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ОглавлениеFreitag, 22. November 2013
Pytlik kochte vor Wut. Es war bereits fünf vor zwölf. Er hatte Franziska versprochen, pünktlich zur verabredeten Uhrzeit in Welitsch zu sein. Dass ihn sein Chef ausgerechnet an diesem Freitagmittag wegen einer Lappalie aufgehalten hatte, verdoppelte seinen Ärger. Er parkte seinen Dienstwagen einige Grundstücke entfernt vom Gasthaus »Roter Hirsch«. Die Anzahl der Autos, deren Windschutzscheiben vom andauernden Schneefall schon wieder leicht gezuckert waren, ließ ihn erahnen, dass es sich um eine große Geburtstagsgesellschaft handelte.
Es war sozusagen seine offizielle Einführung: Die Vorstellung des Hauptkommissars aus Kronach in den Kreisen seiner neuen Lebensgefährtin. Seit über einem Jahr waren die beiden nun ein Paar, nachdem sie sich im Sommer des letzten Jahres bei einer Floßfahrt auf der Wilden Rodach kennengelernt hatten. Pytlik hatte in der Vergangenheit mit Frauen nicht viel Glück gehabt, weswegen er es mit seiner neuen Liebe zunächst etwas langsamer hatte angehen wollen.
Der eisige Wind peitschte den Schneestaub von den am Straßenrand aufgetürmten weißen Massen. Die Kaltfront hatte in den letzten Tagen ihrem Namen alle Ehre gemacht und den Landkreis in eine ungemütliche Winterlandschaft verwandelt.
Dem Hauptkommissar gingen tausend Dinge durch den Kopf; ihm war mulmig! Wenn er Glück hatte, aßen sie bereits. Dann wäre es vermeintlich ein Leichtes, kurz zu gratulieren, seinen Diener zu machen und sich zu Franziska zu gesellen. Er wusste, dass sie ihm nicht böse sein würde.
Es kam anders, und Pytlik hatte es geahnt!
Nachdem er sich auf dem Treppenabsatz noch schnell die Schuhe abgeklopft, sie vom Schnee befreit hatte und durch die Eingangstür im Vorraum angekommen war, vernahm er die Stille der Zuhörer im Inneren. Ihm kam feuchte Luft entgegen, die mit den feinsten Gerüchen oberfränkischer Wirtshausküchen angereichert war. Der Duft würde wohl frühestens beim Abriss des historischen Gebäudes irgendwann in ferner Zukunft verblassen. Durch die Tür zum Speisesaal hörte er gedämpft eine unaufgeregt erzählende Stimme. Am liebsten hätte er genau jetzt den Rückzug angetreten.
»Aber es muss ein Wink des Schicksals…«
Pytlik hatte sich zusammengerauft. Kurz nachdem er die Tür vorsichtig geöffnet, der schlecht geölte Faulenzer sein Eintreten aber mit einem langgezogenen Quietschen verraten hatte, blickte er auch schon in erwartungsfrohe Gesichter mit offenen Mündern und fragenden Augen. Es mussten gut und gerne 80 bis 100 Leute sein!
Er lächelte mehr verlegen als souverän, bedeutete dem weißhaarigen Redner, dessen Miene sich mehr und mehr verfinsterte und der am anderen Ende des Raums in der Mitte der langen Tafel stand und innehielt, dass er sich entschuldigte. Dann sah er zum Glück Franziska gleich an einem der ersten Tische in seiner Nähe sitzen. Neben ihr war noch ein Stuhl frei.
»Ein Wink des Schicksals muss es also gewesen sein…«, fuhr der Mann fort, von dem Pytlik wusste, dass er Wilhelm Kaiser war. Der Grandseigneur und selbsternannte Vorzeigeunternehmer. Die Geschichte vom kaum erwachsenen Maurerlehrling, der ein Bauunternehmen aus dem Boden gestampft und zum größten der Region gemacht hatte und das heute sein Sohn Joseph Ferdinand leitete.
»…dass ein großer Mann der Weltpolitik, einer, der Visionen hatte, den die Menschen liebten, zu dem sie aufschauten und in den sie viele Hoffnungen setzten, just an meinem 35. Geburtstag durch einen brutalen Mord aus dem Leben gerissen wurde. Und als an diesem Tag, an dem mein Vorbild, John F. Kennedy, erschossen wurde…«
Wilhelm Kaiser machte eine theatralische Pause, nahm ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und deutete an, sich eine Träne aus dem Auge zu wischen.
»…mein Sohn auf die Welt kam, da wusste ich, dass da oben jemand sitzt, der alles zu lenken weiß.«
»Aha! Interessant!«, flüsterte Pytlik Franziska ins Ohr, die nur seine Hand drückte, ohne ihn dabei anzuschauen. Es war bekannt, dass der junge Kaiser seine Vornamen als Reminiszenz des Vaters an dessen politischen Helden bekommen hatte. Nur zu gerne rühmte sich Kaiser Junior daher schon immer mit dem Rufnamen »JFK«. Nach einigen weiteren Sätzen übergab Wilhelm Kaiser das Wort an seinen Sohn; beide umarmten sich.
»Alles Show!«, flüsterte Franziska Pytlik ins Ohr. Er drückte nur ihre Hand, ohne sie dabei anzuschauen. Sie lächelte.
»Ich möchte eigentlich nicht allzu viele Worte verlieren«, begann Joseph Ferdinand Kaiser, der an den US-amerikanischen Schauspieler Michael Douglas erinnerte. Einen Großteil seiner freien Zeit schien er auf der Sonnenbank oder an entsprechenden Orten mit viel Sonnenschein zu verbringen. Sein durchtrainierter Körper passte perfekt in den maßgeschneiderten royalblauen Anzug. Dass er keine Krawatte trug, rundete in Verbindung mit dem streng nach hinten gegelten, dunkelblonden und bereits leicht grau melierten Haar den Eindruck eines Playboys in Papas Fußstapfen ab. Nicht nur Pytlik war bekannt, dass der Senior seinem Filius in den vergangenen Jahren bei dem einen oder anderen Projekt unterstützend hatte zur Seite springen müssen.
»Da wir nun ja auch endlich vollzählig sind und ich glaube, dass die Küchenmannschaft jetzt auch schon in den Startlöchern steht, nachdem unser aller Freund und Helfer es nun doch noch vom fernen Kronach zu uns geschafft hat…«
Pytlik wäre dem arroganten Schnösel am liebsten an die Gurgel gesprungen. Franziska lächelte ladylike, drückte seine Hand aber umso heftiger. Reiß dich zusammen! schien das wohl zu bedeuten. Der Hauptkommissar beherrschte sich, grinste ebenso freundlich und nickte ein paarmal in die Runde, wo sich hämisches Lachen und ungestümes Fingerzeigen nach wenigen Sekunden wieder legten. Joseph Ferdinand Kaiser hatte Pytlik nicht einmal angeschaut. Nun fuhr er fort. Nach einigen notwendigen Dankesworten schloss er zügig. Man merkte ihm an, dass dieser Teil des Doppelgeburtstages ihn anwiderte. Seine Gedanken schienen bereits woanders zu sein.
***
Der Hauptkommissar hatte beim Mittagessen in Welitsch den beiden Geburtstagskindern gratuliert, das Essen und die Gesellschaft seiner Lebensgefährtin genossen und anschließend noch die Gelegenheit genutzt, Franziskas Mutter näher kennenzulernen. Er hatte sich dabei sichtlich wohlgefühlt. Franziska schien nicht gerade negativ von ihm berichtet zu haben.
