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Eins Cuilan und Wei Bo

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Die Witwe Niu Ciulan stand noch vor Tagesanbruch auf, um sich zu waschen und zurechtzumachen, denn sie erwartete an diesem Tag Besuch von ihrem Liebhaber Wei Bo. Sie war fünfunddreißig Jahre alt, ihrer Meinung nach das beste Alter für eine Frau. Ihr Mann war vor acht Jahren gestorben. Wei Bo war achtundvierzig und arbeitete in einer Seifenfabrik, war aber für einen einfachen Arbeiter ziemlich kultiviert.

Cuilan und Wei Bo hatten sich vor einem Jahr kennengelernt, in einem Wellnesshotel, in dem man auch sexuelle Dienstleistungen in Anspruch nehmen konnte. Cuilan war dort ausschließlich zum Besuch der Thermalbäder hingegangen. Nachdem sie sich genüsslich im Bad entspannt hatte, stieg sie gemächlich aus dem Becken und ging sich umziehen. Es war noch früh am Tag. Geisterhaft bewegten sich die Badegäste durch die wabernden Dampfschwaden, und immer wieder stießen Männer sie anzüglich mit dem Ellbogen an. Angewidert spuckte Cuilan hinter ihnen auf den Boden.

In diesem Augenblick erhaschte sie einen Blick auf Wei Bo, der ein fliederfarbenes Sporttrikot trug. Einer von diesen erbärmlichen Fremdgehern, dachte Cuilan. Es war offensichtlich, was er hier suchte. Verächtlich schnaubte sie durch die Nase und fragte sich, was dieser Kerl sich wohl dabei dachte, hier im Sporttrikot herumzulaufen.

Als sich dann ihre Schultern in dem engen Korridor berührten (er war auf dem Weg zum Bereich mit den speziellen Dienstleistungen), stieß sie ihm hart den Ellbogen in die Rippen, so hart, dass er aufschrie und gegen die Seitenwand taumelte.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet dieser Kerl, einer, der zu Prostituierten ging, Cuilans Liebhaber werden sollte? Später gestand ihr Wei Bo, dass er wegen Sex im Wellnesshotel gewesen sei, doch anders als sonst sei sein Verlangen hinterher noch nicht gestillt gewesen. Etwas habe ihn durcheinandergebracht, und es habe nicht lange gedauert, bis ihm klar geworden sei, was es gewesen war. Schnurstracks war er zur Rezeption gegangen, um Cuilans Adresse herauszufinden, und hatte sich bis zu ihrer Wohnung durchgefragt. Ohne Umschweife waren die beiden Experten übereinander hergefallen und hatten sich so lange vergnügt, bis sie erschöpft und schweißgebadet voneinander abgelassen hatten.

Wei Bo hatte Familie. Und er hatte nicht wenige zwielichtige Einkommensquellen, die ihm gelegentliche Ausflüge in gewisse Etablissements gestatteten. Er war ziemlich potent und in sexuellen Dingen erfreulich bewandert. Cuilan war mit dieser neuen Situation zunächst sehr zufrieden, so zufrieden, dass sie ihre anderen Liebhaber unverzüglich zum Teufel jagte und sich leidenschaftlich ihrer neuen Flamme hingab. Seine sonstigen Qualitäten waren zwar nicht unbedingt zum Verlieben, aber als Liebhaber genügte er ihr vollauf. Eine Frau hatte ihrer Ansicht nach ein Recht auf ein erfülltes Sexualleben. Üblicherweise stattete ihr Wei Bo zwei- bis dreimal im Monat einen Besuch ab.

Im Lauf der Zeit fing sie an, ihn als eine Art heimlichen Ehemann zu betrachten. Cuilan war eine ausgesprochen unabhängige Frau, ein heimlicher Ehemann ließ sich bestens mit ihren Vorstellungen vereinbaren. Was war schon dabei, sich ein bisschen Vergnügen zu gönnen?

Eigentlich hieß er Wei Siqiang – Herr Wei mit den vier Stärken – ein ungewöhnlicher und ungewöhnlich vulgärer Vorname. Genauso ungewöhnlich war sein Verhalten, das schon immer eher das eines alten als das eines jungen Mannes gewesen war, daher hatte ihn jeder bereits mit dreißig nur noch »Bo« genannt, Onkel. Cuilan mochte es, ihn ebenso zu nennen. Wei Bo.

Sie schlang ihr Frühstück hinunter und machte sich daran, ihre Dreizimmerwohnung zu putzen, bis die beiden Schlafzimmer und das Wohnzimmer auf Hochglanz poliert waren. Dann zog sie noch einmal den Lidstrich nach. Ohne ersichtlichen Grund war sie unruhig und schreckte auf, sobald sie auf dem Flur Schritte hörte. Doch jedes Mal waren es nur die Nachbarn. Sie schämte sich für ihre Nervosität, das war eigentlich unter ihrer Würde. Schließlich war sie nie der Typ Frau gewesen, der sich albern wie ein kleines Mädchen bei Männern anbiederte. Sie ging zum Kühlschrank und nahm ein paar Mangos heraus, wusch sie, schälte sie und aß sie, bis ihre Hände und ihr Gesicht völlig verschmiert und ihr sorgfältig aufgetragenes Make-up ruiniert waren. Was sprach schon dagegen, Wei Bo die wahre Cuilan zu zeigen?

Erst gegen Mittag klopfte es zaghaft an ihrer Tür. Er war es. Argwöhnisch fragte sie sich, warum sie gar keine Schritte gehört hatte. Ob Wei Bo sie zum Narren halten wollte? Sie musterte ihn, dachte an die höllischen Qualen, die sie den ganzen Vormittag über erlitten hatte, und brachte kein Wort heraus.

»Hallo Cuilan, ich wollte dir nur sagen, dass ich gleich wieder wegmuss. Bei mir zu Hause ist etwas nicht in Ordnung.«

Er wirkte vollkommen ehrlich.

»Das hättest du mir doch auch am Telefon sagen können«, bemerkte Cuilan verwirrt.

»Am Telefon?« Er schien nicht weniger verwirrt. »Wie denn das? Das wäre respektlos. Wir sind doch schließlich ein Paar. Ich liebe dich!«

Er hatte gesagt, dass er gleich wieder gehen müsse. Und er ging.

Wie in einem Traum saß Cuilan reglos am Tisch. Seit dem frühen Morgen war sie ein einziges Nervenbündel gewesen. Ihr Verhalten gab ihr selbst Rätsel auf. Immer wieder hatte sie in den Spiegel gesehen, gleich zweimal hatte sie sich hastig eine neue Frisur gemacht und ihr Make-up komplett wieder abgewischt und neu aufgetragen. Und das alles für eine zweiminütige Stippvisite dieses Mannes. Er hatte ziemlich durcheinander gewirkt, ihr nicht einmal in die Augen gesehen. Etwas wirklich Gravierendes musste passiert sein. Aber Cuilan hatte keine Lust, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sie hielt sich jeden Ärger so weit wie möglich vom Hals. So ein verdammtes Pech. Ein ganzer freier Tag vergeudet, für nichts und wieder nichts. Morgen musste sie wieder in die Messinstrumentefabrik, wo sie als Lageristin arbeitete.

Am darauffolgenden Tag machte Cuilan Überstunden und kam erst spät von der Arbeit nach Hause, weshalb sie, statt zu kochen, lieber in einem kleinen Nudelladen namens Himmel auf Erden zu Abend aß. Er lag gleich bei ihr um die Ecke. Nur wenige Kunden waren um diese Uhrzeit im Himmel auf Erden, und die verließen schon bald nach ihrem Eintreten das Lokal. Sie saß allein in einer Ecke, was ihr nur recht war. Doch schnell war es mit ihrer Ruhe vorbei.

Scheppernd wurde die Glastür des Lokals aufgestoßen und herein trat ein geschniegelter Beau. Cuilan kannte ihn, er war ein namhafter Gutachter für Antiquitäten und Wertgegenstände, jemand, der sich sonst nicht so ungehobelt benimmt. Der Mann, sein Familienname war You, nahm ungefragt ihr gegenüber Platz. Cuilan starrte an ihm vorbei zum Fenster hinaus, ihr war nicht nach Gesellschaft. Sie war müde und nicht in bester Laune.

»Waren Sie mal wieder im Wellnesshotel? Die haben ein neues Premiumangebot namens ›Fischbad‹. Ein Schwarm winziger Fische nibbelt einem den Dreck von der Haut. Ziemlich originell, finden Sie nicht?«

Beim Sprechen entblößte Herr You zwei Reihen blendend weißer Zähne, die Cuilan an einen Schäferhund erinnerten. Statt einer Antwort schnaubte sie nur durch die Nase. Wollte er sie provozieren?

»Ich saß dort gestern zusammen mit einem Herrn im Becken, den Sie ziemlich gut kennen.«

Die Nudelsuppe mit Pilzen und Gemüse wurde serviert und Cuilan widmete sich ganz ihrem Essen.

»Interessiert Sie denn gar nicht, was ich Ihnen zu erzählen habe?« Herr You ließ seinen Blick keine Sekunde von ihr ab. »Nein. Nicht im Geringsten!«

Cuilan stand auf und ging zum Tresen, um zu zahlen. Sie hörte Herrn You hinter sich theatralisch seufzen. Eisern bezwang sie ihre Neugier und drehte sich nicht nach ihm um. Wie Nadelstiche spürte sie seinen Blick in ihrem Rücken.

Niu Cuilan war entschlossen, ihr Leben wieder in geordnete Bahnen zu bringen. Und das hieß für sie, zu dem relativ ruhigen Dasein zurückzukehren, das sie geführt hatte, bevor Wei Bo zu ihrem festen Liebhaber geworden war. Affären hatte sie immer wieder gehabt, aber die waren meist so schnell vorbei, wie sie begonnen hatten. Cuilan war stets überzeugt gewesen, nicht der Typ Frau zu sein, der keinen deutlichen Schlussstrich zu ziehen vermochte. Sicher, Wei Bo war auf seine Art ziemlich gut gewesen, aber satt wurde man davon nicht – und das musste man schließlich auch, ganz abgesehen von dem, was das Leben sonst noch zu bieten hatte. Genauer betrachtet war zwischen ihnen auch nichts weiter gewesen, von Verbindlichkeit konnte keine Rede sein. Cuilans Ideal war noch immer die Liebe, die so flüchtig war wie Morgentau.

Zwei Monate waren vergangen seit jenem freien Tag, an dem Wei Bo sich auf Nimmerwiedersehen verabschiedet hatte. Cuilan kam sich sehr ruhig vor. So ruhig, dass es sie beunruhigte.

Ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik war monoton, aber wenig anstrengend, nichts, was Cuilan als der Rede wert erachtete. Auch das Verhältnis zu den Kollegen war weder besonders kühl noch besonders herzlich. Heiße Thermalbäder waren Cuilans bevorzugte Abwechslung, aber das einzige Wellnesshotel ihrer Stadt war gleichzeitig ein Stundenhotel. Ihr Wunsch nach Entspannung siegte am Ende über ihre Abneigung gegen solche Etablissements, und so ging sie eines Sonntags wieder hin. Solange sie nicht ausgerechnet diesem Herrn You begegnete, wäre alles in Ordnung, befand sie.

Samstagnacht hatte Cuilan einen Traum. Sie macht im Thermalbecken Schwimmzüge, als sie plötzlich jemandes Fuß berührt. Erschrocken richtet sie sich auf und blickt sich um, doch sie sieht nur dichte Dampfschwaden. Dann dringt aus dem künstlichen Bambuswald auf der anderen Seite eine Stimme, die ruft: »Niu Cuilan! Niu Cuilan!« Sie eilt zu den Umkleidekabinen, zieht sich an und sieht auf die Uhr. Zwei Uhr morgens. Warum ist sie hier? Als sie zum Ausgang läuft, findet sie die Tür verschlossen. Ihr Herz klopft wie wild, kalter Schweiß rinnt ihr über die Stirn. Da tauchen die Umrisse eines Mannes auf, und erstaunt stellt Cuilan fest, dass es sich um Wei Bo handelt. Sie zwingt sich zu einem Lächeln, bringt aber nur eine Grimasse zustande. »Hier, um es dir besorgen zu lassen?«, fragt sie ihn. »Bestens! Sag mir, wo ich jemanden finde, der mir die Tür aufschließt.« Wei Bo verspricht, jemanden aufzutreiben, dreht sich um und verschwindet im Hauptgebäude. Cuilan setzt sich auf einen Stuhl neben dem Wandelgang, wo sie wartet und wartet, bis ihr die Augen zuzufallen drohen. Plötzlich packt sie jemand von hinten an der Hüfte und hält sie fest. Sie strampelt verzweifelt und schreit um Hilfe. Dann wachte sie auf.

Beinahe wäre sie wegen des verstörenden Traums nicht ins Wellnesshotel gegangen. Sie ließ sich noch ein wenig Zeit, aber um neun Uhr vormittags machte sie sich schließlich auf den Weg.

Im Frauenbereich des Thermalbeckens war nicht viel los, nur drei andere Besucherinnen ließen sich dort auf dem Rücken liegend treiben wie Tote. Momentan hatte Cuilan tatsächlich den Eindruck, eine davon wäre eine Leiche. Die Frau trieb vollkommen reglos, mit aufgeblähtem Bauch und hervortretenden Augäpfeln auf dem Wasser. Cuilan wollte gerade vor Schreck aufschreien, als die drei Frauen anfingen, laut miteinander zu plaudern; sie schienen eng befreundet zu sein. Erleichtert lehnte sich Cuilan an den Beckenrand und genoss mit halb geschlossenen Augen die Wärme. Das Thermalbecken war makellos sauber, das Wasser sprudelte angenehm aus den Düsen, der Boden bestand aus einer dicken Schicht feinen, weißen Sands und den Beckenrand zierten schöne alte Schnurbäume.

Während sich ihr Körper entspannte, drang das Gespräch der Frauen an ihr Ohr. Anfangs rauschten die Stimmen an ihr vorbei, doch allmählich hörte sie heraus, worum es ging. Sie redeten über eine Prostituierte, die im Begriff war, ihren Beruf aufzugeben und zu heiraten. Alle drei hatten einen echten Knochenjob in einer Baumwollfabrik und beneideten die ehemalige Kollegin, die die anstrengende Stelle vor vier Jahren gekündigt hatte, um als Prostituierte im Wellnesshotel zu arbeiten. Und jetzt verabschiedete sie sich sogar ganz aus dem Arbeitsleben. Angeblich hätten mehrere Männer sie finanziell dabei unterstützt, sich eine Wohnung in einem neuen Apartmentkomplex zu kaufen.

Cuilan war beim Zuhören eingenickt, schreckte aber schnell wieder aus dem Halbschlaf auf, als der Name Wei Bo fiel. Sie öffnete die Augen und sah, wie die drei Frauen aus dem Becken stiegen und zu den Umkleiden gingen. Hatten sie tatsächlich gerade über Wei Bo gesprochen? War er einer der Männer, die der Prostituierten zu einer eigenen Wohnung verholfen hatten? Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er finanziell dazu in der Lage war, doch sie meinte sich dunkel daran zu erinnern, wie er einmal von »einträglichen Nebeneinkünften« gesprochen hatte. Ihrer Meinung nach hatte er damals nur geblufft, um sie zu beeindrucken. Heutzutage hatte doch jeder irgendein »Nebeneinkommen«, und in ihrer Beziehung zu Wei Bo hatte Geld keine Rolle gespielt. Cuilan war finanziell unabhängig.

Ein Gefühl von Niedergeschlagenheit überwältigte sie. Sie war hergekommen, um sich zu entspannen und nicht, um Geschichten über Wei Bo zu hören. Noch dazu dieser seltsame Traum der vergangenen Nacht. Als ob dieses ganze verdammte Wellnesshotel Wei Bo gehörte. Das Thermalbad füllte sich zunehmend mit Badegästen. Bedrückt stieg Cuilan aus dem Becken.

Als sie sich auf den Ausgang zubewegte, nahm sie die Tür genauer in Augenschein und versuchte sich an Einzelheiten ihres Traums zu erinnern. Das war nicht die Tür, die sie gesehen hatte. Dann hörte sie hinter sich eine Stimme.

»Ich bin ganz sicher, dass seine Gefühle echt sind. Die anderen wollen einfach nicht glauben, dass es so etwas gibt.«

Es war eine der Textilarbeiterinnen, die Frau, die wie eine Tote mit aufgeblähtem Bauch im Becken getrieben war.

Cuilan drehte sich zu ihr um und lächelte sie an wie eine alte Bekannte.

»Ich heiße Long Sixiang. Und Sie sind Niu Cuilan, nicht wahr? Ich habe Sie hier schon öfter gesehen. Na, kommen Sie auch gerne hierher, um es sich ein wenig gut gehen zu lassen, so wie ich und meine Kolleginnen? Ich und die beiden anderen, also wir kommen in letzter Zeit häufiger hierher. Zu gerne würden wir im Bereich mit den besonderen Dienstleistungen arbeiten, aber die halten uns für zu alt. Wir sind übrigens gut bekannt mit Wei Bo, kein Wunder, der ist schließlich bei jedem beliebt. Er hat von Ihnen erzählt.«

»Was hat er über mich erzählt?«

»Dass Sie der Typ braves Mädchen sind. Im Grunde sind wir drei das auch, aber das behagt uns nicht. Wir wollen lieber gefallene Mädchen werden … Aber keiner will uns, weil wir ihnen zu alt sind.«

»Ich wäre auch gern ein gefallenes Mädchen!«, platzte es aus Cuilan heraus. »Leider bin ich auch zu alt.«

»Ich weiß, was Sie meinen. So reden die Frauen, an denen Wei Bo Gefallen findet. Und je öfter er behauptet, Sie wären ein braves Mädchen, desto weniger glaube ich ihm. Was hätte ein braves Mädchen an einem Ort wie diesem zu suchen?«

Long Sixiang verdrehte beim Reden immerzu die Augen, so als müsse sie den Gedanken an etwas Widerwärtiges unterdrücken. Auf Cuilan wirkte sie zwar nicht besonders hübsch, aber sie musste zugeben, dass die Art, wie die Frau munter drauflosredete, ihren Reiz hatte.

