alle Anstrengung vergeblich gewesen.
„Nein!“, stöhnte er und sank auf die Knie. Seine Finger zitterten, als er eine der Eisnadeln in die Hand nahm. Er legte sie auf die Handfläche und betrachtete sie. Der Schandfleck, dachte er und seine Augen füllten sich mit Tränen, der Trollkönig hat seinen Schandfleck beseitigt.
„Setze es wieder zusammen!“, hörte er ihn hinter sich knurren.
Ruckartig fuhr er herum und starrte ihn verständnislos an. „Was?“, brachte er mühsam hervor.
Die zusammengezogenen Augenbrauen und der sich verfinsternde Blick zeigten ihm, dass er diesmal keine zweite Aufforderung bekommen würde. Er hatte sie ja auch verstanden. Sie erschien ihm nur so widersinnig, dass er sich vergewissern wollte, nicht falsch gehört zu haben.
„Zusammensetzen?“, flüsterte er. „Warum? Sie ist doch tot.“ Erneut drängten sich Tränen in seine Augen und er wagte nicht, den Kopf zu drehen und einen Blick auf die Mutter zu werfen.
„Das ist sie erst, wenn du es nicht schaffst, den Behälter wieder zusammenzusetzen, bis die Sonne untergegangen ist.“ Der ausgestreckte Zeigefinger des Trollkönigs wies zur Decke.
Johannes’ Augen folgten der Geste, doch er konnte nicht in das gleißende Licht sehen, das sich dort oben in die dünnen Strahlenfinger aufteilte, um die einzelnen Säulen in der Höhle zu erleuchten.
Sie mussten längst weitergewandert sein, denn er war bereits eine ganze Weile hier. Aber noch immer fielen die Strahlen auf dieselbe Stelle, die sie schon vorhin angestrahlt hatten, als er in dieses Gewölbe gekommen war. Magie, sagte er sich, das ist die Magie des Trollkönigs.
„Wenn die Sonne gesunken ist, werden auch die Lichtstrahlen, die du siehst, verschwinden. Nun denn – das ist dein Kampf: Du hast Zeit bis zum letzten Sonnenstrahl.“
Johannes schluckte. Er wusste nicht, wie spät es war. Irgendwann am Nachmittag hatte er die Höhle erreicht. Der lange Marsch durch endlose, blaue Gänge, der Abstieg zu den Räumen des Königs, der Aufenthalt hier in diesem eisigen Gewölbe des Grauens. So viel verschwendete Zeit, so viel Reden ohne Nutzen ...
Hastig überflog sein Blick die Splitter und Bruchstücke am Boden.
Ich kann das schaffen, versicherte er sich selbst und schon griffen seine Hände nach den ersten Teilen. Immer wieder probierte er, verglich Kanten und Flächen, setzte zusammen und nahm auseinander. Er kam voran. Die Hälfte war fast geschafft. Wunderbarerweise fügten sich die Splitter, die passten, von selbst aneinander, so dass der Brocken nicht wieder auseinanderfiel.
Als er den Kopf hob, um einen Blick auf den Trollkönig zu werfen, sah er, dass es im Gewölbe dunkler geworden war. Irritiert schaute er sich um und bemerkte zwei kleinere Säulen nahe dem Eingang, auf die kein leuchtender Strahl mehr fiel.
Die Sonne sank! Ihr Licht schwand. Ein Blick auf die Säule der Mutter an seiner Seite verriet ihm, dass sie nach wie vor leuchtete. Ich schaffe es, Mutter, flüsterte er ihr zu, ich schaffe es!
Seine eiskalten Finger hatten Mühe, die kleinen Teile aufzuheben und einzupassen. Immer öfter musste er in die Hände hauchen, weil die Schmerzen vom Frost fast nicht mehr zu ertragen waren. Er spürte kaum noch, ob sie etwas ergriffen hatten oder nicht. Und es wurde immer dunkler.
Wieder hob er den Kopf und sah drei weitere Säulen ohne Licht. Nur noch zwei Reihen von ihm entfernt. Auch das kleine, blonde Mädchen stand schon im Finsteren und die Dunkelheit kroch auf ihn zu wie einer der Nachtmahre, von denen Lene oft erzählt hatte. Sie kam näher und sein Herz verkrampfte sich. Schlotternd vor Angst, Kälte und innerer Erregung richtete er die Augen wieder auf den beinahe fertigen Eisklotz vor sich. Nur noch wenige Teile fehlten und während seine Hände die Splitter fast blind einzupassen versuchten, huschte sein fahriger Blick bereits über die verbliebenen, um schneller den nächsten zu finden.
Noch drei waren übrig. Er wimmerte leise, weil ihm alles wehtat. Die Knie, die er kaum noch spürte, die Arme, die Finger, in die der Frost biss wie ein wütendes Tier. Noch zwei, noch eines ...
Als er die Hand nach dem letzten Bröckchen ausstreckte, legte sich die Pranke des Trollkönigs auf seine Schulter und zerrte ihn zurück.
„Es war wohl zu leicht“, hörte er den Herrscher brummen, als er unbeholfen auf dem Po landete, „ich dachte nicht, dass du es schaffst. Deshalb muss ich es dir ein bisschen schwerer machen.“
Ein neuer Eisbrocken krachte zwischen Johannes‘ Füßen auf den Boden. Auch dieser zerplatzte in unzählige Bruchstücke und begrub den noch fehlenden Splitter von der Seele der Mutter unter sich.
