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Die Vorgeschichte

Frühlingsanfang, Dienstag, der 21. März 1978

Es ist früh um 6 Uhr, das Telefon klingelt. Der schrille Ton reißt mich aus den Träumen, die im Halbschlaf mitunter sehr spannend sein können. Ich bin kein geborener Frühaufsteher und als Student sowieso nicht. Noch etwas benommen höre ich die Stimme meines Vaters: „Du musst sofort kommen, mein Leben geht zu Ende und ich will dir noch einige Unterlagen geben.“ Koffer gepackt, Auto betankt und los geht’s – mit unguten Gefühlen und Gedanken im Kopf. Vor einem halben Jahr hatte er einmal so merkwürdige Andeutungen gemacht, dass er nicht mehr lange leben würde. Das hielt ich damals für eine Spinnerei, eine depressive Stimmung.

Gegen 13 Uhr bin ich dort. Nach kurzer Begrüßung meiner Mutter gehe ich zu ihm. In seinem etwas düsteren Herrenzimmer sitzt er am Schreibtisch, umringt von all seinen Jagdtrophäen und raucht Pfeife. Das ganze Zimmer ist erfüllt von würzigem Tabakduft. Vor ihm liegt ein Stapel Akten. Endzeitstimmung liegt schwer im Raum. Aufrecht sitzend, mit klarer Stimme, die keine Frage zulässt, erklärt er mir seinen Nachlass. Er schenkt mir seine goldenen Manschettenknöpfe mit den Grandeln des stärksten Hirsches, den er in seinem Leben erlegt hat. Den goldenen Ring mit einem blauen Saphir nimmt er von seinem Ringfinger. Dieser Ring war ein Heiligtum für ihn, er trug ihn immer voller Stolz und nur zu besonderen Gelegenheiten. Nach dem Tod seiner Großmutter Anna hatte sein Großvater Carl erneut geheiratet. Seine zweite Frau stammte aus einer adeligen Familie aus dem Baltikum. Sie hatte meinem Vater dieses Familienerbstück ihres Vaters vermacht.

Als große Überraschung übergibt er mir noch ein kleines Schmuckkästchen. Darin befinden sich ebenfalls goldene Manschettenknöpfe mit den Grandeln meines ersten Hirsches, seinem Abschieds-Hirsch, wie ich jetzt verstehe. Vor einem halben Jahr hatte er mich zur Hirschjagd in den Schwarzwald eingeladen, wo sein Cousin Forstamtsleiter war. Er sagte damals: „Bevor mein Leben zu Ende geht, will ich dir den Abschuss eines Hirsches schenken.“ Nun erkenne ich die Wahrheit seiner Ankündigung. Mein Vater hatte im vorherigen Jahr mehrere kleine Gehirnschläge gehabt und es war ihm klar gewesen, dass diese sich steigern würden.

Nach circa einer Stunde steht er auf und sagt mit leiser Stimme: „So, mein lieber Sohn, das ist genug, mehr kann ich dir nicht sagen, bring mich ins Krankenhaus. Deine Mutter soll vorerst zuhause bleiben. Ich will, dass Du mich alleine begleitest.“ Drei Tage später, am Donnerstag, dem 23. März 1978, stirbt mein Vater.

Warum schreibe ich das alles?

Als im Februar 2020 die Corona-Pandemie ausbricht, weltweit die Wirtschaft zusammenbricht, Ausgangsbeschränkungen unsere Beweglichkeit einschränken und das ganze soziale Leben auf den Nullpunkt gefahren wird, kehrt auch Ruhe und Besinnlichkeit ein. Keine auswärtigen Termine, keine sozialen Verpflichtungen, nur zu Hause bleiben und sich mit sich selbst beschäftigen. Das kann Fluch oder Segen sein. Meine Frau und ich beschließen, dass diese Zeit ein Segen für uns ist. Es ist eine Zeit der inneren Einkehr und der intensiven Gemeinsamkeit.

