Читать книгу Schattendasein - Carlo Schäfer - Страница 6
ОглавлениеKAPITEL 1
„Adam!“, brüllt der Mann.
Er ist eingeschlafen, verdammt, er darf nicht schlafen, bevor er fertig ist, er weiß es ja, und jetzt ist es doch passiert. Der Mann schlägt zu, mitten ins Gesicht, so schnell, Adam hat noch gar nicht die Augen öffnen können. Der Mann schlägt immer so schnell.
„Tut mir leid!“, sagt Adam, und da trifft ihn schon der zweite Schlag, diesmal sieht er die Hand kommen, aber das nützt nichts, er ist zu langsam, er ist schon immer in allem zu langsam.
Wenn der Mann bloß nicht wieder aufs Ohr schlägt.
Letztes Jahr hat ihm der Mann 3-mal hintereinander auf das gleiche Ohr geschlagen, und seitdem hört Adam auf der Seite nicht mehr gut. Er steht und sagt: „Tut mir leid. Ehrlich. Tut mir leid.“
„Wie sieht es hier aus?“, schreit der Mann.
„Ist das sauber? Nennst du das sauber, wie es hier aussieht? Nennst du Sau das sauber?“ Adam schaut sich um, er ist noch immer
gar nicht ganz wach. Da hinten, da steht das Putzzeug, der Eimer, der Schrubber. Er hat doch schon angefangen, das weiß er noch, aber dann war er so müde. So furchtbar müde. Mitten auf den Boden hat er sich gelegt, jetzt weiß er es wieder, nur fünf Minuten sollten es sein.
Dabei weiß er gar nicht, was fünf Minuten sind. Die Leute sagen es nur immer: „Fünf Minuten.“ Und das ist dann nicht lange. „In fünf Minuten ist das fertig, oder es knallt!“ das sagt der Mann oft. Und die Zeit reicht dann nie.
Adam schmeckt Blut im Mund, er kennt den Geschmack.
„Ich putze jetzt“, sagt er leise. „Ich verspreche. Ich bin so müde.“
„Wenn ich wiederkomme, ist hier alles blitzblank, ist das klar?
In einer Woche geht es los, und bis dahin werdet ihr euch anstrengen.“
„Wir strengen uns an“, sagt Adam.
„Wir strengen uns immer an.“
Der Mann gibt ihm einen Tritt, dabei ist das doch gar nicht nötig! Er will ja weitermachen. Es ist einfach nicht nötig, dass der Mann ihm immer so wehtut.
„Habe ich lange geschlafen? Ist draußen schon Nacht?“, fragt er. „Fahren wir bald?“ „Das braucht dich Schweinekopf nicht zu interessieren, zum Putzen ist es hier jedenfalls hell genug. Und gefahren wird, wenn alles sauber ist.“
Gott sei Dank, der Mann geht. Keine weiteren Schläge.
Diesmal.
■ Giovanni stand an der Bushaltestelle. Dieses Jahr kam der Herbst früh. Erst Anfang September und schon so eine Kälte. Vor allem, wenn man keine Jacke anhatte. „Giove“, hatte die Mutter gesagt, „zieh dir eine Jacke an!“ Aber Giovanni hatte nicht gehorcht, natürlich nicht. Die Jacke von letztem Jahr zog er auf keinen Fall noch einmal an, die mochte er noch nie, und die Mutter musste jetzt mal kapieren, dass er seine Klamotten selbst aussucht. Außerdem war er gewachsen.
„Wie ein kleines Pferd, wie ein Fohlen“, hat die Nonna, die Oma, gesagt. Drei Wochen war das erst her, auf Sizilien. Was die Leute redeten, hatte er meistens nicht verstanden. Aber schön war’s, heiß, das Meer und gutes Essen gab es dort. Allerdings keine Pommes. „Der wird ein richtiger Deutscher!“, hatten die Alten im Dorf gesagt, und er hatte nur mit den Schultern gezuckt: „Für die Deutschen bin ich Italiener und für euch Deutscher.“
Der Bus kam.
Giovanni ließ sich auf den Sitz hinter dem Fahrer plumpsen und kramte in der Hosentasche nach seinem MP3-Player.
„Das ist ein Platz für alte Leute!“, rief eine Frau rechts hinter ihm. Giovanni wandte sich um. Die Frau sah eigentlich gar nicht so alt aus, vor allem aber hatte sie einen Sitzplatz. „Niemand braucht den Platz“, sagte Giovanni.
„Es geht ums Prinzip.“
Bei so einem Wort wurde Giovanni fast schlecht.
„Er ist nicht nur für Alte, er ist auch für Behinderte.“
„Und du bist also behindert?“, fragte die Frau.
„Und wie! Ich bin Hauptschüler.“
Da war sie ruhig. Giovanni versank in der Musik und seiner Lieblingslektüre, dem Stadtplan. Er wusste selbst nicht, was ihm an Landkarten so gut gefiel, vielleicht, weil in der Küche immer schon die große Sizilienkarte hing und ihm seine Mutter früher oft gezeigt hatte, wo sie überall Verwandte hatten. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er, dass er angekommen war. Albert-Einstein-Gymnasium, hier würden sie nun ein Jahr zu Gast sein. Giovanni fühlte sich eher verbannt. Seufzend stieg er aus.