Auch Gerda, Franziskas Schwester und gleichzeitig Ehefrau von Joseph Ferdinand Kaiser, hatte sich nach dem Dessert im »Roten Hirsch« zu ihnen an den Tisch gesellt. Es hatte keinerlei Nachfragen bedurft um zu sehen, dass sie nicht glücklich war. Nicht mit dem Tag, nicht mit ihrer Ehe, nicht mit ihrem Leben. Sie war die Einzige, die der Hauptkommissar bisher schon kannte. Einmal war es sogar so weit gekommen, dass sie an einem Samstagabend bei Pytlik vor der Tür stand und sich bei ihm und Franziska über ihre Situation ausheulte. Nachdem die beiden Kinder nun schon länger aus dem Haus waren, schien sie den Frust über ihre zerrüttete Ehe und die Eskapaden ihres Mannes mehr und mehr im Alkohol zu ertränken. Sie war zwar zwei Jahre jünger als Franziska, die Ähnlichkeit zu ihrer attraktiven Schwester hatte aber bereits deutlich gelitten, die Unzufriedenheit mit ihrer Situation sichtbare Spuren hinterlassen.
***
Diesmal waren Pytlik und Franziska pünktlich. Einer wie Joseph Ferdinand Kaiser würde einen Tag wie den eigenen 50. und den 85. Geburtstag seines Vaters sicherlich nicht einfach mit einem Festessen im Dorfwirtshaus in Welitsch feiern. Wer den Bauunternehmer persönlich oder vom Hörensagen kannte, wusste, dass die Party, die am Abend folgte, an den Tagen danach in aller Munde sein würde.
»Endlich mal Gesichter, die mir gefallen! Lasst euch umarmen, ihr Lieben! Kommt rein!«
Als Gerda Kaiser zuerst Pytlik und dann ihrer Schwester um den Hals fiel, bemerkten der Hauptkommissar und seine Lebensgefährtin, dass die Hausherrin den Nachmittag wohl bereits genutzt hatte, sich in Stimmung zu trinken. Pytlik warf Franziska einen vielsagenden Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Sie schüttelte nur leicht den Kopf und schaute skeptisch. Der Schneefall hatte aufgehört und was mittags vor dem Wirtshaus noch ungemütlich aussah, entpuppte sich auf dem großen Grundstück der Kaisers wie ein Wintertraum. Das gesamte Areal – Pytlik schätzte, dass es die Größe eines Fußballfeldes hatte – war komplett von einer zwei Meter hohen Mauer umzäunt; dahinter eine Hecke, die noch einmal deutlich nach oben ragte. Da das Grundstück im Welitscher Süden ohne direkte Nachbarschaft lag, war für die zahlreichen Nobelkarossen genügend Platz.
Als die massive Tür hinter ihnen zufiel, konnte man aus dem Innern des mächtig wirkenden Gebäudes bereits Musik, Stimmenwirrwarr und das Klirren von Gläsern wahrnehmen. Das Haus wurde rundherum vom Boden aus bestrahlt, Lichterketten vermittelten ein magisches Ambiente und die an einem freigeschaufelten Weg durch den riesigen Garten in regelmäßigen Abständen stehenden Kugelleuchten gaben dem jungfräulich wirkenden Schnee eine faszinierende Färbung. Als Pytlik ein spontaner, anerkennender Pfiff entfuhr, nachdem er außerdem auch die verschiedenen Überwachungskameras unterhalb der Traufe entdeckt hatte, hob Gerda, die vor ihnen lief, in einer Art Jubelpose ihren rechten Arm mit einem Sektglas in der Hand.
»Ein schöner goldener Käfig! Nicht wahr, Franz? Du würdest es hassen!«
Dann trank sie das Glas leer und drückte es einem Mann vom Sicherheitsdienst in die Hand, der vor dem Treppenaufgang stand und leicht nickte, so, als würde er sich dafür auch noch bedanken.
***
Im Hauptkommissar stieg leichtes Unbehagen auf. Niemand der Anwesenden – und es mochten mindestens genau so viele gewesen sein wie beim Mittagessen, auch wenn er keinen einzigen von denen hier vermutete – interessierte sich scheinbar für ihn. Vor allem die Männer musterten seine Begleiterin unauffällig intensiv, aber freundlich, während die Frauen in typischer Raubkatzenmanier das Böse hinter ihrem Blick auf Franziska gönnerhaft überspielten, so wie sie das mit einem Abdeckstift für ihre Pickel taten. Es war schlicht und einfach nicht Pytliks Welt. Er vermutete, dass er bei entsprechenden Recherchen sicherlich den einen oder anderen der Geschäftsfreunde Joseph Ferdinand Kaisers in polizeilichen Akten wiederfinden würde; da mochte ihn sein Instinkt nicht täuschen. Dass er allem Anschein nach auch noch der Einzige war, der nicht im Smoking erschienen war, ließ ihn nicht unbekümmerter werden.
»Entspann dich, Franz! Heute Nachmittag bei dir zuhause warst du doch auch sehr locker – wenn ich das mal anmerken darf!«
Sie zog ihn zu sich heran und küsste ihn sanft. Franziska verblüffte den Hauptkommissar immer wieder. Von Anfang an hatte er bei ihr das Gefühl ehrlicher Sympathie und Zuneigung gehabt, auch wenn der Start auf einem Floß mit einer Wasserleiche im Jahr zuvor ungewöhnlich gewesen war.
»Du machst es einem ja auch nicht allzu schwer!«, flüstere er ihr ins Ohr und schob noch einen Wunsch hinterher: »Ich glaube, wir sollten das von heute Nachmittag noch einmal wiederholen. Ist doch ohnehin eine ganz schön spießige Gesellschaft hier. Was meinst du?«
Franziska trank von ihrem Wein und presste anschließend lasziv die Lippen aufeinander.
»Es ist gerade mal 19 Uhr! Lass uns erst hier ein bisschen Spaß haben. Entspann dich! Rede mit den Leuten, da sind interessante Männer dabei!«
»Und Frauen?«, forderte Pytlik sie heraus. Aber Franziska blieb souverän.
»Keine, die dir das bietet, was ich dir zu bieten habe. Aber du wirst dich noch wundern! Ich habe gehört, dass JFK…«
»Nennen die ihn wirklich alle so?«, unterbrach Pytlik sie.
»Wer was auf sich hält und damit prahlen möchte, im Dunstkreis des Herrn Kaiser Junior zu sein, der kann das ›Dschäi-Eff-Käi‹ gar nicht breit genug aussprechen. ›Hey, Dschäi-Eff-Käi! Wie geht´s? Alles klar, Mann?‹ Wirst du heute noch hundertmal hören!«
Pytlik schüttelte verwundert den Kopf.
»Und die Geschichte…?«
»Naja, du weißt, sie haben beide am 22. November Geburtstag. John F. Kennedy wurde an diesem Tag erschossen. Und wenn du nicht glaubst, dass die beiden, also der Joseph Ferdinand und der alte Wilhelm, den so richtig glorifizieren, dann schau dir später mal genau das kleine Planschbecken im Souterrain an, wenn JFK die Poolparty eröffnen wird.«
Franziska hatte bei der Beschreibung des Schwimmbades mit ihren Fingern Gänsefüßchen in die Luft gezeichnet.
»Und dabei komme ich noch mal auf das Thema Frauen zurück: Wenn du mit mir nicht ausgelastet bist, kannst du dich heute sicherlich noch mit ein paar osteuropäischen Tänzerinnen vergnügen. JFK ist bekannt dafür, dass er seine dubiosen Kontakte immer wieder mal zu seinen Gunsten nutzt.«
Pytliks Hals war von Franziskas Erzählungen trocken geworden, er hatte mit offenem Mund zugehört. Sie hatte wohl recht! Er sollte sich einfach locker machen.
***
Nachdem Franziska eine Bekannte getroffen hatte, mit der sie über alte Zeiten sprach, nutzte Pytlik die Gelegenheit, sich an einer der verschiedenen kleinen Bars und Theken etwas zu trinken zu holen. Danach ging er über eine der Treppen hinauf auf die Galerie und suchte sich am gusseisernen Geländer einen freien Platz, um hinunterzuschauen. Was für ein unglaublich großes Haus! Was für eine fantastische Architektur, dachte er sich, der mit seiner Doppelhaushälfte nicht unzufrieden war; gerade jetzt, wo Franziska fast schon mehr bei ihm als in ihrer eigenen Wohnung in Pressig lebte.
