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Kapitel 1: Die ersten Tage in England
ОглавлениеUnaufhaltsam rückt er näher, DER Tag, dem ich nun schon seit Wochen entgegenfiebere, vor dem ich aber auch auf der anderen Seite Angst habe. Angst vor dem Abschied von meinen Eltern und den Freunden, Angst auch vor dem Unbekannten, denn was wird mich erwarten in England, bei einer mir noch fremden Familie, mit der bisher gerade mal ein kurzer Telefonkontakt bestand? Außerdem war ich noch nie länger als eine Woche von zu Hause fort, nur mal ab und an auf Klassenfahrt.
Und selbst da konnte ich beim "Auf-Wiedersehen"-Sagen die Tränen kaum zurückhalten.
Aber ich denke, meine Neugier auf die neue Familie ist nun doch größer als die Sorgen, ob alles gut gehen wird. Was wird mich erwarten, was erwartet die neue Familie von MIR?
Ich bin gerade 18 Jahre alt geworden, die Lebenserfahrung ist noch nicht die größte, aber doch, ja, ICH FREUE MICH DRAUF. Auf mein einjähriges Abenteuer als "Au-pair-Mädchen in England".
Ich darf nur jetzt noch nicht an den Abschied denken, von meinen Eltern, besonders meiner Mutti wird das Jahr ohne mich sehr schwer fallen. Wir haben doch ein sehr inniges Verhältnis. Meinen Papa werde ich zwei Tage in England bei mir haben, er hat versprochen, daß er mitkommt, sich ein Bild von der Familie machen wird und im Zweifelsfall mit MIR wieder zusammen im Flieger nach Hause sitzen wird. Aber ICH WILL ES SCHAFFEN. Ich will mir und anderen beweisen, daß ich gut im Ausland, bei einer neuen Familie, mit anderen Sitten und Gepflogenheiten klarkomme. Ich werde die Windsor High School besuchen, dort zwei Mal pro Woche einen Englischkurs für Ausländer belegen, mit dem Ziel, das Cambridge First Certifiate zu erlangen. Das kann nicht schaden, zumal meine Englischnote im letzten Zeugnis nicht die beste war.
Nach meinem Jahr in England werde ich auf die Kaufmännischen Schulen wechseln und dort das Wirtschaftsabitur machen. Das nun folgende Jahr im Ausland wird mir hoffentlich auch helfen, die Zeit auf dem bislang besuchten Gymnasium, die mir sehr schwer fiel, hinter mir zu lassen. Also auf zu neuen Ufern!
Aber vorher müssen noch die Koffer gepackt werden, schließlich brauche ich für alle vier Jahreszeiten Klamotten und Schuhe. Es kommen 3 volle Koffer und eine große Reisetasche zusammen. Verständlich, denn den meisten Platz nehmen die dicken Winterjacken und die Stiefel weg. Zum Glück wird Papa mit dabei sein. Noch eine Woche, dann ist Abreise. Start meines Abenteuers ist Freitag, der 22. August 1986. Um 14.30 Uhr soll der Flieger von der Fluggesellschaft British Airways ab Frankfurt Flughafen starten. Merkwürdiges Gefühl, ich habe nur ein One-Way-Ticket………..
Die kommenden Tage verbringe ich damit, einen Rundumschlag zu starten, und alle Freundinnen zu verabschieden. Das kostet jede Menge Taschentücher. Und die Abschiedsfotos sind auch nicht sehr vorteilhaft geworden wegen der kaninchenroten Augen.
22. August 1986
Jetzt ist er da, der Tag des tränenreichen Abschiedes von meiner Mutti, von meinem Bruder Ralf, der schon Jahre nicht mehr bei uns zuhause lebt, und unserem Yorkshireterrier Brushy. Als tierliebe junge Frau fällt es mir obendrein auch noch schwer, den Hund zurückzulassen. Aber meine Gastmutter in England hat mir am Telefon schon Freude auf einen schwarzen Labrador gemacht. Also wenigstens etwas! Weiterhin weiß ich von meiner neuen Familie nur, daß mein Gastvater 70 Jahre alt ist, seine Frau ist 10 Jahre jünger und sie haben 3 Söhne, der älteste ist 33, der mittlere 30 und der jüngste ist 25 und lebt noch mit im Haus. Ein Riesenhaus haben die Gasteltern, welches gepflegt werden muß. Zwei Enkelkinder sind auch noch mit von der Partie, eines ist etwa 1 ½, das andere 5 Jahre alt. Den typischen Job eines Au-pair-Mädchens, nämlich die Kleinkinder der Familie zu versorgen, werde ich demnach nicht machen müssen. Mich wird mehr der Haushalt in Anspruch nehmen, aber an den Wochenenden sagen sich gerne die Söhne mit den Kindern an.
