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Samstag, 22. März 2003

Ruhe. Pytlik lag mit geöffneten Augen im Bett und bemerkte eine angenehme Stille, wie sie ihm in der vergangenen Woche selten vergönnt gewesen war. Mit einem geübten Handgriff hatte er den schrillen Alarmton des Weckers auf seinem Nachttischschränkchen zum Schweigen gebracht und sich aus der bequemen Seitenlage auf den Rücken gedreht. In den letzten Tagen hatte das Wetter noch einmal deutlich gemacht, dass der Frühling kalendarisch zwar schon begonnen, der Winter sich aber noch nicht verabschiedet hatte. Das Schlafzimmer war nahezu komplett verdunkelt, Pytlik stellte sich vor, wie es draußen aussehen würde. Der März in der oberfränkischen Kreisstadt neigte sich dem Ende zu. Der späte Frost der letzten Tage hatte die Landschaft mit einem weißgrauen Schleier überzogen. Während der Nacht hatte die Kälte Wiesen und Wälder zart vereist und die Gedanken an die nächsten Stunden beschäftigten Pytlik bereits. Sieben Uhr! Der Kronacher Hauptkommissar war kein Langschläfer, auch nicht an den Wochenenden. Er wollte seine freien Tage nicht im Bett verbringen, schon gar nicht, wenn es gar keine freien Tage waren. Lydia, seine Lebensgefährtin, war aus München zu Besuch. Da sie darauf bestand, ihr samstägliches Jogging-Programm auch während des Aufenthaltes in Kronach zu absolvieren, hatte Pytlik ihr vorgeschlagen, dies mit seiner Arbeit zu verbinden. Er ermittelte seit Donnerstag in einem Mordfall in Steinbach am Wald. Der erfahrene Polizist war bereits zu der Erkenntnis gelangt, dass er diesmal wohl eine harte Nuss zu knacken haben würde. Zusammen mit seinen Kollegen der Kronacher Polizeiinspektion stocherte er bislang vergebens im Dunkeln. Lydia! Pytlik merkte erst jetzt, dass es nicht nur ruhig war. Nein, es war nahezu totenstill. Er hielt die Luft an und gleichzeitig tastete er mit seiner rechten Hand hinüber in die andere Betthälfte, die zu seinem Erstaunen leer war. Er überlegte. Dann stand er auf, ließ die elektrischen Rollos nach oben fahren und ging ins Badezimmer. Nach einer heißen Dusche begab sich der Ermittler ins Erdgeschoss. Bereits auf dem Weg hinunter kam ihm der Duft von frischem Kaffee entgegen. Das Licht aus dem Esszimmer bahnte sich schwach den Weg bis in den Flur.

„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar!“

Guten Morgen, Herr Hauptkommissar! Pytlik wiederholte die Worte Lydias in Gedanken. Er hätte sich vor einem halben Jahr, als er die attraktive Blondine bei einem Kuraufenthalt kennenlernte, nicht vorstellen können, dass sich aus einer heißen Affäre möglicherweise eine ernste Geschichte entwickeln würde. Zu oft hatte er in den Jahren nach der Scheidung von Marlies Beziehungen zu Frauen abgebrochen - alleine nur seines Berufes wegen. War es diesmal etwas ganz Anderes? War diese Fernbeziehung vielleicht wie geschaffen für zwei Menschen, die am meisten in ihrer Arbeit aufgingen. Eine Zerreißprobe hatte es bisher noch nicht gegeben. Eine ernste Geschichte - war es das wirklich?

„Guten Morgen!“ Pytlik, noch etwas schläfrig, küsste Lydia auf die Wange und musste trotz seiner stattlichen Größe dafür nicht einmal sonderlich in die Knie gehen. Der Tisch war bereits gedeckt, Lydia schon in sportliches Outfit gekleidet. Pytlik warf einen kurzen Blick aus dem Küchenfenster und konnte sehen, dass auch bei den Nachbarn gegenüber schon reges Treiben herrschte. Er erinnerte sich. Ralf Merkel hatte seiner Frau ein Ski-Wochenende geschenkt. Der Architekt packte hektisch den letzten Koffer in sein Auto. Tatsächlich bot sich dem Hauptkommissar ein spätwinterliches Ambiente. Die Äste der Bäume und andere Pflanzen schienen sich ein letztes Mal den trocken funkelnden Eiskristallen beugen zu müssen. Die Stadt machte - wie immer am Wochenende und erst Recht zu dieser frühen Tageszeit - einen verschlafenen, ja leblosen Eindruck. Von der Bahnstrecke gegenüber seiner Doppelhaushälfte im Wohngebiet am Flügelbahnhof, drang das monotone Rauschen eines vorbeifahrenden Güterzuges an Pytliks Gehör.

„Wann wollen wir denn los?“, fragte Pytlik, obwohl er den Zeitplan genau kannte.

„Franz! Denk’ nach! Um halb neun. Wie besprochen.“

Als sich Pytlik an den Frühstückstisch setzte, merkte er, dass er die Hektik und den Stress der letzten Tage für die Stunden mit Lydia beiseite gelegt hatte. Das dachte er zumindest. Die Gegenwart war ihm näher, als er dies zu wünschen gewagt hätte.

***

Pytlik wies Lydia an, wie sie am schnellsten auf die B85 in Richtung Steinbach am Wald kommen würde. Nachdem sie die Rhodter Straße verlassen hatten und durch die Karl-Bröger-Straße gefahren waren, bat er sie, rechts auf die Bundesstraße 173 abzubiegen. Danach weiter bis zur Südbrücke und dann wieder rechts.

Wenn möglich, bitte wenden!

Andy war nicht einverstanden mit des Hauptkommissars Anweisungen, Lydias Kommentar folgte prompt.

„Also, was nun?“, fragte sie mit souveräner Stimme, den Blick nach vorne gerichtet. Meinte sie eigentlich Andy oder Pytlik?

„Ich kam zwar erst 1958 nach Kronach und ich kenne auch nicht jeden kleinen Winkel dieses Landkreises, aber du kannst mir vertrauen. Fahr’ jetzt bitte!“

„Schon gut!“

„Und überhaupt! Warum stellst du dein Navi nicht endlich wieder auf Frauenstimme um? Nervig, dieser Typ!“

„Reg’ dich ab!“ Lydia musste schmunzeln.

Pytliks Stimmung schien zu kippen. Er war bereits konzentriert ob der folgenden Stunden und wollte vor seinem Besuch im Waldhotel „Goldenes Reh“ in der verbleibenden Zeit noch einmal alles durchgehen. Deshalb mochte er nicht den Weg „hintenrum“ über Friesen, Gifting, Posseck und Teuschnitz nach Steinbach fahren, sondern bevorzugte die gute alte B85. Die ständigen Kurven und das Auf und Ab wären an diesem Samstagmorgen nicht gut für ihn gewesen.