Nach der Scheidung von ihrem Mann hatte sie das Dachgeschoss in ihrem Elternhaus ausgebaut. Ihre Mutter war glücklich, eine ihrer Töchter wieder unmittelbar bei sich zu haben. Und Pytlik war froh, Franziska gefunden zu haben. Er begann gerade, in Gedanken an sie zu versinken, als er spürte, wie jemand seinen Arm um ihn und die Hand auf seine linke Schulter legte. Instinktiv drehte sich Pytlik nach rechts und schaute Joseph Ferdinand Kaiser direkt in die Augen.
Dschäi-Eff-Käi schoss es Pytlik durch den Kopf. Er sprach es aber nicht aus.
»Herr Kaiser! Ich…«
Der Hausherr nahm die Hand schnell wieder von Pytliks Schulter und breitete beide Arme aus, so als wollte er einen guten Freund begrüßen. Zur Umarmung kam es aber nicht.
»Ich bitte dich! Franz! Du gehörst doch jetzt fast schon zur Familie! Ich bin der JFK!«
Kaiser hatte das Dschäi-Eff-Käi genauso breit ausgekaut, wie es Franziska vorhin beschrieben hatte.
»Franz!«, erwiderte Pytlik und stieß sogleich mit Kaiser an, der auch nicht lange fackelte, mit dem neuen Familienmitglied Tacheles zu reden.
»Franz und Franzi! Na, wenn das nicht passt wie Arsch auf Eimer!«
Kaiser lachte laut, als hätte er den Witz des Jahrhunderts erzählt und schlug Pytlik mit der Hand gegen den Oberarm. Der Hauptkommissar war sichtlich bemüht, den Spaß mitzumachen. Dann lehnte sich Kaiser mit dem Rücken gegen das Geländer, so dass beide Männer sich nun gegenseitig anschauen konnten. Seine nächsten Worte waren erstaunlich. Er senkte die Stimme.
»Weißt du, du hast ein Riesenglück, Franz!«
Er machte eine Pause, erwartete wohl Pytliks Reaktion. Der vermutete zu wissen, was nun kam und schwieg. Stattdessen schaute er stur nach unten. Kaiser wurde ungeduldig. Er schien nicht mehr nüchtern zu sein.
»Hey, willst du gar nicht wissen, warum du Riesenglück hast?«
In diesem Moment trafen sich Franziskas und Pytliks Blicke. Freude huschte in sein Gesicht, und so als ob Joseph Ferdinand Kaiser nicht neben ihm stehen würde, ja gar nicht existieren würde, prostete er seiner Liebsten zu und übertrieb es mit einer deutlichen Kusshand. Das Spiel hatte begonnen!
»Entschuldige, Joseph! Nochmal bitte! Ach so, Glück – warum ich deiner Meinung nach Riesenglück habe! Also, meiner Meinung nach – vielleicht deckt sich das ja – habe ich verdammtes, saumäßiges Riesenglück, weil ich neben einem super Job mit super Kollegen, großartigen Nachbarn und Freunden auch noch eine umwerfende und intelligente Frau an meiner Seite habe.«
Pytlik machte eine kurze Pause. Er spürte, dass Kaiser merkte, dass er ihn provozieren wollte. Aber eine Retourkutsche vom Mittagessen musste auch noch sein.
»Und weil ich sehr gerne auch Freund und Helfer bin!«
Kaiser lächelte, wollte nicht eingestehen, dass ihm die forsche Art des Hauptkommissars in seinem eigenen Haus gar nicht schmeckte. Er ließ es sich nicht anmerken, setzte aber zum Gegenstoß an.
»Ja, alles schön und gut mit deinem Job und den anderen Leuten da! Prima! Allerdings habe ich von Riesenglück gesprochen und meine damit tatsächlich diese Frau da unten.«
Kaiser deutete unauffällig in Franziskas Richtung.
»Enttäusch sie nicht! Das ist ein gutgemeinter Rat, denn sonst…«
»Denn sonst was?«, unterbrach ihn Pytlik, dem diese Belehrung einfach zu weit ging. Danach herrschte für Sekunden Funkstille. Kaiser quälte ein Lächeln hervor, hob sein Glas und lud Pytlik ein, mit ihm anzustoßen. Was er dann sagte, nahm ihm der Hauptkommissar nicht ab.
»Denn sonst wird auch die zweite Preuß-Tochter unglücklich enden!«
Der Klang der Gläser, die sich sanft trafen, war kaum zu hören. Die Blicke der beiden Männer durchdrangen den jeweils anderen. Pytlik versuchte, der angespannten Situation eine andere Richtung zu geben.
»Ich habe gehört, du hast ein schönes kleines Schwimmbad…«
Joseph Ferdinand Kaiser fühlte sich anscheinend perfekt abgeholt. Womöglich hatte er aus dieser ersten Konfrontation mit dem Hauptkommissar die für ihn notwendigen Schlüsse gezogen.
»Komm mit! Du bekommst eine exklusive Führung!«
***
Kaiser hatte seinen Zeigefinger elegant über das winzige Display gleiten lassen. Ein kurzes Summen erfolgte und der Hausherr drückte die mit Holz umrahmte Glastür auf. Es schien wie eine eigene kleine Welt in diesem Traumschloss zu sein. Wie von Geisterhand wurde eine große Halle in dezentem Licht erleuchtet. Über eine breite Treppe gelangten Pytlik und Kaiser in eine Art Vorraum, in dem bereits ein weiteres Buffet mit allerlei Köstlichkeiten vorbereitet war. Pytlik versuchte, sich sein Erstaunen nicht anmerken zu lassen. Allerdings wusste Kaiser, dass es niemanden kalt lassen würde, was er im Keller seines Hauses zu bieten hatte.
»Und? Wie gefällt es dir?«
Kaisers Frage war überflüssig, ein typischer Einsteiger. Just in dem Moment, als Pytlik zur Antwort ansetzen wollte, betraten beide durch eine breite Glasschiebetür das Hallenbad – das »Planschbecken«, wie Franziska es genannt hatte. Kaiser spuckte die Daten wie ein Computer aus, noch bevor Pytlik höflich fragen konnte.
»Die Halle hat eine Grundfläche von 30 mal 15 Metern. Das Becken ist 15 Meter lang und sieben Meter breit. Das Fassungsvermögen beträgt etwa 160 Kubikmeter, natürlich individuell beheizbar. Lichtspiele ohne Ende und so weiter und so weiter! Die Fliesen…«
Pytlik hörte sich gute zehn Minuten lang eine detaillierte Beschreibung an. Kaiser ließ nicht die geringste Kleinigkeit aus, um Pytlik in Erstaunen zu versetzen. Dem Hauptkommissar gefiel alles sehr gut, das musste er zugeben.
»Erstaunlich! Durchdacht bis ins letzte Detail! Da kann man sich ja richtig austoben!«
Kaiser war Pytliks Wertschätzung wohl ganz egal. Außerdem hatte der Hauptkommissar das Gefühl, dass all das nicht in erster Linie einem funktionalen Zweck diente, sondern eher eine Art Vorzeigeobjekt darstellen sollte. Zu unbenutzt sah alles aus, unabhängig davon, dass für die bevorstehende Poolparty alles auf Hochglanz gebracht worden war.
»Wann seid ihr hier eigentlich eingezogen?«, wollte er wissen.
»Vor 15 Jahren! Alles muss irgendwie zusammenpassen bei uns, weißt du! Mein Vater hat immer gesagt: ›Mit 70 höre ich auf! Dann wirst du die Firma übernehmen!‹ Sein freundliches Lächeln dabei und das aufmunternde Schulterklopfen habe ich einfach hingenommen.«
Kaiser leerte sein Glas mit einem verbittert wirkenden Gesichtsausdruck, dann holte er sich aus einem großen Kühlschrank ein neues Getränk.
