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Der Anruf

Solche Anrufe kommen immer aus heiterem Himmel. Sie kündigen sich nicht an. Es gab keine Vorzeichen, nicht die kleinste Andeutung. Ich stand gerade am Abschlag des Golfplatzes von Ascona, und da die Clubregeln Mobiltelefone auf dem Rasen untersagen, nahm ich den Anruf am Rand des Courts entgegen. Es war das EDA, Jean Daniel Ruch. Weil solche Telefonate überraschend kommen, werden sie von Personen geführt, denen man vertraut, und Ruch kannte ich gut. Er war auf dem Balkan mein politischer Berater gewesen. Die Schweiz wolle mich als Kandidatin für die UNO-Untersuchungskommission aufstellen. »Wo? ... Syrien?« Ruch – er ist heute unser Botschafter in Israel – wusste besser als ich über Syrien Bescheid, zu diesem Zeitpunkt war er als Repräsentant der Schweiz im Nahen Osten eingesetzt.

Der März 2011 war in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Datum für mich. Im März war ich aus Buenos Aires in meine Heimat zurückgekehrt, ins Tessin, wo der Golfplatz mich magnetisch anzog. Der Geruch des frisch gemähten Rasens, die Konzentration auf das Wesentliche, dann das Geräusch des Balls beim Abschlag. Von hier reichte der Blick bis in die Berge mit ihren Schneekappen. Meine verchromten Golfschläger waren blank poliert, und ich machte guten Gebrauch von ihnen. Seit meiner Rückkehr hatte ich mich zu jedem Turnier von hier bis Losone gemeldet, mit wachsender Zuversicht, mein Handicap endlich unter 20 zu bringen. Mit anderen Worten: Ohne mich als Rentnerin zu fühlen, genoss ich diesen neuen Lebensabschnitt. Der März 2011 markierte jedoch auch ein unrühmliches Kapitel in unserer jüngeren Geschichte: den Ausbruch der bewaffneten Feindseligkeiten in Syrien. »Sie sind schließlich keine Unerfahrene in der internationalen Verbrecherjagd«, sagte Ruch am anderen Ende der Leitung, »darum sind Sie die Einzige in der Schweiz, die für diese Kommission infrage kommt.« Ruch verstand es, die richtigen Knöpfe zu drücken. Aber sicherlich übertrieb er. Was wusste ich schon von Syrien? Nicht mehr als jeder interessierte Zeitungsleser.

Die Welle des »Arabischen Frühlings«, eine Serie von Protesten und Aufständen in der Arabischen Welt, begann in Tunesien und erreicht schließlich Syrien. Am 4. Februar initiiert die regimekritische Opposition mit wenig Resonanz ihren »Tag des Zornes«. Doch am 15. März verhaften Sicherheitskräfte in der südsyrischen Stadt Daraa Schulkinder – weil sie regimekritische Graffitis auf Hauswände gemalt haben. Einige der Kinder landen im Folterkeller. Zwei Tage danach werden friedliche Demonstrationen in Daraa mit Gewalt unterbunden und der Syrienkonflikt zählt seine ersten fünf Todesopfer (man wird Daraa künftig die »Wiege der Revolution« nennen). Die weiterhin friedlichen Kundgebungen greifen in den nächsten Tagen auf andere Landesteile über. Da beträgt der Blutzoll der Opposition schon über 100 Menschenleben.

Noch im selben Monat jedoch gibt der Präsident, Baschar al-Assad, Anlass zur Hoffnung auf eine friedliche Beilegung. Er kündigt die Freilassung der verhafteten Demonstranten an. Assad beauftragt den neuen Ministerpräsidenten mit der Bildung einer neuen Regierung, ja er hebt sogar den seit 1963 geltenden Ausnahmezustand auf, womit er eine der wichtigsten Forderungen seiner Gegner erfüllt. Doch nur Tage darauf gehen seine Sicherheitskräfte mit äußerster Brutalität gegen Demonstranten vor, die zu Dutzenden tot auf den Straßen liegen bleiben. Dann lässt der Machthaber Daraa abriegeln. Am 29. April setzt US-Präsident Barack Obama Sanktionen gegen syrische Regierungsmitglieder in Kraft. Gleichzeitig rufen die in London ansässigen syrischen Muslimbrüder zum Widerstand gegen Assad auf. Die großen Player des größten Stellvertreterkriegs der Neuzeit bringen sich in Position. Am selben Tag verurteilt der Menschenrechtsrat der UN* erstmals die Gewaltanwendung des Regimes, verbunden mit der Forderung einer Untersuchung. Was ist mit dem 13-jährigen Jungen geschehen, der bei der Demonstration in Daraa festgenommen wurde? Seine verstümmelte Leiche wird der Familie zurückgegeben. Er ist augenscheinlich zu Tode gefoltert worden. Menschenrechte scheinen in dem Staat mit seinen 21 Millionen Einwohnern nicht mehr viel zu gelten. So viel war der Welt bekannt, und mehr wusste ich auch nicht.

Schon als mein Ruhestand noch weit weg schien, war ich dem Golfclub beigetreten; selbst die Wohnung im Appartementhaus an der Straße zum Monte Verità hatte ich voller Vorfreude gekauft, als ich noch in Den Haag war. Ihre Glasscheiben bestehen aus Panzerglas. Der Bund hat sie für den Fall einsetzen lassen, falls jemand auf die Idee kommen könnte, sich für meine Arbeit zu revanchieren. Ich hatte mir als Chefanklägerin des internationalen Strafgerichtshofs (ICTY, manchmal auch das »Kriegsverbrechertribunal« der UN genannt) für das ehemalige Jugoslawien ein paar mächtige Feinde gemacht und stand unter dem Schutz der Bundespolizei. Ich ließ mögliche Attentate nicht von meinen Gedanken Besitz ergreifen. Selbst der Sprengstoffanschlag in Sizilien von 1989 war nur noch eine verblassende Erinnerung. Doch nach Buenos Aires wollte ich von der Öffentlichkeit vergessen werden, nur noch bei meiner Familie gefragt sein.