»Sie haben also auch ein Verhältnis mit Wei Bo?«, fragte Cuilan betont scherzhaft.

»Schön wär’s.« Long Sixiang schüttelte bedauernd den Kopf. »Der hat nur diese Ah Si im Sinn, der alte Bulle frisst gern junges Gras. Es heißt, er hätte sich ihretwegen stark verschuldet.«

Sie gingen ein Stück gemeinsam, bis sich ihre Wege trennten. Diese Long Sixiang war ganz nach Cuilans Geschmack, und so beschloss sie, die Frau bei Gelegenheit wiederzusehen.

Zurück zu Hause fühlte sie sich zunehmend durcheinander. Warum plagte Wei Bos Geist sie jetzt wieder so sehr? Hatte sie sich denn nicht längst mit dem Ende ihrer Beziehung abgefunden? Sie hatte für eine kurze Weile etwas mit einem einfachen Arbeiter aus einer Seifenfabrik gehabt, dann war ihre schicksalhafte Verbindung an ihr Ende gekommen und jeder von ihnen war seiner Wege gegangen. Nichts weiter. Vor ihrem Besuch im Wellnesshotel hatte sie nicht einmal an ihn gedacht und allein die Begegnung mit diesem Antiquitätengutachter You gefürchtet. Wei Bo gehörte nicht mehr in ihre Gedanken. Und doch wollte er sie nicht loslassen, weder am helllichten Tag noch nachts in ihren Träumen. Long Sixiangs Worten zufolge war Wei Bo bei den Frauen beliebt, und er wusste offensichtlich mit ihnen umzugehen.

Kaum dass sie Witwe geworden war, hatte eine ganze Reihe Männer sich um sie bemüht. Sie war sich selbst egoistisch vorgekommen, weil sie für keinen von ihnen bereit gewesen wäre, Opfer zu bringen. Daher war sie lieber allein geblieben. Und sie genoss ihr Singleleben, wenn es auch nicht immer ganz sorglos war. Wei Bo hatte ihr besser gefallen als andere Männer, sicher, aber auch nicht so, dass sie sich Opfergaben an seinem Grab machen sah. Sie hatte es nicht nötig, sich von jemandem abhängig zu machen. Was war nur los mit diesen Weibern von der Baumwollfabrik? Jede einzelne von ihnen wollte gern Prostituierte sein und sie alle wirkten vernarrt in Wei Bo. Er schien etwas Besonderes zu haben. Und auch Cuilans Gedanken kreisten schließlich nur um ihn.

So aß sie zu Abend, spülte das Geschirr und stellte fest, dass es schon wieder dunkel geworden war. Unter ihrem Fenster tollten spielende Kinder herum, die Verkäufer der Garküchen boten lautstark ihre Nudelsuppen feil. Schon gingen die Straßenlaternen vor ihrem Wohnblock an, unter deren fahlem Licht sich kleine Grüppchen sammelten. Die Leute hockten dort jeden Abend, aber nicht etwa, um Mahjong zu spielen oder zu plaudern. Im Laufe der Jahre war Cuilan zu dem Schluss gekommen, dass die Leute sich einfach deshalb an den Straßenrand hockten, um nicht allein zu Hause zu sein. Sie saßen direkt gegenüber Cuilans Fenster, was sie nie sonderlich gestört hatte, sie nahm es hin, als wären sie Holzpfosten. Heute aber waren ihr die Blicke unangenehm. Sie schloss das Fenster und zog sich in ihr Schlafzimmer zurück.

Dort ordnete sie den Inhalt ihrer Geldbörse, mehr war nicht zu tun. Zum Schlafengehen war es ihr jedoch zu früh. Ihr Blick blieb an dem Bild einer schönen Frau an der Wand hängen, der Nahaufnahme einer ihrer Lieblingsschauspielerinnen. Es kam Cuilan vor, als beobachte die Frau sie, als wende sie sogar den Kopf nach ihr. Doch wenn sie zurückstarren wollte, traf sie ihren Blick nicht.

Sie war beinahe eingeschlafen, als ihr ein Gedanke durch den Kopf schoss: Ob Herr You jede Einzelheit ihres Lebens kannte?

Wei Bo war schon lange nicht mehr heimlich bei Cuilan gewesen. Vor einer Weile war er auf einer Party einem ihrer ehemaligen Liebhaber begegnet. Der hatte, woher auch immer, von Wei Bos Geheimnis gewusst und war direkt auf ihn zugekommen, um über Cuilan zu reden. Sie sei »die Ausgeburt des Bösen«, hatte der Mann behauptet, und sowieso eine, der beim Anblick von Geld die Augen aus dem Kopf fielen. Von so einer solle er besser die Finger lassen, da würde nichts Gutes bei herauskommen. Wei Bo war entsetzt über dieses Geschwätz und glaubte dem Mann zunächst kein Wort. Doch dann zog der ehemalige Liebhaber einen schmutzigen, zerknitterten Brief aus der Tasche und hielt ihm ihn unter die Nase. Es war eindeutig Cuilans Handschrift. Sie forderte den Mann darin auf, ihr umgehend zwanzigtausend Yuan auf ihr Konto zu überweisen, als »Ausgleichszahlung für meine verlorene Jugend«, gefolgt von wüsten Drohungen.

Wei Bo nahm erst den Brief, dann den Umschlag genauer in Augenschein. Kein Zweifel, er stammte tatsächlich von Cuilan. Sein Herz zog sich zusammen. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn.

»Hast du dich deshalb von ihr getrennt?«, fragte Wei Bo.

»Nein, das hatte ich auch nie vor. Ich habe ihr das Geld überwiesen und wollte die Beziehung fortsetzen. Und was hat sie gemacht? Sie hat mir ein Paar Mafiosi auf den Hals gehetzt, die drohten, mich umzubringen.«

Wei Bo fiel auf, dass der Mann beim Reden nicht ganz bei der Sache war und sogar hin und wieder von einem Ohr zum anderen grinste. Ihm schien das Ganze gar nichts auszumachen. Ob er vielleicht geistesgestört war? Plötzlich packte er Wei Bos Hände. »Meinst du, es gibt noch Hoffnung für mich?«, fragte er. »Ich denke, du bist jemand, der das objektiv beurteilen kann. Darf ich noch hoffen? Ich bin bereit, ihr noch einmal zwanzigtausend zu schicken, wenn ich noch eine Chance habe.«

Seine Hände fühlten sich kalt und klebrig an. Wei Bo versuchte, sich von ihnen zu befreien, aber es gelang ihm nicht. Nervös antwortete er: »Ich weiß es nicht. Wie soll ich das wissen? Das kannst du selbst am besten beurteilen. Ein Neffe von mir, aus der entfernten Verwandtschaft, hat einmal jemanden aus Liebe getötet. Vollkommen sinnlos, nicht wahr? Liebe ist etwas Wunderbares. Wie oft im Leben stößt einem schon so etwas Wunderbares zu, hm?«

Seine Antwort war nicht das, was der Exfreund hören wollte. Ungehalten ließ er seine Hände los.

Die Feier hatte im Haus eines Arbeitskollegen stattgefunden und vor der allgemeinen Geräuschkulisse hatte niemand von ihrem Gespräch Notiz genommen. Wei Bo wollte sich lieber woanders hinsetzen. Er stand auf, um ins Bad zu gehen. Doch als er zurückkam, war der Mann verschwunden. Erleichtert ließ er sich wieder auf seinen Platz fallen. Als er den Kopf hob, bemerkte er, wie ein ungeladener Gast die Tür aufstieß. Es war der Antiquitätengutachter You. Wei Bo erkannte ihn sofort, obwohl sie sich kaum je begegnet waren. You kam geradewegs auf ihn zu und setzte sich ungebeten neben ihn. Zu Wei Bos Überraschung fing You augenblicklich an, auf ihn einzureden, als wären sie alte Bekannte.

»Das Geschäft mit der Liebe läuft schlecht in letzter Zeit, was? Alles geht den Bach runter. Das kennst du sicher. Jaja, die Frauen – ihnen haben wir alle Freuden dieser Welt zu verdanken, meinst du nicht auch?«

Herrn Yous aufdringliches Parfüm machte Wei Bo ganz benommen.

»Aber wo sind die Frauen? Nie sind sie zu haben! Sieh dich doch um, alles voller bezaubernder Weibsbilder, aber kaum ist die Party zu Ende, lösen sie sich in nichts auf. Manchmal wache ich mitten in der Nacht auf und gucke aus dem Fenster. Ich wohne im zweiten Stock, von wo aus ich ganze Armeen von Frauen von West nach Ost vorbeimarschieren sehe, eine verführerischer als die andere. Niu Cuilan ist eine von ihnen.«

You entblößte beim Lachen sein abscheuliches Rindergebiss. Angewidert zog Wei Bo die Brauen zusammen.

Die Gegenwart dieses dandyhaften Scheusals war ihm so zuwider, dass er sich bald vom Gastgeber verabschiedete und zum Gehen anschickte. Herr You ließ den Kopf hängen, als sei er zutiefst gekränkt.

Nach jener Feier trennte sich Wei Bo von Cuilan. Mal kam ihm die Art und Weise, auf die er sich von ihr verabschiedet hatte, sehr rücksichtsvoll vor, dann wieder fand er es erbärmlich. Eins war ihm jedenfalls selbst nicht klar: War er nun wirklich von ihr getrennt oder nicht? Er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Frage sich nicht ohne Weiteres beantworten ließ, Cuilan war nicht die Sorte Frau, von der man sich so einfach trennen konnte. Seit ihrer ersten Begegnung war er sich dessen bewusst gewesen und genau deshalb wollte er sich schon lange von ihr trennen. Er horchte in sich hinein. Wei Bo betrachtete sich selbst als einen ungewöhnlichen Mann. Er mochte es, spielerisch seine Gefühle auf die Probe zu stellen.

Das Verhältnis zu seiner Ehefrau bestand in einer dieser stillen Absprachen, bei denen sich Eheleute gegenseitig zugestanden, Geheimnisse voreinander zu haben, während sie nach außen hin vorsichtig darum bemüht waren, eine harmonische Fassade zu wahren. Ihre beiden Söhne lebten nicht mehr zu Hause, sodass sich die Familie nur an Feiertagen sah, wenn die Söhne mit ihren Frauen und Kindern nach Hause kamen.

Für Wei Bo stand fest, dass auch seine Frau einer gründlichen Prüfung unterzogen werden musste, oder besser seine Ansichten über sie. Als Mittelschullehrerin war sie gut genug erzogen, um sich stets so diskret auszudrücken, dass man überhaupt nicht verstand, wovon sie redete. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie sich auf den ersten Blick ineinander verliebt und geheiratet hatten; sieben oder acht Jahre lang hatte diese Leidenschaft angehalten. Doch im Lauf der Zeit war ihre Beziehung merklich abgekühlt und sie wurden einander immer fremder. Wahrscheinlich, weil sie sich so nah waren.

Wei Bo konnte nicht genau sagen, wann er bemerkt hatte, wie beliebt er bei den Frauen war. In einer beliebigen Gruppe von Frauen, jungen wie alten, gab es immer welche, die sich von ihm angezogen fühlten. Wei Bo war sensibel und umsichtig genug, um sich auf diverse Affären einzulassen, immer darum bemüht, die Fassade zu wahren. Bislang war nie etwas davon nach außen gedrungen.

Niu Cuilan musste ungefähr seine vierte Romanze dieser Art gewesen sein. Er fand sie aufregend, doch wenn er sich fragte, warum eigentlich, wusste er keine Antwort. Er hatte an jenem Tag im Wellnesshotel ursprünglich nur seine junge Geliebte aufsuchen wollen, doch schließlich neue Beute gemacht. Unversehens hatte es ihn so erwischt, dass ihm ganz schummrig im Kopf wurde. Was folgte, bestätigte ihm nur noch, wie ganz und gar außergewöhnlich seine neue Flamme war. Seine junge Geliebte verbannte er vorerst einen ganzen Monat lang in die hinterste Ecke seines Gedächtnisses. Wei Bo, Wei Bo, fragte er sich in der Zeit, in der er mit Cuilan zusammen war, ständig, warum schwirrt dir bloß so der Kopf? Als ob dein Leben nicht schon chaotisch genug wäre! Unbewusst überlegte er die ganze Zeit, wie er sich aus der Affäre ziehen könnte, um zu seinem alten Leben zurückzukehren.

Wei Bo saß zu Hause und erledigte die Buchführung wie üblich für seine beiden Jobs gleichzeitig. Nach einer Weile über den Bilanzen drifteten seine Gedanken ab. Er erinnerte sich an seine Beziehung mit Cuilan und ihr schmachvolles Ende. Schmachvoll war daran allein sein eigenes Verhalten, er konnte es nicht anders als durch und durch erbärmlich nennen. Sicher, die Sache mit ihrem Exfreund hatte ihn verwirrt, aber das war nicht der Grund für Wei Bos Bruch mit ihr gewesen. Er war nicht so leichtgläubig und sah sich außerstande, die Beziehung zwischen diesem Mann und Cuilan richtig einzuschätzen. Hatte er sich also von Cuilan trennen wollen, weil er sich ihr zu vertraut fühlte, ähnlich wie bei seiner Frau? Auch das allein konnte es nicht gewesen sein. Wenn er es sich recht überlegte, hatte vielleicht einfach wieder sein Hang zu einem hedonistischen Lebensstil die Oberhand gewonnen. Wei Bo hatte große Angst davor, verletzt zu werden. Als er sich einmal in den Arm geschnitten hatte, war er vor Angst ohnmächtig geworden. Er war ein Feigling, ein Weichei, der Typ Mann, in den die Frauen vernarrt waren.

Als Wei Bo seine Bilanzen abschloss, war es bereits dunkel geworden. Er wärmte sich die Reste seines Mittagessens auf, aß und machte gerade den Abwasch, als er eine Gestalt durch das Küchenfenster hereinspähen sah.

»Wer ist da?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ich bin’s, You vom Antiquitätenladen. Schnell, öffnen Sie mir, es ist dringend!«

You kam herein und setzte sich auf einen Stuhl, ohne die Einladung abzuwarten. Er wirkte gehetzt.

»Ist Ihre Frau nicht zu Hause?«

»Nein. Was gibt es?« Wei Bo spürte sein Herz bis zum Hals klopfen.

»Darf ich fragen, Wei Bo, ob Sie immer noch eine Beziehung mit Niu Cuilan unterhalten? Ich weiß, dass Sie die Frage nicht beantworten wollen, aber ich kann Ihnen verraten, dass das gute Fräulein Cuilan sich längst als Prostituierte im Wellnesshotel verdingt hat. Das hat mir eine gute Freundin von ihr, die zufällig meine Geliebte ist, persönlich erzählt. Fräulein Cuilan habe gesagt, dass sie sich dort ein paar neue Sexualpraktiken aneignen will.«

Angewidert sah Wei Bo, wie der Mann sein bestialisches Gebiss entblößte.

»Meine Frau wird bald zurück sein«, sagte er.

You starrte ihn an, ging Richtung Tür und drehte sich von dort noch einmal zu Wei Bo um: »Die Welt ist ein einziges Chaos! Frauen verschwinden wie nichts von der Bildfläche. Geht man nachts aus, ist alles voller schwarzer Krähen!«

Er trat hinaus in die Dunkelheit. Die Küche war wieder so still, als wäre er nie da gewesen.

Wei Bo dachte nach. Wer war dieser Kerl namens You, und warum biss er sich so an ihm fest? Zugegeben, er hatte haarsträubende Geschichten anzubieten, vielleicht waren es aber einfach nur Lügen. Eins war klar: You wusste von Wei Bos Affäre mit Cuilan und hatte ein wachsames Auge auf ihn. War vielleicht auch er einer von Cuilans Liebhabern?

Er hatte diesen Mann erst gestern wiedergesehen. Auf dem Weg von der Arbeit nach Hause, noch vor den Toren der Fabrik, hatte er beobachtet, wie eine Frau um die vierzig einen Mann zu Boden schlug, ihn trat und dann davoneilte. Wei Bo war zu ihm hingegangen. Es war Herr You, der seine kaputte Brille von der Straße auflas, sie vorsichtig aufsetzte und zitternd auf die Beine kam. Es sollte ihm kaum möglich gewesen sein, Wei Bo durch das zerbrochene Brillenglas zu erkennen. Nervös blickte er sich nach allen Seiten um, klopfte sich den Staub von Jacke und Hose und verschwand schleunigst im nächsten Friseursalon. Neugierig stahl sich Wei Bo neben die Tür, um zu lauschen. Lautes Lachen drang aus dem Geschäft, in dem Herr You mit der Inhaberin schäkerte.

Bei der Erinnerung daran legte sich ein schwerer Schatten auf Wei Bos Gemüt. Geschahen gerade im Verborgenen Dinge, von denen er nichts ahnte? Da er aber nichts davon ahnte, wäre es dann, wenn er nichts unternahm, nicht so, als ob nichts geschehen wäre? Sollte er sich überhaupt über etwas, das ihm verborgen war, den Kopf zerbrechen, selbst wenn es ihn direkt betraf? Wei Bo, verloren zwischen den Schatten der Ungewissheit, schwirrte der Kopf. Er musste hinaus und frische Luft schnappen.

