Читать книгу Die Akte "Rehlein" - Carlo Fehn - Страница 2
ОглавлениеDonnerstag, 21. August 2008
Pytlik hätte es eigentlich nicht auf sich sitzen lassen dürfen. Da hatte doch tatsächlich jemand gewagt, ihm anonym – ohne jeglichen Absender und ohne irgendwelche Informationen zum Hintergrund – eine Eintrittskarte für William Shakespeares Sommernachtstraum bei den Faustfestspielen in Kronach in den Briefkasten zu werfen. Eigentlich hätte er hier investigativ vorgehen müssen, dachte er sich: Nachbarn befragen, Spurensicherung einschalten, seinen Assistenten Cajo Hermann anrufen und viele weitere Dinge veranlassen. Nein! Keinen Augenblick hatte der Ermittler auch nur daran gedacht, irgendetwas dergleichen zu unternehmen. Da der Kronacher Hauptkommissar an diesem Donnerstagabend noch nichts vorhatte, entschloss er sich dazu, die geheimnisvolle Einladung anzunehmen.
Auf dem Weg hoch zur Festung Rosenberg überlegte er unaufgeregt, wem er wohl diese gleichermaßen mysteriöse wie auch aufmerksame Geste zu verdanken hatte. Wer wollte sich da, wofür auch immer, erkenntlich zeigen? Steckte vielleicht mehr dahinter als nur eine Revanche für einen Gefallen seinerseits? Er beschloss, sich einfach überraschen zu lassen und hoffte insgeheim darauf, dass sich die Lösung des Rätsels auf dem Sitzplatz links oder rechts neben ihm finden würde. Es war ein herrlicher Augustabend und Pytlik plante auf seinem Weg durch die Stadt, wie er diesen nach dem Ende der Vorstellung weiter verbringen wollte. Es dauerte nicht allzu lange, und noch bevor er die Treppen hinauf zum Melchior-Otto-Platz in Angriff nahm, war alles in trockenen Tüchern durchdacht. Wenn alles wie erwartet verlaufen würde, könnte Pytlik auf der Festung nach dem Ende des Sommernachtstraums das Brillantfeuerwerk beobachten, das kurz nach Ende der Aufführung im Rahmen des Kronacher Freischießens stattfinden würde. Danach sollte es ein Leichtes sein, sich gut gelaunt auf den Weg hinunter auf die Festwiese zu machen und dort mit dem einen oder anderen Bekannten, den er treffen würde, mit einer Schützenfestmaß anzustoßen. Insgeheim dankte Pytlik der oder dem Unbekannten für die Einladung und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Was für ein toller Abend, dachte er.
***
Ein Reisebus, der eine Touristengruppe extra zur Aufführung nach Kronach gebracht hatte, war aufgrund einer Reifenpanne verspätet angekommen, weshalb die Veranstalter beschlossen hatten, den Sommernachtstraum 30 Minuten später beginnen zu lassen. Pytlik hatte die Zeit genutzt, sich bereits das eine oder andere Gläschen Sekt gegönnt, hier und da »hallo« gesagt und ein paar lockere Schwätzchen gehalten. Er war ja nun nicht gerade unbekannt in der Lucas-Cranach-Stadt – im Gegenteil. Durch Zufall lernte er im Gespräch mit einigen Bekannten, die anwesend waren, eine Frau kennen, die ihn vom ersten Augenblick an in ihren Bann gezogen hatte. Sie war nicht von hier, da war er sich sicher. Schnell hatte er herausgehört, dass sie Schweizerin war und sich auf einer Bildungsreise in Oberfranken befand. Die Beiden verstanden sich sehr schnell sehr gut und wie es der Zufall wollte, saß die langbeinige, äußerst attraktive blonde Frau doch tatsächlich neben Pytlik auf der Zuschauertribüne. Natürlich hatte er überlegt, ob sie die anonyme Kartenschenkerin sein konnte. Warum aber, hatte er sich im gleichen Augenblick gefragt. Auf jeden Fall witterte er die Chance, den ohnehin schon einladenden Plan für die Gestaltung des Abends und der Nacht möglicherweise noch um einen Höhepunkt zu ergänzen.
Er benahm sich wie ein verliebter Teenager! Er klatschte höflich Applaus, wenn seine Begleitung es auch tat. Immer wieder flüsterte er ihr Kommentare zum Dargebotenen ins Ohr, um mit kaum vorhandenem Sachverstand zu punkten. Wenn sie lachen musste, tat er das auch. Wenn sie ihm etwas zuhauchte, übertrieb er es mit nickender Zustimmung. Pytlik sehnte eigentlich nur das Ende der Vorstellung herbei. Er hoffte, dass sie ihn noch zum Freischießen begleiten würde. Alles Andere, da war er sich sicher, wäre dann ein Kinderspiel.
