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Berufung finden

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Einige Jahre davor. »Das wäre doch was für dich.« Meine Frau Ann-Birgit schiebt mir die Zeitung über den Frühstückstisch, deutet auf das Inserat, nimmt einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse und sieht mich erwartungsvoll an.

»Trauerredner? … Sicher nicht«, sage ich. »Ganz sicher nicht.« Es ist Winter. Unser Sohn Vitus ist wenige Monate alt. Magdalena, meine Tochter aus erster Ehe, hat ihren 15. Geburtstag vor sich. Damals bin ich schon Ende vierzig, aber immer noch von so manchen Ängsten geplagt, tief in mir drin viel unsicherer, als ich das nach außen scheinen lassen will. Das Leben eines durchschnittlichen Schauspielers hat wenig mit Glamour zu tun. Die Schauspieler, die gut von ihrer Arbeit leben können, sind jene wenigen, die das Publikum namentlich kennt. Für die allermeisten von uns ist dieser Beruf ein ständiges Auf und Ab in einer Zirkuskuppel ohne Netz, nicht nur in finanzieller Hinsicht. Mal gibt es eine Vielzahl an Drehtagen, Projekte überschneiden sich, sodass man nicht weiß, wo einem der Kopf steht. Dann wieder wochen- oder monatelang nichts, kein Job, als ob die Welt einen vergessen hätte. Dieses Dasein nährte über Jahrzehnte meine Angst, nicht gut genug zu sein. Als Schauspieler, als Ehemann, Vater und überhaupt. Angst vor dem Leben. Angst vor dem Tod. Und Angst vor dem nächsten Banktermin.

Ich bin in einem kleinen Dorf in Oberösterreich aufgewachsen. Meine Kinder- und Jugendzeit war nicht ungetrübt. Nach einer glänzenden Karriere als Schulversager habe ich 1979 eine Koch- und Kellnerlehre im damaligen »Theater Restaurant Casino« (heute »Promenadenhof«) in Linz begonnen. Dort habe ich die Schauspieler des Landestheaters zuerst als Gäste erlebt. Mit 17 habe ich erstmals eine Vorstellung im Theater gesehen. Da hat mich das Theaterfieber befallen. Dementsprechend habe ich den Großteil meiner freien Abende am Stehplatz verbracht.

Als die Lehrzeit zu Ende ging, war klar: Ich will Schauspieler werden. Ich wollte Schauspieler sein, mit allem was dazugehört. Was wirklich alles dazugehört, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt, mit Anfang zwanzig, natürlich noch nicht. Ich wusste nicht um die finanzielle Ungewissheit, um die dicke Haut, die ich mir noch würde zulegen müssen, die trotzdem manchmal Risse bekommen sollte. Aber selbst wenn mir all das damals so klar gewesen wäre: Ich hätte mich immer wieder so entschieden, das weiß ich.

Nun aber, nach mehr als dreißig Jahren Berufserfahrung als Schauspieler, in denen ich neben Erfolgen auch schlimme Phasen der Existenzangst erlebt habe, bin ich ein nicht mehr ganz junger Jungvater. Ich weiß, dass ich etwas tun muss, das mehr Stabilität bringt, etwas Fixes. Einige Tage zuvor habe ich mich im Schweizerhaus – dem schönsten Biergarten Wiens – als Kellner beworben. Dazu inspiriert hat mich der ehemalige Bürgermeister Helmut Zilk, der einmal meinte, dass die Wiener Philharmoniker und die Schweizerhaus-Kellner einiges gemeinsam hätten. Beide seien sie Botschafter Wiens und sie verdienten auch etwa gleich viel. Beides reizt mich, den Job kann ich mir vorstellen. Hingegen täglich auf den Friedhof gehen? Täglich trauernde Menschen um mich haben? Mich täglich mit dem Tod befassen, wo das Leben doch so schön ist?

»Ganz sicher nicht!« wiederhole ich und sehe Ann-Birgit fest in die Augen. Die überhört gekonnt meinen Einwand und liest mir die Stellenanzeige einer gewissen Agentur Stockmeier vor: Ich betreue eine Gruppe von zehn Trauerrednern, die auf Honorarbasis für Bestattungsinstitute in Wien, Niederösterreich und dem Burgenland Reden bei Begräbnissen halten und nun Verstärkung suchen. Unsere Rednerinnen und Redner sind traditionell bei Trauerfeiern tätig, wenn die Verstorbenen nicht konfessionell gebunden waren. Eine schöne und interessante Aufgabe, bietet sie doch die Möglichkeit, Menschenleben kennenzulernen, sie zu kommentieren und das lebendig zu erhalten, was an einem Dasein wertvoll war.

Gelangweilt täusche ich vor zuzuhören. Aber es bleibt bei meinem Nein.

Zwei Tage später, es ist ein Mittwochnachmittag, sitzen wir wieder am Esstisch beisammen und sichten die Stellenanzeigen, als mein Handy klingelt. Mein Neffe Florian aus Oberösterreich ruft an. Ich hebe ab, höre, was er zu sagen hat, lege auf und schaue in die Leere, die mich in diesem Moment innerlich erfüllt. Als Antwort auf Ann-Birgits fragenden Blick bringe ich nur einen kurzen Satz heraus: »Mein Vater ist tot.«

Es ist tatsächlich, wie manche es beschreiben: Wenn uns eine solche Nachricht ereilt, verschwinden Zeit und Raum für einen kurzen Moment. Mein Vater war im neunzigsten Lebensjahr. Seit Jahren habe ich mich immer wieder gefragt, wie es sein würde, wenn er einmal stirbt. Jetzt ist es passiert.

Ann-Birgit rückt ihren Sessel heran und nimmt mich in den Arm. Schweigend sitzen wir da.

