Читать книгу Terrafutura - Carlo Petrini - Страница 8

Dialog vom 30. Mai 2018

Оглавление

Carlo PetriniIch habe Ihnen etwas mitgebracht, ein Buch, das ich gemeinsam mit José »Pepe« Mujica und Luis Sepúlveda verfasst habe. Es heißt Vivere per qualcosa (»Für etwas leben«).

Papst FranziskusIch werde es gerne lesen.

CWir sind drei etwas eigensinnige Persönlichkeiten, jeder mit seinen Besonderheiten, aber wir waren uns sofort einig. Wir schätzen uns gegenseitig sehr. Außerdem hege ich große Bewunderung für Pepe und Luis, weil sie außergewöhnliche Menschen sind, die ihr Leben dem aktiven Kampf für eine bessere Welt gewidmet haben. Sie haben gekämpft, ohne sich jemals von den Ereignissen unterkriegen zu lassen, und haben stets Rückgrat bewiesen.

FPepe ist tüchtig, wirklich tüchtig, er hat öffentliche Ämter bekleidet, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Er ist immer Bauer geblieben!

CEr ist ein Phänomen. Und auch Luis Sepúlveda ist eine großartige Persönlichkeit. Man hat uns gefragt, wofür es sich lohnt zu leben, und wir haben versucht, die Frage zu beantworten. Und wir waren uns einig, dass es sich tatsächlich für den Einsatz für eine gerechte Sache zu leben lohnt. So mühsam es auch sein mag, ist das doch die wahre Quelle des Glücks.

FGut, ich danke Ihnen. Lassen Sie uns nun schauen, welche Geschenke ich für Sie mitgebracht habe: Dieses Buch ist ein Interview, das Dominique Wolton mit mir auf Französisch geführt hat; das hier ist die italienische Übersetzung.1

CWunderbar, danke, die italienische Ausgabe! Ich habe den französischen Text gelesen und war vom Inhalt sehr beeindruckt, wirklich sehr schön.

FDie italienische Version habe ich selbst nicht gelesen. Aber dafür die französische, bevor sie in den Druck ging.

CIch habe das Buch ganz auf Französisch gelesen und wunderbare Dinge darin gefunden. Besonders beeindruckt hat mich das, was Sie über Humor sagen.

FHumor ist sehr wichtig!

CSie sprechen oft davon, wie wichtig es sei, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen und über sich selbst lachen zu können, über die eigenen Schwächen. In dem Band mit Wolton gibt es eine Passage, da sagen Sie, dass der Sinn für Humor auf menschlicher Ebene am weitesten heranreiche an …

F… die Gnade. Für mich grenzt er an göttliche Gnade. Er ist in meinen Augen der erhabenste Zustand eines Menschen, an der Schwelle zu Gott. Nur ein Mensch, der eine bestimmte Ebene erreicht hat, kann Sinn für Humor haben. Dieses Buch ist ein kleines Andenken an das fünfte Jahr meines Pontifikats, in der Hoffnung, dass es nicht das letzte sein möge.

CAußerdem findet sich dort noch das Zitat aus dem Gedicht von Thomas Morus, in dem er zu Gott betet und ihn bittet ihm zu helfen, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen und stets über sich lachen zu können; ich fand das derart modern und tiefsinnig, dass ich, als Agnostiker, es mir zu eigen gemacht habe.

Gut, Franziskus, lassen Sie uns beginnen. Die Idee zu diesem Interview ist aus unserer Begegnung vor einigen Monaten erwachsen, und ich danke Ihnen für diese wertvolle Bereitschaft. Wenn sich dieses Gespräch in Buchform bringen ließe, etwa in Verbindung mit einigen Ihrer bedeutendsten Reden der letzten Jahre, wäre das vielleicht eine gute Gelegenheit, um an das Erscheinen Ihrer Enzyklika Laudato si’ vor drei Jahren zu erinnern und die Gemeinschaften zu stärken, die im Namen der von Ihnen dargelegten Prinzipien überall in Italien und in der Welt entstehen und wachsen. Die Laudato-si’-Gemeinschaften sind lose Gruppierungen, die sich zu einer ganzheitlichen Ökologie und der konkreten Verantwortung für die Sorge um unser gemeinsames Haus bekennen. Es ist eine Aufforderung an alle, sich für den Schutz unseres gemeinsamen Erbes und den Kampf gegen soziale Ungerechtigkeiten mitverantwortlich zu fühlen. Ich würde mich freuen, wenn dieses Interview auch Ihnen ein zusätzliches Instrument an die Hand gäbe, denn die Schaffung von Räumen für aktive Teilhabe und Austausch ist in meinen Augen heute wichtiger denn je. Wir müssen wieder zueinanderfinden, zusammenarbeiten und versuchen, Veränderungen im Kleinen zu bewirken, damit daraus die notwendigen globalen Veränderungen entstehen.

FJa, ja, unbedingt.

CIch würde tatsächlich gern mit der Enzyklika Laudato si’ beginnen. Ein Dokument, das den Rahmen des ökologischen und sozialen Diskurses verändert und das Denken der katholischen Kirche auf Bereiche gelenkt hat, die, zumindest auf höchster Ebene, bisher nicht vollständig im Blickfeld lagen. Nun, drei Jahre nach seinem Erscheinen, was hat Ihrer Meinung nach dieser Text bewirkt, auf allen Ebenen, auch unter den Nichtgläubigen? Vielleicht haben noch nicht alle seine inhaltliche Tragweite erfasst, aber aus intellektueller und moralischer Sicht geht er zweifellos an einen Punkt, von dem es kein Zurück gibt. Es handelt sich um ein außergewöhnlich kraftvolles Dokument, das tatsächlich den Ausgangspunkt für die Neubelebung des Denkens und Handelns bilden dürfte.

