Читать книгу Der falsche Tote - Carlo Fehn - Страница 4

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Freitag, 15. September 2006

Hauptkommissar Pytlik ging in seinem Büro auf und ab wie ein junger, hungriger Tiger, der auf sein Fressen wartete. Immer wieder flüsterte er leise die wenigen Worte vor sich hin, die in seinem Leben plötzlich so viel Bedeutung bekommen hatten. Es war ein schöner, ruhiger Spätsommertag, das in der Sonne gelblich glitzernde Laub machte Lust auf einen Spaziergang. Immer wieder hielt Pytlik, wenn er vom Fenster zurück Richtung Tür auf Höhe seines Schreibtisches war, kurz an und schaute auf ein Blatt, auf dem die Zeilen standen, die für ihn schon bald von großer Bedeutung sein sollten. Bis zum heutigen Tage hatte er das alles noch recht locker gesehen – eine Art Kinderspiel, hatte er sich immer wieder eingeredet. Aber jetzt, so kurz vor dem großen Ereignis, musste er sich eingestehen, dass er leichtes Nervenflattern bekam. Und das alles nur wegen dieses Rehrückens, den er im letzten Jahr vom Vater eines Polizisten aus der Dienststelle geschenkt bekommen hatte. Pytlik war froh, dass sein Kollege Cajo Hermann an diesem Tag Urlaub hatte. Es war wenig zu tun und so nutzte er die Zeit, sich den Text für seine Gastrolle bei einer Kriminalkomödie der Laienschauspielgruppe in Stockheim noch besser einzuprägen. Er war gerade wieder an der Bürotür angelangt, hatte auf der Ferse kehrt gemacht und marschierte, konzentriert zu Boden schauend, zum wiederholten Male Richtung Fenster, als hinter ihm plötzlich die Tür aufging und seine Sekretärin hereinspazierte.

»Haben die Jungs dich wegen Leberkäs gefragt, Franz?«, wollte Adelgunde Reif wissen, als sie zielstrebig auf Pytliks Schreibtisch zulief, um dort einen Stapel Blätter abzulegen.

»Franz?«

»Äh, was?«, stotterte der Hauptkommissar, nachdem er überhaupt erst wahrgenommen hatte, dass Gundi Reif ins Zimmer gekommen war.

»Ach so! Heute Abend ist ja die große Generalprobe.«

Gundi Reif hatte das Manuskript auf Pytliks Schreibtisch in die Hand genommen und las interessiert den Text, der für den Hauptkommissar bestimmt war. Pytlik riss ihr das Papier fast ein bisschen unwirsch aus den Fingern und legte es mit der Schrift nach unten beiseite. Dann antwortete er mit knorrigem Ton.

»Ja, heute Abend ist Generalprobe. Aber was noch viel schlimmer ist: Am Sonntag ist Premiere! Und nein, mich hat niemand wegen Leberkäs gefragt. Ich werde ja anscheinend eh nicht mehr zu irgendetwas gefragt, wenn ich das richtig sehe. Aber ich werde heute Mittag nach Hause gehen und dann mache ich mir eben dort selbst meinen Leberkäs. Wird ja wohl nicht so schwer sein.«

Adelgunde Reif und der Hauptkommissar arbeiteten schon viele Jahre Tür an Tür zusammen. Sie war nicht nur Pytliks fleißige Biene, wenn es um die Organisation des Büros ging, sondern sie hatte auch immer ein offenes Ohr, wenn den Ermittler einmal irgendwie der Schuh drückte. Sie kannte ihn aber als selbstbewussten und klugen Mann, weswegen sie seine spürbare Aufregung vor dem Theaterauftritt ein wenig verwunderlich fand. Ein paar Sekunden war es mucksmäuschenstill. Pytlik stand mit auf den Schreibtisch gestützten Fäusten neben seiner Sekretärin, die wiederum hatte den Kopf leicht auf den Brustkorb gesenkt und versuchte, ihr Lachen zu unterdrücken. Als im gleichen Augenblick durch die geöffnete Tür auch noch Ralf Wich, also eben der Schutzpolizist, dem Pytlik seinen Gastauftritt zu verdanken hatte, herein kam und den Hauptkommissar fragte, ob er eine übrig gebliebene Leberkässemmel haben möchte, blickten sich Pytlik und Gundi Reif an und lachten nach Herzenslust. Wich schaute verdutzt und wusste zunächst nicht, wie ihm geschehen war. Dann hob er einmal kurz die Schultern und warf Pytlik die in Alufolie verpackte Semmel zu.

»Ach, übrigens, Franz, ich glaube, es wäre besser, wenn du heute Abend schon eine halbe Stunde eher kommen könntest zur Generalprobe. Ich glaube, der Werner wollte noch zwei, drei Sachen ändern und es wäre ganz gut, wenn du da auch dabei sein könntest, damit du das dann auch weißt.«

Das hatte Pytlik zwar gerade noch gefehlt, aber irgendwie hatte ihn jetzt der Galgenhumor gepackt, so dass er sich wie ein gehorsamer Soldat vorbildlich hinstellte und mit einem lauten »Aye, aye, Sir!« salutierte. Danach mussten Gundi und er wieder lachen, Ralf Wich konnte nur noch den Kopf schütteln und verließ mit einer abwinkenden Handbewegung das Büro.

»Ich glaube«, hatte sich Gundi Reif zuerst wieder gefangen, »ich schenke uns jetzt mal zwei Tassen Kaffee ein, dann kannst du in Ruhe deine Leberkässemmel essen und mir dabei erzählen, worum es in dem Theaterstück überhaupt geht. Schließlich sind wir am Sonntag ja alle dabei, wenn auch nur im Publikum.«

***

»... naja, und dann kommt es eben zu dieser ominösen Szene, in der ich auftauche.«

Pytlik hatte Gundi Reif mittlerweile fast schon das ganze Theaterstück drehbuchartig erzählt. Nur zwischendurch war sie einmal kurz in ihr Büro hinübergehuscht und hatte ein paar Krapfen zum Kaffee geholt. Dieser Freitag schien wirklich wie verhext zu sein. Beide hatten völlig die Zeit vergessen und die Mittagsstunde war schon längst vorbei.

»Na, jetzt bin ich aber gespannt«, fieberte Gundi Reif mit.

»Auf der Bühne befinden sich im Moment also der vermeintliche Nebenbuhler und der gehörnte Ehemann, der vom Schwager von diesem Werner Schuster, dem Leiter der Schauspielgruppe, gespielt wird. Der Ehemann bedroht den Anderen mit einer Waffe und fordert ihn auf, mit der Wahrheit herauszurücken. Nachbarn von gegenüber haben den Streit mitbekommen und den Dorfpolizisten gerufen. Der bin nun mal ich in diesem Fall.«

»Dorfpolizist! Ist ja auch mal interessant«, warf Gundi Reif ein.