Der Direktor des Gymnasiums bestand darauf, den Gastschülern zunächst einen Vortrag zu halten, bevor er sie richtig ins Haus ließ.
Sie saßen in einem 6-eckigen Pavillon auf dem Hof, vorne standen ein Konzertflügel und eine teure Musikanlage. Giovanni dachte an den Musikraum im Keller der Schillerschule, die kaputte Pauke und das eingestaubte Klavier. Die hier auf dem Gymnasium hatten mehr Geld, aber er sehnte sich nach der kaputten Pauke.
Der Direktor stellte sich vor. Giovanni hörte nicht zu, es war ihm so was von scheißegal, wie der Typ hieß. Er schlug die dritte Seite des Stadtplans auf, da, wo der westliche Stadtrand aufgezeichnet war. Ein blaues Stück vom Fluss unten rechts, gelb für die Häuser, die Straßen hell, die Felder grün. Alter Glockengießerweg, Vogelsangweg, Mühldamm … Giovanni wusste das alles auswendig.
„Was liest du?“, fragte der Direktor. „Stadtplan“, sagte Giovanni und hielt den Plan in die Höhe. „Pocketstadtplan.“
„Aha“, der Direktor sah ihn etwas spöttisch an. „Prima Buch.“
„Ja“, sagte Giovanni. „Ist mein Hobby.“
„Das ist wirklich sein Hobby.“ Suna machte sich mal wieder selbst zur Klassensprecherin. Sechs Wochen hatte er ihre Stimme nicht mehr gehört, aber auch die schönste Zeit ging einmal vorbei. „Er hat schon in der Grundschule immer Straßennamen auswendig gelernt. Er meint es nicht böse.“ Diese Streberin sollte doch jetzt bitte aufhören, ihn zu verteidigen!
Auch die anderen verdrehten schon die Augen.
„Und warum machst du das?“, der Direktor schien wirklich belustigt zu sein.
„Was weiß ich!“, sagte Giovanni etwas lauter als vorher. „Ist eben mein Hobby.“ „Wunderbar.“
Endlich, der Direktor wandte sich von ihm ab. „Ihr seid hier, weil eure Schule abgebrannt ist und uns die Stadtverwaltung …“
Die Tür ging auf, und Giovanni war sich nun sicher, dass dieser Tag ein ganz besonders schlechter war. Ausgerechnet Böttiger, das Arschloch, war also ihr neuer Klassenlehrer. Manche sagten, Böttiger sei früher Berufssoldat gewesen, andere meinten, er sei Ex-Boxer, wieder andere: Ex-Karatemeister. Giovanni glaubte, dass alles drei stimmte.
„Ah, der Kollege von der Hauptschule. Haben Sie uns gefunden? Herzlich willkommen“, fuhr der Direktor fort und sah dabei nicht sehr herzlich aus.
„Die Stadtverwaltung also zwingt uns, euch aufzunehmen, bis eure Schule wieder bezogen werden kann.
Ich will euch sagen, dass uns das nicht besonders recht ist. Ihr habt nicht gerade den besten Ruf …“
Giovanni musste grinsen, zum Glück sah es der Direktor nicht.
„Die meisten von euch konnten ja in den früheren Asylantencontainern untergebracht werden, drüben in der …“
„Kriegsstraße“, sagte Giovanni.
Dann erzählte der Direktor, was alle wussten. Die Kleinen waren in den Containern untergebracht, die neunte Klasse durfte in der Innenstadt Räume der Stadtbibliothek nutzen, und sie, die achten, blieben erstmal hier. Und der Direktor wollte keine Probleme. Giovanni fand, der Direktor war ein Problem. „Es ist ja unwahrscheinlich“, der Direktor war immer noch nicht fertig, „es ist unwahrscheinlich, aber der Brandstifter ist noch nicht gefasst. Sollte er sich hier im Raum befinden, dann warne ich ihn hiermit!“
Giovanni hielt es nicht mehr lange aus, das spürte er. Er würde gleich was sagen, aber zum Glück kam ihm Igor zuvor.
„Klar, der zündet dann nächste Schule an. Da kann er sich gleich selbst anzeigen.“
„Die nächste Schule, nicht, ‚nächste Schule‘. Der Direktor sah finster auf sie herab.
„Wir sind nicht alle so“, sagte Suna. Igor kritzelte etwas auf einen Zettel und ließ ihn zu Suna weitergeben.
Dann war wenigstens das Geschwätz vorbei, und sie konnten hinter Böttiger zu ihrem Zimmer trotten.
„Hey, ihr Nobelpreisträger!“, rief einer von den Gymnasiasten. „Welches Säugetier legt Eier?“
„Ich weiß nicht!“ rief Giovanni zurück.
„Deine Mutter?“
„Giovanni, ein Strich“, bellte Böttiger über die Schulter nach hinten. „Drei Striche heißt: offizieller Elternbrief! Und der wird im Zeugnis vermerkt. Und wenn du dich bewirbst, wollen die auch das Zeugnis aus der Achten sehen.“
Giovanni nickte, sie waren da.
Er suchte sich einen Platz ganz hinten in der Ecke und bemerkte zu spät, dass Suna in der Reihe daneben saß, natürlich allein, neben ihr wollte nie jemand sitzen. Er verstand nicht, warum sie weinte, das war sie doch gewohnt.