„Entschuldige, die Geschichte macht mir im Moment nur etwas zu schaffen.“

Er wusste, dass dies kein gutes Wochenende war, um Lydia bei sich zu haben. Unterbewusst war da wieder dieses Gefühl. Er würde seine Arbeit immer über alles Andere stellen. Möglicherweise würde er schon eher, als es ihm lieb war, einen Kompromiss eingehen müssen.

Als Lydias Kombi die Kronacher Festwiese passiert hatte und sie begann, den Wagen zu beschleunigen, durchbrach sie die konzentrierte Stille.

„Erzähl’ schon! Oder darfst du nicht darüber reden?“

„Wie? Was? Ach so...“ Pytlik wurde aus seinen Gedanken gerissen und wusste Lydias Frage zunächst nicht zu deuten.

„Eine bildhübsche Frau, Anfang vierzig. Wurde am Donnerstagmorgen mit einem Genickschuss in ihrem Hotelzimmer gefunden. Ihren Papieren nach eine gebürtige Russin. Was sie genau gemacht hat und warum sie bereits seit mehreren Wochen in dem Hotel war, werden wir hoffentlich bald wissen. Ihr Leben - oder besser ihre Identität - scheint genau bis nach Dresden zu reichen. Hinweise auf die russische Abstammung, aber dann verliert sich die Spur auch schon.“

„Und am Tatort?“

Pytlik drehte schnell den Kopf zu Lydia, die dessen Verdutztheit mit einem schüchternen Lächeln entgegnete. „Was denn? Sei doch froh, wenn ich mich dafür interessiere? Das ist für mich ja auch irgendwie spannend, mal so hautnah dabei zu sein. Also, gibt es bereits Spuren?“

Pytlik klappte sein Notizbuch, das er vor sich auf den Beinen liegen hatte, zu und schaute aus dem Fenster. Er und seine Kollegen hatten tatsächlich schon einige Anhaltspunkte für die Ermittlungen gefunden.

„Sagen wir mal so. Ich habe irgendwie das Gefühl, dass da etwas Größeres dahintersteckt.“

„Was meinst du?“

„Weiß nicht!“

„Aha!“

„Ein bekanntes und sehr gutes, abgelegenes Waldhotel zwischen Steinbach und Kleintettau, in dem eine offenbar alleinstehende russische Frau absteigt und relativ lange bleibt. Und ein Mord, der auf den ersten Blick nicht vermuten lässt, dass sich da jemand nur in der Zimmertür geirrt hat.“

„Was soll das heißen?“

„Na ja, formulieren wir es mal vorsichtig: Es lässt einiges darauf schließen, dass wir es hier mit einer Geschichte zu tun haben, die sich von unseren bisherigen Fällen deutlich unterscheidet.“

„Wie kommst du darauf?“

„Weiß nicht! Niemand hat etwas gesehen oder gehört und...“

Pytliks Handy klingelte. Lydia schaute neugierig.

„Guten Morgen, Doktor Weidner. - Aha, sind Sie sich sicher? - Sonst keine Verletzungen? - Keine Kampfspuren? - Sperma? Im Mund? Na, das ist doch schon mal was! Ich danke Ihnen. Schönen Tag noch.“

Pytlik drückte auf die Taste mit dem roten Telefonhörer. Seine Stimme klang mit einem Mal etwas optimistischer.

Die Informationen des Coburger Rechtsmediziners waren kurz und prägnant. Es hatte sich weitgehend bestätigt, was Pytlik vermutete. Die Tatsache, dass die Ermordete vor ihrem Tod noch Sex gehabt hatte, konnte immerhin zu einer Spur werden.

„Na wenigstens etwas“, zeigte sich der Hauptkommissar zufrieden. Lydia gegenüber wollte er nicht im Detail ausführen, was bei der Spurensicherung am Tatort festgestellt werden konnte. Das schien ihm dann doch zu weit zu gehen.

„Sie hat also mit ihrem Mörder gevögelt, ihm einen geblasen und danach hat er sie abgeknallt. Vielleicht war sie ja auch eine Prostituierte!“

Lydia brachte das eben Gehörte mit für sie ungewohnt derber Rhetorik auf den Punkt.

„Pass auf! Vorsicht!“

Pytlik wurde mit voller Wucht in den Sicherheitsgurt gepresst, das Rattern des Anti-Blockiersystems zeugte von Gefahr. Im letzten Moment hatte sich das kleine Kitz doch noch überlegt, die Straße zu überqueren und im Gehölz kurz hinter Rothenkirchen zu verschwinden.

„Ein goldenes Reh“, pustete Pytlik. „Das kann kein Zufall sein!“

„Huch! Das war aber...“

„Könntest du jetzt bitte einfach nur fahren!“ Pytlik hatte einen roten Kopf, der unter seinem stets gut gebräunten Gesicht mehr zu vermuten, als zu sehen war. War es nur der neue Fall? War es ihre Fragerei? War es ein versteckter innerer Druck, mit Lydia über die Zukunft reden zu müssen? War es die Frage danach, ob er nicht lieber wieder alleine sein wollte? Er wusste nur, dass eine Entschuldigung im Moment nichts bringen würde. Er hob sich das für später auf. Lydia fuhr weiter, nach zehn Minuten waren beide auf dem Parkplatz am Steinbacher Schützenhaus angekommen.

„Gut“, begann Lydia das Gespräch zuerst wieder, während sie sich, an ihren Audi gelehnt, mit ausgiebigen Dehnübungen warm machte. Sie redete mit spitzer Zunge.

„Ohne, dass ich dir jetzt wieder zu kriminalistisch erscheinen oder reinreden will, möchte ich dennoch wiederholen, wie der Vormittag nun geplant war. Nur, damit es nicht zu weiteren Angestrengtheiten kommt.“

Pytlik hatte ebenfalls damit begonnen, seine Muskulatur auf Betriebstemperatur zu bringen und nickte ihr mit zusammengepressten Lippen zu.

„Hier geht’s entlang?“ Lydia zeigte mit ausgestrecktem Arm zur Frankenwaldhochstraße, die an der Wasserscheide weiter in Richtung Kleintettau führte.

„Ja.“&xnbsp;&xnbsp;&xnbsp;

„Gut, dann irgendwo in den Wald abbiegen zum - wie hieß der gleich noch? - Ölschnitzer See?“

„Ölschnitzsee. Ja.“

„Gut, Ölschnitzsee. Wie viele Kilometer sind das ungefähr?“

Pytlik hatte keine Ahnung, zumindest keine genaue. Er hatte hier einmal eine Radtour mit seinem Kollegen Justus Büttner gemacht, der in Steinbach wohnte. Das war aber schon eine Weile her.