»Ich bin dann also an der Wohnungstür, klingle und klopfe, werde aber nicht eingelassen. Da ich natürlich die Gefahr erkannt habe, trete ich heldenhaft die Tür ein.«

»Wirklich?«

»Jaja! Da haben die sich echt was Gutes einfallen lassen. Das ist schon eine halbe Actionszene, die ich da spielen muss.«

»Nun übertreibt mal nicht, du alter Schlawiner! Und dann?«

»Ich stürze also rein und schreie das Übliche: ›Legen Sie die Waffe weg und nehmen Sie Ihre Hände hoch! Los, los, machen Sie schon! Dalli!‹ Der Constantin Becker, also der, der den Ehemann spielt, steht dann plötzlich mit Waffe im Anschlag und auf mich gezielt nur zwei Meter von mir entfernt.«

»Oh Gott, das ist ja voll tragisch!«, ereiferte sich Gundi Reif. »Und dann?«

»Jetzt lass mich doch mal erzählen!«

Pytlik war bereits seit über einer Stunde in vollster Konzentration und man hatte das Gefühl, dass ihn das Schauspielfieber irgendwie schon ein bisschen gepackt hatte.

»Jetzt kommt nämlich wieder dieser ganz interessante Aspekt bei diesem Theaterstück ins Spiel, dass Schauspieler, die ihre Rolle auf der Bühne eigentlich schon beendet haben, im Publikum sitzend noch einmal in das Geschehen eingreifen.«

»Aber nicht, dass da dann einer neben mir sitzt und ich davon nichts weiß und nichts mitbekomme«, machte sich Gundi Reif Sorgen. Pytlik verdrehte nur die Augen.

»Diese Sitzplätze sind entsprechend gekennzeichnet und bleiben für die Vorstellung frei. Wenn neben dir also ein Platz frei bleibt, dann weißt du zumindest schon vorher, dass sich dann möglicherweise ein Schauspieler neben dich setzen wird, der irgendwann auch noch mal in das Spiel eingreifen wird. So, haben wir es jetzt?«

Pytlik hatte Gundi Reif mit seinen Erzählungen völlig in den Bann gezogen. Sie wollte ihn bestimmt nicht ärgern.

»Der Constantin Becker sagt dann also sinngemäß zu mir, was ich jetzt da wolle. Ich sage zu ihm, dass er sich nicht unglücklich machen und einen Unschuldigen erschießen solle. Es geht dann hin und her, wieso und warum und weshalb und da muss ich auch ganz schön mit dem Text aufpassen, dass ich da nicht durcheinanderkomme, auch wenn es immer nur kurze Phrasen sind. Aber genau das ist das Schwierige daran. Schlussendlich erwähne ich dann, dass nicht der, den er für den Nebenbuhler hält, der also auch noch mit auf der Bühne ist, tatsächlich auch der Nebenbuhler ist, sondern dessen Vater.«

»Ach, Gott!«, kam es aus Gundi Reif hervor. »Und dessen Vater ist doch in echt der Leiter der Schauspielgruppe, oder? Also sozusagen der – wie hieß der noch mal? – Werner Schuster!«

»Sehr gut!«, musste Pytlik zugeben. »Sehr gut, Gundi!«

»Aber wenn ich mich recht erinnere, dann müsste der doch zu dem Zeitpunkt auch schon im Publikum sitzen.«

»Ganz genau! Und zwar sitzt der sogar in der ersten Reihe direkt neben dem Gang. Und als ich dem betrogenen Ehemann, also dem Constantin Becker, den entscheidenden Hinweis gegeben habe, verliert er völlig die Kontrolle, rastet aus, macht auf der Bühne ein paar Schritte rückwärts in Richtung Publikum, dreht sich dann blitzartig um 180 Grad, zielt auf die erste Reihe und – schießt!«

Für einen Moment herrschte atemlose Stille.

»Und dann – sag bloß! – erschießt der wohl den Leiter, den Schuster, oder wie?«

»Als er in diesem Moment erfährt, dass seine Frau von einem Mann schwanger ist, der selbst sein eigener Vater sein könnte, dreht er einfach durch und drückt im Affekt ab. Die Zuschauer rechnen in dem Augenblick natürlich gar nicht damit und das wird auch ziemlich echt aussehen. Noch dazu mit dem Knall der Platzpatrone wird da ein richtiger Aufschrei durch die Reihen gehen, da bin ich mir sicher. Für dich ist das natürlich jetzt nicht mehr spannend, aber du solltest das nicht zu vielen Leuten erzählen, am Besten gar keinen.«

»Um Gottes Willen, ich kann schweigen wie ein Grab«, versicherte Gundi Reif.

Im selben Augenblick war Justus Büttner, der Leiter der Schutzpolizei zur Tür hereingekommen und hatte Gundi Reifs treuherzige Aussage deutlich mitbekommen. Sein sonst übliches, mit tiefer Stimme gesprochenes »Hallo« vergaß er zunächst, das Andere war ihm wichtiger.

»Do lachen ja die Hühner! Wenn ich dir woss erziehl, dann fobreided sich des duch schneller als der schlimmste Gribbevirus. Und däss Gräber foschwiechn senn, des ist eh su a Sach, die ich sehr stark bezweifel. Also, Franz, wurschd, woss da ihr erziehlt host, die Welt werrds in a boa Minudn wissen.«

Büttner ging schelmisch lachend an Gundi Reif vorbei, die mit einer fast übertriebenen Geste die Faust auf den Schreibtisch schlug und größtmögliche Empörung vorspielte.

»Na also, das ist doch wohl die Höhe! Was erlaubst du dir, du alter…?«

Auch Pytlik musste schmunzeln, nahm dann aus den Händen von Büttner die Akte entgegen, bedankte sich dafür und fragte, ob er denn am Sonntag auch zur Premiere kommen würde.

»No obber hallo! Su woss hodd die Welt nuch ni gsea: a echter Haubdkommissar spielt an Haubdkommissar und dann ach nuch an fo unners. Do konnst da obber sicher sei, däss ich mir dess ni endgieh lohs. Ich hoff, du hossd dein Deggsd scho glernd. Mach uns fei ka Schand! Wann giehds nuchmoll luhs?«

Pytlik hatte zunächst die Augenbrauen gehoben und kurz zu Gundi Reif hinübergeblickt, so als wollte er sagen, dass er ebenso hoffe, dass das mit dem Text klappen würde.