Vor zwei Tagen noch habe ich mit ihm telefoniert. Er war alt, aber nicht krank. Sein Tod kommt plötzlich und überraschend. Er war als Trauergast am Begräbnis einer Jugendfreundin, hat sich beim Leichenschmaus am letzten Bissen verschluckt und ist in den Armen meiner Schwester erstickt.

Im Grunde war er ein sehr weicher Mensch. Was ich besonders an ihm geliebt habe und bis heute liebe, ist seine Großzügigkeit. Er hat mir, als ich schon erwachsen war, mehr als einmal in Notsituationen beigestanden, auch finanziell, obwohl er nicht vermögend war. Mit 19 habe ich einmal nachts heimlich sein Auto »ausgeborgt« und zu Schrott gefahren. Als er das auf dem Dach liegende Wrack gesehen hat, dem ich wie durch ein Wunder fast unverletzt entstiegen bin, hat er mich umarmt und Freudentränen geweint. Der materielle Schaden war ihm egal. Sein Credo war: Keine Bitte bleibt ohne Antwort, kein Spenden-Erlagschein landet im Papierkorb. Er hat viel für soziale Zwecke gespendet. Er hat aber auch ganz konkret in seinem Umfeld geholfen, wenn Menschen in Not waren. Eines Tages stand der Bauernhof eines Freundes in Brand. Ich sehe ihn heute noch, wie er unter Einsatz seiner Gesundheit versucht hat zu retten, was zu retten war. Zu Weihnachten hat er jedes Jahr einen besonderen Fall recherchiert, eine Familie, die einen Schicksalsschlag erleiden musste, und hat diskret und anonym Christkind gespielt. Ganze Kartons voller Lebensmittel und Kleidung hat er vor die Tür gestellt, geklingelt und ist davon. Als ich schon Schauspieler war, war ich selten bei ihm zu Besuch. Wenn er mich am Ende zum Zug nach Zürich oder München gebracht hat, hat er meistens aus Abschiedsschmerz geweint. Auch wenn er in seiner Welt geblieben ist und ich mir meine eigene gebaut habe, so haben wir uns im Erwachsenenalter doch gefunden und viele schöne, tiefgehende Gespräche miteinander geführt.

Trotzdem fühle ich angesichts solcher Erinnerungen nichts. Keine Trauer. Allenfalls einen kleinen Schock. In den Tagen bis zu seinem Begräbnis kommt alles wieder hoch, mit einer Wucht, die ich nicht aufhalten kann.

1968. Ich bin fünf Jahre alt und stehe im oberen Treppenhaus des elterlichen Gasthofes vor einem alten Bauernkasten. Es ist der Waffenschrank meines Vaters, unversperrt. Ich öffne die Kastentür und entdecke neben den Jagdgewehren unter allerlei Krimskrams einen alten Geigenkasten. Neugierig klappe ich ihn auf, nehme die Geige in die Hände, zupfe an den Saiten und entdecke weiter hinten im Schrank ein großes Jagdmesser. Es ist märchenhaft scharf. Dieser Bubentraum schreit nach etwas zum Schnitzen. Das nächstgelegene Holzteil ist die alte Geige. Also vollführe ich oberflächliche Schnitzarbeiten am Instrument, zerschneide auch die Rosshaare des Bogens, einfach, weil die Klinge so scharf ist, dass allein das Gewicht des Messers ohne den geringsten Druck das Rosshaar teilt. Was für eine Klinge! Da kommt mein Vater die Treppen herauf und ertappt mich in flagranti. Er sieht die zerstörte Geige, bekommt einen Tobsuchtsanfall, reißt mich hoch, zieht mir die Hose aus und drischt auf meinen nackten Kinderarsch ein. Es dauert ewig. Ich schreie. Ich flehe, er möge aufhören. Er drischt und drischt. Als er fertig ist, sagt er: »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn.« Es sei zu meinem Besten und tue ihm viel mehr weh als mir.

Am nächsten Tag im Kindergarten beim Umziehen zum Turnen in der Garderobe machen mich andere Kinder auf die Blutergüsse an Hintern und Rücken aufmerksam. Ich blicke hinter mich in den Spiegel und kann sie sehen.

Es sind meine ersten Prügel. Ich bin erst seit kurzem in der Obhut meines Vaters. Die ersten drei Jahre meines Lebens habe ich bei meinen Großeltern mütterlicherseits in Haag am Hausruck verbracht. Dort gab es so etwas nicht. Ab diesem Tag begleitet mich die Liebe meines Vaters in Form seiner Gewalttätigkeit durch meine Kindheit. Es ist nicht so, dass ihm ab und zu »die Hand auskommt« oder dass er mir die eine oder andere »gesunde Ohrfeige« verpasst. Keine Ohrfeige ist gesund! Nein, das ist ein ganz bewusst und gezielt eingesetztes »pädagogisches« Mittel. Es ist immer die bloße Hand auf den nackten Hintern, ab dem Kindergartenalter.

Das ist auch die Zeit, als ich mit dem Stottern beginne. Ich kann einfach keinen geraden Satz mehr aussprechen. Manchmal bringe ich nicht mal einzelne Wörter über die Lippen, ohne mich zu verhaspeln. Je mehr ich stottere, desto mehr schweige ich, was wiederum das Stottern verstärkt, sobald ich doch einmal etwas sagen muss. In der Schule bewahrt mich vor einem radikalen Außenseiterdasein wohl nur der Umstand, dass ich der Sohn eines im Ort sehr angesehenen Mannes bin. Mein Vater ist als guter Redner bekannt. Umso mehr werde ich belächelt. Ich möge mir an ihm ein Beispiel nehmen, bekomme ich bei mehreren Gelegenheiten zu hören.