Stellt sich nun für Sie, liebe Leserin, lieber Leser, eventuell die Frage, wie ich überhaupt an gerade diese Familie gekommen bin, besser gesagt, wie der Kontakt zwischen uns zustande gekommen ist. Ja, das war aber auch ein echter Zufall. Also, ich habe mich schon vor recht langer Zeit bei der Zentralstelle für Arbeitsvermittlung in Frankfurt mit dem Wunsch gemeldet, daß ich etwa ab August für ein Jahr nach England als Au-pair-Mädchen gehen möchte. Ich wurde dort auch in der Datei aufgenommen, es wurde mir versprochen, man würde versuchen, etwas Passendes für mich zu finden. Dabei ist es aber auch geblieben. Glücklicherweise hatte die damalige Freundin meines Bruders, Annette, eine großartige Idee: sie habe doch noch Kontakt zu einem früheren Kollegen, der nach England gezogen ist. Vielleicht könnte er einen Zettel an einen Supermarkt in seiner Heimatstadt, Gerrards Cross, anbringen, daß ein deutsches Mädchen eine Au-pair-Stelle sucht. Man könne ja gleich die Telefonnummer meiner Eltern angeben, wenn jemand anruft, hätte er gleich die richtigen Leute an der Strippe und man müsse das Ganze nicht über sieben Ecken organisieren. Gesagt, getan, Annette rief Steven Lever in England an, gab ihm die Daten durch und nun hieß es warten. Nach knapp zwei Wochen klingelte das Telefon bei uns zuhause und Frau Ramsay war am Apparat. Sie habe unseren Zettel beim Einkaufen an der Ladentür entdeckt und wollte fragen, ob es noch aktuell sei, daß ich nach England kommen möchte. Meine Eltern und ich waren sehr überrascht, daß der Plan wohl funktionierte. Nun wollten meine zukünftigen Gasteltern noch ein Foto von mir, eine Referenz (die bekam ich prompt von meiner alten Schule) und ein polizeiliches Führungszeugnis zugeschickt bekommen. Schnellstmöglich organisierte ich das Gewünschte, schickte alles nach England und ein paar Tage später kam ein erneuter Anruf von Frau Ramsay, wann ich kommen könnte. Wir vereinbarten Freitag, den 22.08.1986 als Anreisetag. So hatte ich noch ein paar Tage, die ich mit Eltern und Freunden, aber auch mit Kofferpacken und Verabschieden verbringen konnte. Wirklich ein großer Glücksfall, wie ich an diese Au-pair-Stelle gekommen bin.
Nun sind mein Vater und ich mit dem Auto auf dem Weg zum Frankfurter Flughafen, der Wagen wird dort abgestellt und zwei Tage später, am Sonntag, wird mein Vater dann wieder mit ihm nach Hause fahren.
Es sind knappe 25 Kilometer zum Flughafen, wir quasseln über das Bevorstehende und prompt ist es passiert: mein Papa hat die Ausfahrt zum Terminal verpaßt und wir müssen einen Umweg in Kauf nehmen, die Zeit wird knapp, aber mit Schweißperlen auf der Stirn erreichen wir den richtigen Terminal und just in time haben wir auch das Gate zum Flugzeug erreicht. Das fängt ja schon echt gut an, erst Tränen beim Abschied, dann Hektik und Angst, daß wir den Flieger verpassen. Jetzt hoffe ich innerlich ganz fest, daß die Familie in England nett ist. Mein Gastpapa in England hat versprochen, uns am Flughafen London Heathrow abzuholen. Die Spannung steigt, noch knapp zwei Stunden, dann werden wir uns gegenüberstehen. 90 Minuten Flug, dann die Koffer vom Band holen, und dann shake hands mit Herrn Ramsay, meinem Ersatzvater für 1 Jahr……
Am Zoll noch ein kleiner Schreck: meine Sachen werden ziemlich unter die Lupe genommen, unter anderem mein Maskottchen und Glücksbringer, ein Stoffhund. Der Zöllner war etwas irritiert wegen der kleinen Steinchen, die die Beine des Hundes füllen. Der denkt doch nicht allen Ernstes, daß ICH Drogen……………. Nein!!!
Wir machen ihm klar, daß ich als Au-pair-Mädchen nach England möchte, und irgendwie hat er nun ein Einsehen und läßt uns durch. Puh! Der Flug verläuft ruhig. Im Flieger stellen mein Vater und ich unsere Armbanduhren eine Stunde zurück, denn in England haben wir die Greenwich Mean Time (GMZ), das bedeutet, die Mitteleuropäische Zeitzone (MEZ) minus 1 Stunde. Im Anflug auf London-Heathrow fliegen wir direkt über die Themse, unter uns die Tower-Bridge. Die Landung verläuft glatt, wir holen die Koffer vom Band, nun Ausschau halten nach einem englischen Herrn. Schwierig, bei DEM Gewusel auf Londons Riesenflughafen. Aber nach einigen Minuten spricht uns ein Herr an, mit meinem Foto in der Hand, was wir meinen Gasteltern vor paar Wochen zusandten, damit sie sich ein Bild von mir machen können. Sie wissen, wie ich aussehe, aber ich habe keinerlei Vorstellungen von ihnen.