»Um halb acht. Eure Karten werden an der Kasse hinterlegt sein. Bezahlt sind sie schon.«

»Oh, der Herr Haubdkommissar wird auf seina alden Dooch wuhl ach nuch spendabel«, scherzte Büttner beim Hinausgehen, während Gundi Reif sich nett dafür bedankte und das eine tolle Geste fand.

»Ich kann’s mir auch noch anders überlegen, du alter Brummbär! Und jetzt raus hier! Hast du eigentlich nichts zu tun?«

Büttner schloss mit einem Lächeln die Tür und hob kurz die Hand. Pytlik tat es ihm gleich.

»Der Justus!«, dachte Adelgunde Reif laut vor sich hin. »Ich möchte mal wissen, ob den irgendwann einmal etwas so wirklich aus der Ruhe bringt? Also ich glaube, wenn ich dem seine Frau wäre, ich würde den ganzen Tag mit dem Kochlöffel und dem Nudelholz hinter ihm her sein.«

Pytlik lachte.

»So ist er halt, unser Justus. Ein richtig alter Brummbär.«

»Naja«, wollte Gundi doch noch wissen, »und wie geht’s dann aus? Oder ist es dann aus? Ich meine, nachdem dieser – wie nochmal? – Constantin Becker den Regisseur erschossen hat.«

Pytlik war aufgestanden und hatte sich an der Kaffeemaschine noch einmal bedient. Gemächlichen Schrittes lief er zurück an seinen Schreibtisch.

»Möchtest du dir nicht wenigstens noch ein kleines bisschen Spannung erhalten?«, fragte er seine Sekretärin.

»Na, jetzt ist es eh schon egal.«

»Ich verrate dir nur noch soviel: Nachdem dieser Schuss gefallen ist, werden auf jeden Fall für einige Sekunden alle Lichter ausgehen. Wer bis dahin eingeschlafen sein sollte, wird dann hellwach sein.«

»Aha! Hört sich alles sehr vielversprechend an. Aber ich verstehe trotzdem nicht, warum du dich da hast breitschlagen lassen.«

Ein kurzes Schulterzucken Pytliks sollte heißen, dass der Hauptkommissar das bis heute wohl selbst noch nicht genau wusste.

»Der Ralf Wich hat halt irgendwann einmal mitbekommen, dass ich Wild ganz gerne esse. Und nachdem sein Vater Jäger ist, wollte er mir vielleicht einfach nur mal einen Gefallen tun und hat mir eben diesen Rehrücken mitgebracht und nicht einmal etwas dafür verlangt. Ich glaube auch nicht, dass er zu dem Zeitpunkt schon gewusst hat, dass er mich dafür irgendwann einmal zum Mitspielen bei diesem Theaterstück bewegen könnte. Aber nachdem das Drehbuch nun einmal diesen Kurzauftritt des Hauptkommissars vorsieht, hat er mich gefragt und da konnte ich dann wirklich schlecht Nein sagen. Und die paar Mal, die ich jetzt dort war, um das zu proben und das Auswendiglernen des Textes – mein Gott, ich verbuche das mal unter Sachen, die ich bestimmt nicht wieder tun werde! Hauptsache, ihr werdet euren Spaß haben und ich vergesse meinen Text nicht. Kommen denn eigentlich alle mit?«

»Also, soviel ich jetzt gehört habe, Cajo, ich, Justus, der Angerer und der Schneider und der Behrschmidt wollte es sich noch überlegen.«

»Oh Gott, der auch?«

Pytlik hatte ja grundsätzlich nichts gegen den Chef der Kronacher Dienststelle einzuwenden, aber in diesem Fall würde er ihm lieber einen angenehmen Sonntagabend zuhause gönnen.

»Mach dir mal keine Gedanken, Franz! Bei dem kommt doch am Schluss wieder etwas dazwischen. Das war bisher immer so.«

»Stimmt auch wieder. Na, egal, der macht das Kraut auch nicht mehr fett.«

Pytlik war vom vielen Erzählen schon etwas müde geworden, Adelgunde Reif schien völlig vergessen zu haben, dass ihr Arbeitsplatz eigentlich im Büro gegenüber war. Beide saßen nun stumm wie Fische da und hatten Daumen und Zeigefinger an ihren Kaffeetassen.

»Irgendwie ist das heute komisch«, brach Adelgunde Reif die Stille.

»Was meinst du?«

»Ich weiß auch nicht. Liegt das am Wetter? Am liebsten würde ich jetzt gar nichts mehr tun und nach Hause gehen.«

Pytlik schaute aus dem Fenster und dann wieder zu seiner Sekretärin.

»Hast du denn noch viel zu tun?«

»Eigentlich…«

»Du hast doch noch so viele Überstunden. Mach dir einen schönen Nachmittag!«

»Meinst du?«

»Meine ich!«

»Und du?«

Pytlik lehnte sich in seinen Stuhl zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und hielt das Blatt Papier mit dem Text vor seine Nase.

»Ich werde jetzt endlich mal in aller Ruhe versuchen, mir diesen unendlich langen Text zu merken, damit ich heute Abend bei der Generalprobe nicht negativ auffallen werde.«

Während er das sagte, schaute er schmunzelnd zu Gundi Reif, die im gleichen Augenblick aufstand und ihm mit einem strahlenden Gesichtsausdruck und überbetont freundlich noch einen schönen Nachmittag wünschte.

»Schönes Wochenende!«

»Danke, dir auch!«

»Bis Sonntagabend! Ich freue mich schon.«

Adelgunde Reif hatte noch nicht richtig die Tür hinter sich zugezogen, da klingelte Pytliks Telefon. Die Nummer auf dem Display war ihm unbekannt. Er überlegte nicht lange und hob ab.

»Polizei Kronach, Hauptkommissar Pytlik am Apparat.«

Nachdem Pytlik die Stimme am anderen Ende der Leitung gehört hatte, schoss er wie von einer Tarantel gestochen hoch, saß aufrecht in seinem Stuhl und merkte, wie ihm plötzlich ganz warm wurde.

»Lisa! Was für eine, äh, ich meine, was für eine Überraschung!«

***

Nach dem Telefonat hatte auch Pytlik beschlossen, diesen Arbeitstag etwas eher zu beenden. Ohne, dass er jemals damit gerechnet hätte, hatte sich die ehemalige Mitwitzer Staatsanwältin Lisa Strehmel bei ihm gemeldet. Nachdem er mit ihr jahrelang zusammengearbeitet hatte, beide eine Affäre hatten und sie ihm einmal sogar das Leben rettete, war sie im Jahr vorher aus Kronach weggegangen und hatte einen Job im Allgäu angenommen. Pytlik hatte es immer als Flucht interpretiert. Seitdem hatten sie sich weder gesehen noch voneinander gehört. Und so sehr er sich auch gefreut hatte, ihre Stimme an seinem Ohr zu haben, so sehr hatte es ihn gleich wieder aufgewühlt und die alte Wunde aufgerissen. Sie hatte den Eindruck gemacht, glücklich zu sein und in ihrem Job aufzugehen. Nach anderen Dingen hatte Pytlik – so gerne er es auch getan hätte – nicht gefragt. Es ging ihn ja auch eigentlich nichts an. Nur ein bisschen aufgewühlt hatte es ihn eben. Auf seinem Weg mit dem Fahrrad nach Hause hatte er deswegen kurzfristig beschlossen, im Bistro auf dem Gelände der Landesgartenschau bei einem kühlen Bierchen über diese vergebene Chance noch ein bisschen nachzudenken.