»Willst du auch?« Pytlik nutzte die Gelegenheit.
»Gerne! Also hattest du einen anderen Lebensplan?«
Die beiden stießen an. Joseph Ferdinand Kaiser spielte in der einen Hand mit dem Kronkorken zwischen Zeigefinger und Daumen, während er einen kräftigen Schluck aus der Flasche nahm.
»Es gab keine Chance für einen anderen Lebensplan! Mein Vater hat damals mit gerade einmal 18 Jahren die Firma mit einem Freund gegründet. Die beiden waren ein gutes Team, die Firma wuchs sehr schnell und wurde immer größer. 1961 kam der Kompagnon meines Vaters durch einen Unfall ums Leben. War wohl eine harte Zeit für meinen alten Herren, aber er hat sich durchgebissen. Nachdem sein Erstgeborenes ein Junge war, war der weitere Weg somit vorgegeben.«
Kaiser trank erneut, die Flasche war danach leer, er holte sich Nachschub. Pytlik blieb stumm und hörte nur zu.
»Ich habe eine Lehre auf dem Bau gemacht, danach Bauingenieurwesen studiert. München ist eine schöne Stadt, wenn du verstehst. Hat ein bisschen länger gedauert mit dem Studium. Habe es dann mehr schlecht als recht abgeschlossen. 1988 bin ich dann offiziell mit in die Firma eingestiegen, als angestellter Geschäftsführer neben meinem Vater. Im selben Jahr kam unser Sohn auf die Welt, zwei Jahre später unsere Tochter.«
Je mehr Kaiser seinen Lebenslauf vor Pytlik darlegte, desto mehr hatte der Hauptkommissar das Gefühl, es würde den Bauunternehmer zunehmend anwidern, darüber zu sprechen.
»Und dann hat dein Vater dir alles übergeben, aber er ist immer noch fleißig mit im Tagesgeschäft dabei. Das heißt, es hat sich nichts geändert!«
Wieder nahm Kaiser einen kräftigen Schluck, seine Mundwinkel zogen sich nach unten, er starrte auf den Boden und nickte.
»Das Grundstück hier hat er mir geschenkt, während er in Pressig in unmittelbarer Nähe zum Firmengelände residiert. Da ist es natürlich nicht einfach und sicher auch nicht gewollt, sich von heute auf morgen aus allem rauszuhalten und zu sagen: ›Jetzt mach du mal!‹ Er hat schon immer alles genau unter seiner Kontrolle haben wollen. Aber ich lasse mich halt nicht gerne kontrollieren! Ich habe auch noch ein eigenes Leben. Verstehst du?«
Kaisers Stimme war lauter geworden. Nachdem er Pytlik nicht angeschaut hatte, hätte man meinen können, er klage gerade seinen Vater an. Dem Hauptkommissar war die Situation nun doch etwas unangenehm. Schließlich hatte er Franziskas Schwager gerade einmal kennengelernt und nicht den besten Eindruck von ihm gewonnen, da schüttete dieser ihm bereits sein Herz aus. Kaisers nächster Satz ging Pytlik durch Mark und Bein.
»Wenn er mal nicht mehr da sein wird, verkaufe ich alles und verschwinde hier!«
Für einige Sekunden hallten die Worte nach. Keiner der beiden regte sich. Dann ging Kaiser zum Schwimmbecken, stellte sich breitbeinig an den Rand und schaute auf die spiegelglatte Oberfläche. Pytlik folgte ihm langsam, stellte sich mit etwas Abstand daneben und blickte auf den Boden des hellblau gefliesten Pools, der in gewisser Weise das Dilemma widerspiegelte, in dem Joseph Ferdinand Kaiser sich zu befinden schien.
»Schau dir das an! Hätte ich nicht einfach Thomas, Stefan, Dieter oder Martin heißen können? Musste es unbedingt Joseph Ferdinand sein? Nur, damit er sein Idol in mir weiterleben lassen kann! ›Dschäi-Eff-Käi‹! Wie ich es hasse!«
Pytlik fand die etwa zwei Quadratmeter große, in dunkelblau abgesetzte Fläche in der Mitte des Beckenbodens optisch nicht einmal so unpassend. Dass darauf allerdings die drei bekannten Buchstaben prangten, hatte etwas Dekadentes.
Plötzlich begann Kaiser erst langsam und nachdenklich, dann immer lauter zu lachen. Pytlik musste aufpassen, sich nicht anstecken zu lassen. Kaiser ging sogar in die Knie, nahm die freie Hand vor den Mund und hatte nun schon Tränen in den Augen. Er setzte sich auf eine der gepolsterten Liegen und kam erst nach und nach wieder zur Ruhe.
»Was hast du?«, wollte Pytlik wissen. Er hatte mehr und mehr den Eindruck, dass Kaiser nicht nur bereits zu viel Alkohol getrunken hatte. Er hatte schon einige Menschen mit Drogenproblemen kennengelernt. Der Bauunternehmer zeigte entsprechende Verhaltensweisen.
»Dahinter steckt mehr als nur die plakative Botschaft der Verehrung seines politischen Helden. Tatsächlich steckt dahinter mehr!«, redete Kaiser weiter.
»Aber was erzähle ich da?«
Pytlik schaute zu Kaiser hinüber, der ignorierte den Hauptkommissar allerdings.
»Nein, doch! Es stimmt doch, verdammt noch mal! Hinter diesen drei Buchstaben versteckt mein Vater eines der größten Geheimnisse, die es im Landkreis Kronach jemals gegeben hat. Und ich muss, nein, ich darf...«
Kaisers Lachanfall kam zurück und dauerte einige Sekunden, bevor er fortfuhr.
»Wie verrückt! Ich darf das alles tatsächlich ausbaden!«
Wieder brach er in schallendes Gelächter aus. Dem Hauptkommissar wurde es nun zu unangenehm. Außerdem wollte er Franziska nicht länger allein lassen.
»Ich glaube, ich werde jetzt mal wieder hochgehen. Wirklich sehr beeindruckend das alles hier! Danke, dass ich schon mal vorab schauen durfte.«
Pytlik wartete nicht auf eine Antwort Kaisers; der war ohnehin wieder in Gedanken verloren. Ein kaum wahrnehmbares »Ja, schon gut! Geh nur!« begleitete Pytlik auf seinem Weg.
***
»Hast du Gerda gesehen?«
Pytlik hob die Schultern und verzog das Gesicht. Er wollte Franziska damit signalisieren, dass er nichts verstanden hatte. Der Lärm in der überfüllten Schwimmhalle ließ eine normale Unterhaltung nicht mehr zu. Die diversen Diskokugeln und die laute Musik erzeugten Clubatmosphäre.
Die Beleuchtung war auf ein Minimum reduziert, der Pool wirkte wie ein großer, verführerischer Schlund in Hellblau; immer wieder fielen Gäste gewollt oder ungewollt samt der kompletten Bekleidung ins gut temperierte Nass; andere hatten wohl von der Option gewusst und genossen das Treiben in entsprechendem Outfit im Wasser, die Ellenbogen lässig auf dem Beckenrand und ihre Drinks vor sich abgestellt.
Pytlik meinte, nun zu wissen, wie es im alten Rom zugegangen sein musste. Die nur mit dem Notwendigsten umhüllten Tänzerinnen hatten keinerlei Mühe, sich nach und nach an die entsprechenden Männer heranzumachen, mit denen sie von Zeit zu Zeit in Nischen oder vorbereiteten Zimmern verschwanden.
Die zahlreichen Angestellten des Sicherheitsdienstes hatten gut zu tun, die Lage im Griff zu behalten. Bei manchen Gästen hatte man den Eindruck, als ob es kein Morgen mehr geben würde. Franziska kam mit ihrem Mund nahe an Pytliks Ohr. Sie hatten sich nach dessen Poolbesichtigung zusammen amüsiert, immer wieder hatte Franziska aber auch Bekannte getroffen, so dass dem Hauptkommissar genug Zeit blieb, Leute zu beobachten.