FWenn wir über die Entstehung dieses Textes und seine Wirkung sprechen, erinnere ich mich an einen entscheidenden Augenblick, der erklären kann, was danach geschehen ist. Zunächst muss ich relativieren, dass nicht ich allein die Enzyklika geschrieben habe. Ich habe Wissenschaftler und Gelehrte hinzugezogen, die sich lange mit den Problemen auseinandergesetzt und mir sehr geholfen haben, Klarheit zu schaffen. Hinzu kamen Theologen und einige Philosophen, auch sie äußerst wertvoll. Mit all diesem Material habe ich an der Endfassung des Textes und an seiner Struktur gearbeitet. Aber Laudato si’ bleibt das Ergebnis der Arbeit vieler Personen.

Einige Zeit vor dem Abschluss dieser Arbeit bin ich nach Straßburg gereist und habe dort Ségolène Royal getroffen, seinerzeit Umweltministerin in der französischen Regierung. Präsident Hollande hatte sie stellvertretend für sich geschickt. Die Ministerin zeigte sich bei der Begrüßung wie beim Abschied als sehr interessiert an dem Schreiben, von dem zwar bekannt war, dass es sich in Arbeit befand, für das es aber keine Vorschauen gab, abgesehen von einigen Verweisen auf die Themen des gemeinsamen Hauses und der sozialen Gerechtigkeit. »Sie schreiben also über diese Themen?«, fragte sie und ergänzte: »Das ist äußerst wichtig; es wird ein Text von großer Sprengkraft sein. Viele von uns warten schon darauf.« Damals ist mir zum ersten Mal der zentrale Stellenwert dieses Textes und seine Bedeutung für die von ihm berührten Themen klar geworden. Bis dahin ahnte ich nicht, welch Aufsehen er erregen würde, aber da habe ich gemerkt, dass die Erwartung wuchs und man auf eine starke Stimme in diese Richtung hoffte. Es ist dann gut gelaufen: Nach dem Erscheinen der Enzyklika habe ich gesehen, dass die Mehrheit derer, denen das Wohl der Menschheit am Herzen liegt, sie gelesen haben und sie befürworten, sie nutzen, kommentieren und zitieren. Ich denke, dass sie praktisch weltweit akzeptiert worden ist.

CSie sagen also, dass dieses Interesse an Umweltthemen auch auf persönlicher Ebene mit der Zeit gereift ist. Ich erinnere mich, dass Sie mir am 1. Oktober 2013, nachdem wir eine Woche zuvor telefoniert hatten, einen Brief geschrieben haben. Sie schrieben, Terra Madre, unser Netzwerk aus Bauern, Fischern, Handwerkern, Köchen, Forschern, Indigenen, Pastoren, das 6000 Gemeinschaften in weltweit 170 Ländern umfasst, gehe sehr eng mit dem Thema der Nutzung und Bewahrung der Schöpfung einher. Als dann, fast zwei Jahre später, die Enzyklika erschien, vermutete ich, dass Sie vielleicht bereits damals, 2013, die Idee hatten, Franz von Assisi auf diese Weise zu interpretieren. Ja, ich war davon überzeugt.

F2013 eigentlich noch nicht. Oder, besser gesagt, war es ein langer Prozess, der 2013 bereits seinen Anfang genommen hatte. Ich erinnere mich, wie ich 2007, als Bischof von Buenos Aires, an der V. Generalkonferenz des Episkopats von Lateinamerika und der Karibik in Aparecida, Brasilien, teilgenommen habe und mit welchem Nachdruck die brasilianischen Bischöfe über die großen Probleme des Amazonasgebietes sprachen. Bei jeder Gelegenheit kamen sie auf dieses Thema, legten wortreich die Auswirkungen auf die Umwelt und die sozialen Folgen der aufgeworfenen Probleme dar. Ich kann mich gut erinnern, dass mir dieses Verhalten auf die Nerven ging und ich sogar kommentierte: »Diese Brasilianer machen uns noch ganz verrückt mit ihren Reden!« Damals habe ich nicht begriffen, weshalb sich die Bischofskonferenz dem Thema Amazonien widmen sollte, mich beschäftigte das Wohl der grünen Lunge der Erde kaum, oder zumindest verstand ich nicht, was das mit meiner Rolle als Bischof zu tun hatte. Im Lauf der Stunden sah sich das Redaktionsteam für das Abschlussdokument auch von Kolumbianern und Ecuadorianern mit immer weiteren Anregungen zu dem Thema konfrontiert. Ich war nach wie vor der Ansicht, man solle sie außer Acht lassen, und hatte kein Verständnis für dieses Drängen und diese Beharrlichkeit. Seit jenem Jahr ist viel Zeit verstrichen und ich habe meine Wahrnehmung der Umweltproblematik komplett verändert. Damals wollte ich nicht begreifen, sieben Jahre später habe ich die Enzyklika geschrieben.

CWelch wunderbare Geschichte! Glauben Sie, dies ist mit ein Grund dafür, dass ein Teil der Kirche die Ideen der Laudato si’ nur langsam verinnerlicht hat? Oder ist das nur mein persönlicher Eindruck?

FIch gebe Ihnen recht, es stimmt. Und wie gesagt, habe ich diese Thematik anfangs selbst nicht verstanden. Als ich dann anfing, mich damit auseinanderzusetzen, habe ich ein Bewusstsein dafür entwickelt, habe den Schleier zerrissen. Ich glaube, man muss allen genügend Zeit zum Verstehen lassen. Gleichzeitig ist jedoch dringend ein Paradigmenwechsel geboten, wenn wir eine Zukunft haben wollen.

CIch würde Sie jetzt gern noch etwas anderes fragen. Sie wissen, dass ich Agnostiker bin …

FEin frommer Agnostiker. Sie haben Ehrfurcht vor der Natur, und das ist eine edle Haltung.