***

Jeder weitere Schluck ließ Pytliks Schwermut etwas leichter werden, jede Minute mehr, die die Sonnenstrahlen auf sein Gesicht trafen, ließ ihn um sich herum alles mehr vergessen – ja sogar fast, dass er heute Abend noch diesen Termin in Stockheim hatte.

»Mist«, zischte er leise vor sich hin, als er nach einem kurzen Dösen im Strandkorb erwachte und auf seine Armbanduhr blickte.

»Ich möchte gerne zahlen bitte!«, rief er die Bedienung zu sich, um die Rechnung zu begleichen. Hatte nicht Ralf Wich etwas von 30 Minuten eher gesagt? Pytlik schaute noch mal auf seine Uhr.

»Verdammt!«

Kurz nach fünf! Eine knappe Stunde blieb ihm, um geduscht, motiviert und einigermaßen textsicher auf der Bühne zu stehen.

***

Pytlik hatte sich um kurz vor sechs auf den Weg nach Stockheim gemacht. Nachdem er in Haßlach die scharfe Rechtskurve genommen hatte, konnte er nach wenigen hundert Metern links im Industriegebiet schon das in grelle Farben getauchte Firmengebäude von Werner Schuster sehen – WESCHU war in großen Lettern zu lesen. Irgendwie empfand er es so wie früher, wenn man in die Schule gegangen ist und auf dem Schulhof das Auto des Lehrers sah, den man am wenigsten mochte. Ja, dieser Werner Schuster, wirklich ein Mensch, der nicht einmal sehr polarisierte. Es gab nicht welche, die ihn entweder mochten oder nicht mochten, sondern eigentlich nur Menschen, die ihn nicht mochten. Das lag aber weniger daran, dass er sehr erfolgreich ein Unternehmen für Karnevals- und Ramschartikel leitete, sondern ganz einfach an seiner arroganten und überheblichen Art. Pytlik hatte Werner Schuster – genau wie alle anderen Schauspieler, die mit seinem Kollegen Ralf Wich der Laienschauspielgruppe Stockheim angehörten – vorher noch nicht gekannt. Schon nach den ersten Zusammenkünften war dem Hauptkommissar allerdings aufgefallen, dass dem Unternehmer Schuster Menschenführung – was auch immer er darunter verstand – und das Erteilen von Befehlen anscheinend in die Wiege gelegt worden waren. Warum sich ein Mann wie er, der vor Geld regelrecht stank und der sicherlich noch andere Hobbys hatte, als sich die Abende mit Schauspielerei um die Ohren zu schlagen, genau dafür interessierte, hatte Pytlik bisher nicht richtig verstanden. Vielleicht würde er es noch herausfinden. Eine Generalprobe und vier Aufführungen lang hätte er ja noch Zeit.

Pytlik stellte sein Fahrzeug auf dem Parkplatz des Gasthofes »Zum Maxschacht« ab. Bevor er den Schlüssel abzog und noch ein letztes Mal auf das Manuskript auf dem Beifahrersitz schaute, fiel sein Blick auf die Cockpitanzeige: Fünf nach sechs! Pytlik war zufrieden und dachte, dass man seinen Eifer sicherlich auch dankend anerkennen würde. Nachdem er sein Auto verlassen hatte, stellte er fest, dass der Parkplatz ziemlich gut gefüllt war und wegen des Dankes für seinen Eifer war er sich plötzlich nicht mehr so sicher.

Der Hauptkommissar betrat den imposanten Gasthof, dessen große Gaststube nicht nur sehr einladend wirkte, sondern der schon nach kurzen Augenblicken den Eindruck eines kleinen, feinen Museums der Geschichte des Steinkohlebergbaus im Haßlachtal vermittelte. Hier wurde die Vergangenheit nicht nur gepflegt, sondern auch gelebt.

»Servus, Franz!«, wurde der Kronacher Ermittler vom Inhaber des Gasthofs, Anton Hofer – oder wie alle ihn nannten: Hofer Toni – freundlich begrüßt. Der hagere Mann in Bergmannskluft stand hinter seinem Tresen, trocknete ein Glas, sah Pytlik mit einem Lächeln an und deutete mit einer kurzen Kopfbewegung hinüber in den Gang, der in den großen Festsaal führte, wo die Theateraufführungen stattfanden.

»Hallo, Toni!«, erwiderte Pytlik. »Alle schon da?«, fragte er etwas unsicher.

»Ich glaube, die warten schon auf Sie. Der Chef war schon zweimal hier und hat sich erkundigt, wo Sie bleiben.«

Pytlik schüttelte den Kopf, winkte kurz ab, unterließ es aber, seine Schrittfrequenz zu erhöhen. Er wollte ja nicht den Eindruck vermitteln, als fühle er sich schuldig. Nachdem der Hauptkommissar den Saal betreten hatte und auf der Bühne das Ensemble mit den Schauspielern in Reih und Glied stehen sah, beschlich ihn leichtes Unbehagen. Werner Schuster, der Leiter der Schauspielgruppe, ging vor ihnen lehrerhaft auf und ab und schaute auf seine Uhr. Dann bemerkte er Pytlik.

»Na endlich, Herr Hauptkommissar! Ich dachte, Ihr Kollege hätte Ihnen ausgerichtet, dass wir heute etwas eher beginnen wollen. Wo bleiben Sie nur?«

Pytliks Blut begann leicht zu köcheln. Was spielte sich dieser Werner Schuster jetzt wegen fünf oder zehn Minuten auf, die würde man doch am Schluss einfach auch dranhängen können.

»Ich hatte in einer Ermittlung noch etwas zu erledigen. Bitte entschuldigen Sie!«

Pytlik hätte Schuster ins Gesicht springen können. Wie stand er jetzt vor den Anderen da? Andererseits dachte er sich, dass diese wiederum Schuster schon gut genug kannten und sein Verhalten als Schikane abtun würden.

»Na gut! Gut, dann machen Sie sich jetzt fertig und gehen Sie hinter die Bühne! Wir beginnen dann gleich«, gab Werner Schuster noch einige kurze Anweisungen und klatschte dann ein paar Mal in die Hände, um den Beginn der Generalprobe anzukündigen.