„Finde nun das letzte Teil!“, höhnte der Trollkönig. „Und wisse: Wenn es dir nicht rechtzeitig gelingt, bist du auf immer in dieser Höhle gefangen. Du wirst mein neues Schmuckstück sein!“ Mit einem rauen Lachen wies er auf eine leere Eissäule, die Johannes noch gar nicht gesehen hatte, weil kein Lichtstrahl auf sie gefallen war. „Die Dunkelheit ist noch zwei Säulen entfernt, spute dich!“ Wieder erklang das hässliche Lachen.
Während er zu begreifen versuchte, dass er das niemals schaffen würde, ruckte sein Kopf erneut in Richtung Ausgang. Alle Stelen waren finster außer dreien. Eine von ihnen war das Eisgefängnis der Mutter.
Johannes erkannte, dass der Trollkönig nie vorgehabt hatte, ihn gehenzulassen. Er wird mich in die leere Säule sperren, dachte er, er hat nicht umsonst gesagt, ich sei ein schöner Junge.
Der Schock war unbeschreiblich. Als er sich mit steifen Gliedern aufrappelte und auf den kleinen Haufen Eisbröckchen starrte, verließ ihn alle Hoffnung. Wie sollte er darin den letzten Seelensplitter finden?
Drei Säulen, schrie es in ihm, nur noch drei Säulen! Beeil dich!
Gleichzeitig vernahm er eine andere Stimme in seinem Inneren. Du findest ihn eh nicht, verkündete sie und es klang unendlich hoffnungslos.
„Doch!“, stieß Johannes hervor und seine Hände fuhren in die Überreste des zweiten Eisbrockens, um sie auszubreiten. Ist das eine weitere Seele gewesen?, fragte er sich und Schuldgefühle drohten ihn zu überwältigen. Hat dieses Ungeheuer eines der Lebewesen hier drin sterben lassen, um mich aufzuhalten?
Er versuchte sich zu erinnern, wie der letzte Splitter ausgesehen hatte. Schmal, scharfkantig, so lang wie sein Daumen. Es gab unzählige davon. Sollte er jeden einzeln aufnehmen und probieren? Wieder huschte sein Blick zu den anderen Säulen. Der Sonnenstrahl auf der dritten war merklich blasser geworden und kaum noch zu sehen.
Mutter, flüsterte er in Gedanken, während seine Finger fast abwesend über die Bröckchen tasteten auf der Suche nach dem fehlenden Eisstück, hilf mir doch! Zeig ihn mir!
Er musste an seine Schwester denken und war froh, dass sie sich in Sicherheit befand und nicht hier. Szenen fielen ihm ein, in denen sie miteinander gespielt hatten, im Sommer und auch im Winter, in dem es so frostig war wie hier unten in diesem Eisgefängnis. Was hatte Eva einmal geantwortet, als er sie fragte, ob sie nicht friere? ‚Wenn mir kalt ist, gehe ich rein zu Mutter und kuschle mich an sie. An ihren Bauch. Und dann legt sie ihre Arme um mich. Sie hat so warme Hände. Alles an ihr ist warm.‘
Alles an ihr ist warm ...
Die Worte setzten sich fest in seinem Kopf.
Alles an ihr ist warm ...
Er ließ sich zurück auf seine Fersen sinken und musterte die ausgebreiteten Bruchstückchen. Warm, ertönte es erneut in ihm, warm!
Da sah er es.
Einer der Splitter lag in einer winzigen Wasserpfütze. Nur einer von so vielen. Die Pfütze stand in einer ebenso kleinen Kuhle, die die Form des Splitters hatte.
Wie von selbst griffen seine Finger zu. Sie entnahmen ihn aus seinem feuchten Bett und fügten ihn in die verbliebene Lücke ein. Und als Johannes aufschaute, um froh in das Gesicht der Mutter zu sehen, erlosch der Sonnenstrahl auf ihrer Eissäule.
Freder saß auf der Bank neben seiner Haustür und rauchte eine Pfeife. Die Sonne war untergegangen und eben hatte sein kleiner Gast ihm eine gute Nacht gewünscht und war mit der Puppe im Arm in der Kate verschwunden. Er hörte sie durch das offene Fenster summen.
Seine Gedanken waren bei dem Jungen. Am Ende des vierten Tages – also heute – konnte er zurückkehren. Wahrscheinlich allein und zutiefst niedergeschlagen, wie er vermutete. Trolle waren nicht für Menschenfreundlichkeit bekannt. Zum Glück hatte er Eva nicht gesagt, wann er mit der Heimkehr ihres Bruders rechnete. Sie war ein so liebes Kind ...
Seine Pfeife war ausgegangen. Er erhob sich, um nach drinnen zu gehen, doch da fiel sein Blick auf zwei Gestalten, die sich seiner Kate näherten. Eine große und eine kleine ...
Sein Herz klopfte schneller, während er wartete, bis sie so nahe gekommen waren, dass er die kleinere zu erkennen vermochte. Dann drehte er sich zu dem offenen Fenster über der Bank um.
„Evchen!“, rief er hinein und seine Stimme war zittrig vor Rührung, „komm raus, mein Kind, hier möchte dir noch jemand gute Nacht sagen!“