Ich mache etwas, das mir schon seit Langem im Kopf herumgeistert. Ich sortiere die Unterlagen meines Vaters. Er hatte viele davon. Er war anscheinend nicht nur Jäger, sondern auch intensiver Sammler gewesen. Ich finde Tagebücher seiner Jagderlebnisse, Aufzeichnungen aus dem Internierungslager, Aufzeichnungen aus dem Gefängnis in Ravensburg, Unmengen an Briefen, umfangreiche Notizen, ein Buch von Karl Vogel, einem Lagerkommandant in Garmisch sowie ein Buch von Hans Hellmut Kirst, in dem er das Leben im Internierungslager beschreibt.

Die Zeitungen sind im Moment voll mit Erinnerungen an das Ende des Zweiten Weltkrieges. Man berichtet über das großartige Verhalten der alliierten Truppen und über unsere Dankbarkeit für die Befreiung aus der Nazi-Diktatur. Die Amerikaner sind gekommen, um uns Demokratie und Menschlichkeit zu bringen. Die Amerikaner haben uns beim Aufbau einer neuen Ordnung geholfen. Die Kehrseite darf aber dennoch nicht verschwiegen werden, einige Soldaten haben die Amerikaner im Internierungslager in Garmisch-Partenkirchen auch ganz anders erlebt.

Die volle öffentliche Aufmerksamkeit gilt und galt schon immer den Opfern des Nationalsozialismus. Sie stehen im Zentrum der Betrachtung. Das ist richtig, das ist wichtig, das Leid und das Unrecht dürfen nicht vergessen werden.

Auch für mich, den Autor, ist es wichtig, herauszufinden: Wie kommen die Täter zurecht mit dem, was sie getan haben? Inwieweit können die Täter ihre Taten ausblenden oder verleugnen? Wie gehen sie mit ihrer Schuld um? Gelingt es ihnen, sich mit sich selbst zu versöhnen? Die hauptverantwortlichen Täter wurden in Nürnberg verurteilt. Was aber ist mit den „Nebentätern“? Denen, die sich darauf berufen, nach geltendem Recht gehandelt zu haben? Oder wie steht es um die Soldaten, die im Befehlsnotstand handelten, obwohl sie das Unrecht erkannten? Sind diese Soldaten Kriegsverbrecher?

War mein Vater ein Täter, ein Verbrecher? Wenn ja, inwieweit fühlte er sich schuldig und bereute seine Taten? Inwieweit werde ich, als sein Sohn, mit der Schuld meines Vaters fertig? Wie wirken sich diese Schmach und die gesellschaftliche Sippenhaftung auf mein Leben aus?

Auch im Jahr 2020 gibt es noch immer viele Vorurteile in der Gesellschaft. Eine differenzierte Betrachtung der einzelnen Akteure und Akteurinnen, Schicksale und Hintergründe findet in der Öffentlichkeit kaum statt. Alles wird undifferenziert in einen braunen Topf geworfen und mit einem Deckel verschlossen. Eine ganze Generation wird kollektiv verurteilt. Dabei wäre es doch gerade heute enorm wichtig, sich – ohne das Furchtbare leugnen zu wollen – differenziert mit Motiven und Hintergründen der Nebentäter zu befassen. Damit sich die Geschichte nicht wiederholt.

Ich habe unter dieser kollektiven Verurteilung sehr gelitten. Sie hat mein eigenes Leben nachhaltig beeinflusst. Kann und darf es eine Vergebung für unsere Väter geben? Reicht es aus, dass der Vater seine Taten bereut? Ist ihm bewusst geworden, dass seine Taten auch auf seine Kinder und Enkel Auswirkungen haben können?

Ich sage jetzt in Gedanken zu meinem Vater: „Ich verstecke dich nicht mehr. Was auch immer du getan hast und was auch immer dein Grund dafür waren, es bleibt deine Sache. Du musst selbst dafür einstehen. Ich will frei sein von deiner Schuld.“ Diese neu gewonnene Haltung ermuntert mich, sein Leben zu beschreiben.

Heute leben wir in einem Rechtsstaat, in dem vor der Verurteilung eines Menschen immer auch nach Gründen, Motiven und Vorgeschichte gefragt wird. Rückblickend frage ich mich: Welche Rolle spielte die familiäre Prägung und der damals herrschende Zeitgeist beim Handeln meines Vaters? Wie wird ein junger Mensch damit fertig, wenn er als Soldat sein Leben riskiert, im Glauben, Volk und Vaterland zu verteidigen, und alle Ideale plötzlich nichts mehr wert sind und er sich für politisch und menschlich verwerfliche Ziele hatte missbrauchen lassen?