Der Kronacher Hauptkommissar war an diesem Abend das erste Mal bei einer kompletten Probe zugegen. Da sein Auftritt erst am Ende des Theaterstücks kam, war er bei den bisherigen Proben immer erst später dazugestoßen. Zweimal wurden spezielle Szenen intensiv geübt, auch Pytliks Szene, aber komplett gesehen hatte er das Theaterstück bisher noch nicht. Er versuchte deswegen, alles sehr genau zu verfolgen, um auch ein Gefühl für die Geschichte zu bekommen und auch den Inhalt zu verstehen. An diesem Abend hatte sich eigentlich auch die Drehbuchautorin angekündigt. Pytlik konnte sie aber noch nicht sehen. Zwei Stunden waren bereits vergangen und Pytliks Einsatz kam immer näher. Allerdings hatte sich Werner Schuster für diese Generalprobe anscheinend vorgenommen, alles und jeden in Frage zu stellen und zu kritisieren. Nahezu nach jeder neuen Szene, in der er nicht selbst mitspielte, unterbrach er teilweise mit heftigen Gesten und Worten, um wild fuchtelnd auf die Schauspielerinnen und Schauspieler einzureden und ihnen klarzumachen, was er von ihnen sehen wollte. Es machte nicht wirklich viel Spaß und Pytlik hätte sich gewünscht, lieber draußen beim Hofer Toni am Tresen zu sitzen und gemütlich ein Bierchen zu trinken. Dann war es soweit.

Pytlik stand nun einsatzbereit hinter der Tür, die er im nächsten Moment beim von Constantin Becker gegebenen Stichwort eintreten würde. Die Schweißperlen standen ihm auf seinem kahlen Schädel, nicht nur, weil er schon einige Zeit im Trenchcoat auf dem relativ begrenzten Raum wartete, sondern ihm auch die ganzen Reibereien und die gereizte Stimmung während des bisherigen Abends anzumerken waren. Es war aber sicherlich auch die Aufregung, alles richtig machen zu wollen und zu müssen. Das Stichwort kam, Pytlik nahm alle Konzentration zusammen und trat gegen das Holzkonstrukt, das planmäßig auf die Bühne fiel, so dass er seinen Auftritt beginnen konnte. Alles klappte bestens und wie geschmiert, das Wortgefecht zwischen Constantin Becker und dem Hauptkommissar lief wie geplant ab und je länger der Dialog dauerte, desto besser und sicherer fühlte sich Pytlik. Dann sollte es zur entscheidenden Szene kommen. Constantin Becker drehte sich um 180 Grad über die rechte Schulter, machte dann einige Schritte, brüllte wutentbrannt den dazugehörigen Text und simulierte mit einem »Peng, Peng!« den Schuss auf den in der ersten Reihe sitzenden Werner Schuster. Noch während Becker in Aktion war, kniff Pytlik innerlich bereits die Augen zusammen und machte sich auf den nächsten Ausbruch des Regisseurs gefasst.

»Sag mal, bist du denn völlig hirnvernagelt oder kapierst du es einfach nicht, Constantin?«, brüllte Werner Schuster, der wie ein HB-Männchen von seinem Stuhl aufgesprungen war und mit beiden Händen auf den Bühnenboden trommelte.

»Wie oft haben wir das jetzt schon geübt und wie oft hast du es jetzt mittlerweile schon falsch gemacht? Ist das denn tatsächlich so schwer zu kapieren oder liegt das irgendwie bei euch in der Familie, dass da oben etwas fehlt bei euch? Erst fünf Schritte zurück, dann umdrehen, dann Text, dann Schuss! Verdammte Scheiße noch mal! Es geht einfach darum, dass das einen besseren Überraschungseffekt für die Zuschauer hat, wenn wir es so machen. Kapier das doch endlich mal!«

Alle anderen Schauspieler, die schon fertig waren, saßen als Zuschauer unten in den Rängen. Keiner wagte, etwas zu sagen, der Respekt vor Werner Schuster war förmlich spürbar und keiner hätte sich getraut, ihm auch nur ansatzweise zu widersprechen oder sich einzumischen. Aber dann legte Constantin Becker los.

»Was hast du da gerade gesagt? Was war das mit meiner Familie? Du kannst dich glücklich schätzen, so eine Frau zu haben wie meine Schwester! So eine findest du auf der Welt kein zweites Mal. Und ich frage mich ehrlich gesagt, was die an einem solchen Arschloch wie dir eigentlich findet!«

Pytlik überlegte sich gut, beschwichtigend einzugreifen oder es einfach laufen zu lassen. Er entschied sich für die zweite Variante, lockerte seine steife Haltung aber etwas und ging ein paar Schritte nach rechts, um sich auf einen Stuhl zu setzen. Jetzt war wieder Werner Schuster dran.

»Und überhaupt: Was glaubst du eigentlich, wie das wirkt, wenn du mit der Waffe hier irgendwo nach rechts oder links oben zielst und mich hier unten treffen willst? Kannst du nicht einfach auch auf mich zielen, wenn ich schon hier unten sitze?«

»Das ist eben nicht so einfach wie du denkst, du alter Besserwisser, weil mich die ganzen Scheinwerfer so blenden, dass ich kaum sehen kann, wo du genau sitzt. Da muss ich das nach Augenmaß machen. Aber das ist wieder typisch Herr Schuster, ja! Entweder es geht so wie der feine Herr es will oder Andere sind daran schuld. So wie es eben auch in deiner Firma läuft! Schau doch mal die ganzen verschüchterten Leute hier an. Was glaubst du, warum hier keiner die Klappe aufmacht, obwohl alle gut und gerne wohl mal Lust dazu hätten? Weil die wissen, dass sie am Montag wieder bei dir arbeiten müssen und dass man da lieber nicht aufmuckt, das zeigen ja genügend Beispiele aus der Vergangenheit.«

»Was willst du damit sagen?«

Ruhe.

»Was willst du damit sagen?«, fragte Schuster erneut.

»Das weißt du ganz genau«, antwortete Constantin Becker trocken.

Schuster hob die Hand und schüttelte den Zeigefinger drohend in Richtung seines Schwagers.