Er hielt sich mit dem Alkoholkonsum zurück. Er hatte an diesem Abend seiner Lebensgefährtin den Fahrdienst versprochen. Mittlerweile war es halb zwölf und er hoffte insgeheim, dass Franziska nicht mehr allzu lange würde bleiben wollen. Er hatte genug!
»Hast du Gerda gesehen?«, wiederholte Franziska ihre Frage. Pytlik schaute sie kurz an und schüttelte den Kopf.
»Niemand weiß, wo sie ist! Ich mache mir Sorgen!«
»Sie ist alt genug! Sie wird schon wissen…«
Pytliks gutgemeinte Floskel hörte sich Franziska nicht bis zum Schluss an. Mit suchendem Blick und besorgter Miene wendete sie sich bereits wieder von ihm ab.
Auf der gegenüberliegenden Seite des Schwimmbeckens kam gerade ein junger Typ aus einem Nebengang zurück. Nur wenige Sekunden nach ihm bewegten sich die beiden rubinroten Vorhanghälften erneut. Eine etwas reifere Frau, leicht schwankend, folgte dem Casanova unauffällig. Sie richtete sich die Frisur, und als sie an ihm vorbeilief, fasste sie ihm mit einer Hand noch einmal kräftig an den Hintern und blickte ihn zufrieden lächelnd an. Dann verschwand sie in der Menge, hob die Hände in die Höhe und begann wie wild zu tanzen. Ihr vermeintlicher Glücksbringer erzählte derweil einem anderen Typen von seinen Erlebnissen.
Pytlik schmunzelte. Er stellte sich vor, was jetzt wohl los wäre, würde eine Sondereinheit der Polizei aufgrund irgendeines besonderen Verdachtes hier aufschlagen und das Haus sowie die Anwesenden einer sorgfältigen Kontrolle unterziehen. Er hoffte weiterhin, bald nach Hause gehen zu können.
Er wollte sich gerade noch einmal am Buffet umsehen, als die Musik etwas leiser gedreht wurde und die Stimmung plötzlich deutlich auf einen Höhepunkt zuzusteuern schien. An der Hinterseite der Halle, mit dem Blick hinaus in den beleuchteten und verschneiten Garten, bildete sich ein Spalier und die Gäste begannen rhythmisch zu klatschen.
›Dschäi-Eff-Käi‹ erklang ein auffordernder und immer lauter werdender Chor aus Dutzenden heiserer Kehlen, die Menge war enthusiastisch und außer Rand und Band. Wie ein Weitspringer bei seinem letzten Versuch im vollbesetzten Stadion stand Joseph Ferdinand Kaiser mit einem Abstand von einigen Metern zum Wasser bereit, um seinen Gästen das wohl erwartete Highlight des Abends zu präsentieren. Und als ob dies nicht schon genug Zurschaustellung von Ego und Macht gewesen wäre, setzte eine seiner Amüsierdamen dem noch die Krone auf, indem sie dem Gastgeber dessen Einstecktuch, versehen mit einem frischen Lippenabdruck, in die Brusttasche seines Jacketts steckte und ihm anschließend noch etwas ins Ohr flüsterte. Welche Schmach, dachte Pytlik, muss das nur für die bedauernswerte Gerda sein! Er schaute sich kurz um, so gut es ging. Weder Franziska noch ihre Schwester wohnten dem Spektakel bei.
Dann ging alles ganz schnell: Joseph Ferdinand Kaiser machte nur wenige kraftvolle Schritte. Als er kurz vor dem Beckenrand mit dem rechten Bein hoch nach vorne absprang, drehte er sich, begleitet von einem Schrei der Freude, in der Luft und schlug danach, halb mit der Schulter, halb mit dem Kopf, auf der Wasseroberfläche auf, unter der er anschließend für einige Momente verschwand.
Das Grölen der Menge hatte den Siedepunkt erreicht. Als wäre es eine selbstverständliche Pflicht, es dem zugedröhnten und hemmungslosen Gastgeber gleichzutun, sprangen in den nächsten Augenblicken nicht wenige wie die Lemminge hinterher.
Pytlik kam es nicht ungelegen, dass er im Getümmel der faszinierten Gäste immer weiter nach hinten durchgereicht wurde. Nun wusste er endgültig, dass es in diesem Haus nicht mehr seiner Anwesenheit bedurfte. Während er noch überlegte, wo Franziska sich aufhielt, sah er plötzlich zwei Männer und eine Frau des Sicherheitsdienstes, die den Eindruck erweckten, als gäbe es ein Problem. Und sie schienen nicht mit irgendjemandem darüber sprechen zu wollen. Während einer der drei unablässig in das Mikrofon seines Headsets sprach, bahnte er sich mit gebotener Rücksicht und Freundlichkeit, aber konsequent und kompromisslos seinen Weg. Pytlik stoppte und sah, dass nur Kaiser das Ziel sein konnte. Der Kronacher Hauptkommissar hätte es nicht für möglich gehalten: Irgendwie war es der jungen Frau, die eher zierlich wirkte, aber resolut ihren Weg ging, gelungen, dem wie eine Luftmatratze im Wasser treibenden Gastgeber ein unauffälliges Zeichen zu geben. Es musste eine Art Notfallcode sein, dachte sich Pytlik. Anders konnte er sich nicht erklären, dass Kaisers Partygesicht plötzlich wie eingefroren schien. Die Securityfrau legte ihren Kopf einmal leicht zur Seite und bedeutete ihm damit, dass eine Rücksprache dringend notwendig wäre.
Unter dem Applaus der Gäste verließ Kaiser nur kurz darauf den Pool, winkte artig wie ein Popstar und sprach ein paar wenige Worte mit einem Mann, den Pytlik schon vorher als eine Art Vertrauten ausgemacht hatte. Mit einem Handtuch rubbelte er sich gründlich den Kopf und zog sich danach provisorisch einen Bademantel an, bevor er mit den drei Begleitern in einem Nebengang verschwand. Niemand hatte in diesem Moment wohl bemerkt, dass Joseph Ferdinand Kaiser aus irgendeinem Grund seine gute Laune schlagartig verloren hatte.
***
Da sich bei ihm nochmal ein kleiner Hunger bemerkbar machte, entschloss sich Pytlik, auf einer kleinen Runde und der gleichzeitigen Suche nach Franziska am Mitternachtsbuffet vorbeizuschauen und sich dort noch etwas zu gönnen.
Zunächst verweilte er aber noch einige Augenblicke und überlegte. Jahrzehntelang hatte er nun bereits interessante, nie langweilige und manchmal nervenaufreibende Polizeiarbeit hinter sich. Die Spannbreite war bei ihm mittlerweile sehr groß. Da hatte es nüchterne und betrunkene Verkehrsteilnehmer gegeben, die meinten, ihn bezüglich der Angemessenheit der Sanktionen belehren zu müssen. Prügelknaben, die sich erst nach einer Nacht in der Ausnüchterungszelle überhaupt erinnern konnten, was am Vorabend passiert war. Tatsächlich musste auch die eine oder andere Katze vom Baum gerettet werden, und sein Assistent Cajo Hermann war bei einem Einsatz sogar fast einmal von einer Giftschlange gebissen worden.
In der jüngeren Vergangenheit waren es aber auch immer wieder schreckliche Verbrechen, bei denen der Hauptkommissar tief in menschliche Abgründe hatte blicken müssen. Und auch, wenn er sich dabei immer wieder fragte, wie es zu solch schrecklichen Taten kommen konnte, hatte er es nie bereut, diesen Beruf ergriffen zu haben. In der einen oder anderen brenzligen Situation mochte er möglicherweise darüber nachgedacht haben.