Die zur Seifenfabrik gehörige Wohnsiedlung bestand aus einer Reihe dieser altmodischen, eingeschossigen Häuser, vor denen jeweils hohe Schnurbäume standen, mit steinernen Tischen und Bänken darunter. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, spazierte Wei Bo unter den Schnurbäumen entlang. Die warme Sommerluft machte ihn ein wenig sentimental und ließ ihn gleich wieder an Cuilan denken. Ob sie wirklich ihren Job gekündigt hatte, um im Wellnesshotel als Prostituierte zu arbeiten? Kam diese Entscheidung nicht etwas spät? Er wusste genau, dass keine von Cuilans Entscheidungen mit ihm zu tun hatte; er kannte sie zu gut. An sich fand er auch nichts Schlimmes an einem solchen Entschluss, aber es ging hier schließlich nicht um irgendeine Frau. Es ging um Cuilan. Diese Tatsache (wenn sie denn eine war) verwirrte ihn. Die Cuilan, die er kannte, schien viele Gesichter zu haben. Vielleicht verstand er sie doch nicht so gut wie er dachte, möglicherweise weniger als jener Herr You.

Einmal, er und Cuilan waren mitten in der Nacht aufgewacht, geschah etwas Seltsames. Er stand auf, um sich in der Küche etwas zu trinken zu holen. Dort goss er sich heißes Wasser aus der Thermoskanne ein, setzte sich und wartete einen Moment, bis das Wasser abgekühlt war, bevor er trank. Da hörte er plötzlich eine Männerstimme aus einer dunklen Ecke des Raumes, die Worte waren undeutlich und klangen nach Dialekt. Wei Bo erhob sich, um den großen Schrank in der Ecke in Augenschein zu nehmen.

Und tatsächlich stand dort ein Mann mittleren Alters hinter dem Schrank, ein eleganter und kultiviert wirkender Mann. Er bedeutete Wei Bo mit einer Geste, dass er sich nicht erschrecken solle.

»Ich bin ein Freund von ihr«, sagte er leise. »Ich komme regelmäßig hierher und verstecke mich. Sie werden das vermutlich höchst merkwürdig finden, aber ich habe einfach das Bedürfnis danach. Seien Sie mir bitte nicht böse. Cuilan ist der funkelnde Diamant in einer dreckigen Stadt.«

Auf Zehenspitzen glitt er theatralisch zur Tür und ging hinaus. Wei Bo stand wie angewurzelt da. Er fragte sich, ob er träumte.

»Das war der Schlafwandler!«, erklang Cuilans Stimme.

»Wie kommt der denn hier herein?«, fragte Wei Bo ratlos.

»Mit dem Schlüssel, wie sonst?«

»Und du bist nicht davon ausgegangen, dass ich etwas dagegen haben könnte?«

»Der Schlafwandler irrt die ganze Nacht in der Stadt herum, wir sollten Mitleid mit ihm haben.«

Eine Flamme züngelte in Cuilans verschatteten Augen. Wei Bo verstummte.

Den Rest der Nacht lagen sie wach und unterhielten sich. Sie redeten über ihre frühe Kindheit, eine Zeit, in der die Stadt noch eine vollkommen andere war. In Gedanken liefen sie all die alten Wahrzeichen ab. Sie schworen sich, bei Tagesanbruch loszuziehen, um diese Orte aufzusuchen und nachzusehen, wie sie sich verändert hatten.

An diesem Punkt in seiner Erinnerung ließ Wei Bo sich auf eine der Steinbänke sinken. Er sah, wie sich jemand seinem Haus näherte. Erst als sie fast schon bei der Tür war, erkannte er seine Frau. Sie war ganz schön spät dran.

Um aus ihrem Gefühlswirrwarr auszubrechen, nutzte Cuilan ihren Resturlaub und fuhr aufs Land. Ein Cousin väterlicherseits lebte in einem Dorf im Osten. Er war schon etwas älter, und da die Kinder bereits aus dem Haus waren, lebten er und seine Frau allein dort. Sie besaßen anderthalb Hektar Reisfelder, Gemüseäcker, Hühner und Enten und führten ein friedliches Leben.

Cuilan stieg aus dem Fernreisebus und ging die gepflasterte Straße hinunter. Bis zum Haus ihres Cousins waren es etwa drei Kilometer. In jenem Haus hatte Cuilan ihre Kindheit verbracht, seither war sie nur zweimal dort gewesen. Obwohl das Haus mittlerweile so gut wie leer war, bedeutete es ihr noch immer viel. Die Landschaft vor ihren Augen allerdings wirkte fremd; abgesehen von der Kopfsteinpflasterstraße schien alles ganz anders als zuvor. Wo waren die beiden Hügel entlang der Straße hin? Die Trauerweiden, der Kampferbaum, die verfallenden Höfe unter den Bäumen? Zu beiden Seiten der Straße lag nichts als ödes, von Unkraut überwuchertes Brachland. Irgendwann tauchten zwei ausgehungerte Köter auf, die geradewegs auf sie zurannten, dann wild kläffend um sie herumsprangen und anschließend wieder ins Nirgendwo verschwanden. Vor lauter Angst war sie schweißgebadet. Etwas sagte ihr, dass ihr Cousin und seine Frau nicht mehr auf der Welt waren und dass ihr auf dieser Reise Seltsames widerfahren würde.

Als sie endlich das vertraute kleine Lehmziegelhaus mit der halb verfallenen Mauer erreichte, war sie völlig erschöpft. Ihr kam es so vor, als wäre sie mindestens fünf Kilometer gelaufen. Der alte, verwachsene Kampferbaum umfing das Haus wie ein böser Drache. Endlich fühlte sie sich daheim.

»Niu Yiqing!«, rief sie, ohne sich weiter Gedanken zu machen. »Niu Yiging!«

Zunächst hörte sie, wie quietschend die alte Holztür aufging, dann traten ihr Cousin und seine Frau heraus unter den niedrigen Dachvorsprung. Beide waren ungewöhnlich klein und auffallend dunkel, Cuilan erkannte sie kaum wieder. Sie fragte sich, ob der Kampferbaum mit seiner bösen Drachennatur ihnen alle Lebenskraft geraubt haben könnte. Sie sah nach oben. Die Blätter des Baumes hoben sich tatsächlich tintenschwarz vom blauen Himmel ab und noch dazu glänzten sie metallisch.

»Komm herein, komm herein und nimm Platz!« Die Stimme der Frau ihres Cousins klang wie das Zirpen einer Zikade.

Von den fünf Zimmern, über die das Häuschen ursprünglich verfügt hatte, waren zwei eingestürzt. Eines der verbliebenen drei diente als Wohnzimmer, die anderen beiden waren Schlafzimmer. Jeder Raum war klein und düster. Die Frau des Cousins humpelte in die Küche im hinteren Teil des Hauses. Ihr Bein war vor langer Zeit, als die Produktionsbrigade das Wasserreservoir angelegt hatte, zerschmettert worden und nie richtig verheilt. Der Cousin saß still rauchend da, als hätte er Cuilans Anwesenheit schon wieder vergessen. Sie ließ ihren Blick durch das vertraute Wohnzimmer schweifen. Alles schien wie zuvor, und doch war etwas anders. Sie überlegte einen Moment, bis es ihr einfiel – bei ihrem letzten Besuch hatte eine große, gerahmte Fotografie an der Wand gehangen; der verstorbene Vater ihres Cousins, ihr Onkel, hatte man ihr erklärt. Cuilan fand, der alte Mann habe ihr sehr geähnelt. Jetzt war die Wand kahl und leer.

»Du scheinst dein Leben gut im Griff zu haben, Yiqing.« Es gelang ihr nicht mehr, sich zurückzuhalten.

Bevor ihr Cousin antworten konnte, kam seine Frau herein und stellte gebratene Spiegeleier auf den Tisch. Es waren vier Eier. Von ihren Erinnerungen überwältigt, fing Cuilan beim Essen an zu weinen. Nachdem sie aufgegessen hatte, trocknete sie ihre Tränen und wandte sich an den Cousin: »Warum bist du noch nicht in Rente?«

»Ich bin noch nicht so weit«, antwortete er schnell. »Hier in der Heimat zu sein macht mich zufrieden und glücklich.«

Während er redete, zirpte seine Frau wieder wie eine Zikade. Ob es sich um ein Lachen handelte oder einfach um ein Geräusch der Zustimmung, konnte Cuilan nicht sagen. Sie spürte nur, wie glücklich die Frau war, und überreichte ihr jetzt das mitgebrachte Gastgeschenk. Die Frau nahm es entgegen und humpelte damit ins Nebenzimmer.

»Und wie verbringt ihr eure Tage?«, fragte Cuilan leise.

»Ich analysiere die Bodenqualität. Jeden Tag ändere ich etwas an der Zusammensetzung der Erde und der Samen, so lerne ich nach und nach, die Beschaffenheit des Bodens zu verstehen. Außerdem beobachte ich das Klima. Meine Frau betreibt das mit noch größerer Leidenschaft, manchmal sitzt sie die ganze Nacht auf einem Schemel zwischen den Feldern.«

Als seine Frau wieder zurückkam, verstummte er. Dann zeigte er mit dem Finger auf sie. »Sieht sie nicht aus wie eine Zikade, Cuilan? Ständig ahmt sie den Gesang der Zikaden nach!«

Cuilan lachte und ertappte sich bei dem Gedanken, wie schön das Leben auf dem Land sei. Beim Anblick der kleinen Frau mit der dunklen, gegerbten Haut rief sie sich ihr Gesicht von früher in Erinnerung. Sie war immer eine stämmige, rundliche Bauersfrau gewesen und ganz gewiss nicht so zierlich und dunkel. Ob die Beinverletzung sie so sehr verändert hatte? Es war nicht unbedingt eine Veränderung zum Schlechten. Cuilan spürte die ungewöhnliche geistige Energie, die von der Frau ausging. Wie viele Menschen auf der Welt konnten schon so hervorragend das Zirpen von Zikaden imitieren! »Die Luft in der Stadt ist furchtbar verschmutzt im Vergleich zu unserer Heimat!«, rief Cuilan aus.

»Mein wahres Ideal ist aber immer noch die Stadt«, entgegnete der Cousin.

Am Abend brannten sie große Mengen Beifuß ab, um die Mücken zu vertreiben. Cuilan hockte in den Rauchschwaden, fühlte sich wie in einem Wunderland und bereute, nicht öfter nach Hause zurückgekehrt zu sein. Sie stand im Mondlicht auf der Tenne und spähte hinaus in die Nacht, wo in weiter Ferne dunkelrote Feuerbälle tanzten, unheimlich und anziehend zugleich. Sie fragte ihren Cousin danach.

»Das ist einer, der Heu abbrennt, er will damit Signale senden.«

»Signale an wen?«

»Niemanden wahrscheinlich. So sind die Leute heutzutage auf dem Land.«

»Irgendwie süß.«

»Der da ist aber ein Mörder. Die bringen Leute um, dann fühlen sie sich einsam und brennen Heu ab, um auf sich aufmerksam zu machen. Wenn ich ihm tagsüber begegne, senkt er ängstlich den Blick.«

An diesem Ort herrschte eine solche Stille, dass Cuilan nicht einschlafen konnte. Schließlich döste sie weg, schreckte aber bald wieder aus dem Halbschlaf, weil sie vor der Tür Stimmen hörte.

»Wir können auch welches abbrennen. Erst sensen wir das Gras, dann lassen wir es in der Sonne trocknen und zünden es an. Das ist gar nicht schwer, Wei Bo macht es genauso.«

Ihr Cousin hatte den Namen Wei Bo eigens betont.

Cuilan sprang auf. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise hörte sie diesen Namen. Verdammt, woher kannte ihr Cousin Wei Bo? Sie drückte die Tür einen Spaltbreit auf und sah den Cousin und seine Frau mit baumelnden Beinen im dichten Geäst des hohen Kampferbaums sitzen. Begleitet vom zikadenhaften Zirpen seiner Frau redete der Cousin weiter.

»Morgen Nachmittag gibt es Südwind, die ganze Ebene wird niederbrennen. Wir sind keine Mörder. Wir müssen vor niemandem das Haupt beugen.«

Zwei dumpfe Schläge. Die beiden waren vom Baum gefallen. Sie stöhnten laut auf. Schnell lief Cuilan zu ihnen hin.

»Warum ist die Sitzbank weg? Warum?«, fragte die Frau.

Cuilan war sprachlos. Die beiden mussten extrem robust sein. Sie selbst wäre bei einem solchen Sturz vermutlich ums Leben gekommen.

Gerne hätte sie den zwei Alten aufgeholfen, doch sie fürchtete, etwas falsch zu machen, falls sie sich etwas gebrochen hatten. Besser, sie fragte erst einmal nach. Doch noch während sie sich ihnen näherte, rappelten der Cousin und seine Frau sich wieder auf die Beine. Nicht zu fassen, dachte Cuilan.

Die Frau humpelte ins Haus. Der Mann blieb, wo er war, und sah sich nach allen Seiten um. Cuilan folgte seinen Blicken, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Dann zündete der Cousin sein Feuerzeug an und hielt die Flamme hoch. Eine Weile verstrich, bis er das Feuerzeug zuschnappen ließ und wegsteckte.

»Wem galt dieses Signal?«

»Niemandem.« Ihr Cousin lachte.

»Kommt euch denn hier in der Einsamkeit ab und zu jemand besuchen?« Es hatte Cuilan allen Mut gekostet, die Frage zu stellen.

»Du willst wohl in meiner Vergangenheit herumstochern, wie? Tut mir leid, Cuilan, aber bestimmte Dinge behalte ich für mich. Es gibt so manches, über das man hier nicht spricht. Ich weiß, dass du wissen möchtest, warum meine Frau und ich in diesem Baum gesessen haben. Gut, ich sage es dir: Wir wollen weg vom Lärm hier unten. Wir brauchen Ruhe, um ein paar wichtige Entscheidungen zu treffen.«

»Weg vom Lärm hier unten?«, Cuilan runzelte die Stirn.

»Genau. Du hast es sicher auch gehört. Oder warum bist du sonst aufgewacht?«

»Ich bin aufgewacht, weil ihr so laut geredet habt.«

»Das bildest du dir ein. Du warst sicher schon vorher wach.«

Cuilan dachte schweigend nach. Dann sagte sie: »Du, könnte ich nicht hierher zu euch ziehen? Vielleicht könnte ich dort drüben ein Haus für mich bauen?«

»Nein, Cuilan, das kannst du nicht. Dafür ist es zu spät. Man kann nicht einfach tun und lassen, was man will.«

Inzwischen dämmerte es bereits. Wie konnte es sein, dass es schon hell wurde, obwohl sie noch gar nicht geschlafen hatte? Ihr Cousin kniff die Augen zusammen und starrte in die Ferne. Seinem Blick folgend sah sie die roten Feuerbälle durch den Morgendunst rollen. Ob es wirklich Wei Bo war?

Als sie zusammen ins Haus gingen, sagte ihr Cousin völlig unvermittelt: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen.«

Seine Frau stellte einen großen Topf Reissuppe und zwei Teller mit eingelegtem Gemüse auf den Tisch, hockte sich dann auf einen Schemel und weinte. »Sie trauert um ihre verlorene Jugend«, erklärte der Cousin, beugte sich zu seiner Frau und streichelte ihr über den Rücken. Allmählich beruhigte sie sich und nahm ebenfalls am Tisch Platz. Cuilan zuckte erschrocken zusammen, als die Frau plötzlich wieder laut und schrill zirpte wie eine Zikade.

Das Frühstück zog sich ziemlich lange hin, weil das alte Paar immer wieder die Essstäbchen ablegte und hinausging, um nach etwas Ausschau zu halten. Cuilan folgte ihnen, doch außer den Feuerbällen in der Ferne gab es nichts zu sehen. Bald darauf waren auch sie verschwunden.

»Ständig kommen Leute von außerhalb hierher, kaufen und verkaufen Brachland und verschwinden dann wieder spurlos. Ich werde niemals schlau werden aus dieser Bande.«

Der Cousin sagte das mit einem Lächeln. Cuilan sah in sein vom Leben gezeichnetes Gesicht. Er liebt dieses Dasein wirklich sehr, dachte sie beschämt.

Während die beiden Alten tagsüber auf dem Feld arbeiteten, hing Cuilan unter dem Kampferbaum ihren Gedanken nach.

Wie einsam und verlassen diese Gegend war! Vielleicht stimmte etwas mit ihren Ohren nicht; jedenfalls konnte sie nichts vom Lärm der Erde hören, der ihren Cousin so störte. Sie schämte sich dafür. Und es gab noch etwas, das sie sich nicht erklären konnte: Östlich des Hofs ihres Cousins hatte früher ein Dorf gelegen, nämlich das Dorf, in dem Cuilans Eltern gelebt hatten. Als sie noch jünger war, hatte sie sie dort regelmäßig besucht. Vor zehn Jahren, bei ihrem letzten Besuch im Haus des Cousins, hatten die alten Häuser noch gestanden. Wo war das Dorf hin? Sie wollte den Cousin später danach fragen. Vor ihrem inneren Auge sah sie die Bilder eines dichten Hains von Ahornbäumen neben einer nicht gerade kleinen Ansammlung von mit Pfaden verbundenen, gekachelten Häusern. Sie wandte ihren Blick nach Osten. Weit und breit nichts als Brache.