Er verfügte über einen guten Orientierungssinn und würde sicherlich die eine oder andere Schleife einbauen können, so dass Lydias Pensum erfüllt werden würde.

„Es ist jetzt“, Pytlik machte eine kurze Pause und blickte auf sein Handgelenk, „kurz nach neun. Ich denke, wir werden so zehn bis zwölf Kilometer hinbekommen. Sagen wir, so gegen halb elf müssten wir wieder hier sein. Das Freizeitzentrum befindet sich gegenüber.“

Er machte eine Geste und zeigte in die entgegengesetzte Richtung, wobei er wie ein Verkehrspolizist wirkte, der mitten auf einer Kreuzung den Verkehr regelte.

„Ich bin mit dem Hotelmanager um zwölf verabredet. Das heißt, eine gute Stunde schwimmen ist noch drin.“

„Vielleicht kann ich ja auch zwei Stunden schwimmen und du holst mich später ab. Ich will ja nicht stören.“

Die letzten Worte Lydias waren fast ungehört verhallt, da sie sich mit lockerem Trab bereits zum Radweg begab und dort, auf der Stelle tänzelnd, Pytlik mit herbeiwinkender Handbewegung aufforderte, sie nicht so lange in der Kälte stehen zu lassen.

***

Nach wenigen hundert Metern waren Pytlik und Lydia nach links in den Wald abgebogen. Die niedrigen Temperaturen forderten die Lungen bereits zur Höchstleistung und erst nach einigen Minuten hatte sich für die Beiden der Spaß am Laufen und der Wahrnehmung der aufgeräumten und jungfräulich wirkenden Natur eingestellt.

Pytlik versuchte, sich für den Lauf von den anderen Gedanken frei zu machen.

„Da, schau!“ Lydias ausgestreckter Zeigefinger schnellte nach vorne. Ein Fuchs hatte hastig den lange geradeaus verlaufenden Schotterweg passiert. Mit einem kurzen Blick nach links schien er die beiden Sportler zu grüßen.

„Natur pur“, schickte sie hinterher und ihr war anzumerken, dass sie sich von Pytliks störrischer Laune keineswegs hatte beeindrucken lassen. An der ersten Wegkreuzung deutete Pytlik nach rechts, danach querten sie die Straße, die nach Windheim führte und liefen dann eine ganze Weile parallel zur Frankenwaldhochstraße durch atemlose Stille, die nur vom Knistern der Schuhsohlen auf dem kalten Weg begleitet wurde.

Nachdem beide ohne bedeutenden Wortwechsel schon eine beachtliche Strecke zurückgelegt hatten und nach einer Art Kehrtwende bereits wieder auf dem Rückweg waren, schaute Pytlik auf seine Uhr.

„Zehn! Das könnte ganz gut hinkommen. Wenn ich mich nicht irre, müsste es da vorne bereits zum See runter gehen.“

„Wenn du dich nicht irrst? Und wenn du dich irrst?“ Lydia war nicht wirklich bang, sie war gut trainiert.

„Wenn ich mich irre? Dann rufe ich Cajo an. Sondereinsatz.“

Cajo Hermann war Pytliks rechte Hand und die Zuverlässigkeit in Person. Pytlik lachte Lydia leise an und legte mit ein paar schnellen Schritten einen Zwischenspurt ein, wobei er ähnlich einer Dampflok die kalte Luft angeberisch in den Himmel blies.

„Na, warte!“ Als Lydia den Hauptkommissar nach einigen Metern eingeholt hatte und beide wieder im Gleichschritt nebeneinander herliefen, war tatsächlich durch eine Baumgruppe der Windheimer Ölschnitzsee zu sehen.

„Da!“ Pytlik, leicht außer Atem, schob das Kinn nach vorne, um Lydia zu zeigen, was er gesehen hatte.

„Wow, ist ja ein Hammersee!“ Die Ironie in Lydias Stimme war nicht zu überhören, Pytlik nahm die Rolle des geforderten Verteidigers aber erst gar nicht an.

„Ich schlage vor, wir laufen rechts bis vor zum Seehaus, dann links auf die Überlaufbrücke und danach hoch in den Wald. Eine Viertelstunde noch, dann sind wir am Auto. Da kannst du noch mal zeigen, was du drauf hast.“

„Das schwör’ ich dir aber“, gab Lydia selbstbewusst zurück und ließ Pytlik mit einem leichten Rempler fast aus dem Gleichgewicht geraten, was dieser mit einem jugendlichen „Ich krieg dich!“ quittierte und ihr hinterher rannte. Die Wogen schienen geglättet.

Der Ölschnitzsee - bei den Einheimischen schlicht der Freizeitsee genannt - war nach seinem Bau Mitte der 1980er Jahre zu einem beliebten Ausflugsziel über die Gemeindegrenzen hinaus geworden. Klein, aber fein, taugte er nicht nur an heißen Sommertagen für eine willkommene Abkühlung, sondern bot Ausflüglern aus Nah und Fern zu jeder Jahreszeit eine gute Gelegenheit, die Natur zu genießen.

Pytlik war einige Male mit Justus Büttner auf ein Feierabendbier hier gewesen und hatte mit seinem langjährigen Gefährten und Leiter der Schutzpolizei alte Zeiten Revue passieren lassen. An diesem Samstagvormittag zeigte sich dem Ermittler und seiner Begleitung ein atemberaubendes Bild. Der Frost hatte eine hauchzarte Eisschicht auf die Wasseroberfläche gezaubert und der Blick vom hinteren Ende des Sees vor zum Überlauf schien fast ein wenig irreal - kitschig vielleicht! Keiner von beiden wollte die Szenerie kommentieren, aber jeder spürte für sich den ganz besonderen Moment und genoss ihn. Zwei Minuten später waren die beiden selbst Teil des Bildes. Als sie gerade auf der Überlaufbrücke waren, stoppte Pytlik plötzlich.

„Mist! Warte! Ich hab’ einen Stein im Schuh.“

Lydia brach langsam ab, tippelte allerdings auf der Stelle weiter und wandte sich zurück.

„Komm schon, Franz! Du brauchst doch nur noch mal eine kurze Verschnaufpause vor dem letzten Anstieg. Gib es zu!“

Pytlik brauchte keine Verschnaufpause, allerdings wusste er in diesem Moment noch nicht, dass er bereits wenige Augenblicke später kreidebleich und sprachlos nach Halt suchen würde.

„Beeil’ dich! Ich lauf’ schon mal weiter, sonst friere ich hier fest.“

Kaum hatte Lydia die letzte Silbe gesprochen, begann vor des Hauptkommissars Augen ein nur wenige Sekunden dauernder Film, den er sein Leben lang nicht vergessen sollte. Ohne, dass er die Gefahr schon bewusst ahnte, nahm er die beiden Lichter des Fahrzeugs wahr, das sich, von der Frankenwaldhochstraße herunter kommend, der Brücke näherte. Im gleichen Moment - Lydia war gerade wieder losgelaufen - geschah das Unfassbare.