C(lacht) »Frommer Agnostiker« ist eine gute Umschreibung, die muss ich mir merken. Ihre im Lauf des Pontifikats entstandenen Texte und Ihre Stellungnahmen haben mir gezeigt, mit welchem Nachdruck Sie fordern, dass auch Agnostiker, und ganz allgemein die Nichtgläubigen, Achtung vor dem Transzendenten haben sollten. Ich habe das verstanden und kann Ihnen nur zustimmen. Dennoch habe ich den Eindruck, dass die beiden Welten, die gläubige und die säkulare Welt, weiterhin parallel nebeneinander existieren und große Mühe haben, sich aufeinander einzulassen und ernsthaft in Dialog zu treten. Auseinandersetzungen und gemeinschaftliches Handeln von Gläubigen und Nichtgläubigen sind nicht üblich, und das zu einem Zeitpunkt, da die großen vor uns liegenden sozialen und ökologischen Herausforderungen ein gemeinsames Engagement und die gemeinsame Anstrengung aller Menschen guten Willens erfordern würden. Es gelingt nicht, diese Interessenvereinigung zu schaffen. Vielleicht ist es auch ein Problem der Sprache und der Formulierungen. Ich will ein Beispiel nennen, das mir für die Schwierigkeiten des Zusammenwirkens besonders bezeichnend zu sein scheint: das von Ihnen 2016 ausgerufene Jahr der Barmherzigkeit. Die Welt der Nichtgläubigen hat dieses Ereignis nur sehr marginal wahrgenommen, obwohl das Thema zentral ist und alle dazu aufgerufen sind, daran teilzuhaben. Doch das Wort Barmherzigkeit ordnet man ganz und gar der katholischen Welt zu, und uns Nichtgläubigen gelingt es nicht, das kulturelle und politische Potenzial dieser Botschaft zu erfassen; wir erleben sie als etwas, das uns überhaupt nicht betrifft.

FGenau dafür hatte Benedikt XVI. ein starkes Gespür. Zu dem letzten von ihm abgehaltenen interreligiösen Treffen in Assisi hatte er auch Agnostiker eingeladen, da sie uns, wie er sagte, etwas zu geben hätten. In seinen Augen sollten die Agnostiker zu allen Gläubigen sprechen, gleich, welcher Religion sie angehören. Benedikt hatte eine Intuition, mit der er eine neue Phase eingeläutet hat. Es wird Zeit brauchen, bis sie zur Entfaltung kommt, aber seit damals ist man auf der richtigen Spur. Ich glaube, dass das Problem der beiden Parallelwelten ein Erbe der Aufklärung ist, das wir auch dreihundert Jahre später noch immer mit uns schleppen. Man tut übrigens gut daran, zunächst zwischen den beiden Begriffen Laizität und Laizismus zu unterscheiden: Laizität ist ein gesunder Ansatz, Laizismus dagegen eine verschlossene, kindliche Haltung. Wir sind Kinder jener Sichtweise der Aufklärung, mit der die vollständige Trennung festgeschrieben wurde: Der Glaube ist weit weg, abstrakt, wir dagegen sind weltlich und haben damit nichts zu tun. Aber so ist es nicht. Wahre Laizität bedeutet transzendente Offenheit, anders geht es nicht. Wenn es anders wäre, nähme man dem Menschen die Möglichkeit, sich selbst zu transzendieren, sich der Welt und dem Anderen zu öffnen, sich in das hineinzuprojizieren, was außerhalb von ihm besteht. Jedes Werk der Solidarität bedeutet ein Sichöffnen gegenüber dem Anderen, dem Transzendenten. Aber wir sind mit der völligen Trennung der Sphären aufgewachsen und können uns nicht vorstellen, dass sie miteinander im Austausch stehen; dazu fehlen uns tatsächlich die geistigen Kategorien. Das ist ein grundlegender Fehler. Auch die Gläubigen, die offen für das Transzendente sind, müssen den agnostischen Humanismus verstehen, der nun einmal Realität ist. Es ist diese Ebene des Verständnisses, auf der sich ein Dialog führen lässt.

CDavon bin ich fest überzeugt und habe es während der letzten drei Jahre stark gespürt. Denn es war die Enzyklika Laudato si’, die mich dazu gebracht hat, wieder über diese Dinge zu diskutieren. Das muss ich ehrlich zugeben, denn ich bin darin auf ein starkes ethisches und moralisches Bewusstsein gestoßen. Gleichzeitig sehe ich natürlich die Schwierigkeit des Brückenbauens. Deshalb hoffe ich, dass unsere Laudato-si’-Gemeinschaften in dieser Hinsicht gut funktionieren werden.

FDas ist wichtig, der Dialog ist äußerst wichtig. Die Enzyklika Laudato si’ ist ein gemeinsamer Punkt für beide Seiten, denn der Text wurde für alle geschrieben.

CWo wir gerade beim Dialog sind: Als ich die Enzyklika las, habe ich mich unter anderem lange mit dem ethischen Aspekt dieses Begriffs befasst. Nach tieferem Nachdenken habe ich jedoch eingesehen, dass der Dialog keine moralische Option ist. Er ist im Gegenteil in erster Linie eine Methode. Genau in dem Sinne, wie es Romano Guardini bereits um die Mitte des letzten Jahrhunderts dargelegt hat (ich muss Ihnen gestehen, dass ich noch nie so viel Theologie gelesen habe wie in den letzten Monaten). Guardini hat mich fasziniert, weil er diese Dinge bereits dreißig Jahre vor den anderen gesagt hat! So habe ich erkannt, dass der Dialog eine Methode ist. In meinen Augen ist er eine kulturelle, politische und operative Methode. Wie denken Sie darüber?

FDer Dialog ist vor allem eine menschliche Methode. Guardini ist ein Ansatz gelungen, der gegensätzliche Spannungen nicht als etwas betrachtet, das es zu beseitigen gilt, sondern als etwas, das man auf einer höheren Ebene überwinden muss. Es geht also nicht darum, Differenzen und Konflikte zu verwischen, sondern sie im Gegenteil hervorzuheben und gleichzeitig für ein übergeordnetes Wohl zu überwinden. Guardini war dazu in der Lage, weil er den Dialog gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hat. Er stammte nämlich aus einer italienischen Familie, die sich in Deutschland niedergelassen hatte, als er selbst erst ein Jahr alt war. Die Kultur seiner Familie war also eng mit der deutschen Kultur verwoben, innerhalb derer er seine gesamte Ausbildung absolvierte. Er musste keine Synthese vollziehen, sondern den Gegensatz auf einer höheren Ebene auflösen, auf einer Ebene, die es ermöglichte, die Spannung der beiden Gegensätze beizubehalten und gleichzeitig aufzuheben. Darin lag seine Größe. Er hat den Dialog mit der Muttermilch aufgenommen, er hatte ihn im Blut.