»Ich habe kein Problem damit, die Rolle noch umzubesetzen oder das ganze Stück einfach hinzuschmeißen, merk dir das! Pass schön auf, dass du dich am Sonntag nicht hier unten im Publikum als Zuschauer wiederfindest. Hast du mich verstanden?«

Ein Funke hätte die Stimmung jetzt explodieren lassen können. Pytlik fühlte eine Mischung aus Peinlichkeit und Ratlosigkeit, andererseits hatte er nichts falsch gemacht und dass Schuster auch ihn so angehen würde, das konnte er sich nicht vorstellen. Constantin Becker nahm noch einmal die Waffe hoch, zielte konzentriert auf Werner Schuster und sagte: »Und du pass auf, dass dich am Sonntag nicht tatsächlich eine echte Kugel trifft, mein lieber Schwager!«

Dann drehte sich Becker schnell herum und verließ eiligen Schrittes die Bühne. Der eine oder andere der Schauspieler hatte die Hand vor den Mund genommen, um Entsetzen zu demonstrieren. Pytlik beobachtete genau die Situation. Tatsächlich schien es so zu sein, dass da ein Haufen verschüchterter Menschen saß, der diesem Werner Schuster aufgrund irgendwelcher emotionaler oder sonstiger Abhängigkeiten völlig untergeben war. Und was machte Schuster? So als hätte ihn die Drohung seines Schwagers völlig kalt gelassen, wandte er sich süffisant lächelnd an den Hauptkommissar

»Was sagen Sie dazu, Herr Hauptkommissar? Liege ich denn völlig falsch?«

Pytlik überlegte sich gut, was er jetzt sagte. Dann stand er von seinem Stuhl auf und ging in die Position, die Constantin Becker in besagter Szene eigentlich innehatte.

»Was machen Sie denn jetzt?«, wollte Werner Schuster vom Hauptkommissar wissen.

In diesem Moment machte Pytlik bereits fünf Schritte rückwärts zur Bühne hin, drehte sich dann über seine rechte Schulter 180 Grad, deutete mit seinen geballten Händen eine Waffe an und zielte auf den Stuhl, auf dem Werner Schuster sitzen würde.

»Sehen Sie, Herr Hauptkommissar! Bravo! Genau so ist es richtig und genau so sollte es Constantin einfach auch nur machen. Das ist doch nicht so schwer, oder?«

Pytlik antwortete nicht, sondern legte einen Zeigefinger nachdenklich auf seinen Mund.

»Was ist?«, fragte Schuster neugierig.

»Nein, das ist tatsächlich nicht so schwierig«, antwortete Pytlik. »Allerdings hat Ihr Schwager in dem Moment auch schon einiges mehr an Schauspielerei hinter sich und vielleicht vergisst er das dann einfach. Außerdem hat er Recht, wenn er sagt, dass er Sie da unten nicht wirklich gut sehen kann. Vielleicht könnte man an dem Stuhl, auf dem Sie sitzen, eine Markierung anbringen, die man von hier oben gut sehen kann. Dann wäre dieses Problem vielleicht auch noch gelöst.«

Kurze Pause.

»Und ansonsten«, schob Pytlik fast belanglos hinterher, »muss ich sagen, die Art und Weise, wie Sie sich speziell heute hier aufgeführt haben, widerstrebt mir total. Ich habe mich gerne dazu bereit erklärt mitzuspielen. Ist auch für mich mal eine neue Erfahrung. Es hat mir bisher ganz gut Spaß gemacht und ich habe auch durchaus etwas dabei gelernt. Ich weiß nicht, ob das dazugehört oder ob Sie ein Klischee bedienen wollen, von dem Sie vielleicht selbst nicht wissen, ob es stimmt. Aber wenn Sie der Meinung sind, dass eine misslungene Generalprobe einfach dazugehört, dann haben Sie das heute ganz gut hinbekommen. Ich sehe hinter dem Ganzen aber durchaus noch etwas Anderes und das gefällt mir ganz und gar nicht.«

»Ach so! Was sehen Sie denn, Herr Hauptkommissar?«, bohrte Werner Schuster in einem fast etwas beleidigten Ton nach.

»Ihr Schwager hat mit seiner Beschreibung wohl nicht ganz unrecht, deswegen glaube ich auch nicht, dass Sie die Aufführung am Sonntag platzen lassen würden. Das würde nicht Ihrem Ego entsprechen. Die Leute würden dann ja fragen, warum und weshalb und dann hieße es am Ende vielleicht, der Werner Schuster hat es einfach nicht auf die Reihe bekommen. Ich glaube, das möchten Sie sich nicht antun, oder?«

Werner Schusters Augen wurden immer größer, sein schnappartiges Lachen hatte den Anflug von Verzweiflung. Nachdem er mit einigen kurzen Floskeln sein Entsetzen kundgetan hatte, drehte er sich zu den anderen Schauspielern und deutete nach kurzer Orientierung mit einer Hand auf Ralf Wich.

»Na super, Ralf, da muss ich mich ja noch mal ganz herzlich bedanken, dass du uns deinen Chef hier angeschleppt hast. Macht sich hier ja ganz toll als Moralapostel und Weltverbesserer. Bei der Polizei scheint das Leben ja ganz schön zu sein, aber ich kann euch sagen« – Werner Schuster wandte sich wieder an Pytlik und seine Stimme wurde klar und etwas drohend – »das Leben da draußen in der freien Wirtschaft als Unternehmer ist eben nicht so ein Zuckerschlecken, wie das in euren Uniformen vielleicht der Fall ist. Ich muss jeden Tag schauen, dass meine Mitarbeiter pünktlich am Monatsende ihr Geld bekommen und dazu gehört eben auch klare Kommunikation und ein klarer Plan. Und wenn irgendjemandem meine Art nicht passt, kann er mir das gerne sagen und wenn er will, kann er dann auch gerne gehen.«

Nach einer kurzen Pause beendete Werner Schuster den Abend vorzeitig.

»Dann bedanke ich mich für euer Kommen und hoffe, dass ihr am Sonntagabend alle gesund und munter hier seid und wir eine gute Premiere feiern können. Schönen Abend noch.«

Werner Schuster hatte es geschafft, mit seinen letzten Worten den Eindruck zu vermitteln, als wäre er das Unschuldslamm und von Pytlik zu Unrecht angegangen worden. Der Leiter der Schauspielgruppe packte seine Unterlagen zusammen und zog dieses Prozedere geduldig in die Länge. Wahrscheinlich wollte er Pytlik und den Anderen die Gelegenheit geben, vor ihm den Saal zu verlassen. Pytlik hatte kurz zu Ralf Wich hinübergeschaut, der aber nur leicht die Augenbrauen nach oben zog und mit einer lapidaren Handbewegung sagen wollte, dass sich sein Chef keine Gedanken machen müsse.

***

Es war bereits kurz vor 21 Uhr, als Pytlik sich im Gastraum an den Tresen neben Constantin Becker setzte, dem der Chef des Gasthofes gerade noch ein Bier und einen Korn dazu vor die Nase setzte.

»Darf ich?«, fragte Pytlik mehr rhetorisch, als dass er Constantin Beckers Antwort wirklich abgewartet hätte.