Der Hauptkommissar war in Gedanken schon längst bei der weiteren Abendgestaltung angekommen, als plötzlich das Unfassbare geschah. Durch den verspäteten Beginn der Aufführung hatte sich auch das Ende nach hinten gezogen. Ob es an mangelnder Kommunikation zwischen den beteiligten Verantwortlichen oder der Sturheit auf einer der beiden Seiten gelegen hatte, diese Frage konnte Pytlik nicht beantworten. Er hatte sich gerade zum wiederholten Mal zu seiner Begleitung hinübergebeugt, um ihr etwas mitzuteilen, als er, alle anderen Zuschauer auf den Stahltribünen und die Schauspieler durch einen ohrenbetäubenden Knall erschreckt und der eine oder die andere fast vom Sitz gerissen wurden. Die Akteure auf der kurzgemähten Wiese reagierten professionell; schließlich ging der Sommernachtstraum dem Finale entgegen. Auch das deutlich wahrnehmbare Raunen und sichtbare Staunen, die plötzliche Unruhe und das kopfschüttelnde Unverständnis waren nach wenigen Augenblicken der scheinbaren Besinnungslosigkeit schnell wieder verflogen. Hätte man die Gedanken vieler der Besucher vertonen können, wäre wohl beispielhaft ein Satz gefallen wie: »Ja, sind die denn noch zu retten, das Feuerwerk zu beginnen, während hier noch die Aufführung läuft?«
Tatsächlich folgten dem eröffnenden Böllerschuss nach einigen Augenblicken der Ruhe die ersten Blitze und Lichtkugeln, die den Himmel über dem Gelände auf der Festung Rosenberg in alle möglichen Farben tauchten. Auch der Hauptkommissar konnte nun sein Erstaunen nicht mehr zurückhalten und schüttelte kräftig den Kopf. Gleichzeitig blickte er zu Elisabeth, der Schweizerin, um ihr deutlich zu zeigen, dass er dies nicht gutheißen wollte.
»Unglaublich ist das!«
Er konnte hierbei sogar normal reden, denn die Unruhe im Publikum war nun doch großflächig entstanden. Die charmante Frau schürzte nur kurz die Lippen und wirkte sogar etwas amüsiert von dem, was gerade geschah. Sie schien die Kombination des illuminierten Himmels in Verbindung mit den immer wiederkehrenden Explosionsgeräuschen sogar deutlich mehr zu genießen, als das, was sie bis dahin gesehen und gehört hatte.
»Schauen Sie doch nur, Franz! Ist das nicht wunderbar? Ich liebe Feuerwerke. Wenn bei uns in Zürich bei entsprechenden Anlässen die ganze Stadt in herrlichen Farben erscheint, fühle ich mich immer wie in einem Märchen.«
Als sie das so sagte, starrte Pytlik gebannt auf ihren Mund und konnte den Blick nicht mehr von ihr lassen. Und er dachte sich, wie gern er in einem dieser Märchen Prinz gewesen wäre. Und sie erzählte weiter. Dabei senkte sie die Stimme, weil sie nicht unhöflich und desinteressiert wirken wollte. Pytlik hätte sie am liebsten geküsst, doch genau in dem Moment, als er darüber nachdachte, wurde dem grotesken Treiben dann die Krone aufgesetzt. Der Kronacher Hauptkommissar hatte von Beginn der Vorstellung an überlegt, was er vergessen hatte. Irgendetwas hatte nicht gestimmt. Als sein Handy sich mit der Titelmelodie von Star Wars lautstark bemerkbar machte, war er für einige Momente zunächst wie gelähmt. Ja, er fragte sich sogar noch, wo denn jetzt ein Handy klingeln würde. Wäre es denn nicht schon dumm genug, dass die Feuerwerker und Schauspieler für Chaos gesorgt hatten. Erst als Elisabeth ihn fragte, ob er denn nicht rangehen wollte, griff Pytlik hektisch und um sich schauend in das Innere seines Jacketts, holte das Mobiltelefon hervor und warf einen kurzen, konzentrierten Blick auf das Display. Unbekannter Anrufer stand da, und Pytlik drückte sogleich die Taste mit dem roten Hörer darauf.
Der Hauptkommissar drehte danach seinen Kopf noch einmal in alle Richtungen und deutete eine entschuldigende Geste an. Unverständnis hier, Häme da, Anderen wiederum war es nun auch völlig egal, welche Störungen noch auftreten würden.