CIch glaube, Sie haben nicht zu Unrecht das Interesse an der italienischen Politik verloren. Sie ist tatsächlich von immer heftigeren Beleidigungen und Attacken geprägt, die sich oft gegen einzelne Personen und nicht gegen Ideen richten. Doch wenn im Parlament nicht die nötige Stimmenzahl fürs Regieren zusammenkommt, müssen die Parteien sich zwar an den runden Tisch setzen und versuchen, die Lage zu klären. Hat man sich zuvor jedoch immer schlimme Sachen gesagt, ist es tatsächlich schwierig, zu einem Dialog zu finden. Wir erleben de facto den permanenten Wahlkampf und Regierungsabkommen, die gerade mal ein paar Monate überdauern!

FDas stimmt, aber Beleidigungen in der Politik sind wie die Musik beim Menuett. Man läuft im Takt der Musik und tanzt dann Menuett zusammen. So läuft das in der Politik. Das ist, wenn Sie so wollen, das Salz in der Suppe!

C(lacht) Hauptsache, man versalzt die Suppe nicht. Nachdem ich für den Verlag Edizioni San Paolo den Kommentar zu Ihrer Enzyklika verfasst hatte, bekam ich Gelegenheit herumzureisen, um an Gesprächen und Debatten mit zahlreichen Katholiken, darunter auch Pfarrer und Bischöfe, teilzunehmen. Als man mich bat, meine Lesart der Laudato si’ darzustellen, waren es vor allem vier Punkte, die ich hervorhob: das Konzept der ganzheitlichen Ökologie, der Dialog als Methode, der Wert der biologischen Vielfalt und schließlich der Punkt, der mich am meisten fasziniert hat, nämlich die Bedeutung, die die guten Praktiken des Individuums für das Bewirken nachhaltiger Veränderungen haben. Ich würde gern wissen, ob Sie sich in dieser »weltlichen« Interpretation wiederfinden.

FFür meine Antwort fange ich mit dem vierten Punkt an: Weshalb erstaunt uns das so? Weil dabei ein Wert ins Spiel kommt, der außer Mode geraten ist, ja bisweilen vielleicht sogar ein wenig verachtet wird. Dieser Wert ist die Aufrichtigkeit. Aufrichtigkeit ist nicht bloß ein moralischer, sondern vielmehr ein menschlicher Wert. Er sorgt dafür, dass ein Mensch sich aufrichtig verhält, also in einer Atmosphäre der Harmonie handelt. Aufrichtigkeit erzeugt Harmonie, immer. Denn die Dimension der Aufrichtigkeit, egal ob sie nun durch eine Person, eine Gemeinschaft oder eine Familie ihren Ausdruck findet, löst immer Sympathie und Vertrauen aus. Und hier entsteht Dialog und wird erfahren, unmittelbar. Wie oft kommt es vor, dass man denkt: »Dieser Mensch denkt zwar anders als ich, aber er ist ehrlich.« Wenn die Aufrichtigkeit fehlt, kann es zu keinem tragfähigen Dialog kommen, das ist schier unmöglich. Als Beispiel für mangelnde Aufrichtigkeit ist mir einmal folgende kleine Geschichte erzählt worden. Eigentlich hat man sie mir erzählt, um zu zeigen, wie schlecht die Italiener sind, aber da ich italienischer Abstammung bin, kann ich sie selbstironisch zum Besten geben. Es geht um neun Unternehmer großer Firmen, die sich gegenseitig Konkurrenz machen. Sie berufen eine Versammlung ein, um übereinzukommen. Nach stundenlanger Diskussion gelangen sie zu einem gemeinsamen Ergebnis und formulieren eine endgültige Vereinbarung. Alle lesen sie und stimmen zu, und während man die Kopien zum Unterzeichnen ausdrucken lässt, stößt man fröhlich an, wie unter guten Freunden. Als schließlich die ausgedruckten Exemplare zum Unterzeichnen vorliegen und auf dem Tisch die Runde machen, sind Sie und ich, wir Italiener, bereits dabei, unterm Tisch ein weiteres Abkommen zwischen uns zu unterzeichnen. Das ist eine kleine Spitze gegen die Italiener, aber lassen wir das beiseite. Es geht um Unaufrichtigkeit. Der Unehrliche hat keine Anziehungskraft, er vereint nicht, da er kein Vertrauen einflößt und daher auch keines entgegengebracht bekommt. Aufrichtigkeit ist die Basis für Vertrauen. Auf der Basis der Aufrichtigkeit muss ich als Mensch handeln, um für mich und die anderen zur Harmonie in der Welt beizutragen. Denn ich kann nicht ehrlich zu den Menschen sein, wenn ich es nicht auch gegenüber der Natur, der Umwelt, dem Leben bin, das mich umgibt. Es gibt keine Aufrichtigkeit ohne Altruismus. Das ist der vierte Punkt.