Sechs Jahre lang dauert das, was ich wohl als schlimmste Zeit meines Lebens bezeichnen kann, obwohl es immer wieder auch sehr schöne Momente gibt. Ab und zu, wenn mein Vater nach Wels zum Einkaufen muss, nimmt er mich mit und wir gehen anschließend ins Café Urbann, wo ich mir eine Mehlspeise aussuchen darf, die ich genieße, während er verstohlen in der »Praline« blättert und die Oben-ohne-Fotos ansieht.

1974 geschieht es zum letzten Mal. Ich bin etwa elf Jahre alt. Den Anlass für die Bestrafung weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich nichtsahnend von der Schule nach Hause komme und irgendeine Missetat meinerseits aufgeflogen ist. »Geh rauf in den Wäscheraum, der Papa wartet schon auf dich«, heißt es. Im Wäscheraum ist in offenen Regalen die Weißwäsche des elterlichen Gasthofes gelagert: Tischtücher, Bettzeug für die Fremdenzimmer, Papas weiße Arbeitsmäntel. Beim Gang dorthin, die Treppe hinauf, uriniere ich vor Angst in die Hose. Mein Vater hält mir eine Predigt, wie immer garniert mit dem Bibel-Zitat »Wer seinen Sohn liebt, züchtigt ihn« und dem Vorwurf, es täte ihm viel mehr weh als mir, zieht meine nasse Hose hinunter und beginnt zu schlagen, als ich plötzlich nicht mehr an mich halten kann. Ein Zeichen von Todesangst. Flüssigbreiig kommt es aus meinem Körper, Kinderscheiße, in die der Vater wuchtig hineindrischt, dass es nur so spritzt. Er, ich, die weißen Wände und die weiße Wäsche im neonlichtweißen Raum sind über und über mit Kot besprenkelt und beschmutzt.

»Pfui Teufel, du Sau!«, klingt der Kommentar des Vaters heute noch in meinen Ohren.

Danach schlägt er mich nie wieder. Das Stottern bleibt mir allerdings noch viele Jahre. Mit der Zeit geht es in eine Sprechangst über. Besonders, wenn mir etwas wichtig ist, kann ich nicht sprechen. Am Vorabend meines Einstiegs in die Schauspielerei – ich bin damals Kellner in besagtem »Theater Restaurant Casino« in Linz – bitte ich meinen Chef um einen freien Abend für die Aufnahmeprüfung an der Schauspielabteilung des Bruckner-Konservatoriums. Dabei verhasple ich mich so sehr, dass er nur lacht, mich aber gehen lässt. Ich muss es einfach probieren. Aber ernsthaft daran glauben, dass ich diese Prüfung bestehe und aufgenommen werde, kann ich selbst nicht. Als es klappt, sind Freude und Überraschung riesig. Aber trotz der dann folgenden Schauspielausbildung, die ich 1989 in Zürich abschließe, habe ich noch viele Jahre mit der Angst vorm Sprechen zu kämpfen. Zuletzt äußert sich diese Angst darin, dass ich alles, was ich zu sagen habe, schnell loswerden muss. Unzählige Male kritisieren mich meine Ausbildner deswegen. Später mehrere Regisseure. Sie alle sagen mir immer wieder: »Carl, du sprichst viel zu schnell.«

Alles das und mehr kommt hoch in diesen Tagen. Ann-Birgit kennt diese Geschichten, hört sie sich aber geduldig noch einmal an. Selten sind mir ihre Gegenwart und ihre Liebe wertvoller als in dieser Zeit.

Am Abend vor dem Begräbnis öffnen wir eine Flasche Rotwein.

»Solltest du ihm jetzt, wo er tot ist, nicht endlich verzeihen?«, fragt sie.

»Er hat mich nie darum gebeten«, antworte ich. »Wir haben nie darüber geredet. Ich kann doch nur verzeihen, wenn ich darum gebeten werde.«

»Nein«, widerspricht Ann-Birgit. »Du kannst auch ungebeten verzeihen. Erst recht jetzt, wo er keine Möglichkeit mehr hat, Reue zu zeigen oder dich um Verzeihung zu bitten. Damit nimmst du dem Bösen die Macht. Wenn du an der Verletzung festhältst, dann hältst du auch am Zorn fest.« Meine lebenskluge Frau lächelt mich an. »Am Zorn festhalten ist wie Gift trinken und warten, dass der andere daran stirbt. Frag Buddha?«

Vermutlich ist es meine katholische Prägung, die mich damals auf dem Standpunkt beharren lässt, dass – wie in der Beichte – das Verzeihen eines Unrechts nur nach vorheriger, tätiger Reue und einer Bitte um Vergebung möglich sei. Heute, nach über 2.500 Abschieden, die ich begleiten durfte, weiß ich um die Kraft des aktiven Verzeihens. Damals ist das eine neue Sichtweise für mich, die ich allerdings noch nicht als Erkenntnis annehmen und schon gar nicht emotional realisieren kann.

Als wir am Tag des Begräbnisses von Wien nach Oberösterreich aufbrechen, bin ich angespannt. Die Fahrt verläuft ohne viele Worte. Als wir eintreffen, ist die Familie bereits versammelt und es passiert, was auf vielen Begräbnissen zu beobachten ist: Auch wenn der Anlass ein trauriger ist, freut man sich, alle wieder mal zu sehen. Es wird geplaudert, gescherzt und gelacht.