Von der Terrasse aus konnte ich ganz Ascona überblicken. Hätte ich noch geraucht, wäre dies wohl ein idealer Moment gewesen, doch ich hatte meiner früheren Lieblingsbeschäftigung abgeschworen und alle Aschenbecher aus meiner Nähe verbannt. Das hat man davon, wenn man die Schwester von Ärzten ist. Sie reden einem pausenlos ins Gewissen.

Auch auf der Terrasse war ich seitlich durch eine Scheibe geschützt, an der jede Kugel abprallt. Gott sei gedankt für Panzerglasscheiben! Einmal war ein Wagen beschossen worden, in dem ich saß. Der Schuss war nicht zu hören, wohl aber sieht man den Aufschlag, wenn das Fenster splittert. An so etwas gewöhnt man sich nicht. Und dann die Beschimpfungen. Der damalige Justizminister Serbiens hatte mich in einem Schmähbrief als »die Hure Del Ponte« tituliert. Entlang einer serbischen Autobahn stand auf Werbeplakaten »Karla, die Hure« (mich störte eher, dass mein Name in Serbisch mit »K« geschrieben war). Die Mafiosi hatten mir den Übernamen »La Puttana« verpasst. Und im Tessin hatte der Präsident der Lega dei Ticinesi, Giuliano Bignasca, mir als Staatsanwältin den Kosenamen »Carlita la peste« verliehen.

Ich war keine Anpasserin und bin es gewohnt, gegen den Strom zu schwimmen. Madeleine Albright, die Außenministerin der USA, hatte einmal nach einem überstürzten Meeting am Flughafen Heathrow einige Karteikarten vergessen. Darauf standen Eintragungen, wie mit der Del Ponte am besten umzugehen ist. Einige Zeit später ließ ich es mir nicht nehmen, ihr die »Betriebsanleitung für Del Ponte« zurückzugeben. Ich sagte ihr, dass ich – aus »historischem Interesse« – eine Kopie behalte. Denn es war schon eine lesenswerte Lektüre, wie politisch unangepasst ich sei.

»Wie lange soll das Engagement denn dauern?«, wollte ich wissen. Jetzt war Alexandre Fasel am Apparat, unser Schweizer UNO-Botschafter in Genf; heute ist er unser Botschafter in Großbritannien. Sämtliche Diplomaten schienen meine Privatnummer zu haben. »Drei, maximal acht Monate«, sicherte er mir zu. Den grünen Rasen von Ascona mit den ausgedörrten Wüsten von Syrien tauschen? Ich las ja noch immer mit Vorliebe die Berichte aus Den Haag, wo die Prozesse des Jugoslawien-Tribunals zum Abschluss gebracht wurden. Die Anstrengungen zur Festnahme des untergetauchten Serbenführers Radovan Karadžić und seines Generals Ratko Mladić waren noch nicht von Erfolg gekrönt. Beide liefen frei herum. Ich stand in Kontakt mit meinem Nachfolger am Kriegsverbrechertribunal. Nur eine Frage der Zeit, dessen war ich mir gewiss, bis unsere Strategie zum Ziel führen würde. Und als die Nachricht kam, dass man Karadžić festgesetzt hatte, war ich überglücklich. Er hatte unbehelligt in Belgrad als »Alternativmediziner« gearbeitet. Es war tatsächlich das einzige Mal, dass ich bereute, nicht mehr dazuzugehören. Nur zu gern hätte ich ihn einvernommen, 12 Jahre, nachdem sein Haftbefehl ausgestellt worden war. Wer waren Ihre Fluchthelfer? Das hätte ich ihn gern selbst gefragt. Schließlich hatten wir mehrere Male Kenntnis von seinem Aufenthaltsort, doch stets wurde er vor dem Zugriff gewarnt. Seine Völkermordtaten brachten ihm 40 Jahre ein. Eine geringe Genugtuung für die Menschen von Srebrenica.

Auf dem Balkan und als Chefanklägerin im Ruanda-Prozess hatte ich viele schlimme Dinge gesehen. Und doch, meine Psyche hatte offenbar nichts zu verarbeiten. Da tauchten keine Bilder vor meinem geistigen Auge auf, nachts schlief ich wie ein Murmeltier. Doch wollte ich wirklich wieder an Massengräbern stehen, Exhumierungen von Leichen aus Senkgruben anordnen? Ich hatte ja praktisch erst meine Koffer ausgepackt, war noch nicht ganz zu Hause angekommen.

Sollte ich den Posten annehmen, würden irgendwo bestimmt neue Karteikarten ausgestellt werden: Del Ponte, Carla, unangepasst. Aber ich musste mir eingestehen: Menschenrechtsverletzungen – egal wo auf der Welt – würden immer Teil meines Lebens bleiben, und diese Art von Arbeit verlangte nach einer unangepassten Person. Ich sagte dem EDA zu. Besprach mich mit niemandem. Schließlich, so dachte ich mir, wäre die Aushilfe bei der UNO nur eine Art »Teilzeitbeschäftigung«. Ich war gespannt, welchen Schimpfnamen man sich dieses Mal für mich einfallen lassen würde.

* United Nations, Zusammenschluss von 193 Staaten als United Nations Organization (Organisation der Vereinten Nationen). Abgekürzt als UNO oder kurz UN.

Im Namen der Opfer

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