CWenn ich mit anderen über diesen Aspekt der Enzyklika spreche, merke ich, wie ungeheuer wichtig es ist, sich bewusst zu werden, dass man aktiv an der Veränderung mitwirken kann. Selbst wenn man nur eine geringe, einfache Stellung hat. Es gibt eine Passage, in der Sie die Bedeutung der ganz kleinen Dinge unterstreichen, wie etwa das Licht auszuschalten, Wasser zu sparen, das Richtige zu konsumieren. Diese guten Praktiken des Einzelnen werden von der »hohen Politik« als veraltet, unbedeutend und folkloristisch abgetan. Dabei bilden sie die Grundlage für Veränderung, den Nährboden, auf dem eine bessere Zukunft für alle wachsen kann. Wir als Bewegung haben uns das auf die Fahnen geschrieben. Wir waren von Anfang an davon überzeugt, dass sich durch Nahrungsmittel – um die es der Slow-Food-Bewegung geht – tiefgreifende Veränderungen unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystems herbeiführen lassen, dass man die Welt verändern kann. Und wir glaubten und glauben nach wie vor, dass man mit den kleinen Dingen beginnen muss. Jeder trifft tagtäglich individuelle Entscheidungen, die jedoch Auswirkungen auf globaler Ebene haben und niemals neutral sind. Die eigenen Nahrungsmittel auszusuchen, gehört zu diesen Entscheidungen. Es handelt sich um einen wirkungsmächtigen Veränderungsmechanismus. Auf diese Weise gibt man einem Produktions- und Wirtschaftsmodell den Vorzug gegenüber einem anderen.

FEs sind die kleinen Dinge, die auf einen Ursprung verweisen. Der Pfarrer hat die Angewohnheit, ständig das Licht auszumachen. Pfarrer haben diese Manie. Aber warum? Weil Pfarrer die Spenden hüten müssen, um sie für wohltätige Zwecke zu verwenden. Das bedeutet, in Harmonie zu treten, sich persönlich einzubringen, zum aktiven Subjekt zu werden.

Ich komme auf einen anderen Punkt, den Sie betont haben, die ganzheitliche Ökologie. Zunächst möchte ich klarstellen, dass die Enzyklika Laudato si’, im Gegensatz zu dem, was viele denken und schreiben, keine Umweltenzyklika, kein Text zur Ökologie ist. Es handelt sich eher um eine Sozialenzyklika. Wenn wir über Ökologie sprechen, müssen wir uns vor Augen führen, dass wir in allererster Linie selbst ein Teil der Ökologie sind. Das scheint offensichtlich, ist es aber keineswegs. Wissen Sie, für was Familien, nach Nahrung und Kleidung, am meisten Geld ausgeben?

CKleidung … die Wohnung?

FNein. An dritter Stelle kommt Schminke … wie sagt man? … Kosmetik! Rechnet man die Schönheitschirurgie dazu, stehen die Ausgaben hierfür weltweit an dritter Stelle. Und an vierter Stelle? Die kleinen Lieblinge, Haustiere! Diese Statistik ist ein paar Jahre alt, aber es hat sich nicht viel verändert. Merkwürdig, oder? Bildung taucht zum Beispiel gar nicht auf. Vor einem solchen Hintergrund lässt sich schwerlich von einem neuen ökologischen Ansatz und einer neuen Harmonie mit der Umwelt sprechen. Angesichts einer Welt, die derart viel für solche Dinge ausgibt, fällt das nicht leicht. Unsere Epoche ist von einer tiefen Eitelkeit geprägt, die uns dazu bringt, eine künstliche, flüchtige und oberflächliche Schönheit zu verherrlichen …

CKonsum, konsumieren, konsumieren …

FKonsum. Den wir vorhersehen, kontrollieren können, der uns Besitz verheißt. Wir wollen Zuneigung auf Befehl, wie bei den Haustieren, wir wollen Antworten vorhersagen können. Über ganzheitliche Ökologie zu sprechen bedeutet, diese Sichtweise umzukehren, es bedeutet, dass Mensch und Umwelt nicht voneinander trennbar sind. Es ist ein echtes Aufbegehren gegen diese Welt. Ich kann mich erinnern, welches Aufsehen Anna Magnani mit der Geschichte um ihre Falten erregt hat. Als sie gefragt wurde, ob sie vorhabe, ihre Falten durch eine Schönheitsoperation entfernen zu lassen, antwortete sie: »Auf keinen Fall. Ich habe sie mir über Jahre redlich erworben!« Sie ist das Beispiel eines Menschen, der die Verbindung mit der Natur, die Schönheit der Natur, zutiefst verstanden hat. Eine ganzheitliche Natur, deren integraler, untrennbarer Bestandteil wir sind.

CUnd der entscheidende Punkt dabei ist, dass eine Verletzung der Erde der Verletzung unserer selbst gleichkommt. Immer wieder ist zu hören, wir müssten die Natur achten, um »den Planeten zu retten«. Was bei dieser Ansage, teils wider besseres Wissen, vergessen wird, ist die Tatsache, dass die Erde weiterexistieren wird, ob mit oder ohne uns. Er wird sich verändern, wird neue Formen der Anpassung und des Lebens hervorbringen. Wir, als Spezies Homo sapiens, laufen dagegen Gefahr zu verschwinden. Darüber müsste man sprechen, dann würden sich die persönliche und die kollektive Einstellung vielleicht wirklich verändern. Abgesehen davon, bekommen wir das alles bereits tagtäglich zu sehen, die Beispiele sind zahlreich: Ökologische Notstände sind der Schlüssel zum Verständnis der großen Migrationsbewegungen, die wir derzeit erleben. Denn diese Migrationsströme sind nicht nur eine Folge des Kolonialismus, sondern auch des Klimawandels und der fortschreitenden Wüstenausbreitung. Doch unser Europa begreift das nicht und errichtet Mauern, nährt Angst und Misstrauen, schürt Konflikte zwischen den Armen.

FMich beunruhigt, wie dieser Trend zum Populismus in Europa Einzug gehalten hat. Ich muss dabei an manch furchtbare Verirrung denken, die wir in der Vergangenheit bereits erlebt haben, wie etwa die folgenschwere Verführung mit Heilsversprechen 1932/1933 in Deutschland. In jenem Fall bedurfte es keines gewaltsamen Staatsstreichs; es genügte das Votum der Leute, die sich von populistischen, unter dem Deckmantel des gesunden Menschenverstandes gehaltenen Reden in die Irre leiten ließen. Populismus ist wie Falschgeld.