„Aaaaaaaaaah!“

Das ploppende Geräusch kam direkt von unterhalb der Überlaufmauer und übertönte das filigrane Knacken des millimeterdünnen Eises. Lydia, die sich genau auf Höhe des Ereignisses befand, reagierte gleich einem scheuenden Pferd vor einem plötzlich auftauchenden Hindernis. Mit einem schreckhaften Schritt zur Seite trat sie nach dem lauten Schrei auf eine tellergroße, zugefrorene Pfütze, rutschte aus, verlor das Gleichgewicht und war innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde zum Spielball der Schwerkraft geworden. Pytlik, gute zehn Meter von ihr entfernt, hatte aufgehört zu atmen. Er wusste nicht, wohin er sich zuerst wenden sollte. Mit dem halben Oberkörper, den Kopf zur Straßenmitte gestreckt, lag Lydia nach ihrem Sturz auf der Fahrbahn und schien nach dem harten Aufschlag benommen zu sein. Pytlik war unfähig, etwas zu tun.

Von den großen Scheinwerfern des Kleinbusses geblendet, riss er den rechten Unterarm vor seine Augen.

„Lydiaaa! Neiiiin!“

***

Dem Quietschen der Reifen folgte eine unheimliche Stille. Ohne zu wissen, warum, schaute Pytlik zunächst nach rechts, dem Kleinbus hinterher, der nach einer Schlingerfahrt und anschließender Vollbremsung leicht quer versetzt über die beiden Fahrspuren stand. Pytlik nahm die Bremslichter, den ruhig aufsteigenden Rauch aus dem Auspuff und die vereiste Heckscheibe wie eine stille Bedrohung wahr. Seine eigene Angst bemerkte er nicht. Nach wenigen Augenblicken fuhr das Fahrzeug weiter, ohne dass sich der Fahrer oder sonst jemand gezeigt hatte. Pytlik war es nicht einmal wichtig, sich das Kennzeichen zu merken - wieso auch?

Lydia! Blitzschnell drehte er sich um. Seine Lebensgefährtin saß bereits wieder aufrecht auf dem Schotterweg, hielt sich aber mit beiden Händen den Kopf und jammerte schmerzvoll. Der Kleinbus war ihr im letzten Moment ausgewichen.

„Lydia! Wie geht es dir? Zeig mal! Schön langsam!“

Pytlik nahm Lydia in den linken Arm und untersuchte gleichzeitig mit seiner rechten Hand ihren Kopf und das Gesicht auf äußere Verletzungen. Sie schien bis auf Kopfschmerzen weitgehend unversehrt zu sein, allerdings hatte sie die Todesangst wohl ziemlich mitgenommen. Sie wimmerte leise vor sich hin und noch bevor Pytlik wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, stammelte sie mit ängstlicher Stimme und mit einer Geste hin zum Wasser, ohne den Blick zu heben: „Was war das? Was ist das?“

Pytlik war nun hellwach. Seit dem Moment, in dem er das Geräusch gehört hatte, war sein kriminalistischer Spürsinn aktiviert. Es gab nur eine Möglichkeit. Das idyllische Bild des mit einem leichten Eisüberzug bedeckten Ölschnitzsees hatte vor wenigen Augenblicken tatsächlich einen Riss bekommen. Ein schwarzer Plastiksack trieb ruhig an der Oberfläche.

***

Pytlik fasste in die kleine Gesäßtasche seiner Laufhose und rief zunächst Justus Büttner an, in der Hoffnung, dieser wäre zuhause und könnte am schnellsten vor Ort sein. Gleichzeitig würde er zwei oder drei Streifenwagenbesatzungen zum Freizeitsee beordern. Danach informierte er Cajo Hermann, den er beim Frühstücken in Kronach störte, ihm die Dringlichkeit der Situation aber unmissverständlich deutlich machte. Hermann wies er zudem an, alle erforderlichen Maßnahmen für die Bergung einer Wasserleiche in die Wege zu leiten. Die Staatsanwältin Strehmel zu informieren, übernahm Pytlik persönlich.

„Ja, äh, Pytlik, Kripo Kronach. Guten Morgen, Frau Staatsanwältin.“

Pytlik hatte sich in der Zwischenzeit zunächst noch um Lydia gekümmert, die sich nur schwerlich von den Geschehnissen zu erholen schien. Außerdem hatte er den Plastiksack in Augenschein genommen und mit erfahrenem Blick gemutmaßt, dass es sich beim Inhalt nur um menschliche Überreste handeln konnte.

„Ja, ich weiß, wie spät es ist, Frau Strehmel. - Nein, das ist es ja. Eigentlich war ich gerade auf dem Weg zum Waldhotel, einige Fragen klären wegen der ermordeten Frau. Wie wir das besprochen hatten. - Um es kurz zu machen: Kennen Sie den Ölschnitzsee in Windheim? - Ja, genau den. - Ich war hier joggen. Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit eine weitere Leiche. Sie müssen kommen. - Doch, das ist mein Ernst!“

Pytlik war mittlerweile nicht mehr der Jogger am Samstag, er war seit Minuten der Hauptkommissar aus Kronach, der es nun womöglich mit zwei Leichen zu tun hatte. Daran, was in den nächsten Stunden und Tagen los sein würde, mochte er noch gar nicht denken. Er hoffte nur, dass Büttner genügend Decken und etwas Warmes zu trinken für Lydia und ihn mitbringen würde. Wenn nicht bald die Zufahrtswege abgesperrt würden, könnte es zu einem Auflauf neugieriger Menschen kommen. Der schwarze Plastiksack lag ungefähr drei oder vier Meter weit vom Brückengeländer des Sees entfernt ruhig im Wasser.

***

Justus Büttner reichte Pytlik alle mitgebrachten Decken, nachdem er sich zunächst bei Lydia vorgestellt und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte. Pytlik wollte sein Privatleben eigentlich so gut es ging von seinen Arbeitskollegen fernhalten. Die aktuelle Situation war nicht dazu angetan. Nachdem Lydia warm eingepackt und mit heißem Tee versorgt war, setzte sie sich in Büttners Auto, um sich dort weiter aufzuwärmen und auf die Streifenwagenbesatzung zu warten, die sie zu Pytlik nach Hause bringen würde.

„Hurnsaggramend, Franz! Dess gibbds doch nedd! Jetzt ach nuch a Wasserleich - wenns ana is! Woss issn genau bassierd?“

Pytlik erzählte Justus Büttner in Kurzform die wichtigsten Details. Die vom Schweiß nassen Klamotten hatte er ausgezogen. Mit einem übergroßen T-Shirt, einem XXL-Pullover und einer Jacke Büttners, die dieser mitgebracht hatte, sah der durchtrainierte Hüne ein bisschen komisch aus. Sein Kollege war eben eher der gemütlich-unsportliche Typ.