Wahrscheinlich rufen wir in solchen Situationen unbewusst den Humor zu Hilfe, um der Traurigkeit etwas entgegenzusetzen. Jedenfalls fällt mir, als ich mit meinem geliebten Cousin Hubert auf der verwitterten Terrasse des längst geschlossenen Gasthofs eine letzte Zigarette rauche, bevor wir hinauf zur Kirche aufbrechen, eine Begebenheit aus meiner Jugend ein. Im Alter von 16 Jahren lebe ich seit einigen Monaten in Linz und habe gerade meine Lehre begonnen. Wie in den meisten Familien gibt es auch bei uns damals zwei große Tabus, über die nicht gesprochen wird: die Verbrechen des Nationalsozialismus und Sex. Deshalb bin ich völlig unvorbereitet, als mein Vater eines Tages auf mich zukommt und fragt: »Wieviel wichst du eigentlich so?«

Nun ja, ich bin damals 16. Eine ehrliche Antwort hätte wohl gelautet: »Zwei bis dreimal täglich.« Statt unbefangen zu antworten, werde ich rot und bringe kein Wort heraus. Bis mein Vater die Frage wiederholt: »Wieviel wiegst du eigentlich?« Mir fällt in diesem Moment ein Stein vom pubertären Herzen.

Innerlich immer noch lachend mache ich mich mit der Familie auf den Weg zum Friedhof und betrete die Aufbahrungshalle. Da liegt er also, mein toter Vater, in einem Blumenmeer. Ich habe die ganzen Tage seit der Todesnachricht keine Träne vergossen. Auch jetzt an seinem Sarg … nichts. Statt dass Gefühle in mir hochkommen, wundere ich mich nur über zwei mir unbekannte Männer, die in Uniform mit Fahnen in Händen Spalier stehen. Ich werde aufgeklärt, dass diese vom Kameradschaftsbund kämen. Unser Vater, Jahrgang 1928, war als 15-Jähriger ein Jahr lang Luftwaffenhelfer. Daher gilt er den alten Kameraden als Kriegsveteran, dem man die Ehre zu erweisen hat.

Die Blasmusik spielt Trauermärsche. Vor der Aufbahrungshalle bildet sich eine lange Schlange. Trauergäste aus nah und fern, manche mit feuchten Augen, kondolieren uns. Auch meine Neffen und Nichten weinen um ihren Opa. Der Priester kommt, spricht einen Segen und geleitet den Sarg in die Kirche. Dort gibt der Kirchenchor sein Bestes für seinen langjährigen Leiter. Irgendwann im Laufe des Requiems werden Reden gehalten. Der Pfarrer sagt, unser Vater würde bereits die Herrlichkeit Gottes schauen und verspricht uns ein Wiedersehen im Jenseits. Der empathische Bürgermeister dankt für die Verdienste um die Gemeinde und erinnert auch an unsere wenige Jahre zuvor verstorbene Mutter. Dann kommt der Bezirksobmann des Blasmusikverbandes. Mein Vater war zwanzig Jahre lang Kapellmeister. Das muss gewürdigt werden. Deshalb wohl beklagt dieser Herr zu Beginn seiner Rede kurz den »unermesslichen Verlust«, den die Blasmusikwelt erleidet, lobt dann die musikalischen Erfolge des Verstorbenen, zählt sämtliche Wertungsspiele und Auszeichnungen auf, welche die Kapelle unter der Leitung meines Vaters errungen hat, um dann hauptsächlich über die gesellschaftspolitische Bedeutung der Blasmusik im Allgemeinen und des Blasmusikverbandes im Besonderen zu schwadronieren, wobei er mit falschem Pathos und falschen Zähnen die Grenze zum Eigenlob wacker überschreitet. Kurz muss ich an das Stellenangebot der Trauerredner-Agentur denken und frage mich, ob so jemand dort wohl eine Chance hätte? Mich haben die Worte dieses Herren mehr empört, denn getröstet. Die Zeit verrinnt zäh, es sind bald zwei Stunden, bis der Sarg für den letzten Weg vorbereitet wird. Der führt noch einmal durch das ganze Dorf. Als ich dann endlich am offenen Grab stehe und meine Rose auf den Sarg hinunterwerfe, verabschiede ich mich von meinem Vater mit den Worten: »Ich danke dir für alles was gut war, und versuche dir zu verzeihen, was nicht gut war.«

Zu Lebzeiten meines Vaters habe ich es nicht geschafft, über die Misshandlungen der Kindheit mit ihm zu sprechen. Je mehr Zeit vergangen ist, je älter ich geworden bin, umso öfter habe ich mich gefragt, ob es wirklich so schlimm war, wie ich es in Erinnerung habe. Bis nach dem Begräbnis, beim Leichenschmaus, Resi auf mich zukommt. Resi ist einige Jahre älter als ich. Sie war seinerzeit, als Teenager »Mädchen für alles« im elterlichen Wirtshaus, die sprichwörtliche Perle. Sie hat in der Küche mitgearbeitet und war auch unser Kindermädchen. Ich habe sie seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen. Von weit her ist sie angereist. Sie schaut mir in die Augen und sagt: »Carl, ich bin eigentlich nur gekommen, um dich zu sehen. Ich möchte dich um Verzeihung dafür bitten, dass ich dich in deiner Kindheit nicht besser schützen konnte.«

Da gibt es kein Halten mehr. Augenblicklich breche ich in Tränen aus und kann kaum aufhören. Die anderen Trauergäste denken wahrscheinlich, es sei der Schmerz um den verstorbenen Papa, der mich so schüttelt. Nur Resi versteht mich. Aber auch sie ahnt in diesem Moment wohl kaum, welche Wohltat es für mich bedeutet, ihre Worte zu hören. Nicht durch die Entschuldigung, sondern durch die Bestätigung dafür, dass es stattgefunden hat. Endlich habe ich eine Zeugin. Ich bin nicht mehr alleine mit dieser Erfahrung.