Wie wäre es, schoss ihr plötzlich durch den Kopf, mit Wei Bo hier zu leben? Zu schade, wirklich zu schade, dass der Cousin gesagt hatte, dafür sei es zu spät. Er musste seine Gründe haben. Abgesehen davon hatte Wei Bo seine Verpflichtungen. Aber dieser Herr You zum Beispiel? Der Aufenthalt auf dem Land beeinflusste ihre Vorlieben, auf einmal erschien ihr Herr You gar nicht mehr so übel. Vielleicht war sein dandyhaftes Auftreten nur Show, schließlich trug jeder eine Maske. Sie selbst mochte anderen wie eine bessere Hure vorkommen, wer wusste das schon.

Cuilan hatte für ihren eigenen Tod keine Vorkehrungen getroffen, sie war erst fünfunddreißig. Der gelegentliche Gedanke an den Tod flößte ihr keine Angst ein. Sie sagte sich, dass sie jederzeit einen Nachbarn oder einen Kollegen bitten könnte, ihren Leichnam ins Krematorium zu schicken und die Asche wegzuwerfen, fertig. In diesem Augenblick jedoch überkam sie eine unerklärliche Sehnsucht, hier und nirgends sonst zu sterben. Der Gedanke hatte sie einfach überrumpelt. Von ihrem schattigen Platz unter dem Baum aus ließ sie das goldene Abendlicht ringsum auf sich wirken. So musste der Jüngste Tag aussehen, dachte sie. Die Vorstellung machte sie sentimental. Seit sie hier war, war sie ständig sentimental. Sonst neigte Cuilan überhaupt nicht zu Sentimentalität.

Es konnte kein Zufall sein, dass Wei Bo auf ihren Cousin gestoßen war. Sie und Wei Bo waren schicksalhaft miteinander verbunden, so viel schien sicher. Oft, wenn sie den Sonnenuntergang betrachtete, sinnierte sie über diesen Begriff der schicksalhaften Liebe, yinyuan. Natürlich hatte Wei Bo ihr Zusammentreffen im Wellnesshotel vergangenes Jahr geplant.

Bei Sonnenuntergang kochte Cuilan etwas zu essen und wartete auf den Cousin und seine Frau. Sie brannte im und vor dem Haus Beifuß ab, sodass alles von seinem süßlichen Duft erfüllt war. Dann wartete sie weiter, aber die beiden kamen nicht. Der Mond war längst aufgegangen und in der Ferne erschien wieder ein Feuerball. Diesmal stand er einfach unbeweglich da, wechselte die Farbe von rot zu schwarz und wieder von schwarz zu rot. Es sah keineswegs so aus, als ob jemand auf dem Brachland Gras abbrannte. Wenn es sich um Wei Bo handelte, würde er ihrem Häuschen an diesem Abend womöglich die Ehre seines Besuchs erweisen?

Sie brachte keinen Bissen hinunter. Ihre schweren Gedanken trieben sie nach draußen. Im Umkreis von mehreren Kilometern war weder Mensch noch Hund zu sehen. Es zog sie geradewegs in Richtung des Feuerballs, doch sie fürchtete, sich zu verlaufen. Hatte sie nicht schon auf dem Weg hierher beinahe die Orientierung verloren? Und das sogar am Tag. Unruhe hin oder her – sie ging weiter.

Nach einer Weile hörte sie jemanden ihren Namen rufen. Wer war das? Es war weder ihr Cousin noch war es Wei Bo. Als sie antwortete, hörte das Rufen auf. Jetzt bekam Cuilan Angst und machte sich schnell auf den Rückweg. Sie spürte, dass jemand sie verfolgte, wagte es aber nicht, sich umzudrehen, sondern rannte einfach los, bis sie wieder im dunklen Haus angekommen war, wo sie rasch die Tür hinter sich zuschlug und den Riegel vorschob.

»Cuilan, ich bin es. Dein Vierter Onkel!«, rief der Mann vor der Tür erbost.

Sie spähte aus dem Fenster, konnte aber keine menschliche Gestalt ausmachen.

»Ich muss mit dir reden. Ich schlafe allnächtlich Seite an Seite mit Wei Bo«, sagte der Geist des seit vielen Jahren verstorbenen Onkels.

»Und was hat er dir erzählt?«, fragte Cuilan mit zitternder Stimme.

»Nichts weiter, außer, dass er dich nicht aufgeben will.«

Nach diesen Worten schwieg der Vierte Onkel. Cuilan beobachtete, wie der Himmel sich mit einem hellen Grün überzog, in dem eine kleine Flamme flackerte. Heftig atmend hockte sie im Dunkeln und traute sich nicht, das Licht anzuschalten. Plötzlich befielen sie Zweifel, ob ihr Cousin und seine Frau überhaupt lebendig waren. Wie könnte ein Mensch von einem so hohen Baum stürzen, ohne sich zu verletzen? Hatte sie nicht von Anfang an das Gefühl gehabt, dass die beiden nicht mehr auf der Welt waren? Wie konnte das sein? Sie hörte nicht auf zu zittern, doch trotz ihrer Angst war sie gespannt darauf, was geschehen würde. Sie sehnte sich nach einer Wende dieser Geschichte.

Cuilan wartete lange, aber nichts geschah. Dann hatte sie eine Eingebung. Entschlossen öffnete sie die Eingangstür und ging hinaus bis unter den alten Kampferbaum; sie breitete ihre Arme aus und umschlag seine raue Borke mit ihrem ganzen Körper. Endlich fühlte sie sich ganz ruhig.

Von fern näherten sich zwei kurze Schatten, die im Mondlicht wie Zwerge wirkten. Es waren ihr Cousin und seine Frau in Begleitung eines weiteren Mannes. Cuilans Herz klopfte wie wild. Vielleicht war es Wei Bo?

Langsam näherten sich die Gestalten. Leider handelte es sich nicht um Wei Bo, sondern um einen älteren Mann in zerschlissener Kleidung.

»Ihr kommt spät«, sagte Cuilan vorwurfsvoll.

»Stimmt, es ist ein wenig spät geworden. Dieser Herr ist ein Wohltäter unserer Familie, der augenblicklich etwas in Schwierigkeiten ist, deshalb haben wir ihm ein wenig unter die Arme gegriffen. Erkennst du ihn nicht, Cuilan?«

Cuilan studierte seine Gesichtszüge. Im fahlen Licht blitzten seine Augen so grün wie die einer Katze. »Ach, Sie sind Vierter Onkel?«

»Nein«, sagte er schnell. »Ich gehöre nicht zur Familie, ich bin ein einfacher Kesselflicker.«

Sie gingen alle zusammen ins Haus, der Fremde verabschiedete sich jedoch bereits nach wenigen Minuten wieder. Als Cuilan ihren Cousin fragte, wohin der Mann gehe, antwortete er: »Auf den Baum.«

»Er ist sehr traurig. Im Kampferbaum zu sitzen, macht den Kummer vergessen.«

In ihrer zweiten Nacht auf dem Land schlief Cuilan sofort todmüde ein, bis sie erneut von Lärm geweckt wurde. Es war der Kesselflicker, der sich mit einer Frau unterhielt; dem Tonfall nach machte er ihr den Hof, und das ziemlich laut. Cuilan stand auf. Sie konnte der Versuchung, die Tür einen Spaltbreit zu öffnen und hinauszulugen, nicht widerstehen. Was sie sah, ließ sie vor Schreck erstarren. Der Mann und die Frau hielten glänzende Dolche in der Hand, als wollten sie aufeinander losgehen. Schnell zog sie die Tür zu und rief leise nach ihrem Cousin: »Yiqing!«

Sie hörte den Cousin im Zimmer husten. Es dauerte eine ganze Weile, bis seine ruhige Stimme erklang: »Was ist denn los, Cuilan?«

Ohne das Licht anzuschalten kam er aus dem Schlafzimmer und fragte Cuilan im Dunkeln, ob sie sich die Szene nicht genauer ansehen wolle. Dabei öffnete er die Tür.

Der Mann und die Frau standen da wie zuvor, Messer in den Händen. Nur, dass sie zu silbernen Statuen erstarrt waren. Weiße Blitze zuckten über ihnen.

»Das ist also aus ihnen geworden«, sagte der Cousin enttäuscht und schloss die Tür.

»Wer ist er wirklich?«

»Früher war er tatsächlich ein Kesselflicker. Dann ist er verschwunden und es hieß, er sei mit einer Frau in die Berge gegangen. Viele Jahre später sind meine Frau und ich ihm am helllichten Tag wiederbegegnet. Er sei aus den Bergen geflohen, hat er erzählt.« Ihr Cousin spähte durch den Türspalt nach draußen. »Ha! Sie sind nacheinander auf den Baum geklettert«, sagte er zu Cuilan. »Wie die Affen, die beiden! Haha!«

Amüsiert rieb er sich die Hände. Dann verriegelte er entschlossen die Tür.

»Warum bittest du sie nicht herein?« Cuilan begriff nicht, was vor sich ging.

»Das sagt sich so leicht! Weißt du, wie hoch ihre Körpertemperatur ist? Er allein ginge noch, aber wenn die Frau dabei ist, dann sind das die reinsten Lötkolben. Nein, die sollen schön auf dem Baum bleiben. Der alte Baum stirbt nicht.«

Aus dem Hinterzimmer ließ die Frau des Cousins ein klagendes Zikadenzirpen hören. Cuilan bekam eine Gänsehaut.

»Du solltest dich wieder hinlegen, Cuilan«, sagte der Cousin. »Morgen musst du wieder nach Hause fahren.«

»Warum drängt ihr mich zu gehen?«

»Wir drängen dich nicht, aber Wei Bo erwartet dich morgen bei dir zu Hause.«

»Wei Bo? Wo bist du ihm begegnet?«

»Beim Vierten Onkel. Es gibt nichts zu fragen, leg dich einfach hin. Du willst doch Wei Bo den Weg nicht umsonst machen lassen? Das ist kein schlechter Kerl.«

Ringsum wurde es still und Cuilan wollte nur noch schlafen. Dennoch spitzte sie die Ohren, um die Stimmen des Pärchens auf dem Baum zu erhaschen. Man konnte sie gut hören, nur nicht verstehen, was sie sagten, weil der Kampferbaum ihre Geräusche mit einem metallischen Brummen widerhallte. In Cuilans Ohren klang es, als kreiste über ihr ein Flugzeug. Wie glücklich die beiden sind, war ihr letzter, ein wenig eifersüchtiger Gedanke, bevor sie in einen tiefen Traum fiel. Im Traum hörte sie, wie das Pärchen sie »die Waise« nannte. Sie brach in Tränen aus und durchnässte ihr Kissen. Ihre Traumwelt war voller Leidenschaft, die beiden silbernen Schatten drifteten unaufhörlich um Cuilan herum. Ringsum wuchs Bocksdorn, über dem Honigbienen schwirrten; rechter Hand lagen die Häuser des schwindenden Dorfs und die Ahornbäume, die im Begriff waren, von Flammen verschlungen zu werden. Ihr Cousin und seine Frau standen vor dem Eingang des alten Häuschens wie zwei Zwerge.

Als Cuilan erwachte, war das Frühstück bereits angerichtet. Ihr Cousin und seine Frau schienen bei bester Laune zu sein. Sie sah sich vor dem Haus etwas um, aber die Ereignisse der vergangenen Nacht hatten keine Spuren hinterlassen. Der Cousin gesellte sich zu ihr. »Tag und Nacht sind bei uns wie zwei verschiedene Tage. Würdest du hier wohnen, wäre dir das bewusst. Schade, dass du das nicht kannst.«

Nach dem Frühstück machte sie sich auf den Weg. Ihr Cousin und seine Frau standen unter dem Kampferbaum und sahen ihr lange nach.

Als Cuilan das Reisfeld hinter sich gelassen hatte, blickte sie noch einmal zurück und erschrak. Das Haus und der Baum waren wie vom Erdboden vertilgt. Der Kiesweg unter ihren Füßen vermittelte ihr ein wenig Geborgenheit. Nie würde sie den in den Himmel wachsenden Baum mit den metallischen Blättern, das betörende Aroma des Beifußes, die silbernen Statuen und die rollenden Feuerbälle vergessen. Wer mit einem solchen Heimatort gesegnet war, brauchte keine Angst davor zu haben, sich zu verirren.

Cuilan kam nach Hause zurück. Und am darauffolgenden Tag erschien Wei Bo.

Sie war gerade am Putzen und hockte rittlings auf dem Fenstersims, um die Scheiben zu wienern. Der Geruch nach Sauberkeit und Frische war belebend. Da trat völlig unvermittelt und grußlos Wei Bo ins Zimmer. Er schnappte sich den Wischmopp und machte sich daran, den Boden zu wischen.

»Warst du in meiner Heimat, um dort auf dem Brachland Gras abzubrennen?«, fragte sie leise.

»Mhm.«

»Du kennst also meinen Cousin schon seit einer ganzen Weile?« »Deine Heimat ist wirklich wunderschön.« »Warum bist du hier?«

»Ich habe mir keine Gedanken gemacht, ich bin einfach gekommen. Wohin soll ich schon gehen in dieser engen Stadt?«

Sie kochten zusammen Rindfleisch mit Kartoffeln und ließen es sich schmecken.

Dann fragte Cuilan ihn, ob er ihren Vierten Onkel getroffen habe.

»Er hat kein Zuhause, aber er ist sehr begabt darin, Löcher in die Erde zu graben. Den ganzen Tag über streunt er mit dem Werkzeug auf dem Rücken durch die Gegend, bis er eine passende Stelle gefunden hat, wo er sich dann, ganz gleich, ob es sich um Ödland oder Felsgestein handelt, in nur zwei Stunden ein Versteck gräbt.«

»Und du warst mit ihm in so einer Höhle?«

»Ja, war ich. Wir konnten uns gegenseitig atmen hören. Dein Vierter Onkel hat eine beruhigende Wirkung auf andere. In deiner Familie gibt es einige von seiner Art.«

Wei Bo redete noch über dies und jenes, bis ihm beim Reden die Augen zufielen und er schließlich quer über dem Esstisch lag und schnarchte. Die vergangenen Tage müssen sehr anstrengend für ihn gewesen sein, sagte sich Cuilan.

Mit Mühe gelang es ihr, ihn ins Bett zu legen. Dort betrachtete sie ihren Liebhaber mit einer Mischung aus Niedergeschlagenheit und Erregung. Der riesige, finstere Kampferbaum kam ihr in den Sinn. Ob er sie insgeheim beschützte? Welcher Natur war dieser Schutz?

Als Wei Bo aus dem Schlaf erwachte, hatten sie wunderbaren Sex, noch viel besser als zuvor, wenn sie schweißgebadet ihre Körper umschlungen hatten. Trotzdem überkam Cuilan furchtbare Angst. Sie hatte das Bild des widerlichen, herausgeputzten Antiquitätenprüfers You vor Augen. In welchem Verhältnis stand er zu Wei Bo? Waren sie sich vielleicht so nah wie Brüder? Sie kicherte.

»Denkst du an einen anderen Mann?«, fragte Wei Bo und sah sie forschend an.

»Nein. Es gibt da diesen Mann, der mir nachstellt, aber allein von seinem Anblick wird mir schlecht.«

»Was ist schon dabei? Jeder hat doch irgendetwas an sich, von dem anderen schlecht werden kann.«

Es war schon nach Mitternacht. Dennoch zog Wei Bo sich an und sagte, er müsse nach Hause. Cuilan fixierte ihn und wollte etwas sagen, ließ es aber bleiben. Stattdessen sagte sie etwas, von dem sie selbst überrascht war.

»Ach, Wei Bo, wie konnte ich dir bloß in diesem Kaff begegnen? Ich habe so lange mit dicken Sträußen von Beifuß die Mücken ausgeräuchert, bis du ebenfalls ausgeräuchert warst. Manchmal frage ich mich, ob das überhaupt mein Heimatort war, denn er wirkte so fremd auf mich. Als ich dich gesehen habe, hast du am Horizont dieses Feuerrad angeschoben. Du hast gelitten, oder?«

Sie sprach nicht weiter und starrte vor sich hin.

»Ich habe nicht gelitten. Wie könnte ich in deiner Nähe leiden? Das Rad war brennend heiß und nicht einfach zu rollen, aber die Landluft hat jede einzelne Pore meiner Haut geöffnet! Ganz zu schweigen von den Höhlen. Du kannst dir nicht vorstellen, was für wunderbare Vorzüge sie haben!«

Leise schloss er die Tür und ging.

Cuilan hörte sich rufen:

»Herr You! Herr You!«

Dann kam sie zur Besinnung und erschrak. Angestrengt versuchte sie sich Wei Bo zusammen mit dem Vierten Onkel in einer Höhle vorzustellen. Was waren das für Höhlen? Beim nächsten Mal würde sie sich erst zufriedengeben, wenn sie sich selbst ein Bild davon gemacht hatte. Warum nur hatte sie nicht mit dem Vierten Onkel reden wollen, als er vor dem Fenster nach ihr gerufen hatte?

Nachdem sie von ihrem Ausflug auf das Land zurückgekehrt war, suchte Cuilan aus Langeweile wieder das Wellnesshotel auf. Dort herrschte nicht viel Betrieb, am wenigsten im Frauenbad. Ganz allein saß sie im Becken. Ein paar farbenfrohe, zierliche Fische schwammen um sie herum, doch es konnte sich auch um eine bizarre Halluzination handeln. Als wäre sie weit weg, in einem exotischen Land. In ihren schlaftrunkenen Zustand hinein drang eine leise, aber unnachgiebige Stimme an ihr Ohr.