„Und? Woss dengsda? Dess konn duch ka Zufoll sei! Also, ich mahn, stell dir moll vor: Vorgestern werrd die Russa im Hodell erschossn, heud wumöchlich nuch a Leich, an Staawurf weid entfernd. Dess is ka Zufoll, glaab mer dess!“

Hätte man Franz Pytlik jemals gefragt, welche Person er gleichermaßen wertschätzte und verteufelte - Justus Büttner wäre die richtige Antwort gewesen. Der bärige Blasmusiker, wie Pytlik Jahrgang 1950, war langjähriger Weggefährte des Hauptkommissars. Seine manchmal träge wirkende, stets jedoch scharfsinnige Art und Weise, war nicht jedermanns Ding. Pytlik, der kein gebürtiger Kronacher, ja nicht einmal Franke oder Bayer war, sondern die ersten acht Jahre seines Lebens in Berlin verbracht hatte, fand sich immer noch in Situationen wieder, in denen er Büttners gesprochenes Wort nur erahnen konnte. Diesmal blieben hinsichtlich des puren Verständnisses kaum Zweifel, was der Polizeihauptmeister gesagt hatte. Und inhaltlich - da war sich Pytlik sicher - mochte sein Kollege wohl auch Recht haben.

„Im Moment denke ich gar nichts. Lass uns das hier erst mal sauber abwickeln! Wenn die Spurensicherung da ist und ich mit der Strehmel gesprochen habe, fahr’ ich nach Hause. Duschen, umziehen, schauen, was mit Lydia ist und dann müssen wir uns zusammensetzen. Das gibt einen Riesenaufschrei. Vielleicht können wir uns bis Montag einen Vorsprung herausholen.“

„Du maanst, dass mir dess bis Modich vor der Bresse verheimlichn könna?“

„Müssen wir! Wir machen die Straße von Windheim und von oben her dicht, bis hier alles abgeschlossen ist.“

„Und woss is mit Wanderer?“

„Lass dir was einfallen!“

Mit einem Blick auf den schwarzen Plastiksack im Wasser ging Pytlik zu Büttners Auto.

***

Es war fast halb eins. Mittlerweile herrschte am Ölschnitzsee reges Treiben. Pytliks Assistent, Cajo Hermann, war ebenso vor Ort, wie mehrere Kollegen der Schutzpolizei und die Staatsanwältin aus Mitwitz. Der Freizeitsee spiegelte das Blaulicht der anwesenden Einsatzfahrzeuge flackernd wider. Pytlik lief mit Lisa Strehmel, Hermann und Büttner zur Uferstelle, an die zwei Beamte den Plastiksack mit Holzstöcken hingezogen hatten. Die beiden grüßten die Herankommenden kurz und schauten dann neugierig zu Büttner. Der wiederum schien Pytlik ein Zeichen geben zu wollen.

„Na gut, wer weiß, wann die von der Spurensicherung kommen.“

Der Hauptkommissar zog sich die Plastikhandschuhe über, die er bereits griffbereit hatte und ging vorsichtig die fünf Meter am steilen Hang hinunter zum Rand des Sees.

„Seien Sie vorsichtig, Pytlik!“

Lisa Strehmels gutgemeinte Warnung schmeichelte ihm. Er mochte die gutaussehende Juristin. Sie war stets sehr kooperativ und auch, wenn es einmal Meinungsverschiedenheiten gab, fanden die beiden starken Charaktere meist eine Lösung. Als er in die Hocke ging, um den mit Algen und Schlamm bedeckten Sack zu begutachten, stutzte er zunächst, dann fiel es ihm ein. Es schien kein herkömmlicher Plastiksack zu sein, vielmehr handelte es sich um eine Leichenhülle, die man nicht an jedem Kiosk bekommen konnte. Die, die Pytlik in seiner langen Dienstzeit schon gesehen hatte, sahen ähnlich aus.

Der Sack war von den Verwesungsgasen aufgebläht. Es handelte sich um eine luftdichte Hülle, wie sie häufig bei Gefahr von Infektionskrankheiten in Erdbeben- oder Seuchengebieten verwendet wurden. Die Außennähte waren verschweißt. An den vier Tragelaschen hingen Seile, die an der Unterseite zusammenliefen und anscheinend am Grund des Sees befestigt waren. Die Taucher würden das überprüfen.

Pytlik war komisch zumute. Auch wenn er schon einige Leichen gefunden oder in der Rechtsmedizin auf dem Seziertisch hatte liegen sehen - was würde ihn jetzt erwarten? Die klare Luft würde schon sehr bald mit faulig-süßen Dämpfen angereichert sein, die beiden Schutzpolizisten traten vornehm ein paar Schritte zurück. Der Reißverschluss war völlig unbrauchbar, Pytlik nahm das Messer, das ihm Büttner mitgegeben hatte, zur Hand und setzte den ersten Stich in die schwarze Hülle, während er gleichzeitig versuchte, seine Nase so gut wie möglich vor dem ausströmenden Gestank zu schützen.

„Boah! Heiliger! Aaaah!“

Pytlik wich ruckartig mit dem Kopf zur Seite. Die Gase, die ihm entgegen kamen, rochen bestialisch. Die Umstehenden zuckten ebenfalls zusammen und nahmen reflexartig die Hände vor das Gesicht. Pytlik zog sich den Jackenkragen über die Nase, um so wenig wie möglich von dem beißenden Gestank abzubekommen. Dann machte er sich daran, den Sack entlang des Reißverschlusses vorsichtig aufzuschneiden. Mit jedem Zentimeter mehr ergriff Ekel von ihm Besitz und er musste sich stark zusammennehmen, um nicht abbrechen zu müssen. Er dachte zur Ablenkung an Lydia. Wie ging es ihr wohl gerade? Was würde sie über diesen Tag, das Wochenende, ihre Beziehung denken? Mist, dachte Pytlik, nimm dich zusammen! Du musst das irgendwie in den Griff bekommen. Das hier geht vor! Er hörte von oben leises Murmeln und Wortfetzen wie „... bei Wasserleichen ganz schlimm...“ - „... möchte nicht mit ihm tauschen...“ oder „... je nachdem, wie lange die schon da unten gelegen war...“. Er meinte auch, von einem der Schutzpolizisten, ein bisschen weiter entfernt, so etwas wie „Wetten, dass er gleich kotzt?“ gehört zu haben. Wahrscheinlich aber nur Einbildung. Tatsächlich war es hart an der Grenze, als er die letzten Schnitte gemacht und die flügelartigen Gummifetzen des Leichensackes auf beide Seiten geklappt hatte.