Der wiederum nahm Pytlik nur aus dem Augenwinkel wahr und trank zunächst den Schnaps mit einem Schluck aus. Danach schob er Anton Hofer das Glas über die Holztheke.

»Mach mir noch einen, Toni!«, bat er den Wirt mit angeschlagener Stimme. Pytlik bemerkte, dass Constantin Becker bereits viel von dem Schnaps getrunken haben musste. Er schien sehr frustriert und verärgert zu sein. Pytlik und Anton Hofer hatten Blickkontakt und es bedurfte keiner Worte, dass die Beiden sich verstanden.

»Machen Sie mir bitte auch ein Bier, Toni!«, bat Pytlik.

Constantin Beckers Kopf zuckte leicht nach rechts in Richtung des Hauptkommissars.

»Das geht auf meine Rechnung, Toni!«, wies Constantin Becker mit bereits leicht unsicherer Zunge an.

»Nein, lass mal Constantin!«, legte Pytlik eine Hand auf die Schulter seines Nebenmannes.

»Wenn ich sage, das geht auf mich, dann geht das auch auf mich! Klar, Herr Kommissar?«

Pytlik beließ es dabei. Nach und nach kamen auch die anderen Schauspieler in die Wirtschaft und setzen sich an eine lange Tafel. Der »Maxschacht« war – wie immer und vor allen Dingen am Schaschlik-Freitag – sehr gut gefüllt. Pytlik überlegte spontan, wie viel Spaß es machen würde und was es an Arbeit bedeutete, so ein Lokal zu führen. Vielleicht würde er irgendwann einmal gerne für einen oder zwei Tage mit dem Hofer Toni tauschen. Er wollte einfach mal dieses Gastwirt-Feeling erleben. Nachdem Anton Hofer dem Hauptkommissar das frisch gezapfte Bier serviert hatte, stieß dieser mit Constantin Becker an und auch der Wirt prostete den Beiden mit seinem Schoppen zu. Pytlik genoss den großen Schluck. Dann stupste er Constantin Becker noch einmal am Oberarm an. Vorher vergewisserte er sich, dass Werner Schuster nicht auch schon gekommen war.

»Sag mal«, begann Pytlik vorsichtig und umsichtig, »seit wann macht der Schuster das eigentlich schon? Ich meine, seit wann leitet er eure Schauspielgruppe?«

Constantin Becker schaute Pytlik an und fragte: »Gehen wir raus, eine rauchen?«

***

Es war ein sehr milder Septemberabend und die beiden Männer hatten sich etwas abseits auf dem Parkplatz postiert, um das Gespräch bei einer gemütlichen Zigarette fortzusetzen.

»Aber eins verstehe ich halt nicht«, wandte sich Pytlik an Becker.

»Der Mann hat eine sehr gut gehende Firma – was man so hört, aber das wirst du noch besser wissen als ich. Der ist ja auch in sämtlichen Clubs und Vereinen, soviel ich das weiß. Also, ohne dass ich euch jetzt da zu nahe treten will, aber Theater? Das passt doch irgendwie gar nicht zu dem oder täusche ich mich da?«

»Franz«, begann Constantin Becker. Pytlik und sein Gesprächspartner hatten schon sehr früh während der Proben einen guten Draht zueinander gefunden. Irgendwann hatten sie sich auf das »Du« geeinigt.

»Es ist halt einfach so: Wenn du am Ende des Monats in deine Bilanz schaust oder auf dein Konto, dann siehst du vielleicht, wie erfolgreich du bist oder warst, aber du bekommst ja erst einmal nichts dafür. Und wenn du dann im Golfclub oder bei diesem oder jenem Verein unter deinesgleichen bist, dann ist es nicht nur so, dass du nichts dafür bekommst, sondern du auch einfach nur eine Nummer bist unter vielen. Dieser Mensch, Werner Schuster – und da meine Schwester unglücklicherweise mit ihm verheiratet ist, weiß ich das ja noch umso mehr, mehr als ich es als sein Vertriebschef weiß – hat ganz viel Geld und – was auch immer das heißen mag – auch so etwas wie Macht. Aber eine Sache, die er für sein Ego einfach braucht, bekommt er jedes Jahr einmal, wenn wir unsere Aufführungen machen.«

»Applaus?«, hatte Pytlik mitgedacht.

Constantin Becker schmiss die Kippe auf den Parkplatz, pustete den Rauch aus und schaute Pytlik an.

»Applaus! Beifall! Anerkennung! Würdigung! Nenn es, wie du magst, Franz! In die Gesichter der Zuschauer zu sehen und dort die Bestätigung zu bekommen, was ich für ein toller Mensch bin, alle klatschen für das, was ich getan habe. Das ist diesem Typen einfach besonders wichtig und deshalb macht er das auch jedes Jahr.«

Nach einer kurzen Pause fuhr Constantin Becker fort.

»Aber für mich ist jetzt Schluss! So gerne ich das bisher auch gemacht habe, weil es ganz einfach auch einmal eine Herausforderung ist und dich ganz anders beansprucht, als wenn du immer nur Sport treibst. Für mich ist das Maß jetzt voll.«

»Und die Anderen?«, wollte Pytlik wissen.

»Was ist mit denen? Ich habe festgestellt, dass die sich ja völlig wegducken, wenn der Schuster auch nur den Mund aufmacht. Liegt das wirklich daran, dass die alle bei ihm arbeiten und Angst haben, er könnte sie rausschmeißen?«

Constantin Becker hatte sich noch eine Zigarette angezündet, Pytlik hatte dankend abgelehnt. Becker drehte sich einmal kurz in alle Richtungen, um sicher zu sein, dass Beide noch alleine waren. Dann trat er einen Schritt näher zu Pytlik heran.

»Weißt du, ich bin wohl so ziemlich der Einzige, der von Werner nichts zu befürchten hat. Das liegt aber nicht daran, dass ich sein Schwager bin, das würde den nicht im Geringsten stören. Aber der weiß ganz genau, dass die Millionen, die übers Jahr bei ihm aufs Konto fließen, zum großen Teil aus meiner Arbeit resultieren. Und deswegen würde der einen Teufel tun und mich einfach feuern. Aber alle anderen Mitarbeiter sehen in ihm tatsächlich einen Tyrannen und von denen geht keiner gerne früh auf die Arbeit, das kann ich dir garantieren.«

Becker kam noch ein Stück näher zum Hauptkommissar. Bevor er sich auf den Weg zurück in die Gaststube machte, ließ er Pytlik mit einem Rätsel stehen.