»Immer im Dienst, hä?«
Pytlik kannte die Stimme, die von zwei oder drei Reihen oberhalb zu ihm hinunter geätzt hatte. Ohne sich erneut umzudrehen, hob er nur die Faust und machte den Daumen nach oben, womit er sagen wollte: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen! Die Schweizerin hatte derweil Spaß. Und Pytlik fand es gar nicht schlecht, dass es so lief, wie es lief. Er hatte den Eindruck, dass sich gerade durch diese etwas unglücklichen Umstände und Ereignisse die Stimmung zwischen ihm und ihr schlagartig noch einmal gelockert hatte. Er wusste schon, wie er das gut nutzen würde, um den restlichen Abend und die folgende Nacht zu einem schönen persönlichen Erlebnis zu machen. Und als ob sich nicht ohnehin alles schon wie ein schlechter Witz dargestellt hatte, wurde dem Ganzen am Ende das Sahnehäubchen aufgesetzt.
Als für die Akteure der nicht vorhandene Schlussvorhang fiel, ertönte fast sekundengenau und wie bereits eine Viertelstunde vorher der letzte Böllerschuss des Brillantfeuerwerks des Kronacher Freischießens. Beim nachfolgenden, lange anhaltenden und frenetischen Applaus wusste nun eigentlich niemand so recht, wem dieser galt. Erst, als sich nach und nach einige und dann immer mehr Zuschauer von ihren Sitzen erhoben und stehende Ovationen als Belohnung gaben, konnten die Akteure sicher sein, dass trotz allem ihr Spiel im Vordergrund gestanden und überzeugt hatte.
***
Hauptkommissar Pytlik hatte Elisabeth, seine neue Bekanntschaft aus Zürich, sehr schnell davon überzeugt, dass es eine gute Idee wäre, diesen bisher so schönen, spannenden und abwechslungsreichen Abend mit einem gemeinsamen Besuch auf dem Kronacher Schützenfest zu beschließen. Ganz schwach waren noch die Reste der blauen Stunde am Himmel zu sehen, und da sie natürlich schick gekleidet war und trotz ihrer stattlichen Körpergröße auch noch Schuhe mit hohen Absätzen trug, hatte sich die Mittvierzigerin beim Hauptkommissar eingehakt und beide machten sich durch die Wolfsschlucht auf den Weg hinunter in die Schwedenstraße. Es war nun, als kannten sie sich schon ewig. Sie lachten viel und amüsierten sich – über das Erlebte, über belanglose Dinge und Anekdoten aus ihrer beider Leben. Pytlik erzählte vom Leiter der Schutzpolizei, seinem treuherzigen Kollegen Justus Büttner, der ihn oftmals mit seinem Dialekt an den Rand des Wahnsinns trieb und den er bis heute sehr schlecht verstand.
»Also, ich kann dir sagen: Ich bin ja nun schon fast mein ganzes Leben hier in Kronach, aber wenn der Büttner loslegt… Gut, mittlerweile kann ich das Meiste schon erahnen. Aber trotzdem, den müsstest du mal hören! Und wenn der dann noch…«
Pytlik haute sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel und lachte kindisch. Nach der Vorstellung hatten die beiden erst noch ein Gläschen Sekt getrunken und waren schon etwas angeheitert.
»Also, wenn der dann noch bei meiner Sekretärin, der Gundi, im Büro sitzt, wenn beide gerade mal wieder ein bisschen Zeit haben und sie sich dann über Frauenthemen oder die neuesten Kochrezepte unterhalten, dann denke ich manchmal wirklich, ich wäre im Komödienstadl.«
Elisabeth, die sich fest an Pytlik hinschmiegte, lachte herzhaft. Es war ehrlich und nicht aufgesetzt, das spürte auch Pytlik. Was der Kronacher Ermittler sonst noch spürte, war in regelmäßigen Abständen von fünf Minuten sein Handy, das er in der Hosentasche bei sich trug und das immer wieder vibrierte. Reflexartig zog er es immer wieder heraus, musste aber jedes Mal aufs Neue sehen, dass ein unbekannter Anrufer etwas von ihm wollte. Jetzt nicht, dachte der Hauptkommissar und drückte nun den kleinen Knopf oben am Gehäuse für einige Sekunden, um sein Telefon somit auszuschalten.
»Heute bin ich nicht mehr im Dienst! Nervensägen können sich morgen wieder bei mir melden. Herzlichst, Ihr Hauptkommissar Franz Pytlik!«
Elisabeth lachte, Pytlik lachte, und beide machten ein paar schnelle Schritte wie verliebte Teenager.