CMan appelliert an das Bauchgefühl und weckt niedere Instinkte. In einer solchen Situation zu handeln, ist schwierig. So gesehen kann Bildung eine zentrale Rolle spielen, um derartigen Entwicklungen Einhalt zu gebieten, und dennoch investiert man nicht genug in sie. Selbst heute noch werden in Italien Leute, die studieren, die sogenannten »Intellektuellen«, mit Argwohn betrachtet, als sei Wissen etwas, wovor man sich fürchten, dem man mit Misstrauen begegnen müsse. Man treibt eine vermeintliche Trennung zwischen Intellektuellen und Volk voran, als seien es unabhängige, gegeneinander kämpfende Kategorien.

FEin weiterer wichtiger Punkt, den Sie betonen, und dem ich voll und ganz zustimmen kann, ist die biologische Vielfalt, die den Reichtum unserer Erde ausmacht. Biologische Vielfalt sorgt für das ökologische Gleichgewicht, sie ist das Gut, das uns ein Leben auf diesem Planeten ermöglicht. Als ich vor einem Jahr das Foto von dem chinesischen Schiff gesehen habe, das den Nordpol überquert hat, weil es kein Eis mehr gab, das es behindern konnte, ist mir wieder einmal klar geworden, welches Umweltdrama sich abspielt. Oder das berühmte Foto des Eisbären, der einsam auf einer immer kleiner werdenden Eisscholle steht. Diese Dinge vergessen wir bisweilen, nicht wahr? Dabei geschehen sie ganz in unserer Nähe, und es ließen sich noch eine ganze Woche lang weitere Beispiele aufzählen. Die biologische Vielfalt ist ein unschätzbarer Reichtum, doch mit unserem Produktions- und Wirtschaftsmodell zerstören wir sie, als ginge sie uns nichts an, als hätten wir nichts damit zu tun. Man muss sich nur vor Augen führen, dass der Zeitpunkt, an dem wir unsere Jahresressourcen verbraucht haben, jedes Jahr weiter nach vorn rückt. 2020 wird dieses Datum, soweit ich weiß, erstmals in den Monat Juli fallen, und es wird noch weiter vorrücken. Ganz zu schweigen vom Plastik in den Meeren, ein weiteres dramatisches Beispiel für die Vernichtung der Artenvielfalt der Meere.

CGerade in Bezug auf Plastik fände ich es gut, wenn die Laudato-si’-Gemeinschaften ein Zeichen von globaler Tragweite setzt. Ich denke dabei an die Unterzeichnung einer individuellen Verpflichtung, einer persönlichen Erklärung: »Ich verpflichte mich persönlich, weniger Plastik, insbesondere weniger Einwegprodukte zu verwenden und alle für mich unvermeidbaren Plastikartikel zu recyceln.« Denn eine Welt ganz ohne Plastik ist zwar undenkbar, aber dennoch bleibt es eine Tatsache, dass wir jährlich 300 Millionen Tonnen Plastik produzieren und nur 9 Prozent davon recycelt werden. Plastik ist etwa genauso alt wie ich, jedenfalls habe ich als kleines Kind noch in einer Metallwanne gebadet. Als es Einzug hielt, war es ein Segen, aber damals wurde es für dauerhafte Gebrauchsgüter verwendet. Heute bilden dagegen Einwegprodukte über die Hälfte des Plastiks – denken wir nur an die Trinkhalme, Millionen allein in Italien, sie werden zehn Sekunden lang benutzt, dann landen sie im Müll, können nicht recycelt werden, weil sie nicht als Verpackung gelten. Das Drama ist, Plastik gelangt in die Nahrungskette, und zwar unter anderem über die Kosmetik, die Mikroplastik enthält, das von den Fischen verschluckt wird und anschließend von uns. Es ist eine Katastrophe gewaltigen Ausmaßes. Und sie ist offenkundig aufs Engste mit dem Problem der Biodiversität verknüpft. Bedenken Sie nur, dass die Artenvielfalt auf unserem Planeten laut FAO in den letzten 125 Jahren um 70 Prozent zurückgegangen ist. Das ist eine erschütternde Zahl, und niemand interessiert sich dafür, dass dieser Prozess sich mitnichten verlangsamt. Ich knüpfe daher an Ihre Worte zur Aufrichtigkeit an und behaupte, dass vielleicht noch nicht alles verloren ist, wenn jeder von uns eine solche Erklärung unterzeichnet und sich zu persönlichem Handeln verpflichtet.

FIch stimme Ihnen zu. Fassen wir es in die richtigen Worte: Es gilt, den Egoismus zu bekämpfen, die Denkweise, gemäß der ich Mutter Erde ausbeute, weil Mutter Erde groß ist und mir das geben muss, was ich will, Punkt. Es ist eine vollkommen fehlgeleitete Denkweise, die uns unweigerlich in die Katastrophe führen wird.

CWie fänden Sie es, wenn wir eine solche Absichtserklärung abgäben, eine Erklärung zur persönlichen Verpflichtung?

FGut, aber es kommt auf die Umsetzung an, auf die Musik, oder? Sie können die Erklärung formulieren, das Libretto schreiben, und alle werden zustimmen, aber es bleiben nur Worte. Das Ganze muss von einer Musik begleitet werden, die mitreißt, die ein Gemeinschafts-, ein Gruppengefühl vermittelt. Es genügt nicht, eine Erklärung vorzulegen, die alle unterzeichnen, denn so besteht die Gefahr, dass sie zu einem Mittel wird, sich das Gewissen reinzuwaschen, ohne anschließend wirkliche Veränderung zu bewirken.

CNatürlich. Hier kommt wieder der Gedanke der Freude ins Spiel. Verzagt und mit schwerem Herzen überzeugt man niemanden! Wir müssen die Freude an der Verantwortung und der Teilhabe wiederfinden. Denn wie ich bereits erwähnt habe, ist das selbstlose Engagement auch ein Weg zum persönlichen Glück. Davon bin ich fest überzeugt.

FAbsolut.