Langsam, fast bedächtig, entfernte sich Pytlik ein wenig von dem, was er auf den ersten Blick nur wegen Form und Größe als menschlichen Körper bestätigen konnte. Die Überreste waren bereits teilweise skelettiert. Wie er vermutet hatte, war nur wenig Wasser eingedrungen. Die Leiche war auch nicht von Maden oder sonstigen Insekten bevölkert. Spontan dachte er daran, dass hier jemand sehr professionell getötet hatte. Pytlik konnte gerade noch erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Von Kleidungsstücken oder sonstigen Gegenständen in der Hülle konnte er nichts feststellen. Außerdem fragte er sich, wie lange die Leiche bei diesem Zustand und den frostigen Temperaturen da unten schon gelegen haben mag. Doktor Weidner würde es herausfinden. Erst jetzt machte sich Pytlik Gedanken über den Kopf, der fehlte. Und darüber, dass es hier eigentlich gar keine Wasserleiche gab, sondern eine Leiche, die im Wasser abgelegt worden war. Aber er würde das nicht thematisieren.

„Was ist das?“, war Lisa Strehmel als Erste zu hören.

Pytlik fasste sich. Der Gestank hatte nun um sich gegriffen und alle Minen hatten sich deutlich verdunkelt.

„Wenn ich es richtig sehe, ein menschlicher Körper! Ich vermute, dass es sich um einen Mann handelt und bin mir sicher, dass er keinen Kopf mehr hat.“

Während Pytlik die Abscheu vor dem Entdeckten bereits abzulegen schien, stieß seine Feststellung bei den Anderen noch mehr auf Entsetzen. Einzig Strehmel behielt die Beherrschung. Nachdem sie ihren luxuriös anmutenden Wintermantel demonstrativ enger geschnallt und den Kragen hochgeklappt hatte, ging sie zurück zu ihrem Auto.

„Gut, so groß ist dieser See ja nicht, dann warten wir halt auf den Kopf. Kann ja nicht so lange dauern, bis der auch noch auftaucht. Herr Pytlik, kommen Sie dann bitte noch zu mir!“

***

Pytlik und Hermann saßen zusammen mit Lisa Strehmel in einem Einsatzbus der Schutzpolizei. Die Coburger Kollegen der Spurensicherung waren gerade angekommen und hatten die wichtigsten Informationen abgeholt, bevor sie sich an die Arbeit machten. Pytlik hatte sie gleich vorgewarnt, dass er die Leiche sozusagen schon geöffnet hatte.

In Anwesenheit der Staatsanwältin mochten die „Weißkittel“, wie Pytlik sie nannte, nicht murren, was sie sonst in solchen Fällen aber gerne und ausgiebig taten. Für Pytlik jedes Mal aufs Neue ein leidiges Thema. Er telefonierte noch kurz mit dem Hotelmanager des Waldhotels „Goldenes Reh“, um ihm mitzuteilen, dass etwas dazwischengekommen war und er sich wieder bei ihm melden würde.

„... ja, Herr von Mainegg. Wir werden die Ermittlungen in Ihrem Hotel so bald wie möglich abschließen. Dennoch müssen einige Punkte noch einmal geklärt werden. Das verstehen Sie sicherlich. Ich werde mich am Montag bei Ihnen melden. Bitte halten Sie sich zur Verfügung! - Ja, selbstverständlich. Geht in Ordnung. Schönen Tag noch, Herr von Mainegg.“

„Arschloch!“ Pytlik zischte den Fluch kurz und bündig, nachdem er aufgelegt hatte.

„Macht er Probleme?“, wollte Lisa Strehmel wissen. Sie hatte bereits unmittelbar nach den ersten Spurensicherungen im Fall der ermordeten Russin zwei Tage zuvor mit Pytlik gesprochen. Dem Hotelchef, Armin von Mainegg, schien die Tatsache, dass in seinem weithin bekannten Fünf-Sterne-Haus eine Frau umgebracht worden war, weder sonderlich zu passen, noch hatte er Verständnis dafür, dass die Kripo ihren Job so gut wie möglich erledigen wollte.

„Keine Probleme“, brummte Pytlik, der Lydia parallel noch eine SMS schickte, um in Ruhe an die Arbeit gehen zu können.

&xnbsp;„Was denken Sie? Ich meine, für Sie ist das im Moment sicherlich eh noch ein bisschen unglaublich, auch wegen der Geschichte mit Ihrer...“

Strehmel setzte einen neugierigen Blick auf und fuhr fort. „... Lebensgefährtin?“

Pytlik musterte Strehmel mit einem durchdringenden Blick. Warum hatte sie das getan? Ohne Not! Warum wollte Strehmel ausgerechnet jetzt eine Art definitives Bekenntnis zu Lydia von ihm haben? Spielte sie mit ihm? Oder war es gar nicht böse gemeint und er redete sich einfach zu viel ein?

„Meiner Freundin geht es gut soweit. Ich wüsste nicht, was sie damit zu tun hat. Und ich bin fit. Punkt!“

Für einen Moment herrschte Schweigen.

Hermann machte eine Pseudo-Notiz, Strehmel fuhr fort.

„Gut, dann noch mal: Kann das Zufall sein? Also, ich meine nicht unbedingt, dass ausgerechnet heute, als Sie hier joggen und in einem anderen Mordfall ermitteln, eine neue Leiche genau vor Ihrer Nase auftaucht. Ich meine vielmehr, ob die beiden Leichen generell etwas miteinander zu tun haben könnten. Was glauben Sie?“

„Hm!“ Pytlik massierte mit Daumen und Zeigefinger sein Kinn und schaute nachdenklich auf den Boden. Dann hob er den Blick.

&xnbsp;„Das ist kein Zufall! Nicht heute und nicht generell. Ich weiß noch nicht wie, aber ich glaube, die beiden Leichen haben tatsächlich etwas miteinander zu tun.“

„Was macht Sie so sicher?“ Lisa Strehmel nutzte die Gelegenheit. Sie wusste, wenn Pytliks Gedanken erst einmal losgelassen waren, konnte er wichtige Anhaltspunkte oder auch nur vage, subjektive Vermutungen gut miteinander verknüpfen.