Das Gespräch mit Resi hat das Abfallen einer Last zur Folge. Ich habe mir all das nicht eingebildet, es ist tatsächlich passiert; und zwar laut Resi viel, viel öfter als ich es in Erinnerung habe. Resi hat getan, was mir nicht möglich war: Sie hat meinen Vater ungefähr zwei Jahre vor seinem Tod auf die Gewaltexzesse meiner Kindheit angesprochen. Er hat nicht geleugnet, sondern gesagt: »Ich hoffe, der Karli hat das alles vergessen.«

Die anschließende Nacht verbringen Ann-Birgit und ich in einem Hotel am Mondsee. Wir sitzen am Balkon unseres Zimmers, vor uns der See und die mondbeschienene Drachenwand, in mir eine Freude, ein Gefühl der Erleichterung, wie ich es noch nie erlebt habe. Wir lassen den Tag noch einmal Revue passieren, machen uns über den Herrn vom Blasmusikverband und sein Paradebeispiel einer verunglückten Trauerrede lustig, sprechen über die vielen Menschen, die ehrlich um meinen Vater trauern, allen voran meine Familie, und darüber, dass ich meine Trauerarbeit wohl schon zu Lebzeiten des Vaters geleistet habe. Trauer um eine durch Gewalttätigkeit lebenslang belastete Liebe.

Bis spät in die Nacht sitzen wir am Hotelbalkon über dem Mondsee und reden. Ich zu fortgeschrittener Stunde vor allem über meinen kathartischen Moment mit Resi. Ann-Birgit vor allem über den grauenvollen Redner. Später hat sie mir gestanden, dass sie mir dieses negative Beispiel ganz bewusst vor Augen halten wollte. Sie hat nämlich den Gedanken, dass ich Trauerredner werden könnte, keineswegs aufgegeben. Im Gegenteil. Sie hat sogar ein wenig recherchiert und im Internet nach klugen oder tröstlichen Zitaten gesucht, die für eine Trauerrede brauchbar sein könnten. So lässt sie in dieses Gespräch auch die Parabel von den zwei Wölfen einfließen.

Ein alter Indianer sitzt mit seinen Enkelkindern am Lagerfeuer und erzählt ihnen folgende Geschichte:

»In jedem Menschen wohnen zwei Wölfe. In jedem von euch, auch in mir. Die zwei Wölfe kämpfen miteinander.

Der eine Wolf ist böse. Seine Waffen heißen Hass, Neid, Eifersucht, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Empathielosigkeit, Lüge, Überheblichkeit, Narzissmus, Egoismus und Missgunst.

Der andere Wolf ist gut. Seine Waffen sind Liebe, Freude, Friedfertigkeit, Hoffnung, Gelassenheit, Güte, Mitgefühl, Heiterkeit, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen und Wahrheit.

Da fragt die jüngste Enkelin: »Welcher der beiden Wölfe gewinnt den Kampf?« Der Großvater schweigt eine Weile, dann antwortet er: »Der, den du fütterst.«

Dass diese Geschichte auf meinen Vater passt, ist selbsterklärend. Ich glaube auch, dass der gute Wolf in ihm am Ende wesentlich besser genährt war. Und doch …. Ich muss wieder heulen.

Ein paar Tage später hat sie mich dann soweit. Ich bin voller Euphorie und will das weitergeben, was ich seit dem Begräbnis erlebt und empfunden habe. Also schicke ich die Bewerbung ab.

Wieder ein paar Tage später finde ich mich in den Räumen der Agentur Stockmeier wieder. Ich habe keine Ahnung, was mich erwartet. Ich weiß nur, dass ich schwanke. Trauerredner? Will ich das wirklich? Wahrscheinlich habe ich nach der Gefühlsachterbahn der letzten Tage einen emotionalen Kater. Außerdem kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, dass ich diesen Vorstellungstermin vor allem wegen Ann-Birgit wahrnehme. Jedenfalls steht die Entscheidung zwischen Pro und Contra auf des Messers Schneide.

Ein freundlich lächelnder Mann nimmt mich in Empfang, stellt sich als Hannes Benedetto Pircher vor und führt mich in das Besprechungszimmer der Agentur, das wie ein gemütliches Wohnzimmer anmutet. Es werden Kaffee und Topfengolatschen serviert. Topfengolatschen! Dass ich süchtig nach dieser Wiener Spezialität bin, konnte die Agentur Stockmeier nicht wissen. Schöner Zufall, der meine Laune hebt, erst recht nach dem ersten Bissen. Nach der Adresse des Bäckers werde ich später fragen.

Dann kommt sie. Elfi Stockmeier, die Chefin. Ohne viel darüber nachzudenken, habe ich wohl eine würdige ältere Dame erwartet, die mir salbungsvoll irgendwas über den Beruf des Trauerredners erzählen würde. Von einer solchen hätte ich mich alsbald freundlich aber bestimmt und auf alle Zeiten wieder verabschieden können. Ann-Birgit hätte ich zu Hause erzählen können, dass die Chemie einfach nicht gepasst hat und dass Trauerredner ohnehin kein Beruf für mich sei.

Stattdessen betritt eine quirlige, strahlende, vor Energie sprühende Frau den Raum, begrüßt mich mit einem herzlichen Lächeln und fragt, ob die Golatschen schmecken. Das kann ich nur bejahen.

»Habe ich selbst gemacht«, freut sich Frau Stockmeier.

Eins zu null für dich, denke ich.

Was dann folgt, ist ein Gespräch von ungefähr neunzig Minuten, in dem die beiden vor allem Fragen stellen und ich ihnen meinen Lebensweg schildere. Als alle Topfengolatschen verspeist sind, fragt mich Frau Stockmeier, ob ich bereit sei, hier und jetzt eine erste Proberede zu halten. Hannes reicht mir die Unterlagen seiner letzten Rede, die er erst am Vormittag gehalten hat. Ein im achtzigsten Lebensjahr unerwartet verstorbener Diplomingenieur. Hannes gibt mir noch ein paar Details zur Familienkonstellation, dann lassen er und Frau Stockmeier mich für zwanzig Minuten alleine.