»Cuilan! Cuilan, wie konntest du mich vergessen?«

Träge öffnete sie die Augen, richtete sich auf und drehte sich um die eigene Achse, um das Becken abzusuchen. Das ganze Bad hatte etwas von einer verlassenen, beleidigten Frau. Sie konnte sogar ein sanftes Schluchzen hören, das immer wieder versiegte und dann neu einsetzte, das Weinen einer jungen Frau.

»Wer treibt hier sein Spiel mit mir?«, rief Cuilan erbost.

Wer war das? Niemand. Verärgert machte sie sich auf den Weg zur Umkleide.

Auch als sie dort herauskam, war keine Menschenseele zu sehen. Erst kurz vor der Rezeption erklang ein lautes Lachen. Ach, Long Sixiang und ihre Kollegin! Die beiden, grell geschminkt und stark parfümiert, hatten offenbar ihre Arbeit in der Baumwollfabrik aufgegeben und waren wirklich zu Prostituierten geworden. Cuilan fand sie ein bisschen alt für dieses Gewerbe, aber nach außen traten die Frauen sehr selbstbewusst auf. Gerade flirteten sie mit einem Mann, der mit dem Rücken zu Cuilan stand. Als er sich umdrehte, erkannte sie Herrn You.

»Long Sixiang ist meine Geliebte«, sagte er mit schmieriger Stimme. »Nicht erst seit ein oder zwei Jahren … Wir kennen uns seit mehr als zwei Jahrzehnten. Jetzt, wo sie ihren neuen Job hat, ist sie wieder sehr anziehend für mich.«

Er ließ sich mit Long Sixiang auf ein Sofa plumpsen, den Arm um ihre Schultern gelegt. Die andere Frau wollte nicht außen vor bleiben und zwängte sich dazu. Nun hatte er rechts und links eine Frau im Arm.

Cuilan beeilte sich, hinauszukommen. »Wohin so eilig, Frau Niu? Ich habe Ihnen etwas zu sagen!«

Er rannte ihr hinterher und erwischte sie kurz vor dem Ausgang. Sie sah ihm in sein hochrot angelaufenes Gesicht. »Was sollten Sie mir schon zu sagen haben?«

»Es ist sehr wichtig«, sagte er und senkte verschämt den Kopf.

Der aufdringliche Geruch seines Parfüms ließ Cuilan die Stirn runzeln. Mit einer Stimme, die ihr nicht zu gehören schien, antwortete sie: »Gut, gehen wir hinüber ins Teehaus und suchen uns einen Tisch.«

»Wunderbar, danke!«

Sie nahmen in der kleinen Teestube Platz. Herr You wirkte extrem nervös, seufzte ständig und reckte immer wieder den Hals, um sich nach allen Seiten umzusehen. Irgendwann hatte Cuilan genug und erhob sich. »Haben Sie mir nun etwas zu sagen oder nicht? Sonst gehe ich eben.«

Wie aus einem Traum erwacht bedeutete Herr You ihr mit einer Geste zu bleiben.

»Ich fürchte, es wird etwas länger dauern, alles zu erklären, Frau Niu. Vor vielen Jahren habe ich mit Ihren Eltern eine Abmachung getroffen. Sie selbst wissen nichts davon, aber ein paar Leute aus ihrem Heimatort schon. Nachdem Ihre Eltern gestorben waren, fiel es mir schwer, es zur Sprache zu bringen. Ich wollte nicht herzlos erscheinen. Doch jetzt sind Sie eine alleinstehende Frau, da sollte es nicht unziemlich wirken, wenn ich Sie umwerbe, nicht wahr?«

»Versuchen Sie es nur!«

»Immer mit der Ruhe. Ich habe nicht vor, unverschämt zu werden. Worauf ich hinauswollte, ist … Ich bin an Ihnen interessiert, weil sie aus jenem Ort stammen.«

»Was hat es mit meinem Heimatort auf sich?«

»Das lässt sich nicht so schnell erklären. Wie soll ich sagen … Ich war schon in vielen abgelegenen Gegenden, aber noch nie habe ich ein Dorf gesehen, das sich derart rasant verändert. Natürlich sind es ganz gewöhnliche kleine Bauernhöfe, mit großen Wasserbottichen und dem großen Steinmörser zum Reismahlen im Hof und den Flächen zum Trocknen des Getreides vor den Toren. Doch wer einmal dort gewesen ist, für den verliert sein bisheriges Leben an Bedeutung.«

Als sie Herrn You über ihren Heimatort reden hörte, fand Cuilan sein Äußeres immer weniger affig und schmierig. Er wirkte jetzt mehr wie ein etwas verstörter Intellektueller. Vor einiger Zeit war sie mit einem Mann zusammen gewesen, der ausgesprochen gebildet, aber keineswegs verstört war. Eins schien ihr unbegreiflich: Wie hatten ihre Eltern darauf kommen können, dass sie und Herr You ein schönes Paar abgeben würden? Cuilan sah sich selbst als einfache, geradlinige Frau, und so waren auch ihre Eltern gewesen. Von Menschen vom Schlag eines Herrn You waren sie so weit entfernt wie Himmel und Erde. Manchmal verstand man die Welt nicht mehr. Ausgerechnet dieser oberflächliche Typ sollte ein unerklärliches Interesse an ihrer ländlichen, eintönigen Heimat haben?

»Mein Heimatort scheint einen ziemlichen Eindruck auf Sie gemacht zu haben«, spottete Cuilan.

Herr You sah sie an, seine Stirn umwölkte sich. Nun saß er vor ihr und sagte kein Wort mehr, das Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen, plötzlich wieder ein ganz anderer Mensch.

Sie trennten sich mit einem unguten Gefühl.

Für Cuilan war der Vorfall so beängstigend, dass sie es unbedingt vermeiden wollte, diesem Kerl wiederzubegegnen. Womöglich war er geistesgestört. Obwohl er offensichtlich Long Sixiangs Geliebter war, wunderte sie sich, was die beiden miteinander verband. Und dann redete er von ihren Eltern, die niemals auf die Idee gekommen wären, sie einem Geistesgestörten zu versprechen. Irgendwann beschloss sie, einfach nicht mehr darüber nachzudenken.

Dennoch fühlte sie sich unbehaglich beim Gedanken an ihren nächsten Besuch im Wellnesshotel. Immer wieder könnte sie dort auf Leute wie Herrn You oder Long Sixiang treffen, die sie in Dinge verstrickten, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Eine alleinstehende Frau wie sie hatte jedoch nur wenig andere Möglichkeiten, die Zeit totzuschlagen. Um die dröge Langeweile etwas erträglicher zu machen, begann sie einen Stickkurs und fabrizierte ansehnliche Stickereien. In ihrer Einsamkeit spürte sie die traurige Trostlosigkeit des Alters heranziehen. Verflossene Liebhaber erschienen vor ihrer Tür und riefen nach ihr, doch sie saß drinnen und rührte sich nicht.

Eines Nachts, ein heftiger Sturm tobte und Cuilan lauschte dem Klang des Regens, erinnerte sie sich an die zusammenhang losen Worte ihres Cousins: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jeder nach seinen Bedürfnissen und meinte jetzt zu begreifen, was der Satz zu bedeuten hatte. Nach diesem Prinzip sollte der Mensch leben, dachte sie, ganz egal, ob in der Stadt oder auf dem Land.

Ihr war zuvor nicht klar gewesen, dass Wei Bo jemand war, der ähnlich dachte wie sie selbst. Sie ließ die Beziehung wiederaufleben.

»In welchem Jahr hattest du zum ersten Mal Kontakt mit meiner Familie?«, fragte sie Wei Bo.

Er verdrehte die Augen. »Schwer zu sagen«, antwortete er schließlich. »Ich habe das Gefühl, deinen Cousin und deinen Vierten Onkel schon immer zu kennen, ohne mit ihnen Umgang gehabt zu haben. Sag mal, Cuilan … Sollte ich eines Tages im Gefängnis landen, würdest du dann weiter an mich denken?«

»Natürlich würde ich das. Aber du wirst doch nicht im Gefängnis landen, oder?«

»Das denkst du. Ich fürchte, ich habe das Gesetz gebrochen.«

Cuilan fragte nicht weiter, es erschien ihr unangemessen, ihn zu bedrängen. Sie war schon nicht mehr dieselbe Cuilan wie zuvor.

Bald darauf kam Wei Bo tatsächlich ins Gefängnis.

Sie saßen im Park, als plötzlich die Polizei auftauchte. Wei Bo redete weiter mit Cuilan, während er schon aufstand und zu den Polizisten ging. Er streckte die Hände aus, damit sie ihm Handschellen anlegten.

»Was tun Sie da? Warum verhaften Sie ihn?« Cuilan geriet vollkommen außer sich.

»Er gehört einem Verbrechersyndikat an«, sagte der junge Polizist.

Dann führten sie ihn ab. Er wirkte dabei fröhlich und erleichtert, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen.

Wieder zu Hause, brach Cuilan in lautes Schluchzen aus. Erneut war sie einsam und allein. Dabei hatte sie sich gerade erst dazu entschlossen, der Beziehung mit Wei Bo eine echte Chance zu geben. Natürlich würde sie ihn ab und zu im Gefängnis besuchen können. Dieser Mensch hatte irgendetwas Besonderes, das sie nicht zu benennen vermochte. Ob es etwas mit seinem Geruch nach Absinth zu tun hatte?

Ach, Wei Bo, dachte sie. Wenn du krumme Sachen machst und sogar mit einer Bande von Kriminellen zu schaffen hast, warum fängst du dann eine Beziehung mit mir an? Wenn ich dir nicht reiche, um deine speziellen Vorlieben zu befriedigen, warum verschwendest du dann meine Zeit?

Durch ihren tränenverschleierten Blick betrachtet, kamen ihr ihre Gefühle auf einmal unaufrichtig vor. Sofort hörte sie auf zu weinen.

Kaum waren die Tränen versiegt, kam ihr Herr You in den Sinn. Was hatte sie an sich, das einen aalglatten Dandy wie ihn anzog? Sie hatte solche Typen nie ausstehen können. Jetzt machte der Gedanke an Herrn You sie neugierig, sie fand ihn sogar anregend. Seit ihrem Besuch auf dem Land schien sie sich gründlich verändert zu haben.

Zu gerne hätte sie Herrn You provoziert, ihn dazu gebracht, ihr seine Geheimnisse zu offenbaren. Vor allem wollte sie endlich Klarheit über die Frage, ob er tatsächlich ihre Eltern gekannt hatte, und wenn ja, warum sie einander dann nie vorgestellt worden waren. Wenn nein – woher wusste er von ihren Eltern und ihrem Heimatort?

Spontan griff sie zum Telefon und wählte Long Sixiangs Nummer. »Sixiang, wo bist du gerade?«

»Da, wo ich immer bin, mit einem Kunden. Du kennst ihn.« »Herr You?«

»Wer sonst? Warte, ich gebe ihm das Telefon.«

»Hallo Frau Niu. Seien Sie nicht traurig«, hörte sie Herrn Yous schmierige Stimme sagen, »es gibt so viele andere. Mich zum Beispiel, wie wärs mit mir?«

»Das habe ich auch gerade gedacht.«

»Na wunderbar, wer weiß, ob nicht endlich zwischen uns die Funken sprühen!«

Seine Worte gingen ihr lange im Kopf herum. Doch, er redete wie ihr Vater. Cuilan hatte schon immer den Verdacht gehegt, eine dunkle Vergangenheit zu haben, und aus genau diesem dunklen Fleck in ihrer Vergangenheit war dieser Mensch getreten. Jemand, der sich nicht einordnen ließ.

Ihr Vater war immer ein schweigsamer Mann gewesen. Nie hatte sie ihn wirklich zu begreifen gelernt, es war unmöglich gewesen, seine wahren Gedanken zu erraten. Ihr Verhältnis war mal besser, mal schlechter gewesen, doch selbst zu Zeiten, in denen sie sich nahestanden, hatte Ciulan den Eindruck gehabt, dass sie beide, sie selbst genauso wie ihr Vater, sich einander verschlossen und nie ihr wahres Gesicht gezeigt hatten. Dieses Gefühl kannte sie seit ihrer Kindheit; vielleicht lag es daran, dass sie beide nicht wirklich zufrieden mit sich waren und gern ein anderer Mensch gewesen wären. Mit dem Älterwerden hatte sie begonnen, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Heute war sie der Meinung, dass der Mensch dazu neigte, ein bestimmtes Bild von sich zu vermitteln, mit dem er andere zum Narren hielt, weil die Wahrheit zu schrecklich, zu unerträglich war. Offenbar waren ihr Vater und sie sich in diesem Punkt sehr ähnlich. Woraus sie schloss, dass auch sie anderen ein verzerrtes Bild von sich vermittelte. Da war zum Beispiel diese frühere Kollegin, die manchmal in Cuilans Nähe gestanden und sie lange schweigend gemustert hatte. Nie bekam Cuilan von ihrer Vorgesetzten eine Rückmeldung zu ihrer Arbeit – oder bestand die Rückmeldung genau darin? Im Grunde kümmerte sich Cuilan nicht darum, was andere von ihr dachten, doch diese Ungewissheit machte sie ein wenig nervös. Was, wenn eines Tages eine giftige Schlange aus dem undurchsichtigen Gebüsch kroch?

Wieder schweiften ihre Gedanken zu ihrem Vater. War Herr You vielleicht die giftige Schlange? Hatte ihr Vater wirklich eine Vereinbarung mit ihm getroffen? Wenn es eine solche Vereinbarung gab, dann war sie ohnehin absurd, denn ihr Vater hätte genau gewusst, dass Cuilan sich von ihm nicht in ihr Leben hineinreden lassen würde. Sie hatte ihn auch vor ihrer Hochzeit nicht um Erlaubnis gefragt. Als sie ihm ihre Absicht kundgetan hatte, hatte ihr Vater kein Wort gesagt. Reden war nicht seine Sache gewesen.

Ein selbstzufriedenes und selbstbestimmtes Leben wie das Long Sixiangs erschien ihr nicht verkehrt. Sie stand einfach zu dem, was sie tat, und hatte nichts zu verbergen, ganz anders als Cuilan. Vielleicht fühlte sich Herr You aus diesem Grund zu Sixiang hingezogen. So gesehen hatte er etwas, das ihn vor anderen auszeichnete. Haha. Kaum war Wei Bo hinter Gittern und schon wurde sie ihm untreu!

Zwei Wochen später besuchte sie Wei Bo im Untersuchungsgefängnis.

Der Aufseher war ein freundlicher älterer Herr, der sie im Besuchszimmer Platz nehmen ließ. »Wie alt sind Sie?«, fragte er. »Fünfunddreißig? Schade um Sie! Je früher Sie mit ihm brechen, desto besser. Der ist ein hoffnungsloser Fall. Haben Sie Kinder? Nein? Dann weg mit ihm, aber schnell!«

Aufgebracht ließ er sie allein.

Abgesehen von einem schmalen Bett in der Mitte des Raums war das Besuchszimmer leer, kein Tisch, keine Stühle. Das weiße Bettzeug war schmutzig, als ob gerade jemand darin geschlafen hatte. Da sie sich nicht auf das Bett setzen wollte, stand Cuilan einfach da und versuchte, ihre Aufregung zu unterdrücken.

Es dauerte nicht lange, bis Wei Bo eintrat. Sein verlegenes Auftreten erinnerte sie an ihre erste Begegnung im Wellnesshotel. Dann umarmte er sie und ließ sich mit ihr auf das Bett fallen, während er sie am ganzen Körper wild betatschte. Gewaltsam stieß Cuilan ihn weg und wand sich frei. »Du spinnst wohl!«, schrie sie.

Er wirkte überrumpelt, doch schnell zog ein feines Grinsen über sein Gesicht. »Ich habe Tag und Nacht nur an dich gedacht, wie sollte ich nicht danach lechzen, dich anzufassen? Mist, der Alte kommt!«

Cuilan drehte sich um und sah den Aufseher in Begleitung einer Frau eintreten. »Abschaum ist das«, hörte sie die Frau schimpfen. »Schon beim Anblick wird mir schlecht. Gehen wir.«

Schon waren sie wieder verschwunden und hatten die Tür hinter sich geschlossen.

»Das ist doch die Gelegenheit! Warum willst du denn nicht?«, jammerte Wei Bo.

»Du widerst mich an.«

»Nun sei nicht so überheblich.«

Cuilan reichte ihm Lesestoff sowie etwas zu essen, das sie ihm mitgebracht hatte, und Wei Bo blätterte mit den leuchtenden Augen einer Ratte in der Ausgabe von Kino für alle. Das Gefängnis bekommt einem Menschen nicht, dachte Cuilan schmerzlich berührt. Wei Bo sah jetzt wirklich wie jemand aus, der einem Verbrechersyndikat angehörte.

»Wann steht deine Verhandlung an?«

»Mach dir bloß keine Hoffnungen. Wer einmal hier drin ist, kommt so schnell nicht wieder raus. Ungeduld ist da ein schlechter Berater.«

»Aber du hast doch nicht wirklich ein Verbrechen begangen, oder?«

»Natürlich nicht. Es ist einfach Schicksal.«

Wei Bo senkte den Blick und verkrallte seine Hände ineinander, er schien mit seinen Gedanken woanders zu sein.

»Da du nicht willst, kannst du auch gleich wieder gehen. Es ist nicht gut, hier plaudernd herumzustehen, das wird am Ende womöglich negativ ausgelegt.«

Er drückte sie noch einmal fest an sich. Dann stieß er sie weg und drängte sie zu gehen.

Verwirrt ließ sie ihn stehen und ging.