***
Auf dem Kronacher Festplatz war die Hölle los. Nicht, dass es außergewöhnlich gewesen wäre, aber Pytlik fand es jedes Jahr ein großes Erlebnis zu sehen, wie dieses Spektakel, das als eines der größten Volksfeste in Oberfranken galt, den Menschen – egal aus welchem Teil des Landkreises sie kamen, egal was sie machten und hatten, egal wie ihr Leben nach diesen närrischen elf Tagen im August weitergehen würde – als eine Art Spielplatz der Glückseligkeit diente, wo man bei gutem Bier, herzhaften Köstlichkeiten und angepeitscht von Musik und dem immer währenden Glamour der Schaustellerattraktionen Sorgen und Ängste, Kummer und Krankheiten für fast zwei Wochen wegsperrte und einfach nur glücklich war. Selbst Elisabeth, eine – diesen Eindruck hatte Pytlik mittlerweile bekommen – weltgewandte, kluge und im Alltag wohl eher reservierte Frau, war spätestens nach dem Passieren des Haupteingangs am Schützenhaus von der Faszination elektrisiert worden. Es wurde laut und lauter, das Gespräch zwischen den beiden wurde immer anstrengender, Lippen und Ohren berührten sich immer häufiger. Pytlik sonnte sich im Glanz der neidischen Blicke, die ihm und seiner Begleitung zugeworfen wurden. Schließlich war der Hauptkommissar ja bekannt in Stadt und Landkreis Kronach. Wie viele Fälle habe ich eigentlich schon gelöst, fragte er sich selbst und erwischte sich dabei, gerade eine Selbstbeweihräucherung zu beginnen. Glücklicherweise traf ihn just in diesem Moment, als er sich mit Elisabeth auf dem Weg zum Bermudadreieck befand, ein heftiger Prankenhieb auf die Schulter.
»Servus, Franz! Alder Schnitzgüger!«
Der Mann, der im Gegenstrom an Pytlik langsam vorbeigeschoben wurde, machte den Eindruck, bereits deutlich alkoholisiert zu sein. Dennoch erkannte der Hauptkommissar in ihm den Schutzpolizisten Schneider. Der Kollege, der Pytlik bereits in dem einen oder anderen Fall gute Dienste geleistet hatte, hatte seinen Blick nun auch auf des Hauptkommissars Begleitung geworfen, schaffte es danach, die hinter ihm drängende Menge in ihrem Lauf abzubremsen und sich mit einer Maß Bier in der Hand an Pytlik festzuklammern.
»Alder! Leck mich am Oarsch! Woss issn dess für a Bombe? Do gedd woss, odder?«
Es war laut und stickig, von allen Seiten wurde gerufen und geschrien. Auch Pytlik galten viele Appelle. Elisabeth tat so, als würde sie sich neugierig umschauen und sich nicht dafür interessieren, was Pytlik mit seinem Bekannten besprach. Der Hauptkommissar wiederum war sich sicher, dass sie gehört hatte, was Schneider ihm ins Ohr gebrüllt hatte. Aber der Kronacher Ermittler blieb cool. Nach ein paar freundlichen Worten mit entsprechend viel Lachen im Gesicht hatte er es geschafft, Schneider wieder loszuwerden. Er fühlte sich gut, die Sache mit Elisabeth schien ein Selbstläufer zu werden und es ergab sich, dass sie vor einer der Bierhallen ein paar nette Leute trafen und Spaß hatten.
Pytlik hatte sich für kleine Jungs verabschiedet. Es war etwa halb zwölf und er hatte sein Handy wieder angeschaltet, weil ihm eingefallen war, dass er sich mit einem alten Freund, den er lange schon nicht mehr gesehen hatte, eigentlich spontan verabreden wollte.
Tatsächlich hatte Manfred, mit dem er vor langer Zeit die Polizeischule besucht hatte und der in gleicher Position wie Pytlik in Nürnberg bei der Polizei Dienst tat, eine kurze Nachricht hinterlassen
Werden so gegen 23:30 aufs Schützenfest gehen. Du weißt, ich fange die Nacht immer später an. Hoffe, wir sehen uns. Melde dich mal wegen Treffpunkt. Gruß, Manne!
Pytlik musste schmunzeln und freute sich. Stutzig machte ihn nur, dass er sehen konnte, dass mittlerweile zwölfmal von einem Unbekannten angerufen worden war. Auf dem Weg zurück zu Elisabeth nahm er sich noch eine Maß Festbier mit.