Er fühlte sich bei seiner Arbeit auch deswegen am richtigen Ort, weil er sich neben seinem Team in der Dienststelle am Kaulanger vor allem auch auf einen ganz wichtigen Partner verlassen konnte: seinen Instinkt! Da war sicherlich nicht irgendein Abflussrohr verstopft, auch würden die Getränkevorräte noch ausreichend sein. Das, was dem Gastgeber vor wenigen Minuten mitgeteilt worden war, bereitete diesem Sorgen. Und Pytliks Instinkt sagte ihm, dass er als Polizist an diesem Abend noch gefragt sein würde.
Der Hauptkommissar war hinaufgegangen ins Erdgeschoss, wo er sich gerade einen Teller mit Lachs, Käse und ein bisschen Obst zurechtmachte. Pytlik hatte Franziska noch nicht gefunden, und er vermutete, dass sie zusammen mit ihrer Schwester in einem Zimmer hinter verschlossener Tür deren Probleme besprach und versuchte, ihr den nötigen Beistand zu geben. Er machte sich zwar keine Sorgen, würde nach seiner kleinen Zwischenmahlzeit aber dennoch seine Suche erneuern. Erst jetzt überlegte er, ob das eine – Kaisers plötzliches Verschwinden – mit dem anderen vielleicht zu tun hatte. Er hielt kurz inne, steckte sich dann aber den kleinen Spieß mit Käse und einer roten Weintraube in den Mund.
Das bunte Treiben fand immer noch in der Schwimmhalle statt. Nur vereinzelt standen in dem großen Wohnbereich Pärchen an den zahlreichen Bistrotischen und unterhielten sich gediegen, teilweise verliebt, hier und da aneinander vorbeiredend. Aufmerksamkeit hatten die Paare alle nur für sich selbst und sie schienen dem wilden Treiben eine Etage tiefer nichts abgewinnen zu können. Die eher angenehme Atmosphäre wurde allerdings unvermittelt gestört.
Durch die große Eingangstür kam der Gastgeber zurück, begleitet von zwei Sicherheitsleuten. Er war noch immer in den langen Bademantel gehüllt und ließ sich gerade von einem der beiden Männer ein weiteres Handtuch reichen. Er lief schnurstracks auf Pytlik zu, zeigte zunächst mit einem ausgestreckten Finger auf ihn und legte dann den Kopf auf eine Seite.
»Ich brauche dich!«
Stunden vorher, als Pytlik noch nicht hinter Kaisers Fassade geblickt hatte, was ihm mittlerweile einigermaßen gelungen war, hätte sich der Hauptkommissar sicherlich stur gezeigt. Auch jetzt wollte er nicht den Eindruck aufkommen lassen, dem Schwager seiner Lebensgefährtin lakaienhaft aufs Wort zu gehorchen. Mit entsprechender Ruhe, etwas provokant und ohne, dass es wirklich notwendig gewesen wäre, legte er zunächst noch etwas vom Buffet auf seinen Teller nach. Kaiser war bereits weitergegangen. Auf der ersten Stufe der Treppe hinauf zur Galerie blieb er stehen und drehte sich um.
»Was ist? Es ist wichtig! Sehr wichtig!«, bekam Kaisers Stimme nun eine unangenehme Schärfe. Erst jetzt kam Pytlik in den Sinn, dass es etwas mit Gerda und vielleicht auch Franziska zu tun haben könnte. An den beiden Bodyguards vorbei folgte der Hauptkommissar dem Gastgeber hinauf, danach verschwanden beide im großen Badezimmer.
Joseph Ferdinand Kaiser holte einen Briefumschlag aus der Tasche des Bademantels hervor und legte ihn auf einem der großen Waschbecken ab. Danach zog er den Mantel und anschließend die nassen Klamotten aus. Bisher hatte er nichts gesagt, und erst, als er mit einem großen Badetuch um die Hüften ins direkt anschließende Schlafzimmer hinüberging, erzählte er dem Hauptkommissar, was geschehen war.
»Was ist mit deinem Arm passiert?«, wollte Pytlik aber zunächst wissen, als er am gut definierten rechten Oberarmmuskel eine Narbe fast schon in Art einer langen Delle sah.
»Was?«
Kaiser war von der seiner Meinung nach unwichtigen Frage irritiert. Ein kurzer Blick auf die besagte Stelle, dann ein lapidares Abwinken mit der Hand.
»Unfall! Schon lange her! Unwichtig!«
Pytlik wollte nicht weiter nachhaken; dann kam Kaiser zur Sache.
»Ich werde erpresst! Anscheinend hat jemand meinen Vater entführt! Draußen an der Mauer steht in großen Buchstaben eine entsprechene Drohung. Mit Klebeband war außerdem noch der Umschlag befestigt worden, der dort liegt.«
Während Kaiser sich rasch neue Kleider anzog, bedeutete er Pytlik mit einer Geste, den Brief zu holen und ihn sich anzuschauen.
»Ich habe schon bei meinem Vater angerufen«, gab Kaiser dem Hauptkommissar bereits einen Hinweis, was auf dem DIN A4 Blatt als Botschaft in wenigen Zeilen verfasst war.
»Niemand hebt ab! Sowohl meinen Vater als auch meine Mutter kann ich auf ihren Handys nicht erreichen. Was hältst du davon?«
Pytlik saß auf dem Rand der Badewanne, den Teller hatte er neben sich abgestellt. Mit spitzen Fingern holte er das Papier aus dem Umschlag und las nun laut vor, so dass Kaiser es auch noch einmal hören konnte:
»Die Zeit der Abrechnung ist gekommen! So einen Betrug hätte es im Kaiser-Reich nicht geben dürfen! Dein Vater will es nicht wieder gutmachen! Dafür wird er sterben! Deadline Mitternacht Firmengelände! Ich hoffe, du bist klüger! Keine Polizei!«
Zum Glück und zu seiner eigenen Beruhigung lief dem Hauptkommissar Franziska noch über den Weg. Es war bereits zehn Minuten vor Mitternacht. Pytlik und Joseph Ferdinand Kaiser machten sich auf den Weg nach Pressig zum Firmengelände der Kaiser Bau GmbH.
»Hör zu: Sprich mit den Leuten von der Security! Es sieht so aus, als ob JFK und sein Vater in Schwierigkeiten stecken. Kein Wort davon zu sonst irgendjemandem! Es wird wohl am besten sein, ihr versucht, die Party hier langsam und ohne großes Aufsehen aufzulösen.«
Franziskas anfänglich ungläubiges Lächeln wich schnell einer ängstlichen und fragenden Miene. Sie kannte Pytlik bereits so gut, dass sie wusste, dass er es ernst meinte und Gefahr im Verzug war.
»Aber, was ist denn…?«
Pytlik packte sie so sanft wie möglich, aber mit Nachdruck an den Oberarmen. Er schaute ihr streng in die Augen.
»Erzähle einfach, dem Seniorchef waren die Anstrengungen von heute zu viel. JFK kümmert sich um ihn! Etwas Besseres fällt mir im Moment nicht ein! Ich erkläre es dir später!«
Er gab ihr einen Kuss und war im nächsten Augenblick verschwunden. Kaiser hatte das Haus bereits verlassen.
***
Pytlik hatte nicht viel Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Situation war allem Anschein nach sehr ernst! Er hoffte, dass auf dem kurzen Weg nach Pressig nicht irgendwo eine Polizeikontrolle stattfand. Den Kollegen alles zu erklären, hätte mit einem angetrunkenen Joseph Ferdinand Kaiser auf dem Beifahrersitz sicherlich zur Eskalation in jeder Hinsicht geführt. Nach wenigen Minuten stoppte der Hauptkommissar seinen Wagen auf einem großen Platz inmitten des riesigen Firmengeländes, das unbeleuchtet war.
»Und jetzt?«, wollte Kaiser mehr von sich selbst als von Pytlik wissen. Es schien, als spräche er mit dem Unbekannten über einen Kopfhörer im Ohr. Der Hauptkommissar ließ den Motor laufen und war hochkonzentriert.