CIch würde gern noch kurz auf zwei Fragen zu sprechen kommen, auf die Gemeinschaften als Mittel zur Wiederherstellung von Gemeinsinn und Austausch und auf einen Punkt, der mir sehr am Herzen liegt, nämlich die indigene Bevölkerung. Als ich Ihren Vortrag gelesen habe, den Sie anlässlich Ihrer letzten Perureise in Puerto Maldonado gehalten haben, war ich sehr überrascht. In meinen Ohren war es das erste Mal, dass die Kirche so deutlich für die Spiritualität und die Kultur der indigenen Völker eintrat, nie zuvor hatte ich diese Wertschätzung gespürt, die Sie ihnen mit diesen Worten entgegenbringen. Meine Frage lautet daher: Wie kann, Ihrer Meinung nach, die Kirche mit der tief in der Vergangenheit wurzelnden indigenen Spiritualität in Dialog treten, ohne auf ein nunmehr überholtes Zwangsmodell zurückzugreifen?

FGenau das habe ich in Puerto Maldonado gesagt: Die Kirche tritt mit den Indigenen in Dialog, indem sie in erster Linie deren Rechte und gleichzeitig deren Kulturen anerkennt. Mehr noch, die religiösen Handlungen sollten möglichst in Einklang mit der indigenen Kultur vollzogen werden. Wir nennen diesen Prozess »Inkulturation«, aber es handelt sich nicht um eine Form von kulturellem Kolonialismus. Wir könnten alle auf dieselbe Art beten, aber das zerstörte die menschliche Biodiversität, die in erster Linie kulturell ist. Nein, jeder soll seiner Kultur entsprechend beten! Und die Sakramente der eigenen Kultur entsprechend feiern. Es gibt in der Kirche über fünfundzwanzig verschiedene liturgische Riten, die in unterschiedlichen Kulturen entstanden sind. Während meiner Perureise habe ich ein Wort benutzt, das verschiedentlich kritisiert wurde. Ich habe gesagt, wir brauchten eine amazonische Kirche. Manchen hat diese Position nicht gefallen, doch durch das Gespräch konnten die Spannungen beigelegt werden. Und auf der Pan-Amazonien-Synode der Bischöfe im Oktober 2019 wird man eingehend auf dieses Thema zurückkommen, das zwar von Amazonien ausgeht, aber auch darüber hinausreicht.

Als die Jesuiten nach China kamen, sind Matteo Ricci und seine Gefährten tief in die dortige Kultur eingedrungen, sie haben die Sprache gelernt, haben die Gewohnheiten und Gebräuche ihres Gastlandes studiert. Sie kleideten sich wie Chinesen, sprachen und aßen wie sie. Es waren Menschen, die die chinesische Kultur begriffen hatten, und erst als sie so weit gekommen waren, wagten sie zu behaupten, dass »das Evangelium auch hier lebendig sein kann«, wobei sie in der Tat einige chinesische Rituale akzeptierten. Die Theologen hier in Rom haben die Welt nicht mehr verstanden und empörten sich: »Aber der chinesische Totenkult ist Götzenanbetung!« Das stimmte nicht; in Wirklichkeit war es genau dasselbe, was wir taten: Totengedenken. Es gibt keinen wesentlichen Unterschied zwischen unserem 2. November und dem, was die Chinesen zu Zeiten Riccis taten. Aber die Kirche hat das damals nicht erkannt und die Tore zum Evangelium in China tatsächlich geschlossen. Genau dasselbe ist mit Roberto De Nobili in Indien passiert. Seltsam, dass beide, Ricci und De Nobili, Italiener waren. Das gibt zu denken. Was haben die Italiener, dass sie diese Fähigkeit zur Verallgemeinerung entwickeln?

CJa schon, aber es waren auch Italiener, die ihnen die Flügel gestutzt haben!

FNun ja, sozusagen zum Ausgleich … (sie lachen)

CIm Zusammenhang mit diesem Thema erinnere ich mich an ein außergewöhnliches Erlebnis, das nunmehr zwölf Jahre zurückliegt. Ich bin damals nach Brasilien in den Bundesstaat Roraima gereist, wo einige Consolata-Missionare ein Krankenhaus für die dortige indigene Gemeinde der Yanomami errichtet hatten. In meiner Heimatstadt Bra sammelte man, im Namen der bei uns tief verehrten Madonna dei Fiori, Gelder für die Consolata-Missionare. Dank dieses Kontakts übernahmen wir als Slow-Food-Bewegung die Aufgabe, das Projekt bezüglich Ernährung zu unterstützen. Als Erstes mussten wir darum kämpfen, dass keine Pasta serviert wurde, ein Nahrungsmittel, das keinerlei Verbindung zu der lokalen Kultur und dem dortigen Umfeld, dem Amazonasregenwald, hat – viele dortige Bewohner hatten noch nie in ihrem Leben eine Weizenpflanze gesehen. Aber besonders »amüsant« wurde es, als ich die Missionare fragte, wie es komme, dass das Krankenhaus, das, soweit ich mich erinnerte, der Madonna dei Fiori geweiht war, den Namen Yecura Yano trage, und was er zu bedeuten habe. Er bedeutet »der Geist, der heilt«. Und die Madonna dei Fiori? Antwort: »Nun ja, wir konnten uns schließlich nicht hinstellen und den Indigenen die Madonna dei Fiori erklären, wir legen hier Zeugnis ab und betreiben nicht Bekehrung, wichtig ist, allen eine grundlegende ärztliche Versorgung zu garantieren.« Für mich war das eine unglaublich wichtige Lektion, ich habe zum ersten Mal erfasst, dass es einen anderen Weg gibt, das Evangelium zu verkünden, nämlich es zu leben, ohne es aufzuerlegen. Derselbe Missionar kam einige Zeit später für einen kurzen Verwandtenbesuch nach Bra, und natürlich fragten ihn die Stadtbewohner, wo man denn die Madonnenstatue aufgestellt habe, die man ihm aus Bra geschickt hatte. Ich wusste, dass sie in einem Lagerraum aufbewahrt wurde, aber er antwortete geschickt: »Seien Sie unbesorgt, ich bekomme die Madonna tagtäglich zu Gesicht!« (sie lachen) Da habe ich begriffen, dass es echte Integration gibt. Ihr Grundsatz lautete: »Wenn jemand unser Handeln sieht und uns näherkommen möchte, werden wir es ihm erklären, aber wir betreiben keinen Proselytismus – keine Abwerbung von Gläubigen anderer Religionen.«