Pytlik schlich sich leise von hinten an, Elisabeth hatte sich ein bisschen an die Seite gestellt und telefonierte. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und konnte ihn nicht sehen. Als er sich schon so weit genähert hatte, dass er bereits ihr Parfüm riechen konnte, hatte sie ihn immer noch nicht bemerkt. Pytlik wollte sich einen Spaß erlauben und stellte sich einfach hinter sie um zu lauschen. Schon nach kurzer Zeit mochte er seinen Ohren nicht mehr trauen.
»Nein, Schatz! Es ist natürlich nicht so, wie du denkst. – Nein, mir fehlt nichts in unserer Beziehung. Ich habe nur gerade mal wieder Lust auf diese Erfahrung der anderen Art. – Doch, natürlich macht es mir im Bett mit dir am meisten Spaß. Aber irgendwie habe ich heute eben spontan Lust darauf bekommen, es wieder einmal mit einem Mann zu treiben.«
Pytliks Begleitung, die weltgewandte, lebenslustige, intelligente Elisabeth aus der Schweiz hatte gerade – ohne, dass sie es bemerkte – Pytlik gegenüber ihre Tarnung auffliegen lassen. Das Wichtigste und Wesentliche hatte der Hauptkommissar nun gehört. Er plante schnell den Rückzug, um sich zu überlegen, wie er ihr nun gegenübertreten sollte, ohne sich etwas anmerken zu lassen. Als er bereits vorsichtig auf der Ferse wieder kehrt machte, nahm er aber noch einen letzten Gesprächsfetzen mit auf den Weg.
»Geh, Spatz! Es geht mir einfach um das Körperliche. Ich habe einfach Lust darauf. Und glaub mir: Dieser Dorfpolizist ist sowas von schusselig und tollpatschig; ich bin mir sicher, der glaubt wahrscheinlich morgen Früh, wenn ich mit ihm am Frühstückstisch sitze, dass ich ihn heiraten möchte oder so. – Ja, ich verspreche es dir! Noch morgen Vormittag werde ich wieder zurückfahren und dann können wir uns abends schon wieder sehen.«
In Pytlik stieg ein Cocktail verschiedener Gefühle auf. Abgesehen davon, dass er schon mehr als leicht angetrunken war, verwirrte ihn nun umso mehr das, was er gerade mit anhören musste. Er mochte dieser Schweizerin noch immer nicht absprechen, dass sie so war, wie er sie kennengelernt hatte. Sie hatte ein Wesen, das er mochte. Davon wollte er sich auch nicht abbringen lassen. Er hatte auch überhaupt nichts gegen gleichgeschlechtliche Liebesbeziehungen. Allerdings war seine Toleranzschwelle sehr niedrig, wenn es darum ging, mit ihm persönlich Spielchen zu treiben und ihn zu hintergehen. Er hatte sich schnell wieder in die Menge gemischt und war auf dem Weg zurück dahin, wo er gerade hergekommen war. Er lehnte sich an ein Absperrgitter und trank zunächst mehrmals kräftig aus seinem Maßkrug. Er ließ das Gespräch, das er gerade belauscht hatte, noch einmal Revue passieren. Er tat es mit viel Süffisanz und einigermaßen Wut. Züricher Lesbe auf Bildungsreise in Oberfranken – hätte ihn das bereits stutzig machen müssen? Aber sie war doch so nett. Und selbst wenn sich im späteren Gespräch diese Tatsache herausgestellt hätte, wäre es womöglich auch kein Problem gewesen. Hätten die beiden halt, so wie bis zum jetzigen Zeitpunkt, ein bisschen Spaß auf dem Schützenfest gehabt und wären danach ihre eigenen Wege weitergegangen. So aber, mit dem, was Pytlik gerade gehört hatte, lagen die Dinge nun völlig anders. Tollpatschiger Dorfpolizist also! Pytlik schüttelte leicht den Kopf und trank noch einmal. Der Maßkrug war fast leer, als ihm plötzlich eine Idee kam, wie er selbst nun das Heft des Handelns übernehmen und seiner Begleitung eine passende Überraschung servieren konnte. Er holte sein Handy heraus, und kurz darauf telefonierte er mit seinem Nürnberger Kumpel.
Als Pytlik zurück zu seiner Gruppe von Bekannten kam, zu der nun auch Elisabeth wieder zurückgekehrt war, merkte er schon, dass die schnelle Maß Bier, die er aus Frust getrunken hatte, ihm mächtig zu schaffen machte.
»Entschuldigt bitte, dass es ein bisschen länger gedauert hat. Ich habe noch einen alten Freund getroffen, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe.«
***