»Keine Ahnung!«, antwortete er und steuerte das Auto mit schleifender Kupplung weiter ins Werk hinein. Die digitale Uhr im Cockpit des Dienstwagens zeigte noch zwei Minuten bis Mitternacht. Die Nerven der beiden Männer waren zum Zerreißen gespannt, als plötzlich ein Teilbereich vor einer großen Maschinenhalle von mehreren Lampen angestrahlt wurde.
»Da! Verdammt!«
Pytlik hatte es als Erster gesehen. Kaiser beugte sich auf dem Beifahrersitz schnell nach vorne und wischte mit dem Unterarm die leicht angelaufene Windschutzscheibe frei. Das Auto stoppte nun, Pytlik stellte den Motor ab.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte Kaiser. Im nächsten Moment ging seine Hand zum Türgriff und er schien wild entschlossen.
»Warte!«, zischte Pytlik. Kaiser schaute ihn ungeduldig an.
»Was?«
»Du musst versuchen, Zeit zu gewinnen. Ich werde alles Weitere veranlassen. Verwickle wen auch immer in ein Gespräch. Vergiss deine Wut! Du musst Zeit gewinnen! Falls er noch nicht tot sein sollte, ist es umso wichtiger! Hast du verstanden? Wenn er nach mir fragt, sag einfach, ich wäre einer vom Sicherheitsdienst! Ich gehe davon aus, dass er mich wegschicken wird. Dann parke ich das Auto außer Sichtweite, bleibe aber in der Nähe. Verstanden?«
Kaiser nickte. Danach verließ er vorsichtig, um sich schauend und hilflos wirkend, mit halb erhobenen Händen Pytliks Wagen. Pytlik hatte ein schlechtes Gefühl. Allein konnte er in der aktuellen Situation nicht viel ausrichten. Sofort machte er sich daran, seinen Assistenten Cajo Hermann anzurufen. Nur ihm würde er die prekäre Lage schnell erklären können, so dass der die entsprechenden Maßnahmen einleiten würde. Mit dem Handy am Ohr beobachtete er genau, was geschah; die Uhr zeigte in diesem Augenblick vier Nullen an. Hermann nahm nicht ab! Noch hatte er Hoffnung!
Er ließ die beiden Scheiben der Fahrer- und Beifahrertür einen kleinen Spalt nach unten fahren, als er im nächsten Augenblick das Gefühl bekam, sein Herz würde ihm gegen das Kinn springen. Kaum, dass er die beiden Kippschalter in der Tür betätigt hatte, schlug mit lautem Knall ein Geschoss im linken Außenspiegel ein, der sich in Sekundenbruchteilen in tausende kleine Splitter auflöste und anschließend den Schneeboden neben und vor dem Auto wie mit dunklem Sand bestreut aussehen ließ. Was Pytlik ohnehin vermutet hatte, war ihm nun mit Nachdruck klargemacht worden. Sofort drehte er den Zündschlüssel herum, legte den Rückwärtsgang ein, schaltete das Abblendlicht aus und versuchte, im nach hinten schwächer werdenden Lichtkegel der Lampen auf dem Werksgelände so weit wie möglich in die Dunkelheit davonzufahren.
***
Joseph Ferdinand Kaiser zitterte am ganzen Körper. Es war eine Mischung aus Unbehagen, der Kälte, die von seinem Kopf mit den immer noch feuchten Haaren langsam nach unten in seinen Körper zog und Angst. Große Angst! Es war ein Gefühl, das er nicht kannte. In seinem ganzen Leben hatte er sich immer darauf verlassen können, beschützt zu sein. Niemand konnte ihm etwas anhaben! Immer hielt sein Vater seine Hände über ihn. Wenn es sein musste, flossen Geld und Beziehungen, um Schaden zu beheben, den er angerichtet hatte. Er konnte sich darauf verlassen! Der Preis war allerdings hoch! Ein Leben in Saus und Braus? Ja! Aber nicht mit einer solchen Firma am Hals! Erst jetzt bemerkte er zum ersten Mal, wie absurd seine Vorstellung vom Leben eigentlich war.
Je näher er dem Gabelstapler kam, desto mehr zitterte er. Er wusste, dass er beobachtet wurde. Wie bei einem Gewitter, bei dem man nie sagen konnte, ob der nächste Donnerknall nicht mit dem Blitz einherging, der einen selbst traf, hatte er Angst, dass jeden Moment der tödliche Schuss knallen würde.
»Papa? Papa, kannst du mich hören!«, rief er vorsichtig. Die Luft war um die zehn Grad unter dem Gefrierpunkt kalt. Die Nacht war klar und es war nahezu totenstill. Kaiser beschlich ein Gefühl der Schuld, Mitleid kam in ihm hoch und er begann, leise vor sich hin zu wimmern. Die Augen brannten und schließlich kullerten Tränen seine Wangen hinab.
Das Szenario kam Kaiser Junior surreal vor. Der alte Mann – Joseph Ferdinand Kaiser hatte seinen Vater eindeutig erkannt – kniete auf einer Holzpalette, die sich in circa zweieinhalb Metern Höhe auf der Gabel des Staplers befand. Wilhelm Kaiser war nackt und seine Hände waren vorne gefesselt und mit einem Strick am Stapler fixiert. Ebenso waren die Unterschenkel mit zwei Seilen am Holzunterteil festgemacht, so dass er keine Chance hatte, aufzustehen oder zu entkommen. An seiner rechten Gesichtshälfte konnte Joseph Ferdinand Kaiser großflächig bereits verkrustetes Blut sehen. Der Mund war mit Panzerband zugeklebt, das einmal um den gesamten unteren Kopfbereich gewickelt war. Nur leicht drehte Kaisers Vater den Kopf zur Seite. Er wirkte schwach und erschöpft.
Für einen kurzen Moment dachte Joseph Ferdinand Kaiser daran, worum es hier sehr wahrscheinlich ging. Er war froh, dass Pytlik sich hatte zurückziehen müssen. Kaiser wartete jeden Augenblick darauf, dass irgendetwas passierte. Dass er seinem Vater nicht helfen konnte, das war offensichtlich. Der Alte – das wurde seinem Sohn erst jetzt so richtig bewusst – hatte um den Hals eine Fahne gebunden, die neben den Farben Schwarz, Rot und Gold mittig auch Hammer, Zirkel und Ährenkranz zeigte. Kaiser konzentrierte sich nun, der erste Schock war überwunden. Jetzt bemerkte er auch, dass unter seinem Vater eine braune, zähe Flüssigkeit in regelmäßigen Tropfen hinunter auf den Boden fiel. Kaisers Augen wurden immer größer. Auf der Palette schien zudem noch eine Flagge ausgebreitet zu sein, die er aufgrund der bereits erheblichen Verschmutzung durch die Fäkalien seines Vaters nicht mehr genau identifizieren konnte, allerdings für die US-amerikanische hielt.
Kaiser wollte schon ansetzen und seinen Vater etwas fragen, als er ein Summen hörte. Auf einer aus leeren, gestapelten Getränkekästen errichteten Säule in kurzer Distanz zum Stapler, auf der oben eine Kunststoffplatte befestigt war, lag ein Mobiltelefon. Dem Unternehmer war klar, was das bedeutete. Er ging hinüber, nahm das Handy und schaute auf das kleine, blau leuchtende Display. Anonym stand da zu lesen. Von den wenigen Tasten drückte Kaiser ängstlich und voll gespannter Erwartung die mit dem grünen Telefonhörer. Dann führte er das kleine Gerät vorsichtig an sein Ohr.
»Hallo!«, sagte er schüchtern und gar nicht nach seiner Art. Die Stimme, die er zu hören bekam, war verstellt, klang monoton und düster.