„Mein Gefühl macht mich so sicher. Cajo, haben wir im Moment Vermisstenmeldungen? Kann auch schon ein paar Monate zurückliegen, so wie die Leiche aussah.“

Hermann tat etwas überrascht. „Äh, nicht, dass ich jetzt wüsste. Aber das prüfen wir.“

„Gut“, erhob sich Pytlik duckend von seinem Sitz. „Ich habe für heute genug vom Ölschnitzsee. Frau Strehmel, ich würde die Presse gerne erst am Montagvormittag informieren.“

„Kann ich verstehen! Ich werde mich darum kümmern. Und dass Sie bis Montag einen Bericht von der Rechtsmedizin bekommen.“

„Danke Ihnen. Ach, Sie bleiben noch oder...“

„Nein, ich wollte jetzt eigentlich auch los.“

„Könnten Sie mich vielleicht bis zum Schützenhaus in Steinbach mitnehmen? Das wäre nett.“

„Gerne.“

***

Kurz vor achtzehn Uhr klingelte es an Pytliks Haustür zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten. Pierre Lehner, ein Kommissar aus Coburg, stand mit den Händen in der Jackentasche und von einem auf den anderen Fuß wippend, auf der Treppe.

In Fällen wie diesem bekamen die Kronacher meist Unterstützung von der benachbarten Kripo aus der Vestestadt. Pytlik hätte ihn weniger gut gelaunt erwartet. Schließlich war es trotz der Dringlichkeit der aktuellen Ereignisse immerhin Samstagabend. Dennoch wollte der Hauptkommissar so gut wie möglich vorbereitet in die neue Woche gehen. Jeder sollte am Montag wissen, was in der Doppelermittlung zu den beiden Leichen zu tun wäre.

„Hallo Pierre! Tja, blöd gelaufen, aber...“

„Schon gut, Herr Pytlik. Hatte eh nichts vor. Meine Freundin hat heut’ Mädelsabend.“

„Kommen Sie rein!“

Nach einem kurzen Handschlag legte Lehner seine Jacke ab und ging direkt ins Wohnzimmer, wo Hermann und Büttner bereits in ein intensives Gespräch verwickelt waren.

Diesmal, anders als meistens, schien es allerdings sehr konstruktiv zu verlaufen. Akten und Fotos lagen auf dem Wohnzimmertisch verteilt. Frisch eingeschenktes Bier vermittelte den Eindruck dessen, was hier stattfand. Pytlik hatte darum gebeten, die Sitzung bei ihm zuhause durchzuführen.

Die Vereinbarkeit mit Bier und Brotzeit wäre somit kein Problem und außerdem hätte die Wochenendarbeit im mit Folien verhängten und Gerüsten zugebauten „Präsidium“ nicht wirklich motiviert.

Nachdem sich Lehner, Hermann und Büttner kurz begrüßt hatten und Pytlik noch ein paar belegte Semmeln auf den Tisch gestellt hatte, eröffnete er die Runde.

„Gut, es ist nun mal, wie es ist. Wir haben zwei Leichen und so wie es aussieht, auch zwei Morde. Wir müssen jetzt versuchen, alles, was wir bisher wissen, so aufzubereiten, dass wir am Montag mit Hochdruck an die Arbeit gehen können. Fangen wir mit der Russin an. Cajo?“

Hermann räumte ein paar Fotos vom Tatort im Waldhotel ‚Goldenes Reh’ zur Seite, um freien Blick auf einen DIN A4 Block zu haben, auf dem er sich die wichtigsten bisherigen Ermittlungserkenntnisse notiert hatte.

„Na gut, die Russin also. Maria Antonowa, alias Maria Brolin, geboren 1961 in Moskau, zuletzt wohnhaft in Dresden. Wenn man davon ausgehen kann, dass sie so, wie sie gefunden wurde - nämlich blond - ihrer eigentlichen Identität entspricht, war sie laut Personalausweis die Antonowa. Und so war sie im Hotel auch eingecheckt. Wir haben allerdings noch einen anderen Ausweis gefunden, der sie mit brünetten Haaren zeigt. Maria Brolin heißt sie da, gleiches Baujahr, geboren in Dresden. Die Perücke wurde übrigens auch im Zimmer gefunden.“

„Scheiße, dess hodd unners grohd nuch gfehld!“

Justus Büttner wurde von Pytlik bei Ermittlungen in Kapitalverbrechen immer von Anfang an mit einbezogen.

Er war der Meinung, dass der Leiter der Schutzpolizei über den Ermittlungsstand genauso informiert sein sollte, wie die Kripobeamten. Seine oftmals ungefilterten Kommentare sorgten in der Regel für Schmunzeln.

„Weiter!“ Pytlik war hoch konzentriert.

„Die Hotelangestellten sagen aus, dass die Antonowa seit dem 23. Februar Gast im ‚Goldenen Reh’ war. Außerdem konnten einige Angestellte bestätigen, dass eine Maria Brolin seit dem Jahr 2001 insgesamt sechs Mal jeweils mehrere Wochen in dem Hotel verbrachte. Ich hab’ mal im Internet recherchiert und siehe da: Maria Brolin ist - oder besser: war - alleinige Geschäftsführerin der ‚BroCon’, was soviel heißt wie Brolin Consultancy.“

„Und woss is dess?“, wollte Büttner wissen, aber auch Pytlik schien froh darüber zu sein, dass Lehner wie aus der Pistole geschossen antwortete.

„Unternehmensberatung. Also, das ist jemand, der...“

„Ja, ja, scho gloa, blöd bin ich ja nedd.“

„Gut“, setzte Hermann wieder an, „die Antonowa tritt also über zwei Jahre hinweg in regelmäßigen Abständen im Landkreis Kronach auf. Unter falscher Identität - Maria Brolin nämlich - scheint sie hier wichtige Dinge vorzuhaben. Zumindest so wichtig, dass diese Geschäfte ein Motiv für den Mord sein könnten, weil wir zwar ihre Laptoptasche im Zimmer gefunden haben, das gute Teil selbst aber verschwunden ist.“

„Es kann aber natürlich auch sein, dass ihre wahre Identität als Maria Antonowa das Motiv für den Mord war.“

Typisch Lehner, dachte sich Hermann, ohne den berechtigten Einwurf seines Kollegen zu kommentieren. Nach einigen weiteren Ausführungen seines Assistenten, ging Pytlik zunächst in die Küche, um noch Bier zu holen. Als er am Kühlschrank stand, musste er an Lydia denken. In einer Mischung aus physischem Schmerz durch den Sturz und Wut über den Ablauf des Tages, sowie der Gewissheit, dass das Leben eines Hauptkommissars selbst in Kronach oft fremdbestimmt war, hatte sie ohne große Diskussion die Heimreise angetreten.

Pytlik war traurig darüber, andererseits hatte er jetzt den Kopf für die Ermittlungen frei und er war sicher, das mit Lydia nach ein oder zwei Tagen wieder regeln zu können. Im Moment ging die Arbeit vor - wieder einmal.

„Pierre, was können Sie uns von der Spurensicherung sagen?“

Als Lehner ansetzen wollte, professorenhaft aufzustehen und bei seinem Bericht in Pytliks Wohnzimmer auf und ab zu gehen, stoppte der Hausherr dies abrupt.