Der Wind blies ihr ein wenig den Kopf frei, als sie die Asphaltwege vor der Stadt entlanglief. Schließlich blieb sie noch einmal stehen und drehte sich nach dem Untersuchungsgefängnis um. Seltsam. Auch hinter dem zweigeschossigen Bau ragte ein hoher Baum auf, dem Kampferbaum vor dem Haus ihres Cousins auf dem Land nicht unähnlich. Sein dichtes Blattwerk war tiefschwarz und glänzte metallisch im Sonnenlicht. Die Erscheinung erfüllte sie mit Furcht. Auf einmal versagten ihre Beine und sie sank auf die Wiese neben dem Weg. Wei Bos enttäuschtes Gesicht belastete sie. Machte sie sich selbst etwas vor? Sollte er tatsächlich für lange Zeit seine Freiheit einbüßen, hätte sie ihm mit ihrem Verhalten zu verstehen gegeben, dass sie ihn nicht liebte.

Ihre Stimmung war viel düsterer als auf dem Hinweg. Sie fühlte sich ganz schlapp. Bis zur Bushaltestelle waren es noch etwa drei Kilometer, und obwohl ihr die Strecke am Morgen keine Probleme bereitet hatte, kostete sie Cuilan jetzt große Mühe. Alles tat ihr weh, sie musste sich hinsetzen. Doch sie konnte auch nicht lange im Gras sitzen bleiben, wer wusste schon, ob es hier nicht Skorpione oder Giftschlangen gab? Sie zwang sich aufzustehen und schleppte sich mühsam den Weg entlang. Bereits nach wenigen Schritten fühlte sie sich dem Zusammenbruch nahe. Da hörte sie plötzlich hinter sich ein Knirschen. Es war ein alter Mann in einem zweirädrigen Pritschenwagen.

»Transport gefällig? Acht Yuan«, sagte er mit gedämpfter Stimme.

Cuilan dankte ihm überschwenglich und nahm auf der Pritsche Platz.

Das Untersuchungsgefängnis verschwand genauso wenig aus ihrem Blickfeld wie der hohe Baum. Der Wagen war schon ein ganzes Stück weit vorangekommen und zweimal abgebogen, und trotzdem war das Gebäude noch zu sehen, so deutlich, dass sie selbst die in der Sonne trocknenden Laken auf den Wäscheleinen erkennen konnte. Etwas stimmt hier nicht, dachte sie. Der alte Mann strampelte, ohne schneller oder langsamer zu werden, und Cuilan roch den Schweiß, der sein Unterhemd tränkte. Der Alte erinnerte sie an ihren Vater. Viele Male hatte ihr Vater sie früher aus misslichen Situationen gerettet. Ihre Zähne taten weh und sie saß furchtbar unbequem. Das Schlimmste aber war, dass sie nach wie vor das alte Gebäude mit dem Baum dahinter sehen konnte. Kam sie aus diesem Bannkreis nicht heraus? Der Gedanke verwirrte sie noch mehr.

Sie war sich sicher, dass sie den richtigen Weg genommen hatten, denn es gab nur diese eine asphaltierte Straße. Warum hatten sie dann auch nach anderthalb Stunden die Haltestelle noch nicht erreicht? Das Untersuchungsgefängnis war jetzt zwar nicht mehr zu sehen, aber die Landschaft erschien ihr vollkommen fremd, eine Ansammlung kahler Hügel. Sie wurde nervös.

»Sind wir bald da, mein Herr?«

»Gewiss. Dennoch sollten wir eine kleine Rast einlegen. Dort rechts ist das Haus meiner Nichte.«

Schon hatte er angehalten, bahnte sich eilig den Weg durch das Gestrüpp am Wegrand und verschwand. Cuilan stellte sich auf die Pritsche, um Ausschau zu halten. Weit und breit gab es keine Bushaltestelle, und auch von der Skyline der Stadt war nichts zu sehen. Da war nur die Straße, die am Horizont im Dunst verschwand.

Sie sprang von der Pritsche und ging bis zum Fuß einer Anhöhe. Kein einziger Baum wuchs dort, nur Gestrüpp, in dem sie zwei überwucherte Gräber ausmachte. Cuilans Gedanken kehrten zum Untersuchungsgefängnis zurück. Wie deprimierend das alles war. Der Mann, den sie gernhatte, war zu einem Barbaren geworden, und sie wusste nicht, ob sie das gut oder schlecht finden sollte. Für Wei Bo war es wahrscheinlich das Beste, denn sonst könnte er die langen Nächte dort drinnen kaum ertragen.

Sie hatte es gar nicht eilig, nach Hause zu kommen, ihre leere, einsame Wohnung übte auf sie keinen Reiz aus. Sie würde einfach hierbleiben und die Anhöhen erklimmen, am nächsten Tag musste sie ohnehin nicht arbeiten. Kaum hatte sie den Entschluss gefasst, taten ihre Zähne nicht mehr weh und das Leben kehrte in sie zurück.

Nachdem sie auf halber Höhe angelangt war, sah sie die beiden Gräber unter sich liegen. Erst jetzt bemerkte sie den Mann, der auf einem der Grabhügel hockte. Als er sich zu ihr umdrehte, erkannte sie ihren Vierten Onkel.

»Hast du schon immer die ganze Welt als dein Zuhause betrachtet, Vierter Onkel?«, fragte sie ihn.

»Nicht die ganze Welt, ich bleibe ja immer in der Nähe.«

Seine Stimme hallte, als spräche er in ein Mikrofon. Unter den aufgerollten Hosen stachen seine von Geschwüren übersäten Beine hervor, ein scheußlicher Anblick. Cuilan stellte sich vor, dass sein ganzer Körper von dem ständigen Herumtreiben in feuchten Löchern ganz verschimmelt sein musste.

»Ach, dann weißt du schon von Wei Bos Problemen?«

»Was für Probleme sollte der haben? Das ist kein einfacher Zeitgenosse. Geh nach Hause, es wird schon dunkel. Du musst langfristig planen, mein Kind.«

Er ließ sich vom Grab herabgleiten und marschierte in Richtung der anderen Seite der Anhöhe davon. Sie wollte ihm folgen, aber der finstere Blick, mit dem er sich nach ihr umdrehte, ließ sie erstarren. Seine Augen leuchteten in der Dämmerung grün wie die eines Luchses. Cuilan ging den Weg zurück, den sie gekommen war.

Als sie am Fuß des Hügels ankam, war es bereits dunkel, sodass sie sich bis zur Straße vortasten musste. Furchtbare Schreie ertönten vom Untersuchungsgefängnis her, wieder und wieder, so als würde dort jemand gefoltert. Cuilan lauschte angespannt, ob sie Wei Bos Stimme heraushören konnte. Es war qualvoll. Da sprach sie jemand in der Dunkelheit an, mit einer seltsam vertrauten Stimme.

»Das passiert jeden Tag, nimm es nicht so schwer.«

Es war Long Sixiang, die auf dem Pritschenwagen hockte, mit dem Cuilan hergekommen war.

»Was machst du denn hier, Long Sixiang?«

»Na, ich bin die Geliebte dieses Kerls, ich meine den Besitzer des Karrens. Du musst nicht glauben, das sei nur ein einfacher Mann, der einen Karren zieht. Ich will dir etwas verraten: Ich vermute, er ist Großgrundbesitzer. Der Mann gibt sein Geld mit vollen Händen aus. Allein werde ich mit diesem Kerl nicht fertig, du musst mir helfen, Cuilan!« Ihre Stimme klang immer schriller.

Cuilan versuchte, nicht panisch zu reagieren. »Ich muss darüber nachdenken«, wiederholte sie mehrfach. »Selbst wenn ich so etwas tun wollte, dann nur allein und nicht mit jemandem zusammen.«

Long Sixiang schnaubte verächtlich und sagte eine Weile gar nichts mehr.

Der alte Mann, der den Karren gezogen hatte, kam fluchend auf sie zu. Er stank nach Schnaps.

»Du elende Hure, hängst hier faul herum und willst mich abzocken, wie?«

Er wollte Long Sixiang schlagen, doch von ihrer erhöhten Position auf der Pritsche aus wehrte sie ihn ab. Dabei fiel sie herunter und mit ihm ins Gestrüpp.

Cuilan hörte nur, wie sie sich auf dem Boden herumwälzten, ohne müde zu werden. Schließlich entschloss sie sich, den Weg zur Bushaltestelle zu Fuß anzutreten. Sie wollte gerade losgehen, als Long Sixiang rief: »Halt! Du kannst nicht einfach weggehen!«

Cuilan hielt erstaunt inne.

Long Sixiang rannte zu ihr und packte sie am Arm. »So, davonlaufen willst du?«, zischte sie. »Tu nicht so unschuldig! Das hilft dir nichts.«

Sie befahl Cuilan, sich mit ihr auf den Karren zu hocken. Der alte Mann zog den Karren in das Gestrüpp am Wegrand. Cuilan konnte nicht sagen, ob dort ein Pfad hindurchging, scherte sich auch nicht weiter darum, sondern lehnte sich an Long Sixiangs Schulter und genoss den Pinienduft, der von ihnen ausging und sie ganz benommen machte. Schlaftrunken bemerkte sie, wie Long Sixiang ein Feuerzeug aufschnappen ließ und eine Zigarette anzündete. Wie gefasst diese Frau war! Sie schien ein verlässlicher Mensch zu sein, ausgesprochen selbstsicher. Zwischen Traum- und Wachzustand wurde Cuilan plötzlich klar, dass sie Long Sixiang schon eine Ewigkeit kannte. Sie war dieser Frau viele Male im Haus eines Bekannten begegnet, an dessen Namen sie sich nicht erinnerte. Damals war Long Sixiang noch eine schöne, frisch verheiratete junge Frau gewesen, mit Augen, die sich beim Lachen wie eine Mondsichel bogen. Als Cuilan sie Jahre später wiedersah, war aus ihr die abgezehrte, alternde Arbeiterin einer Baumwollfabrik geworden.

Sie kamen bei einer Reihe zweigeschossiger Häuser an.

»Das ist die sogenannte Mandarinenten-Residenz für Frischvermählte. Lao Yong und ich haben die Nummer fünf im Erd-geschoss reserviert.«

Long Sixiang nahm Cuilan in den Arm, als sie hineingingen. Ihre Stimme klang nach Sex.

»Glaub bloß nicht, dass ich mich auf einen Dreier einlasse«, flüsterte Cuilan.

»Dann leck mich!«, Long Sixiang stieß Cuilan von sich.

Sie schubsten Cuilan in die Suite. Long Sixiang sperrte sie in das mittlere Zimmer ein und ging mit Lao Yong ins Hinterzimmer. Cuilan hörte den Kerl ein schmutziges Lied singen.

Immerhin gab es in ihrem Zimmer Licht. Cuilan besah sich das Mobiliar, das aus massivem, unbehandeltem Holz gefertigt war und einen angenehm frischen Duft verströmte. An der Wand standen mehrere, mit Schnitzereien von Vögeln und Blumen verzierte Schränke. Cuilan saß am Tisch und lauschte, wie Long Sixiang und der Mann über die Rückseite des Gebäudes nach oben gingen. Es klang, als seien sie extrem schwer, die Stufen ächzten unter ihrem Gewicht und schienen bald nachzugeben. Besonders schrecklich aber war, dass sie noch immer das Wimmern aus der Richtung des Untersuchungsgefängnisses hörte, noch deutlicher als beim ersten Mal auf der Straße. Für einen Augenblick meinte sie, Wei Bos Stimme herauszuhören – anfangs heiser, zögernd, bis ein hysterischer Schrei detonierte. Sie weinte.

Jemand klopfte wie wild an der Tür und schrie dabei voller Verzweiflung. Es war eine Frau, die Stimme kam Cuilan bekannt vor. Sie rief ihr zu, dass die Tür von außen verriegelt sei. Das Schreien verstummte. Dann stieß die Frau mit einem einzigen Tritt die Tür auf. Sie schien unheimliche Kräfte zu besitzen.

Es war Long Sixiangs Kollegin aus der Baumwollfabrik, die ebenfalls ins Prostitutionsgewerbe gewechselt war. Im schwachen Schein der Lampe sah ihr Gesicht jünger aus als zuvor, geradezu bezaubernd. Vielleicht lag es an ihrem Make-up.

»Das war einmal mein Kunde! Long Sixiang hat ihn mir weggeschnappt!«

Sie zeigte zur Decke. Von oben war immer noch Fußtrampeln zu hören, so schwer, dass jeder Schritt die Dielen krachen ließ. »Was tun die da?«, fragte Cuilan panisch.

»Die prügeln sich, was sonst? Was sollten die schon tun? Long Sixiang lässt nicht locker, bis sie ihrem Kunden jeden Cent abgepresst hat. Was stehst du da herum wie eine Idiotin? Komm her und wir plaudern ein bisschen in diesen gemütlichen Sesseln.«

Sie nahm im Schatten der hohen Schränke Platz. Cuilan setzte sich neben sie. Die Frau fasste ihre Hand und hielt sie fest, am ganzen Körper zitternd.

»Wie heißt du?«

»Jin Zhu.«

»Ist dir kalt?«

»Nein, ich bin nur nervös. Da oben passiert etwas Furchtbares. Wenn es zwischen Männern und Frauen schlecht läuft, endet es in Mord und Totschlag. Unsere Arbeit ist ganz schön gefährlich.«

»Wenn du solche Angst hast, dann mach dich davon und fertig.«

»Du bist wirklich dämlich. Der Reiz liegt doch gerade in diesem Risiko. Hast du eine Ahnung, wie dreckig es uns in der Fabrik gegangen ist?«

Die ganze Zeit über ließ Jin Zhu den Blick nicht von der Decke. Staub rieselte herunter in die Schatten des Zimmers. Sie hörten die beiden toben. Je deutlicher Cuilan sich das Spektakel oben ausmalte, desto neugieriger wurde sie, und ihre Nerven beruhigten sich. Wieder packte Jin Zhu ihre Hand, unruhig auf dem Sessel herumzappelnd. Da sie im Dunkeln saßen, konnte Cuilan ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen.

»Du warst bestimmt noch nie bei uns in der Baumwollfabrik, stimmt’s? Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, dass es sich anfühlt wie in einer Betonmischmaschine! Als ich anfing, Blut zu spucken, habe ich zu Long Sixiang gesagt: Wenn ich hier nicht rauskomme, gehe ich ein! Und dann haben wir uns davongemacht. Überleg mal – wir sind nicht mehr jung, haben keine Ausbildung und unsere Gesundheit ist ruiniert, was konnten wir schon machen? Die Idee, es als Prostituierte zu versuchen, kam von Long Sixiang. Anfangs wollte uns keiner, weil wir zu alt waren. Sie ist aber niemand, der so schnell aufgibt. Ihr fällt immer etwas ein. Und schließlich bekamen wir in dem Geschäft einen Fuß in die Tür und fanden allmählich Gefallen daran. Hättest du nicht gedacht, oder? Je mehr wir arbeiten, desto enthusiastischer werden wir. Wir haben unser eigenes Netz von Kunden, verdienen nicht schlecht … Aber diese Schlampe weiß einfach nicht, wo sie hingehört, die will ganz hoch hinaus!«

In ihrer Stimme lag Bewunderung. Cuilan fragte sich, wie die beiden Frauen tatsächlich zueinander standen. »Wie findest du mich? Habe ich eine gute Figur?«, fragte Jin Zhu nach kurzer Pause unvermittelt.

»Du siehst super aus, gar kein Vergleich zu den Arbeiterinnen in der Fabrik.«

»Gut! Genau das wollte ich hören. Der Unterschied zwischen meinem jetzigen und meinem vergangenen Leben ist wie Himmel und Hölle!«

»Versucht Long Sixiang, dem alten Yong Geld aus der Tasche zu ziehen?«, fragte Cuilan.

»Pah! Rede nicht so abgeschmackt. Es wäre doch ein Leichtes, dem ein bisschen Geld abzuknöpfen. Nein, glaub mir, das ist Liebe. Frauen wie wir lassen sich nichts vormachen. Uns kann man nur durch wahre Liebe erobern. Zuerst hatte ich mich in den alten Yong verliebt, dann hat sie ihn mir weggeschnappt. Aber ich bin nicht eifersüchtig, und willst du wissen, warum? Sie ist einfach leidenschaftlicher verliebt als ich. Ach, verdammt, reden wir von etwas anderem. Ich muss nur daran denken, wie ich diese elende Fabrik verlassen habe, dieses Tal der Tränen, und schon mache ich auf der Straße Luftsprünge vor Freude. Long Sixiang und ich, wir gehen jetzt aufrecht, wir wissen, wozu wir fähig sind, vor allem wissen wir auch zu lieben!«

Plötzlich schien Jin Zhus Stimmung umzuschlagen. Sie hörte auf, nach oben zu starren, ließ Cuilan los und stützte den Kopf in die Hände.

»Was ist?«, fragte Cuilan.

»Sie sind weg.« Jin Zhu klang deprimiert. »Sie sind so schnell wieder heruntergekommen und weggegangen . Kann Liebe wirklich von so kurzer Dauer sein?«

»Warum sagst du das?«

»Diese Baumwolle … diese elende, herausquellende Baumwolle. Weißt du, wie viel Baumwolle in unseren Lungen steckt? Zwanzig Jahre lang diesem Dreck ausgesetzt . die herumfliegenden Baumwollflusen setzen sich in kleinen Klumpen in den Lungenflügeln fest. Ein Wunder, dass wir überhaupt noch am Leben sind. Ich habe immer gehofft, dass wenigstens eine von uns, Long Sixiang oder ich, noch glücklich wird.«

»Ist Lao Yong tatsächlich ein reicher Grundbesitzer?«

»Für uns schon. Ich musste tricksen, damit wir ihn in die Finger kriegen.«

Cuilan dachte an Wei Bo und fragte Jin Zhu, ob sie wisse, dass in der Nähe ein Untersuchungsgefängnis voller Verbrecher sei.