Wie kann ich mich selbst lieben, wenn ein Teil meines Wesens dem meines Vaters gleicht? Die Neigung zur Herrschsucht von meiner Großmutter und meinem Vaters finde ich auch in mir. Die Lust, schnell Entscheidungen zu treffen, ohne sie vorher zu kommunizieren, kann eine Stärke aber auch eine Gefahr sein. Ich wollte nie wie mein Vater werden. Zur Beruhigung versicherte meine Mutter mir, ich würde im Wesen ihrem Vater gleichen. Mein Großvater mütterlicherseits ist mir ein Vorbild. Er gibt mir Orientierung im Denken und Handeln.

Immer wieder frage ich mich, wie sich gebildete Menschen von einem psychopathischen Menschen verführen lassen konnten und ihm bedingungslos gefolgt waren? Einem Menschen, der mit einem Programm der Arbeiterklasse gestartet hatte, der den deutschen Nationalismus gepredigt und unbedingten Gehorsam gefordert hatte, sich für die „Arische Rasse“ begeisterte, obwohl er selbst nicht Deutscher war und auch in keiner Weise „arisch“ ausgesehen hatte?

Sind die Antworten vielleicht ansatzweise in den heutigen USA, Brasilien oder gar in den rechtsgerichteten politischen und gesellschaftlichen Strömungen europäischer Demokratien einschließlich Deutschland zu suchen? Müssen wir versuchen, die aktuellen Entwicklungen zu verstehen, um die Motive von Nebentätern und Mitläufern der Nazizeit rückwirkend zu begreifen? Oder eher umgekehrt?

In meinem Zuhause wurde nie über die Kriegszeit gesprochen. Auch persönliche Probleme wurden vor den Kindern nie erörtert. Das machte man nicht, man hat einfach nur funktioniert. Es herrschte Schweigen über die Vergangenheit. Aus Angst, vor Scham? Ich weiß es nicht. Ich weiß aber: Das Verschweigen der Vergangenheit ist genauso eine Lüge, wie das Schönreden ebendieser.

Der Vater meiner Mutter war ab Oktober 1939 Oberstabsveterinär der Wehrmacht und in Warschau tätig gewesen. Das ist ein gehobener Dienstgrad und ich denke, dass man diesen nur erlangt, wenn man systemtreu war. Also dem Nationalsozialismus nahestand. Bereits 1935 hielt er in Pommern einen Familientag ab. Es gab dazu einen ausführlichen Pressebericht mit der Aussage: „Aus dem Wissen um das eigene Werden der Sippe wächst die Kraft der rassischen Verwurzelung und der Tradition. Daraus lässt sich erkennen, wie das Schicksal der Sippe mit dem Schicksal des Volkes verbunden ist.“ Die Wurzeln dieser Bauernfamilie gehen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Presseartikel und eine Einladung zum Familientreffen, die mit „Heil Hitler“ unterschrieben war, fand ich erst später im Nachlass. Über die Vergangenheit meines Großvaters wurde nicht gesprochen, alle Fragen an meine Mutter oder meinen Vater blieben ohne Antwort.

Warum konnte mein Vater keine Gefühle zeigen? Sein Abschied von mir und seinem Leben war geschäftsmäßig organisiert. Warum hatte er meine Schwestern nicht informiert? Warum bekam ich kein anerkennendes herzliches Wort zum Abschied zu hören? Wo hatte diese Kriegsgeneration ihre Gefühle verloren? Aus den Unterlagen geht hervor, dass mein Vater vor dem Krieg scheinbar ein ganz anderer Mensch war.