„Bleiben Sie ruhig sitzen“, ermahnte er ihn höflich, aber bestimmt. Hermann musste schmunzeln.

„Gut, was wissen wir vom Tatort? Ein Zimmermädchen hat die Frau gefunden. Laut Bericht von Doktor Weidner, ist der Genickschuss die tödliche Verletzung. Ein Hämatom an der Stirn ist Folge des Sturzes vom Stuhl. Das Opfer wurde vorher mit Chloroform betäubt, mit den Händen auf dem Rücken gefesselt und sitzend hingerichtet. Sie trug einen Bademantel. Todeszeitpunkt ist ungefähr halb zehn abends am Mittwoch. Die Waffe: Eine neun Millimeter Makarow, wahrscheinlich mit einem eingebauten Schalldämpfer. Niemand hat einen Schuss gehört. Es gibt verschiedene Fingerabdrücke im Zimmer. Die werden gerade mit denen der Angestellten abgeglichen. Was übrig bleibt, könnte eine ernste Spur sein.“

Pytlik hatte die wesentlichen Infos bereits aus dem Gespräch mit Doktor Weidner bekommen.

„Es gibt da noch etwas“, komplettierte er Lehners Ausführungen. „Doktor Weidner rief mich heute Mittag an. Sperma! Die Leiche hatte Spermaspuren im Mund.“

„No sauber“, ereiferte sich Büttner, dem seine konservativ-katholische Erziehung heilig war. Hermann erkannte die Chance und legte den Finger in die Wunde des Polizeihauptmeisters. Diese Gelegenheit wollte er trotz des Ernstes der Situation nicht ungenutzt verstreichen lassen.

„Aha, sie hat vor ihrem Ableben also noch mal kräftig die Schalmei gespielt. Und Tod durch Ersticken hat der Weidner ausgeschlossen, Franz?“

Büttners Reaktion folgte prompt und ungefiltert: „Also, jetzt langds obber. Wu semmer denn? Bollagg, freggder!“

„Schluss jetzt!“

Pytlik unterband den aufkeimenden Disput zwischen Büttner und Hermann, der hinter vorgehaltener Hand sein Lachen unterdrücken musste.

„Wir können wohl davon ausgehen, dass die Antonowa ihren Mörder kannte. Rein theoretisch könnte es sich so zugetragen haben, dass die Beiden Sex miteinander hatten, der Mörder zu diesem Zeitpunkt seinen Entschluss aber schon gefasst hatte. Die Antonowa duscht dann, und als sie ins Schlafzimmer zurückkommt, passiert es. Fehlen uns nur noch das Motiv und der Mörder und dann können wir uns auch schon der kopflosen Wasserleiche aus dem Ölschnitzsee widmen. Spitze! Ich bin richtig begeistert!“

&xnbsp;Pytlik knallte die flache Hand auf die Glasplatte des Wohnzimmertisches und stand dann ruckartig auf. Die Anderen zuckten zusammen. Wahrscheinlich hatte er doch gerade mehr an Lydia gedacht, als an die beiden Leichen.

„Hat jemand eine Kippe?“ Die Frage war genau so hilflos wie überflüssig. Es war wieder einmal soweit. Immer, wenn es in einem Fall mit den Ermittlungen losging und die momentane Lage nicht viel Anlass zur Zuversicht gab, half bei Pytlik Nikotin. Eine Scheißangewohnheit, dachte er immer wieder. Zu dumm, dass er auf dem Trockenen saß. Üblicherweise hatte er nämlich keine Kippen zuhause und nun extra loszumarschieren, war ihm auchzu blöd.

„Justus ist der Überzeugung, die beiden Leichen haben etwas miteinander zu tun. Was meint ihr?“

Lehner preschte vor und gab zu bedenken, dass ohne fehlende Anhaltspunkte vor allem im Fall der Wasserleiche jegliche Vermutung über Zusammenhänge reine Spekulation sei.

„Andererseits - klar, wenn auf so einem unbescholtenen Fleckchen Erde gleich zwei Morde passieren, wäre das schon ein seltsamer Zufall.“

„Wer sagt denn“, spekulierte Hermann, „dass beide Morde, also vor allem der an dem unbekannten Mann, hier geschehen sind? Könnte ja auch sein, dass der Täter den Mord anderswo ausgeübt und die Leiche dann im Ölschnitzsee versenkt hat.“

Büttner verließ sich auf sein Gefühl und machte mit Überzeugung seinen Standpunkt deutlich, dass beide Morde miteinander zu tun hatten.

„Is a Bauchgefühl. Bassda!“

Die Diskussion schweifte dann irgendwann ab und als Hermann gerade den Fernseher anmachen wollte, um die letzten Bundesligatore in der Sportschau zu sehen, nahm Pytlik das Heft noch einmal in die Hand.

Er stand an der Tür zu seiner Terrasse. Im Glas konnte man sehen, wie er, den einen Ellenbogen auf die Handfläche des anderen Armes gestützt, in die Dunkelheit starrte. Dann drehte er sich ruhig um.

„Bei der Leiche aus dem See müssen wir auf Doktor Weidners Bericht am Montag warten. Ob die Spurensicherung da noch was finden konnte, wage ich zu bezweifeln. Bei dieser Russin sieht die Sache anders aus. Wenn die unter ihrem Alias wochenlang im Hotel war, muss es einfach Hinweise geben. Warum war sie hier? Mit wem hatte sie Kontakt? Was hat sie jeden Tag gemacht? War sie überhaupt jeden Tag weg oder oft im Hotel? Hatte sie Besuch im Hotel? Das sind die Fragen, die wir beantworten müssen. Gibt es vielleicht Personal, das jetzt schon nicht mehr im Waldhotel arbeitet, aber Beobachtungen gemacht hat, als Antonowa alias Maria Brolin die ersten Male dort war? Und vor allen Dingen müssen wir wissen, warum sie ein Doppelleben führte. Die Antworten finden wir vielleicht im Hotel. Ist mir egal, was dieser von Mainegg dazu sagt. Mit dem muss ich sowieso noch persönlich reden.“

Pytlik hatte den letzten Satz noch nicht ganz fertig gesprochen, als sein Handy klingelte. Lydia, hoffte er. Pytlik war froh, dass sie sich bei ihm meldete. Als er sein Telefon von der Ablage des Kamins genommen hatte und auf das Display schaute, war er allerdings enttäuscht. Er drückte auf den grünen Hörer.

„Pytlik! - Ah, hallo. - Sie haben was? Nichts anrühren! Verstanden? Lassen Sie alles so, wie es ist. Wir sind in einer halben Stunde da.“

Die Gesichter Hermanns, Lehners und Büttners schwankten zwischen Neugierde und Unbehagen. Noch ein Mord? Das durfte einfach nicht sein!

Verdammte Erinnerung

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