»Klar weiß ich das. Schließlich sind wir hier in den Mandarinenten-Suiten! Wo Männer und Frauen miteinander zu tun haben, ist das Verbrechen nicht weit. Deshalb auch die Haftanstalt.«

»Du hast ziemlich viel Fantasie.«

»Ich bin einfach nur pessimistisch. Ich habe schon einmal jemanden umgebracht. Soll ich mich selbst anzeigen? Wieder und wieder sehe ich das Gesicht des Kerls vor mir, als er um sein Leben gerungen hat.«

Cuilan strich Jin Zhu über den Rücken und fragte sie, ob sie den Mann geliebt habe.

»Ja. Ich bin eine Idiotin. Komm, mach die Tür auf, ja?«

Als Cuilan die Tür öffnete, lief draußen ein eng umschlungenes Paar vorüber. Der Mann sah von hinten aus wie Wei Bo. Sie trat hinaus, um ihn sich genauer anzusehen, aber ein plötzlicher Windstoß trieb ihr Sand in die Augen. »Meine Lungen, ich ersticke!«, rief Jin Zhu aus dem Zimmer.

Cuilan ging rasch zurück zu den Sesseln und klopfte ihr auf den Rücken. Als Jin Zhu wieder frei atmete, fragte sie Cuilan sofort, ob sie oben Schritte höre. Cuilan lauschte, hörte jedoch nichts.

»Diese beiden erscheinen und verschwinden wie Geister, sie sind bestimmt wieder oben. Es ist eine Liebe ohne Zukunft. Trotzdem wünsche ich Sixiang, dass sie glücklich wird.«

»Du hast ein großes Herz«, sagte Cuilan.

»Ach, erzähl keinen Unfug, ich bin kein guter Mensch. Ein paar Mal hätte ich sie beinahe umgebracht. Wir versuchen uns gegenseitig auszustechen. Dass ich ihr Glück wünsche, liegt allein daran, dass ich so dickköpfig bin. Warum sollten Frauen wie wir nicht auch mal ein bisschen Glück haben?«

Cuilan vernahm während ihres Gesprächs keinerlei Geräusche von oben. Jin Zhu schien an Wahnvorstellungen zu leiden.

Sie zog Cuilan mit schweißnasser Hand auf den Sessel. »Hierher kommen die Leute aus einem einzigen Grund. Du und Sixiang, ihr hattet einen Grund, aber was mache ich eigentlich hier? Ich bin verwirrt, ich weiß nicht mehr, warum ich hier bin. Noch auf dem Karren habe ich mich frei wie ein Vogel gefühlt. Schließlich bin ich dieser Betonmischmaschine entkommen! Habe ich mir nicht ein eigenständiges Leben aufgebaut? Warum bin ich bloß so pessimistisch geworden? Es ist wie eine Krankheit, ein immer wiederkehrendes Geschwür. Meine armen Lungen!«, rief sie mit herzzerreißender Stimme.

»Sei nicht traurig, Jin Zhu. Ich bin sicher, dass du eines Tages glücklich sein wirst.«

Kaum hatte sie das gesagt, fühlte Cuilan sich verloren. Warum rede ich so einen Unsinn?, fragte sie sich. Jin Zhu erwiderte nichts auf ihre Bemerkung, hatte sich aber beruhigt.

Lange saßen sie schweigend nebeneinander im Dunkeln. Beinahe wäre Cuilan in ihrem Sessel eingeschlafen, doch als sie die Hand nach der anderen Frau ausstreckte, griff sie ins Leere und kam mit einem Ruck zur Besinnung. »Jin Zhu! Wo bist du?« »Hier draußen, komm schnell!«

Cuilan tastete sich zur Terassentür und gesellte sich zu Jin Zhu. Es war jetzt vollkommen still, keine Menschenseele weit und breit. Der Mond stand bereits hoch am Himmel und Cuilan meinte, noch nie einen so riesigen Mond gesehen zu haben, groß wie eine Waschschüssel. Sie zwickte sich ins Bein, um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Wie ein schwarzer Drache erstreckte sich rechts von ihnen die lange Reihe von Mandarinenten-Suiten.

»Es gibt noch einen Seitenausgang, über den wir zur Rückseite gelangen und nach oben gehen können. Wir starten einen Überraschungsangriff auf Lao Yong und Sixiang.«

Jin Zhu schien wild entschlossen, aber Cuilan zögerte und blieb stehen, wo sie war. »Lao Yong ist ein Zementhändler«, redete Jin Zhu weiter. »Er hat sich auf die Herstellung von minderwertigem Zement spezialisiert und macht damit skrupellos Geld. Ein Drittel der Gebäude dieser Stadt wurden mit seinem Zement errichtet. Ich hatte vor, ihm gehörig Geld aus der Tasche zu ziehen, und nicht damit gerechnet, dass plötzlich alles ganz anders werden könnte. Sixiang hat einen guten Einfluss auf ihn. Kommst du? Sonst gehe ich eben alleine hinauf.«

Cuilan konnte der Versuchung nicht widerstehen und ging ihr nach.

Die enge Holztreppe, die sie hintereinander hinaufstiegen, schien unter ihrem Gewicht nachzugeben. Cuilan schrie auf, als sie plötzlich ins Leere trat. Ihr brach kalter Schweiß aus. Zum Glück hatte Jin Zhu sie mit eisernem Griff rasch an den Kleidern gepackt und zurück auf die Treppe gezogen. »Verflucht!«, zischte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen.

Das obere Stockwerk hatte Dachschrägen und wurde nur schwach von einer kleinen Lampe erleuchtet. In der Mitte des Raums stand ein schmales Bett. Wie im Untersuchungsgefängnis, dachte Cuilan. Auf dem Bett lag eine säuberlich gefaltete Decke. »Sie sind nicht hier«, sagte Cuilan.

»Lass dich nicht vom Schein täuschen.« Eifrig sah Jin Zhu in jedem Schrank nach, öffnete jede Tür und leuchtete mit einer Taschenlampe unter das Bett.

Cuilan stand verwirrt daneben. Dann zupfte sie plötzlich jemand am Saum. Sie sah sich um. Ein schneeweißer Arm ragte aus dem Schrank hinter ihr. Da steckten sie also! Ein Mann und eine Frau, eng umschlungen und in knapper Unterwäsche, die Frau oben, der Mann unten. Jin Zhu trat hinzu und beide starrten sie auf das Paar.

»Was soll ich nur machen?« Long Sixiang klang weinerlich. »Du hast dir wirklich den Teufel vom Hals geschafft, Jin Zhu. Hätte ich nur von Anfang an …«

»Was redest du vom Anfang, du dumme Kuh! Du kannst dich jetzt nicht mehr davonstehlen. Warum können wir es uns nicht einfach gut gehen lassen?« Nachdem sie sich etwas beruhigt hatte, sprach Jin Zhu sanft weiter: »Hast du schon alles vergessen, was wir miteinander vorhatten, Sixiang? Du musst dafür kämpfen. Lass dich nicht gehen und nimm dir unsere Freundin hier zum Vorbild. Das ist eine starke Frau! Ihr Liebster ist im Gefängnis, aber sie lässt sich nicht hängen. Du solltest dich schämen, so zu reden, während du auf Lao Yong liegst. Lao Yong, was ist mit dir? Hörst du zu?«

»Ich höre zu«, antwortete der Mann leise. »Sie ist eben doch ein kostbarer Schatz.«

Jin Zhu schob Cuilan vor sich her zur Treppe und wenige Augenblicke später waren sie wieder unten.

Sie standen im Schein des riesigen Monds.

»Warum ist mein Herz bloß so leer?«, fragte Jin Zhu mit einer Stimme wie Watte.

»Weil du auch in Lao Yong verliebt bist«, antwortete Cuilan.

»Vielleicht. Lass uns in die Stadt zurückkehren.«

Cuilan und Jin Zhu bestritten den Rückweg zu Fuß. Es war schon heller Tag, als Jin Zhu sich am Straßenrand von Cuilan mit den Worten verabschiedete, sie gehe jetzt zurück zum Wellnesshotel. Cuilan sah ihr nach und fand, dass Jin Zhu erstaunlich lebendig wirkte, gar nicht wie jemand, der die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, und schon gar nicht wie jemand, der krank ist. Kaum war Jin Zhu weg, bemerkte Cuilan Herrn You, der seinen Kopf aus einem McDonald’s-Restaurant herausstreckte. Sie winkte ihm zu und er kam zu ihr.

»Was machen Sie denn hier?«, fragte sie ihn lächelnd.

»Ich warte auf Sie, Frau Niu. Hat dieser Kandidat jetzt eine Chance bei Ihnen?«

»Warum halten Sie sich nicht an Jin Zhu?«

»Die ist mit solchem Eifer hinter einem anderen her, da ist kein Platz für mich.«

Er war derselbe geschniegelte Dandy wie immer. Selbst seine Fingernägel waren rundgefeilt wie bei einer Frau. Er lud Cuilan in das Café auf der anderen Straßenseite ein.

Kaffee trank sie zwar nicht, aber sie war so ausgehungert, dass sie zwei Sandwiches mit Ei hintereinander verschlang. Ihr fiel auf, wie nervös und unaufmerksam Herr You war. Ob er auf eine andere Frau wartete?

Cuilan erhob sich. »Wenn Sie mir nichts Wichtiges zu sagen haben, gehe ich besser.«

»Nein, bitte nicht!«, sagte Herr You hastig und bedeutete ihr, sich wieder zu setzen. »Bitte erzählen Sie mir, wie es gerade um Wei Bo steht.«

»Oje, reden wir nicht davon, es ist katastrophal! Ich verstehe einfach nicht, wie man ihn dort einsperren konnte. Noch erschreckender ist, dass dieser Ort gar nicht real wirkt, als wäre es . als wäre er reine Illusion! Wei Bo ist bestimmt schon völlig zermürbt.«

Cuilan erblasste. Alles verschwamm vor ihren Augen und sie fühlte sich, als würde sie ertrinken. Herrn Yous besorgtes Rufen drang zu ihr durch. »Cuilan! Was ist mit Ihnen .?«

Sie sank nach vorn auf den Tisch. Kurz darauf kam sie wieder zu sich.

»Es ist nichts«, sagte sie schwach.

Herr You redete ihr freundlich zu. »Trinken Sie einen Schluck Tee.«

Als sie ihn von hinten beim Teeeinschenken betrachtete, erinnerte er sie an die Plattfische im Thermalbecken. Es gab in der Stadt nur wenige Männer, die so zurückhaltend waren.

Nach dem Tee bot er an, sie nach Hause zu begleiten, und Cuilan dachte, er wollte mit ihr schlafen. Doch das hatte er gar nicht im Sinn. Er saß nur am Tisch und starrte sie an.

»Ich will schon seit längerem einmal bei Ihnen vorbeikommen, aber Sie sind einfach zu unnahbar«, sagte er mit einem Lächeln, das doch keines war. »Wir haben in unserer Antiquitätenhandlung eine Lieferung mit Seladonkeramikvasen erhalten. Ich habe Angst davor, die Nacht über dem Laden zu verbringen.«

Cuilan musste lachen.

Er errötete. »Da gibt es nichts zu lachen. Sie können mir glauben – bei unserem Geschäft haben wir es mit Geistern zu tun. Unsereins hat nicht lange zu leben. Es ist zum Verzweifeln. Wissen Sie … Dass ich bis heute nicht geheiratet habe liegt daran, dass mir ständig die Angst vor dem Tod im Nacken sitzt.«

»Warum so pessimistisch? Sie scheinen doch kerngesund zu sein.«

»Das sieht nur so aus. Ich habe zu lange im Untergrund gelebt und das Leben an der Oberfläche nur wie durch eine Glasscheibe beobachtet, ohne es zu verstehen. Aber noch habe ich nicht aufgegeben. Ich bin der Typ Mensch, der nie bekommt, was er möchte – wie die Schlange, die den Elefanten verschluckt hat. Nachts durchwandere ich leere und verlassene antike Städte, was mich meine ganze Energie kostet. Aber reden wir nicht von mir. Reden wir lieber von Wei Bo. Steht es schlimm um ihn? Haben Sie seine Situation vielleicht falsch verstanden? Ich habe so einiges darüber gehört, was für ein Typ Mensch Wei Bo ist, und ich glaube nicht, dass er sich in eine missliche Lage bringen würde.«

»Ah, es freut mich, dass Sie das sagen.«

»Ich bin zu Ihnen gekommen, um Sie glücklich zu machen. Sie waren das Idol meiner Jugend. Wei Bos Situation ist ganz normal. Natürlich lassen die ihn nicht so einfach gehen. Warum haben Sie nicht die Gelegenheit beim Schopf gepackt?«

»Wie bitte?«, schrie Cuilan auf. Sie dachte, er redete davon, dass sie im Untersuchungsgefängnis nicht mit Wei Bo geschlafen hatte.

»Ich wollte sagen, dass Sie bei jemandem wie ihm tiefer graben müssen, herausfinden, was er wirklich treibt, um aktiv handeln zu können.«

»Wie kommt es, wenn ich fragen darf, dass Sie so an Frauen interessiert sind, Herr You? Halten Sie uns für eine besondere Spezies?«

»Haha, gut geraten! Genau das denke ich. Frauen sind ein Buch mit sieben Siegeln. Nehmen Sie Long Sixiang. Ich kenne sie seit vielen Jahren und trotzdem weiß ich nie, was sie im Schilde führt. Das fasziniert mich. Damals glühten ihre Augen. Ich habe sie oft an der Baumwollfabrik abgeholt. Von körperlichen Bedürfnissen konnte damals nicht die Rede sein, uns genügte, zusammen zu essen, um uns einander nah zu fühlen.«

Herr You war bereits aufgestanden und schickte sich an zu gehen, aber Cuilan hätte gern noch mehr über sein Verhältnis zu Long Sixiang gehört. »Wie schade, dass Sie beide sich jetzt nicht mehr verstehen.«

»Was ist daran schade? Ich sagte doch bereits, dass ich jeden Augenblick sterben könnte.«

Er schwamm nach draußen, als wäre er einer der Fische im Thermalbad.

Erst zurück in ihrer eigenen Wohnung hatte Cuilan das Gefühl, endlich wieder zu Hause zu sein. Wie lange war sie fortgewesen? Einen Tag und eine Nacht. Sie konnte nicht sagen, warum, aber die ganze gestrige Verzweiflung war mit einem Mal wie weggeblasen, eine völlig neue Gefühlswelt offenbarte sich ihr. Sie wusste noch nicht, ob sie es wagen sollte, tiefer in diese Welt einzutauchen. Nur eins war sicher: Sie konnte unmöglich zu ihrem alten, unbeschwerten Leben zurückkehren. Wie naiv von ihr, zu denken, dass dieser Herr You sie hatte ausnutzen wollen. Doch was waren das für Menschen, er, Long Sixiang und Jin Zhu? Und vor allem: Was war Wei Bo für ein Mensch? Was lief wirklich zwischen ihm und diesem Fräulein Si von der Baumwollfabrik? Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz schummrig. Wahrscheinlich war das eine Welt, die sie niemals wirklich begreifen würde. Aber warum zerbrach sie sich auch den Kopf über Dinge, die wenig mit ihr zu tun hatten? Sie biss die Zähne zusammen und nahm sich vor, sich von jetzt an nur noch um das zu kümmern, was ihr selbst auf der Seele brannte.

Cuilan glitt hinüber in eine Traumwelt. Alles in diesem Traum rührte sie, ohne besonderen Grund, die graue Straße, die zu beiden Seiten gelegenen grauen Wohnblöcke, graue Passanten, graue Bäume auf den Gehwegen, ein Schwarm grauer Tauben am Himmel, ein grauer Kombi, aus dem ein Mädchen den Oberkörper reckte, auf dem Kopf einen grauen Sonnenhut … Cuilan erreichte die Straße, die hinunter zum Flussufer führte, als Wei Bo auf sie zu kam und fragte, ob sie ihn zur Seifenfabrik begleiten wolle. Sie nickte eifrig, in bester Laune. Wei Bo zeigte auf den Fluss und sagte, die Seifenfabrik liege darunter, jeden Tag tauche er ab ins Wasser, um zur Arbeit zu gehen. Cuilan fand das sehr komisch und musste laut lachen, bis ihr Lachen sie aus dem Schlaf riss, gerade als sie sagte: »Du bist wirklich der geborene Schauspieler!«

Sie sah auf die Uhr an der Wand. Es war Mitternacht. Draußen lärmte eine Handvoll Menschen, im Chor riefen sie: »Das rote Segelschiff! Das Geschäft boomt!« In der Nachbarschaft gab es ein Aufreißercafé namens Das rote Segelschiff. Sie war ein- oder zweimal dort gewesen, fand das Lokal aber wegen der vielen tätowierten Kerle, die dort verkehrten, irgendwie zwielichtig. Sie ging zum Fenster, doch die Straße schien leer. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie eine Gestalt neben dem Postkasten. Geduldig wartete sie ab. Der Lärm legte sich. Dann hielt die Gestalt plötzlich einen kleinen, rechteckigen Kasten hoch, einen Kassettenrekorder? Dort kam jedenfalls der Lärm her. Der Kerl war auf beiden Armen tätowiert und ein Baum von einem Mann. Verängstigt zog sich Cuilan wieder in ihr Bett zurück. Sie wollte ihren Traum weiterträumen, aber sie war schon zu sehr herausgerissen worden. Sie schloss die Augen. Der Lärm vor dem Fenster ging weiter und rief die seltsamsten Vorstellungen in ihr wach. Gleich nach Sonnenaufgang würde sie in das Café gehen und nachsehen, was dort vor sich ging. Sie erinnerte sich an das Bild eines Schiffs mit roten Segeln, das eine ganze Wand einnahm.