»Wenn du wirklich mal wissen willst, was das für ein Drecksack ist, dann frag mal jemanden nach der Geschichte mit Hanna Steiger.«

»Was ist mit dieser Hanna Steiger?«, schickte Pytlik die Frage noch hinterher, doch Constantin Becker reagierte nicht mehr und verschwand kurz darauf im Gasthof.

***

Nachdem Pytlik wieder am Tresen Platz genommen hatte, bekam er gerade noch mit, wie Constantin Becker sein Bier zügig austrank, mit dem Hinweis »Passt so« einen Schein auf die Theke legte und sich von Pytlik und Anton Hofer verabschiedete.

»Nix für ungut, Franz! Aber ich denke, für heute reicht es mir.«

Pytlik wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als Becker, der bereits aufgestanden war, seinen Kopf in Richtung des Gangs zum Festsaal hob.

»Na da schau her! Das passt doch wie abgesprochen. Vielleicht nimmt der Herr Regisseur ja meinem Platz neben dir ein. Einen schönen Abend noch.«

Constantin Becker verließ mit einem Augenzwinkern und nachdem er sich mit einer Handbewegung auch von den anderen Kolleginnen und Kollegen am langen Tisch verabschiedet hatte, den »Maxschacht«. Pytlik hatte sich nach Beckers Hinweis reflexartig umgedreht, so dass Werner Schuster natürlich mitbekommen haben musste, dass er von Becker darauf hingewiesen worden war. Aber es war ihm egal. Er nahm sein Glas Bier und trank einen großen Schluck. Kaum dass er das Glas wieder abgesetzt hatte, knallten neben ihm diverse Ordner auf die Theke und tatsächlich ließ es sich Werner Schuster nicht nehmen, sich neben Pytlik zu setzen. Als dieser zur Begrüßung die Hand Schusters auf seiner Schulter spürte, wusste er wohl, was dies zu bedeuten hatte.

»Herr Hauptkommissar! Darf ich übrigens Franz sagen? Ich bin der Werner.«

Damit hatte Pytlik jetzt zwar nicht gerechnet, aber immerhin hatte sein Eindruck nicht getäuscht, dass Werner Schuster die Sache von vorhin aus der Welt schaffen wollte. Und Pytlik war ehrlich gesagt auch daran gelegen. Immerhin war er eingeladen worden, bei der Theatergruppe mitzuspielen und jetzt wollte er nicht der Spielverderber sein, der auf den letzten Drücker alles kaputt machte. Er reichte Schuster die Hand.

»Ich bin der Franz!«

»Ich habe noch mal kurz darüber nachgedacht, wegen vorhin«, begann Werner Schuster. »Ja, du hast schon in gewisser Weise Recht. Aber du musst das auch verstehen: Die Proben sind bisher sehr gut gelaufen und ich bin auch ehrlich gesagt sehr überrascht, wie gut du deine Sache machst, nachdem du vorher noch nie auf der Bühne gestanden hast. Aber als Regisseur und Leiter der Gruppe hast du da natürlich gerade an so einer Generalprobe immer das Gefühl, es könnte doch noch besser gehen. Verstehst du das?«

Pytlik verstand es zwar nicht, aber er nickte artig. Anton Hofer hatte mittlerweile auch Werner Schuster ein Bier hingestellt.

»Prost, Franz!«

»Prost, Werner! Prost, Toni!«

Die Gläser klirrten.

»Sag mal, Toni, am Sonntag müssten wir dann am besten nachmittags noch mal die Waffe mit der Platzpatrone testen. Damit das auch wirklich funktioniert. Können wir das vielleicht so nach der Mittagszeit machen?«

»Klar«, antwortete Anton Hofer belanglos und das Gefühl vermittelnd, dass man deswegen eigentlich kein Aufheben machen musste.

»Die Waffe ist da und ich habe auch einige Platzpatronen. Wir können das mittags testen und abends mache ich dann eine ins Magazin und dann habt ihr die Waffe für die Vorstellung. Kein Problem!«

»Gut, gut! Ich möchte das vorher einfach nur noch mal testen. Nicht, dass es dann vielleicht eine Ladehemmung oder sonst irgendetwas gibt. Ich kenne mich damit ja nicht aus. Da bist du ja der Fachmann.«

Die nächsten drei Bier wurden von Smalltalk und Auszügen aus den jeweiligen Lebensläufen von Werner Schuster und Franz Pytlik begleitet. Es war bereits kurz vor Mitternacht, als Werner Schuster bekundete, nach Hause gehen zu wollen. Auch Pytlik schaute auf seine Armbanduhr.

»Toni, sind Sie doch so gut und rufen mir ein Taxi!«

Erst jetzt bemerkte Pytlik, dass rechts von ihm am Kopfende der Theke schon seit einiger Zeit eine Frau saß, von der er wusste, dass sie nicht zur Schauspielgruppe gehörte, die aber allem Anschein nach auch alleine im »Maxschacht« war. Sie nahm ihr Weißweinglas, deutete einen Gruß in Richtung Pytlik an und trank dann auf eine irgendwie vornehme Art und Weise. Dabei lächelte sie sehr sympathisch und ließ den Blick nicht vom Hauptkommissar ab. Werner Schuster klopfte noch einmal kurz mit der Faust auf den Tresen und machte sich dann auf den Weg. Anton Hofer hatte den Telefonhörer bereits in der Hand.

»Psst! Warten Sie doch noch mal wegen des Taxis!«, flüsterte Pytlik dem Wirt zu.

»Schauen Sie jetzt mal bitte nicht gleich rüber, aber kennen Sie die Frau, die da sitzt?«

Anton Hofer war ein geübter Gastronom. Natürlich schaute er nicht in Richtung der Frau, nachdem ihn Pytlik darum gebeten hatte. Er nahm ein Wischtuch und ein Glas und tat so, als hätte Pytlik ihn etwas Anderes gefragt. Dann antwortete er in einer Lautstärke, von der er sicher war, die Frau würde es nicht hören.

»Nie zuvor gesehen! Ist bestimmt eine Geschäftsfrau auf der Durchreise. Spricht gestochenes Hochdeutsch. Keine Ahnung, kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.«

Der Rest der Schauspielgruppe war mittlerweile auch nach Hause gegangen und es befanden sich nur noch ein paar einzelne Besucher im »Maxschacht«. Pytlik überlegte, als plötzlich Anton Hofer hinter dem Tresen zu der unbekannten Frau hinüberging. Mit seinem Tuch säuberte er einmal die Holzauflage und kam dann wieder zurück. Pytlik stutzte, denn nur wenige Sekunden nach dieser Aktion nahm die Frau ihr Glas und ihre Handtasche und saß nur einige Augenblicke später neben Pytlik auf dem Platz, den vor ihr Constantin Becker und Werner Schuster innegehabt hatten.

»Hallo! Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Der falsche Tote

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