Warum erzählen meine Schwestern ihren Kindern, der Großvater sei ein Kriegsverbrecher gewesen? War er das wirklich? Wenn ja, warum wurde auch nach der Inhaftierung und Rückkehr aus Ravensburg nicht offen über die Anklage und die Aufhebung von dieser Anklage gesprochen? Ein Gerichtsverfahren wurde offensichtlich nie eröffnet. Daher gab es weder eine Verurteilung noch einen Freispruch. Nach dem damals geltenden Recht war sein Handeln legitimiert, wenn auch moralisch und ethisch inakzeptabel. Mit seiner moralischen Schuld musste er selbst fertig werden. Wie ist es aber mit uns, den Kindern? Wir bekommen einen Teil seiner Schuld aufgebürdet, weil wir kollektiv mit ihm verurteilt werden. Hat er das je begriffen? Eine Entschuldigung meines Vaters habe ich nie vernommen.

Warum schweigen die Eltern? Das Schweigen führt zu Vermutungen, die uns Kinder in der Ungewissheit zurücklässt, da könnte etwas ganz Schlimmes gewesen sein. Wir drei Kinder hatten denselben Vater gehabt, aber nicht den gleichen erlebt. Jeder hat seine speziellen Erlebnisse in der Familie anders verarbeitet. Wenn ich mit meinem Vater beim Jagen auf der Jagdhütte war, kam er manchmal aus sich heraus und erzählte mir fragmentarisch einige Erlebnisse seiner Vergangenheit. Er berichtete aus der Jugend, aus der Studentenzeit, von seinen wilden Liebesabenteuern und natürlich von den vielen Jagderlebnissen. Aber niemals sprach er über die Kriegszeit. Krieg war tabu, jede Frage danach war verboten, ohne, dass das Verbot jemals laut ausgesprochen wurde. Die Mauer des Schweigens war laut genug.

Durch die gemeinsame Zeit bei der Jagd habe ich ein tieferes Verständnis für meinen Vater entwickelt als meine Schwestern, die ihn nur als autoritär und jähzornig erlebt hatten. Als er, wie sich später zeigen wird, gewandelt und geläutert aus Ravensburg zurückkam, waren meine Schwestern bereits außer Haus und wohnten an ihren jeweiligen Studienorten. Sie kamen nur noch zu Kurzbesuchen nach Hause.

75 Jahre nach Kriegsende und 42 Jahre nach seinem Tod ist es nun für mich an der Zeit, dass ich über das Leben meines Vaters schreibe. Ich orientiere mich beim Schreiben stark an seinen gesammelten Unterlagen, die ich zum ersten Mal sichte. Zugegeben, ich hatte zunächst ein wenig Angst, etwas zu entdecken, was ich lieber nicht entdecken möchte.

Durch diese Arbeit veränderte sich mein bisheriges getrübtes Bild von meinem Vater und besonders auch von meiner Mutter. Ihre seelische Stärke und die enorme Liebe zu meinem Vater habe ich früher nicht bewusst wahrgenommen. Eine Liebe, die so stark war, dass sie es schaffte, alle Schicksalsschläge zu ertragen, nicht zu zerbrechen, sondern sich in ihrer Liebe noch zu festigen. Beide entdecken sich in ihrer Verbindung neu. Sie erkannten, dass sie zu lange geschwiegen und zu wenig miteinander gesprochen hatten. Erst in den Briefen aus dem Gefängnis finden sie wieder zueinander. Mein Vater hat sich in der Haft ganz offensichtlich zum Positiven entwickelt.

Was mein Vater nicht aufgeschrieben hat, versuche ich, in seinem Sinn zu schreiben. Ich als sein Sohn habe das Gefühl, manches nachvollziehen zu können, was er empfunden und was ihn bewegt hat. Doch in einer dokumentarischen Wahrheit mit einem Anteil von etwa zwei Dritteln überwiegt eindeutig die Dichtung. Vielleicht aber kommt die Dichtung der Wahrheit sehr nahe. Es hätte ja schließlich so sein können.

Danksagung

Ich danke meiner Frau Elisabeth, die in vielen Gesprächen und mit kritischen Fragen wertvolle Anregungen gab.

Personen der Familie

Autor: Carl-Ludwig Reuss

Ich-Erzähler: Dr. Lutz Reuss

Ehefrau: Anna-Lena

Töchter: Anna und Carina

Sohn: Carl

Dark Shadows – Die Schatten der Vergangenheit

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