Sosehr sie auch versuchte, sich zusammenzureißen – immer wieder unterliefen ihr auf der Arbeit kleine Fehler. Und das gleich an mehreren Tagen hintereinander. Die Abteilungsleiterin hatte sie um ein Gespräch gebeten. Nervös saß sie in deren Büro und überlegte, ob sie sich als Dienstleisterin im Wellnesshotel verdingen sollte, falls ihr gleich eröffnet würde, dass sie künftig »ohne Gehaltsfortzahlung angestellt« sei. Sie wusste, dass das Wellnesshotel Personal suchte.

Die Abteilungsleiterin kam herein, ohne einen Anflug von Vorwurf im Gesicht, ganz im Gegenteil, sie plauderte einfach über dies und das. Cuilan blieb angespannt, sie spürte, dass hinter den Worten der attraktiven Mittvierzigerin eine Falle lauerte.

»Als ich jünger war, habe ich auch als Lagerverwalterin gearbeitet und es genauso wenig gemocht wie du. So ein öder Job! Ich kann wirklich gut verstehen, was dich umtreibt.«

»Wie werde ich gemaßregelt?«

»Gemaßregelt?« Die Augen der Abteilungsleiterin weiteten sich zu Bronzeglocken. »Das ist ein Missverständnis, Cuilan, du hast unser volles Mitgefühl. Wie kämen wir darauf, dich zu maßregeln?«

»Aber ich mache ständig Fehler und sollte dafür zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Wer macht keine Fehler, vor allem, wenn man noch jung ist? Ich weiß, dass es Männer gibt, die dir schlecht gesinnt sind, die dich am Boden sehen wollen, Cuilan, aber nicht mit mir! Geh zurück und halte den Kopf schön oben, lass dich von nichts herunterziehen.«

Die Abteilungsleiterin massierte ihr mit feisten Händen die Schultern. Eine gewisse Erotik lag in dieser Geste. Cuilan sah sie erstaunt an.

Die Frau ließ sofort von ihr ab. »Ich werde keinen Eintrag machen«, sagte sie betont ungerührt.

Cuilan verließ die Fabrik und nahm den Bus nach Hause. Die ganze Fahrt lang gingen ihr die Worte ihrer Vorgesetzten durch den Kopf und sie fragte sich, ob ihr etwas Unvorhergesehenes bevorstand. Der Gedanke beunruhigte sie, erregte sie, verlockte sie. Schließlich hatte sie ohnehin keine Lust mehr auf ihre Arbeit in der Messinstrumentefabrik, sie hatte auf einmal eine regelrechte Aversion gegen die immergleichen Gesichter ihrer Kollegen entwickelt.

Am selben Abend erhielt sie einen Anruf von der Abteilungsleiterin, die ihr anbot, zwei Wochen frei zu nehmen, bei voller Lohnfortzahlung. Cuilan traute ihren Ohren nicht und fragte dreimal nach, um sich zu versichern, dass sie richtig verstanden hatte. Dennoch schien die Sache ihr nicht geheuer.

»Ich will dir ein Geheimnis verraten, Cuilan. Der Mann vom Antiquitätenladen ist mein Wohltäter. Ich weiß, dass du nichts für ihn übrighast, aber er liebt dich trotzdem.« Ihre Stimme klang seltsam.

»Der liebt mich bestimmt nicht!«

»Wie bitte? Das soll wohl ein Witz sein.«

Die Abteilungsleiterin wirkte verärgert, als sie auflegte. Wortlos starrte Cuilan auf das Porträt ihrer Lieblingsschauspielerin an der Wand. Sie begriff nicht, was hier vor sich ging. Alles war wie auf den Kopf gestellt. Herr You hatte dafür gesorgt, dass sie zwei Wochen bezahlten Urlaub nehmen durfte, und ihre Vorgesetzte dachte, dass er etwas für Cuilan empfand. Und da er der Wohltäter der Abteilungsleiterin war, hatte sie ihr freigegeben, anstatt sie zu maßregeln. Was hatte das zu bedeuten? Die Welt schien wirklich auf dem Kopf zu stehen.

Da Cuilan nun einmal zwei Wochen frei hatte, dachte sie, dass sie Wei Bo besuchen gehen sollte; er war schließlich der einzige Mensch, der ihr etwas bedeutete. Allein der Gedanke daran, wie unangenehm der letzte Besuch verlaufen war, ließ sie jedoch zögern. Zwar glaubte sie, Wei Bo zu lieben, doch sein Benehmen war ihr unangenehm. Die Untersuchungshaft hatte ihn anscheinend zu einem anderen Menschen gemacht, obszön und grob wie ein Tier. Wenn jemanden zu lieben hieß, ihn bedingungslos zu akzeptieren, bedeutete das dann tatsächlich, ein solches Tier lieben zu müssen? Früher hätte sie sich schon beim Gedanken daran selbst verachtet. Fräulein Si von der Baumwollfabrik kam ihr wieder in den Sinn. War Wei Bo auch zu ihr so gewesen?

Jemand klopfte an der Tür.

Es war ihr Exfreund Xiao He. »Ich will dich nicht stören, aber ich muss dir etwas sagen.« Er lächelte beschwichtigend. »Wei Bo wird in das Untersuchungsgefängnis am Berg Lishan verlegt. Er ist schon unterwegs, ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Wei Bo machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Ruf an und überzeuge dich selbst, die Nummer ist zwei zwei acht eins fünf drei.«

Cuilan bat ihn herein. Sie war sich nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte.

Umstandslos ließ Xiao He sich auf einen Stuhl fallen. Cuilan wusste, dass er den Bemitleidenswerten mimte, und blieb unbeeindruckt.

»Der Lishan ist kalt und verlassen. Dort heulen die Wölfe, so wild ist es.«

»Ich habe das Geld bekommen, das du geschickt hattest. Zwanzigtausend Yuan.«

»Das freut mich. So, ich muss wieder los. Schreib dir die Telefonnummer auf, zwei zwei acht eins fünf drei.«

»Du solltest dir nicht den Kopf mit einem Haufen Zahlen zukleistern, das bekommt dir nicht. Ist das derselbe Lishan, an dem wir einmal zusammen waren?«

»Ganz genau.«

Er ging und hinterließ einen Hauch von Wildnis.

Es war schon einige Jahre her, dass Cuilan und Xiao He sich zusammen in der Stadt herumgetrieben hatten, auf den Märkten, in Imbissbuden und Cafés oder mit Freunden zum Essen in kleinen Restaurants. Damals war Cuilan viel unbeschwerter gewesen, nicht so sorgenvoll wie heute. Ihre Beziehung zu Xiao He hatte ein Jahr lang gehalten, und im Spätherbst jenes Jahres waren sie mit dem Bus zum Lishan gefahren.

Der Lishan war weitgehend baumlos, ein Berg voller Felsen und Geröll. Sie hatten am Fuß des Bergs gestanden und nach oben gesehen, wo der Gipfel im Wolkendunst verschwand. Xiao He hatte gesagt, dass es dort Wölfe gebe, weshalb sie um den Berg herumwanderten, beide zu ängstlich, um sich hinauf zu wagen. Seltsamerweise lagen am Fuß des Lishan weder Dörfer noch Bauernhöfe. Jetzt schien der Berg plötzlich aus dem Nichts vor dem Besucher aufzuragen. Westlich befand sich ein Streifen Brachland.

Sie gingen schweigend nebeneinander, ihre Gedanken waren leer. Cuilan gefiel der mäandernde Pfad, dem sie folgten. Sie fragte sich, wer ihn wohl ausgetreten hatte in seiner kontinuierlichen Gleichmäßigkeit, einmal rings um den Berg, weder besonders lang noch besonders kurz.

Ein kühler Wind blies ihnen ins Gesicht, bald würde die Sonne untergehen. Hand in Hand machten sie sich auf den Rückweg. Immer wieder drehte sich Cuilan nach dem Berg um, aber sein Gipfel blieb stets in den Wolken verborgen. »Wie kommt es, dass es hier einen Pfad gibt?«, fragte sie schließlich Xiao He.

»Das habe ich mich auch gefragt. Es muss vor uns schon viele hierher gezogen haben. Während unseres Spaziergangs hatte ich die ganze Zeit über das Gefühl, am Mittelpunkt der Welt zu sein. Meine Arbeit als Verkehrspolizist und das alles kommt mir jetzt so verdammt lächerlich vor.«

Danach war Cuilan nie wieder zum Lishan zurückgekehrt und hatte den Ort bald ganz vergessen.

Xiao He dagegen hatte den Ausflug im Gedächtnis bewahrt.

Jetzt überkam sie der starke Wunsch, mit jemandem über den Lishan zu reden. Sollte sie die Nummer anrufen? Vielleicht wollte Xiao He sie täuschen. Dieser Polizist mit seinen verschlagenen Winkelzügen war für Cuilan schon immer schwer durchschaubar gewesen. Genau das hatte sie angezogen. Wenn sie darüber nachdachte, musste sie feststellen: Jeder seiner Vorschläge war alles in allem eine gute Wahl gewesen.

»Hallo, ist dort das Untersuchungsgefängnis Nummer drei?«

»Wieso rufen Sie hier mitten in der Nacht an? Sie sprechen mit dem diensthabenden Wachmann. Was gibt es?«

»Sitzt Herr Wei Siqiang bei Ihnen in Haft?«

»Wir haben hier jemanden dieses Namens, ja. Was wollen Sie von ihm? Ach, Sie sind Cuilan, richtig?«

»Woher wissen Sie, wie ich heiße?«

»Da bin ich nicht der Einzige. Jeder hier kennt Sie! Wei Siqiang hat ein Lied für Sie geschrieben und singt es ständig, so laut er kann. Wir mussten ihn deshalb wiederholt abstrafen.« Der Mann klang jetzt sehr vergnügt.

Cuilan legte auf, das Gesicht flammendrot. Völlig verwirrt lief sie im Zimmer auf und ab. Vor lauter Wut knirschte sie mit den Zähnen. Schon als Kind hatte sie es gehasst, im Mittelpunkt zu stehen, und jetzt machte sie Schlagzeilen. Ihretwegen konnte jeder über sie denken, was er wollte, aber sie wollte ganz bestimmt nicht berüchtigt sein.

Da sie nicht schlafen konnte und morgen ohnehin nicht zur Arbeit musste, ging sie hinaus, spazieren.

Die nächtliche Stadt war wie tot. Das spärliche Licht der Straßenlaternen ließ vieles im Dunkeln. Plötzlich sah sie, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte, und hörte, wie das Etwas ein Huhuhu ausstieß. Es klang wehklagend, aber dennoch irgendwie besänftigend. Das Geräusch erinnerte sie daran, wie sie mit Jin Zhu in der Mandarinenten-Suite geplaudert hatte. Was für ein Mensch war diese Jin Zhu eigentlich? Sie schien vom Leben ganz andere Dinge zu erwarten als Cuilan. Nur was? Die beiden Frauen, die ihrer Arbeit in der Baumwollfabrik entflohen waren, haben anscheinend schon viele Erfahrungen gemacht. Obwohl Cuilan sie still bewunderte, wusste sie, dass sie nie so sein würde wie diese Frauen. Was für ein Mensch war sie selbst eigentlich? »Nenn es, wie du willst!«, sagte sie laut vor sich hin.

Da rief jemand aus den Schatten unter den Hochhäusern nach ihr. »He, Schwester!« Ein hochgewachsener, bulliger Kerl trat aus dem Dunkel heraus.

»Wer sind Sie?«

»Ich bin der, mit dem du eben telefoniert hast.« »Wie? Sie sind gar nicht am Lishan? Macht ihr Kerle euch über mich lustig?«

Wütend funkelte sie ihn an. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

»Wei Bo ist dort. Ich nicht, ich habe heute frei. Ich bin ein guter Freund von Xiao He. Wir haben über dich und Wei Bo geredet und er hat gesagt, ich soll dir helfen.«

»Fahr zur Hölle!«

Sie bereute es, mitten in der Nacht ausgegangen zu sein. Schnell drehte sie sich um und ging zurück.

»Nun sei nicht wütend. Ich heiße Yuan Hei. Ich bin ein Wachmann im Untersuchungsgefängnis Nummer drei. Alles, was ich über Wei Bo gesagt habe, ist wahr, ich bin kein Lügner.«

Er ging ihr einfach nach.

Zu Hause angekommen, stieg Cuilan die Treppe zum ersten Stock hinauf. Er blieb ihr weiter auf den Fersen.

»Gut, komm herein!« Sie hielt die Tür auf.

Er zögerte und schien nun doch etwas beschämt. »Wirklich?«

Cuilan wollte ihm gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, als er sich im letzten Augenblick doch noch in die Wohnung zwängte.

Er blieb mit verschränkten Händen mitten im Raum stehen. Tatsächlich wirkte er ziemlich harmlos. Cuilan fragte sich, was er von ihr wollte.

»Also, ich heiße Yuan Hei.«

»Das hast du bereits gesagt.«

»Wei Bo hat mir erzählt, dass dir der Ort nicht gefallen hat, den das Untersuchungsgefängnis für euer Stelldichein hergerichtet hatte. Die Leitung ist bereits informiert und wird in Zukunft für bessere Bedingungen sorgen.«

»Wird Wei Bo denn noch lange dortbleiben?«

»Keine Ahnung, aber du solltest dich darauf einstellen.«

»Will er selbst gar nicht mehr heraus?«

»Das habe ich ihn nicht gefragt. Frag ihn beim nächsten Mal am besten selbst.« Er wechselte das Thema. »Hör mal, Cuilan, Xiao He kannst du vertrauen. Typen von seinem Schlag werden immer seltener.«

»Was soll das heißen? Soll ich wieder seine Freundin werden? Bist du nicht hier, um mich wieder mit Wei Bo zusammenzubringen? Ich verstehe gar nichts mehr.«

»Nein, so war das nicht gemeint!« Er war sichtlich nervös. Im Schein der Lampe sah sie, wie er ganz rot wurde. »Ich wollte sagen, dass Xiao He ein außergewöhnlicher Kerl ist, ich wäre gern wie er. Was meinst du, ob ich das schaffe?«

»Was weiß ich. Ich bin völlig verwirrt.«

»Ich muss zurück. Gute Nacht!«

Noch lange, nachdem sie das Licht gelöscht hatte, ging Cuilan die Geschichte im Kopf herum. Wann hatte sie sich von Xiao He getrennt? Sie konnte sich nicht erinnern. Im Grunde waren sie immer in Kontakt geblieben, auch wenn sie nicht mehr miteinander schliefen. Meistens hatte er sich ein- oder zweimal im Jahr bei ihr gemeldet. Für sie war das in Ordnung, er war witzig und machte sie immer neugierig darauf, was er zu erzählen hatte. Oft stellte sie sich Xiao He als Spinne vor, die immerzu neue Netze aus sinnlosen Fäden wob. Vorhin war sie, kaum war er weg, sogar den Flur abgelaufen und hatte mit der Hand in der Luft nach möglichen Spinnweben gefischt. Anfangs war sie davon ausgegangen, dass Xiao He eifersüchtig auf Wei Bo sein müsste, aber so war es nicht, das war ihr jetzt klar. Was bedeutete, dass er nicht mehr in sie verliebt war, obwohl er sich weiter sehr für sie interessierte. Nur warum?

Vor Tagesanbruch sieht man die Dinge klarer. Cuilan rief sich den engen, gewundenen Pfad um den Lishan vor Augen, als ihr etwas einfiel, das sie ganz vergessen hatte: Die Luchse, die ständig oben zwischen den Felsen aufgetaucht und wieder verschwunden waren … und der Geruch nach Essen und Lagerfeuern, der in ihre Nase gedrungen war. Der Berg lebte also. Sie selbst hatte ihn gern hinaufsteigen wollen, aber Xiao He war dagegen gewesen: »Es gibt bestimmte Phänomene, die begreift man niemals, auch wenn man sie zwei- oder dreimal gesehen hat.« Er hatte sie gedrängt, bald wieder nach Hause zu fahren, und sie hatte nachgegeben. Ach, Xiao He, du durchtriebener alter Besserwisser. Der Gedanke daran ließ sie nicht mehr los. Dann bemerkte sie, wie es draußen allmählich hell wurde.

Im Sonnenlicht sank sie in einen tiefen Schlaf.

Am Fuß des Wohnhauses hockte ein junger Mann in einem Wunderblumenbusch und rauchte. Es war Yuan Hei vom Untersuchungsgefängnis. Der Liebe wegen hatte er schon so viel durchgemacht, dass er sich schon einmal umbringen wollte. Er war der erste von Fräulein Sis Liebhabern gewesen und bald von ihr verlassen worden. Mittlerweile hatte er sich in eine dreiundvierzigjährige Gefängniswärterin verliebt, die auch bald mit ihm brechen würde.

Xiao He hatte die ganze Geschichte der vergangenen Nacht nur in Gang gebracht, um Yuan Hei zu inspirieren. Warum er ihn inspirieren wollte, konnte er selbst nicht sagen. Fehlte Yuan Hei denn irgendetwas? Sie hatten zusammen getrunken und Unsinn geredet; irgendwann hatte Xiao He sich dann wieder einmal wichtig machen wollen und dem anderen seinen Plan unterbreitet.

Cuilan schlief, in einem Netz aus Andeutungen und falschen Spuren.

Liebe im neuen Jahrtausend

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