FDas stimmt, das stimmt. Genau das hat 2007 der damalige Papst Benedikt XVI. explizit formuliert, und zwar ausgerechnet in Aparecida in Brasilien. Er sagte damals: »Die Kirche betreibt keinen Proselytismus, sie entwickelt sich vielmehr durch Anziehung.« Es handelte sich also um eine päpstliche Absage an den Proselytismus.

CJa, das ist aber doch eine epochale Wende!

FDeshalb ärgere ich mich so, wenn behauptet wird, Benedikt sei ein Konservativer, Benedikt war ein Revolutionär! Mit vielen Dingen, die er getan, mit vielem, was er gesagt hat, war er ein Revolutionär! Dann ist er gealtert und konnte nicht mehr weitermachen, aber so gesehen war er wirklich ein Revolutionär.

CSie stellen sich diese Lateinamerikasynode also als »interkulturell« vor …

FAuf jeden Fall. Als ich nach Amazonien gereist bin, haben sich einige im Vatikan darüber aufgeregt: »Was, der Papst betet mit diesen Leuten, die halb nackt leben?« Sie haben nicht begriffen, dass diese Indigenen hochgebildet sind! Ich hatte die Ehre, an einem Mittagessen teilzunehmen, bei dem etwa ein Dutzend Personen verschiedener Ethnien anwesend war, und es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Unter ihnen waren Universitätsdozenten und auch zwei Schuldirektoren. Gebildete Menschen, die jedoch an der Tradition festhielten, an dem, was sie das gute Leben nennen, was allerdings nicht unserem guten Leben entspricht. Es handelt sich vielmehr darum, »gut zu leben«, also im Einklang mit sich selbst, mit der eigenen Gemeinschaft und der Natur. Unser gutes Leben ist eher das süße Leben. Etwas ganz anderes.

CWir können von diesen Kulturen und ihrer Spiritualität also viel lernen.

FGanz bestimmt, und wir müssen dazu beitragen, diese Unterschiede zu bewahren.

CEin letzter Punkt, zu dem ich gerne Ihre Meinung hören würde, betrifft die Gemeinschaften. Vor einigen Monaten habe ich in Santiago de Chile Fritjof Capra getroffen, einen österreichisch-amerikanischen Physiker und Philosophen und wahrhaft hellsichtigen Denker. Er sagte zu mir: »Carlo, angesichts der Entwicklung der globalen Politik glaube ich, dass die Zukunft in den Gemeinschaften liegt. Die Gemeinschaften können zu äußerst wichtigen Akteuren werden, da sie kraft ihres emotionalen Rückhaltes in der Lage sind, sich großen und anspruchsvollen Herausforderungen zu stellen.« Letztlich lassen sich in einer Gemeinschaft eben deshalb mutige Entscheidungen treffen und schwierige Probleme angehen, weil jeder Einzelne auf das Bewusstsein des emotionalen Rückhaltes bauen kann, den ihm die Gemeinschaft auch im Falle eines Irrtums gewähren wird. Und bei genauerer Betrachtung waren es stets die Gemeinschaften, die in den dunkelsten und schwierigsten Zeiten der Menschheitsgeschichte die weitreichendsten und positivsten Erneuerungen herbeigeführt haben. Man denke nur an die Benediktiner-Gemeinschaften, die im Spätmittelalter die Landwirtschaft und damit ganz Europa erneuert haben. Mich würde interessieren, wie Sie darüber denken. Auch deshalb, weil wir bei unserer Namenswahl zunächst an »Laudato-si’-Komitees« gedacht hatten, uns dann aber sagten, nein, nein, wir nennen uns Laudato-si’-Gemeinschaften.

FWo wir gerade dabei sind: Kennen Sie den wahren Unterschied zwischen Komitee und Gemeinschaft? Er besteht im Grad der Zugehörigkeit. In einem Komitee gibt es eine organisatorische Zugehörigkeit, eine funktionale, oberflächliche oder zumindest auf ein Ziel beschränkte Zugehörigkeit. In einer Gemeinschaft geht es dagegen um vollkommene Zugehörigkeit. Ich gehöre zu dieser Gemeinschaft – ich bin frei, aber gänzlich Teil von ihr. Und auch außerhalb davon werde ich auf jeden Fall mit meiner Gemeinschaft identifiziert. Zugehörigkeit ist sehr eng mit Identität verknüpft, und so lautet denn auch die Definition, die mir am besten zusagt, ohne dass ich weiß, von wem sie stammt: Identität bedeutet Zugehörigkeit. Es gibt keine herausgelöste Identität, sie muss eingebunden sein in eine Gesellschaft oder Gemeinschaft. So ist das, das ist Zugehörigkeit.

CDas erleben wir gerade bei dieser neuen Identität. Die Verbindung von Gläubigen und Ungläubigen bringt ein neues Subjekt hervor. Auf dem Weg dahin erscheinen wir wie der Teufel und das Weihwasser. Aber die Menschen begeistern sich für uns, weil sie erkennen, dass es letztlich das Gemeinwohl ist, was uns zusammenhält … Danke, Eure Heiligkeit! Wie ist es Ihnen ergangen?

FGut, ich habe mich sehr heimisch gefühlt.

1Auf Deutsch: Papst Franziskus, Mit Frieden gewinnt man alles. Im Gespräch mit Dominique Wolton über Politik und Gesellschaft, Herder, Freiburg im Breisgau 2019.

Terrafutura

Подняться наверх