Als Schauspieler bin ich schon auf unzähligen Castings gewesen. Das hier sollte ein Kinderspiel werden.

Nach meiner Proberede schaut Frau Stockmeier ihren Kollegen an und gibt nur einen Kommentar ab: »Sie sprechen ein bisschen schnell, geht das auch langsamer?«

Das trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube. Holt mich da ein Geist der Vergangenheit ein? Nach so vielen Jahren ist das zu schnelle und damit unverständliche Sprechen immer noch mein wunder Punkt? Mit einem schlechten Gefühl ziehe ich von dannen und tröste mich damit, dass ich den Job ja ohnehin nicht haben will.

Ein paar Tage später klingelt mein Handy. Frau Stockmeier ist am Telefon. Beschwingt gratuliert sie mir. »Wir freuen uns, Sie an Bord zu haben.«

»Aha«, bringe ich nur heraus.

»Bitte kommen Sie in den nächsten Tagen mal vorbei, damit wir den Vertrag unterzeichnen. Die ersten zwei Monate sind Ihre Probezeit, das wissen Sie.«

Ich bin sprachlos. Mein Casting als Trauerredner kommt mir rückblickend wie ein Desaster vor. Mit diesem Anruf habe ich gar nicht mehr gerechnet. »Herr Achleitner, sind Sie noch dran?«, höre ich Frau Stockmeier fragen.

»Ja, ich bin noch dran«, sage ich schnell.

»Sehr gut. Sie starten nächste Woche. Sie werden erst einmal einige unserer Trauerredner begleiten, ihnen zuhören und zuschauen. Ich schicke Ihnen gleich die Termine.«

Bald darauf bin ich bei den ersten Begräbnissen dabei. Es ist weniger bedrückend, als ich befürchtet habe. Die Emotionen der Hinterbliebenen berühren mich, zumal ich Erzählungen von Lebensgeschichten lausche und dadurch die Verstorbenen posthum gleichsam ein wenig kennenlerne. Das alles zieht mich allerdings nicht in die Tiefe der Trauer; und Trauer heucheln will ich auf keinen Fall. Ich stehe bei den Vorgesprächen im Hintergrund, beobachte, wie die verschiedenen Redner mit den Trauernden umgehen. Bei manchen fallen mir ihre angenehme Art und ihre Einfühlsamkeit besonders auf. Klarerweise konzentriere ich mich bald auf die Beobachtung jener Kollegen, die mir selbst ein gutes Gefühl vermitteln. Insbesondere der Mann, der mich bei der Agentur Stockmeier empfangen hat, Hannes Benedetto Pircher, wird so etwas wie ein Mentor für mich. Er hat ein philosophisches Buch über den Tod geschrieben – Sorella Morte – das meine Sicht auf die Endlichkeit unseres Daseins ganz grundlegend verändert hat und das ich allen Menschen empfehlen möchte, die mit dem Tod hadern oder gar an ihm verzweifeln.

Es ist unser Wissen, dass wir sterblich sind, das uns zu Menschen macht und uns in unserer knappen Lebenszeit nach etwas streben lässt. Carpe diem wäre ohne den Tod sinnlos. Wir würden gleichsam bewusstlos in den Tag hineinleben wie die Tiere. Unser Wissen um den Tod lässt uns Kultur erschaffen, Dinge, die den Tod überdauern, auf denen die nächste Generation aufbauen kann, insbesondere Bauwerke, Schrift, Werkzeuge, Kunst und Kultur.

Gleichzeitig erschaffen wir Menschen aber auch Dinge, die anderen den Tod bringen sollen, bis hin zu Atom- und anderen Massenvernichtungswaffen. Die Waffenindustrie ist immer noch eine Branche, deren Bedeutung für die Weltwirtschaft und für die Wissenschaft kaum hoch genug eingeschätzt werden kann. Der potenzielle Tod ist ein riesiges Geschäft und schafft Arbeitsplätze. Nicht nur in militärischen Projekten im engeren Sinne. So vieles dreht sich um den Tod. Von allgegenwärtigen Krimiserien im Fernsehen über Computerspiele bis zur Kriegsberichterstattung in den Nachrichten. Wir konfrontieren uns ständig und freiwillig mit dem Drama und dem Nervenkitzel. Seltener tun wir das allerdings mit unserem ganz persönlichen, einzigartigen Tod.

Deshalb ist der Friedhof ein ganz besonderer Ort. Hier wird der potenzielle Tod zum eigenen Tod. Hier stirbt in Form unserer Verstorbenen etwas von uns. Hier sind wir wie sonst nirgends mit unserer eigenen Endlichkeit konfrontiert. Vor allem das ist mir in den ersten Wochen bewusst geworden. Begräbnisse sind viel mehr als der letzte Akt im Drama eines menschlichen Lebens. Begräbnisse sind der Moment, wo unser Abstand zum Tod im Leben am geringsten ist. Wir erinnern uns, denken an den toten Menschen. Wir dürfen uns erinnern, woran wir wollen. Allerdings drängt uns das Unbewusste auch viele Erinnerungen auf. Das für uns Wichtige kommt hoch. Wir trauern um Lebenszeit, die noch hätte sein können, um schöne Momente mit einem Menschen ebenso wie um weitere Gelegenheiten zur Aussprache und Versöhnung, die wir aufgrund seines Todes versäumen.