»Ich will wissen, wo das Gold ist! Dein Vater will das Geheimnis mit ins Grab nehmen. Seine Entscheidung! Er wäre ohnehin gestorben! Er hat meine Familie und mich zerstört! Jetzt zerstöre ich seine! Also, ich frage dich jetzt. Wenn du mir keine Antwort gibst, die mir gefällt, ist er tot! Überlege dir genau, was du sagen wirst! Hast du das verstanden?«
Instinktiv hatte Joseph Ferdinand Kaiser die Schultern etwas hochgezogen und versucht, seinen Kopf so tief wie möglich davor zu verstecken. Er war auf alles gefasst!
»Ja!«, antwortete er zögerlich. Ohne weitere Unterbrechung formulierte der Unbekannte dann klar und deutlich die Frage.
»Wo ist das Gold?«
Es war wohl eine Art Reflex; möglicherweise hatte Kaiser auch nicht damit gerechnet, dass die Drohung so kompromisslos in die Tat umgesetzt werden würde.
»Von welchem Gold reden Sie?«
Es war wie ein dumpfer Aufprall eines Geschosses auf Holz, dass Joseph Ferdinand Kaiser, kaum, dass er die Gegenfrage ausgesprochen hatte, vernahm und das ihn, wie zu einer Salzsäule erstarrt, bewegungsunfähig machte. Vor Schreck hatte er das Handy auf die Platte fallen lassen. Langsam drehte er nach einigen Sekunden seinen Kopf nach links und sah, was er befürchtete.
Sein Vater war in sich zusammengesunken und mit dem Oberkörper nach vorne gekippt, soweit es die Fixierungen zugelassen hatten. Am vorderen seitlichen Kopfbereich rechts klaffte eine große Wunde. Joseph Ferdinand Kaiser meinte zu sehen, dass Teile der Schädeldecke fehlten, leichter Qualm waberte durch das schüttere und verklebte Haar. Auf dem Boden unterhalb der Staplergabel lagen kleine, blutverschmierte Teile. Kaisers Mund wurde trocken. Der Schock über das, was gerade passiert war, verhinderte, dass er schrie.
Im nächsten Augenblick fiel er auf die Knie und musste sich übergeben. Mehrmals erbrach er eine Mischung aus allem, was er in den Stunden vorher gegessen und getrunken hatte. Speichelfäden hingen ihm aus dem Mund, Tränen liefen ihm über das Gesicht und er wünschte sich, an irgendeinem Ort ganz weit weg und ganz allein zu sein. So allein, wie er sich gerade fühlte! Wo war der Polizist? Wo waren seine Frau, seine Kinder? Niemand war jetzt da, um Joseph Ferdinand Kaiser aufzufangen, ihn zu beschützen, ihm zu helfen. Sein Vater hing angekettet eine Staplergabelhöhe über ihm und war tot! Kaiser fühlte sich nackt und verletzlich. Langsam rappelte er sich auf, mit den Händen dabei durch sein Erbrochenes tastend.
Das Mobiltelefon summte bereits einige Sekunden. Kaiser spukte demonstrativ aus, wischte sich dann die Hände an seiner Jacke und den Mund am Ärmel ab und torkelte mehr, als dass er anständig ging zu dem provisorischen Tischchen. Er drückte die grüne Taste und legte das Handy wieder an sein Ohr. Langsam drehte er sich dabei einmal im Kreis, wohl wissend, dass er den unbekannten Schützen nicht würde sehen können. Er hatte noch nicht einmal eine geringste Ahnung, aus welcher Richtung der Schuss gekommen war.
»Hör jetzt gut zu!«, ermahnte ihn die emotionslose Stimme.
»Ich lasse dir die Zeit, dich von deinem Vater zu verabschieden. 72 Stunden! Am 25. um spätestens 24 Uhr hast du, was ich will oder du bist der Nächste!«
»Aber…«, versuchte Kaiser wie ein kleiner Junge zu protestieren. Der Unbekannte ließ ihm keine Chance.
»Du erfährst noch rechtzeitig den Ort für die Übergabe. Lass die Polizei aus dem Spiel! Halte dich bereit!«
Dann war das Gespräch beendet, Joseph Ferdinand Kaiser schaute wie benommen auf das Display. Dann drosch er das Mobiltelefon mit voller Wucht auf den Boden und schrie so laut er nur konnte. Anschließend sank er wieder auf die Knie, ließ sich nach vorne auf die Ellenbogen fallen, stütze den Kopf in seinen Händen ab und weinte hemmungslos.
***
Pytlik hatte sein Auto am Rand der breiten Zufahrtsstraße zum Firmengelände der Kaisers geparkt, weit genug abseits der vorgelagerten Wohnsiedlung. Er nahm eine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und machte sich schnellen Schrittes auf den Weg. Nachdem er durch das große geöffnete Gittertor wieder in Sichtweite des beleuchteten Staplers war, suchte er sich eine geschützte Nische, die er für sicher befand und aus der heraus er alles beobachten konnte.
Kaiser ging langsam und auf wackeligen Füßen in Richtung der ausgesetzten Palette, auf der sein Vater mit dem Rücken zu ihm kniete. Der Hauptkommissar konnte sehen, dass der alte Mann kurz zuckte, da er anscheinend von seinem Sohn angesprochen worden war. Hören konnte Pytlik allerdings nichts. Dann machte er sich ein genaueres Bild von der Situation. Neben dem Stapler, nur wenige Schritte entfernt, stand eine Art Säule, auf der ein kleiner Gegenstand lag. Pytlik kombinierte schnell und wusste, was gleich passieren würde. Wilhelm Kaiser war in einem erbärmlichen Zustand. Pytlik fror bereits beim bloßen Hinschauen. Außerdem hatte der Senior eine Wunde am Kopf. Die Hände waren nach vorne gefesselt, und auch die Beine schienen irgendwie fixiert zu sein. Er wäre ein schlechter Ermittler gewesen, wenn er das nicht bereits als einen ersten Hinweis auf das wahrgenommen hätte, was seiner Vermutung nach noch folgen würde.
Am meisten wunderte sich der Hauptkommissar über die Fahne, in die Wilhelm Kaiser gehüllt war. Pytlik konnte die Flagge der ehemaligen DDR erkennen. Plötzlich tat sich etwas! Kaiser schaute zu dem Stapel Getränkekisten – Pytlik hatte es mittlerweile so erkannt – und lief anschließend hin, nahm den Gegenstand in die Hand, schaute ihn kurz an und legte ihn dann an sein Ohr. Der Hauptkommissar konnte nichts hören, ließ seine Augen zwischen Wilhelm Kaiser und dessen Sohn hin und her wandern. Als er wieder den Alten im Fokus hatte, schreckte er plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen. Pytliks Puls begann zu rasen. Ein Geschoss – dessen war er sich sicher – hatte Wilhelm Kaiser offensichtlich am Kopf getroffen. Er schaute schnell zu Kaiser Junior. Das Handy hatte er vor sich fallen lassen. Er war wie paralysiert und starr vor Schock. Dann schaute er hinauf auf die Palette, fiel anschließend auf die Knie und übergab sich mehrmals. Pytlik war innerlich zerrissen! Zum einen versuchte er, schnell zu analysieren, von wo der Schuss gekommen war. Andererseits wollte er natürlich irgendetwas tun und eingreifen; schließlich war er Polizist! Aber er musste erkennen und sich eingestehen, dass es keinen Sinn machte, gegen einen unsichtbaren Gegner anzukämpfen und sich selbst dabei zusätzlich in Gefahr zu begeben. Derweil rappelte sich Joseph Ferdinand Kaiser langsam wieder auf. Er machte einen zerbrechlichen Eindruck, wischte sich Mund und Hände an seinen Klamotten ab und lief langsam wieder zum vorbereiteten Tisch, da das Handy sich anscheinend noch einmal meldete. Pytlik sah, das Kaiser zuhörte, einmal kurz ansetzte etwas zu sagen und wenig später das Telefon mit voller Wucht auf den Boden schmetterte. Dann brüllte er aus Leibeskräften, fiel wieder auf die Knie und begann verzweifelt zu weinen. Wenige Augenblicke später erloschen die Lampen und es war stockfinster.
***