Der Tod kommt meistens zu früh. Bei schwerer Krankheit kann der Tod eine Erlösung sein. Allerdings erlöst er meist nur die Verstorbenen selbst. Die Hinterbliebenen hingegen leiden auch in solchen Fällen genauso an dem, was sie versäumen, was sie verlieren und loslassen müssen. Umso mehr, je schöner es mit einem Verstorbenen war, je größer seine Bedeutung für die Lebenden. Je größer unsere Liebe zu einem Menschen ist, umso größer auch der Schmerz, wenn es heißt, Abschied zu nehmen.

Ich höre mir in diesen Tagen viele Trauerreden an, nicht nur jene von Rednern der Agentur Stockmeier. Da gibt es einen alten Hasen, sehr erfahren, der sich als abgestumpfter Abzocker entpuppt. Eine einzige Standardrede hat er parat, die er in zwei Variationen hält: männlich oder weiblich. Er spult immer dieselbe Leier ab. Furchtbar. Seine Rede dauert exakt zehn Minuten. Dafür lieben ihn manche Arrangeure, weil sie dann länger Pause bis zum nächsten Begräbnis haben.

Noch weniger als dieser alte Hase gefallen mir jene Redner, die ein Mittrauern vortäuschen. Ekelhaft. Falsche Gefühle spüren Trauernde sofort. Vor allem anhand der schlechten Beispiele wird mir immer klarer, welche Art von Trauerredner ich sein will. Nicht heucheln. Ich sein. Je mehr mir all das bewusst wird, desto mehr befällt mich die Sorge, ich könnte dieser Aufgabe nicht gewachsen sein. Das ist vollkommen anders als die Schauspielerei. Kein vorgegebener Text, an den ich mich halten kann. Stattdessen muss ich eigene Worte finden. Hier geht es um das echte Leben. Hier gibt es keine Möglichkeit, die Szene nochmal zu drehen oder es bei der Aufführung am nächsten Tag besser zu machen. Hier gibt es nur eine Chance. Eine einzige.

Nach drei Wochen ist es dann soweit. Ich bekomme eine knappe E-Mail von Frau Stockmeier: Einteilung: Dienstag, 17.02.2012, 11 Uhr, Inzersdorf, Hilde Kuzmich, geb. 03.07.1935.

Kein Vorkontakt, das kommt immer wieder mal vor, ist aber für mein erstes Begräbnis besonders nervenaufreibend. Keine Ahnung, was mich am nächsten Tag erwartet.

Ich lege mir ein dramaturgisches Konzept zurecht, drei Seiten lang, mit jeder Menge Zitaten und Sprüchen gespickt, das mir Halt und Sicherheit geben soll. Zum Vorgespräch kommen der Witwer und die drei Kinder der Verstorbenen.

»Eigentlich wollten wir das selber machen, mit der Rede, aber dann haben wir gemerkt: Das schaffen wir nicht. Also holen wir uns lieber einen Profi«, beginnt der älteste Sohn.

Wenn ihr wüsstet, denke ich.

Alle reden auf mich ein, ich versuche alles aufzuschreiben und habe bald weitere drei Seiten voll mit Notizen. Die Zeit verfliegt im Nu, keine Zeit mehr für eine letzte Zigarette, der Arrangeur holt mich, es geht los. Meine Feuertaufe. Ich gehe langsam nach vorne, verneige mich vor dem Sarg, drehe mich um und stehe vor vierzig Leuten, die mich erwartungsvoll ansehen. Die Pause vor dem ersten Wort ist bis heute ein sehr spannender Moment. Diese Frage »Was wird der jetzt wohl sagen?« liegt immer unausgesprochen in der Luft. »Was werde ich jetzt wohl sagen?«, geht es auch mir durch den Kopf, als plötzlich ein Windstoß mein Manuskript vom Rednerpult fegt. Die Blätter fliegen durch die Luft, ich versuche hektisch, sie wieder einzusammeln, einige Trauergäste wollen helfen, aber umsonst. Der Wind weht alle sechs Seiten bei der offenen Tür hinaus. Dort bildet sich ein Mini-Tornado. Ein Tornado? In Inzersdorf? Im Februar? Verfluchter Klimawandel! Mein Manuskript entschwindet in die Lüfte wie Luftballons an einem Kindergeburtstag. Ich kann die einzelnen Seiten kaum noch sehen. Panik erfasst mich. Ich werde meine erste Rede ohne Unterlagen halten müssen und versuche krampfhaft, mich zumindest an den Namen der Verstorbenen zu erinnern. Hilde K., irgendwas mit K. Hilde Küssmich? Hilde Kotznicht? Nein … Hilde Kuzmich, ja, jetzt fällt mir alles wieder ein. Mit einem Mal verspüre ich einen starken Harndrang. Ich versuche ihn zurückzuhalten. Vergeblich. Ich muss dringend auf die Toilette, bitte die Trauergäste um Verständnis und laufe aus der Aufbahrungshalle ins Priesterkammerl. Dort gibt es nur ein Waschbecken, egal, ich muss so dringend, will gerade, da kommt der Herr Pfarrer herein – und ich wache schweißgebadet auf. Es ist 3.45 Uhr, mitten in der Nacht. Ich liege in meinem Bett, neben mir die leise schnarchende Ann-Birgit, auf meinem Nachtkästchen das fein säuberlich geordnete Manuskript. Gottseidank nur ein Albtraum. Ich gehe pinkeln und mache bis zum Morgen kein Auge mehr zu.

Vollkommen übermüdet und mit einem flauen Gefühl im Magen komme ich zu meinem ersten Termin. Die Angehörigen sind sympathisch. Es ist sofort ein Draht da. Das nimmt mir ein wenig die Angst. Die Verstorbene war eine sehr geliebte Ehefrau und Mutter. Die Tränen während des Vorgesprächs berühren mich, die Tränen während der Rede noch mehr. Was genau ich gesagt habe, weiß ich nicht mehr. Aber ich werde nie den Moment vergessen, als es vorbei war. Der Witwer, seine Kinder und auch andere Trauergäste kommen auf mich zu und bedanken sich; mit einer Herzlichkeit und ja, einer Freude in ihren Augen und in ihren Worten, die ich niemals erwartet hätte. Das ist ein richtiger Aha-Moment. So viel bekommst du zurück, wenn du es gut machst. Heute weiß ich: Wenn es gelingt, die Trauernden zu berühren und sie gut durch die Verabschiedung zu begleiten, dann ist das zwar deutlich schlechter bezahlt als jeder Drehtag, aber viel wertvoller.

In den zwei Monaten meiner Probezeit halte ich rund vierzig Reden. Unter den Verstorbenen sind viele alte Menschen, deren Zeit gekommen war, aber auch einige zu jung Gegangene, Menschen in meinem Alter oder jünger. Auch ein Selbstmörder ist dabei, und ein Unfallopfer. Und jedes Mal Hinterbliebene, die mit dem, was geschehen ist, umgehen müssen, die mit dem Tod eines nahestehenden Menschen konfrontiert sind, die sich mir anvertrauen, die ich durch das Ritual des Abschieds zu begleiten habe. Es ist immer dasselbe – es ist jemand gestorben. Und doch ist es immer einzigartig, weil jeder Verstorbene einzigartig war, einzigartig für die Trauernden und damit auch für mich als Redner.

So habe ich meine Berufung gefunden. Ganz egal, welche Trauersituation ich vorfinde, am Ende eines Lebensweges geht es immer um diese Fragen: War es ein gutes Leben, das da zu Ende ging? Was hat es zu einem guten Leben gemacht? Oder was hat gefehlt, wenn es kein so gutes Leben war? Das in Worte zu gießen, genau die Worte zu finden, die den Hinterbliebenen aus Trauer oder wegen anderer starker Emotionen im Hals steckenbleiben, das ist fortan meine Aufgabe. Das beobachten und daraus für mein eigenes Leben lernen zu dürfen, ist mein Privileg.

Dieses Buch schreibe ich nach über 2.500 Trauerreden. Aus der verdichteten Auseinandersetzung mit so vielen Lebensgeschichten ergibt sich ein ganz eigenes Destillat an Lebensweisheit. Allerdings schreibe ich dieses Buch nicht nur, weil es mich drängt, Weisheiten weiterzugeben. Es drängt mich auch, die Tragik des menschlichen Daseins zu verringern. Der Tod nimmt uns die Zeit. Uns allen, den Verstorbenen und den Hinterbliebenen gleichermaßen. Und der Tod mahnt uns, die Zeit, die wir haben, bestmöglich zu nutzen. Es gibt Dinge, die können wir im Laufe der Zeit immer weniger aufholen, kaum noch wiedergutmachen. Es gibt Versäumnisse, die zu einem langen, manchmal sogar lebenslangen Hadern führen. Es gibt viele Dinge, die wir besser machen können. Und es gibt nahe am Ende die Klage: Warum hat mir das niemand gesagt, als noch Zeit dafür war?

Ich wende mich mit diesem Buch an Menschen, die dem Friedhof hoffentlich noch fern sind. Ich möchte diejenigen, die mitten im Leben stehen, dazu anregen, sich von allen Ablenkungen frei zu machen und im Angesicht des Todes die wesentlichen Fragen des Lebens zu stellen. Ich lade Sie ein, in Gedanken mit mir auf den Friedhof zu gehen und am Ort der ewigen Ruhe ein wenig Ruhe zu finden, um über Ihr eigenes Leben nachzudenken. Was zählt wirklich in Ihrem Leben? Welche Stärken hat der gute Wolf in Ihnen und welche Teile von ihm brauchen noch Futter, um den bösen Wolf überwinden zu können? Es nutzt nichts, den bösen Wolf in uns zu verleugnen oder zu verdrängen. Am Ende wird er uns einholen, glauben Sie mir. Wir wissen nicht, wann unser Ende kommt. Daher geht es für uns täglich um die Frage: Was können wir jetzt tun, das nach unserem Tod noch der Rede wert sein wird? Jetzt, damit wir später nicht hadern, wenn wir keine Zeit mehr haben. Haben wir – wie Edi mit seiner Mitzi – das beste Leben, das wir uns nur wünschen können? Was fehlt uns, um das beste Leben zu verwirklichen?

Unsere Vorstellungen darüber, was das beste Leben beinhalten sollte, sind bestimmt unterschiedlich. Wir sind alle einzigartig. Allerdings gibt es so etwas wie einen gemeinsamen Kern, weil wir alle Menschen sind. Diesen menschlichen Kern betreffend können wir alle am Beispiel von anderen lernen. Wir können Menschen wie Edi mit bloßer Bewunderung oder sogar insgeheim mit Neid betrachten. Wir können aber auch versuchen, uns von seiner Lebensgeschichte inspirieren zu lassen, um vielleicht selbst am Ende aus tiefster Seele sagen zu können: Ich habe das beste Leben gehabt, das ich mir vorstellen kann.

Dieses Buch versteht sich als Anregung zu wesentlichen Themen, die alle Menschen beschäftigen, eben weil wir sterblich sind. Dazu habe ich Geschichten und hoffentlich auch echte Weisheiten gesammelt. Ihnen näherzubringen, welche bemerkenswerten Antworten andere Menschen auf die großen Fragen des Lebens gefunden haben, und damit DEM Geheimnis des guten Lebens auf die Spur zu kommen, ist der Sinn dieses Buches. Frei nach dem Motto von Carlos Castaneda:

Der Tod ist der beste Ratgeber.

Das Geheimnis eines guten Lebens

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