Nun das erste Gegenüberstehen mit dem Herrn, in dessen Haus ich für etwa ein Jahr leben und arbeiten darf. Herr Ramsay sieht so aus, wie man sich einen englischen Gentleman vorstellt: großgewachsen, mit einer Glencheck-Jacke, edlen glänzenden Lederschuhen. Und er spricht ein sagenhaftes Oxford-Englisch. Oh, da werde ich bestimmt was lernen!
Nach einer herzlichen Begrüßung gehen wir zu seinem Wagen, einem bordeauxroten Jaguar. Mir schießt durch den Kopf, ob das wohl eine reiche Familie ist, in die ich komme…
Nun sitzen wir im Auto, fahren den Motorhighway entlang, raus aus London. Das Wetter ist mild, aber trüb, ich hoffe nicht, daß das englische Wetter seinem Namen alle Ehre macht. Nicht, daß ich dauernd mit Regenschirm rumlaufen muß. Jedenfalls scheint die Stadt eine Riesenmetropole zu sein, was ich noch bestätigt bekommen werde, denn noch oft werde ich in London sein……
Nach einer knappen halben Stunde erreichen wir grüne Vororte, und nach noch ein paar Minuten passieren wir das Ortsschild von Stoke Poges, in der Grafschaft Buckinghamshire.
Nun biegt Herr Ramsay in die Park Road ein, nach wenigen Metern in eine Kieseinfahrt, links und rechts stehen Riesentannen, man kann das eigentliche Wohnhaus noch nicht erkennen. Nach ca. 50 Metern bremst der Wagen und wir stehen vor dem Haus, besser gesagt, vor dem Minipalast mit Namen "Warneford". Ich wußte bisher nicht, daß in England fast jedes Haus von seinen Besitzern einen Namen bekommt. Warneford grenzt direkt an einen Park mit Golfplatz an. Es liegt mitten im Grünen, toll, denn ich bin auch ländlich groß geworden, in der Stadt zu leben, würde mit schwer fallen. So, nun kenne ich den Namen meines Gastvaters, den Namen meines Zuhauses für ein Jahr. Da öffnet sich die Tür, die Dame des Hauses muß den Wagen gehört haben. Das ist Frau Ramsay, eine recht große Lady in einem marinefarbenen Sommerkleid, im Schlepptau hat sie einen freudig wedelnden schwarzen Labradorrüden, der zielstrebig auf mich zuläuft. Vom ersten Augenblick an denke und fühle ich, daß Marc, so der Name des Hundes, helfen wird, mir den Einstieg hier in der Fremde zu erleichtern. So komme ich auch etwas leichter darüber hinweg, daß mein Hund in Deutschland ein Jahr auf mich warten muß.
Ich merke schon in kurzer Zeit, daß ich eine Redehemmung habe, ich habe mir diverse englische Floskeln für den Anfang zurechtgelegt, aber irgendwie sind die nun alle wie wegradiert. Frau Ramsay begrüßt uns herzlich und blubbert in ebenfalls exzellentem Oxfordenglisch auf meinen Vater und mich ein.
Sie bittet uns ins Haus, der erste Eindruck haut mich persönlich um: so viele Zimmer und so viele riesige Zimmer, typisch im englischen Landhausstil eingerichtet, den ich persönlich sehr mag. Man fühlt sich in die Rosamunde-Pilcher-Filme versetzt. Frau Ramsay bittet uns ins Wohnzimmer, in das das Speisezimmer gleich integriert ist. Wir trinken ein Lime-Juice zur Begrüßung, einen säuerlichen Saft aus Limone, sehr erfrischend. Meine Gastmutter redet wie ein Wasserfall, mein Papa muß mir beim Beantworten der vielen Fragen immer mal mit Vokabeln aushelfen. Was habe ich eigentlich in all den Jahren Schulenglisch gelernt, frage ich mich. Hoffnung keimt in mir auf, daß ich im Laufe der Wochen und Monate wesentlich fließender Englisch sprechen werde. Aber was soll man erwarten, ich bin ja erst seit ein paar Minuten hier, es liegen knappe 300 Tage England vor mir, da wird doch wohl was möglich sein. Mein Blick schweift umher: im Wohnzimmer ein riesiger offener Kamin (wie schön mag es sein, wenn bei kühleren Temperaturen das Feuer in ihm lodert), das mit buntem Stoff bezogene Sofa in Übergröße auf dem mein Vater und ich sitzen, meine Gasteltern sitzen uns gegenüber in zwei Ohrensesseln, scheinen darin zu verschwinden, so riesig sind die Sitzmöbel. Hier und da ein paar Kleinmöbel, überwiegend im Chippendale-Stil. Und der Blick durch die riesigen unterteilten Glasfenster in den Garten ist überwältigend. Schon jetzt schießt mir durch den Kopf, wer diese Fenster immer so schön sauber macht…..Und alles im Garten ist satt grün und gepflegt. Überall im Haus stehen hübsche Deko-Artikel, zum Beispiel Lampen, Vasen, viele gerahmte Familienfotos, Teetabletts. Noch weiß ich nicht, daß diese Tabletts eine große Rolle in meiner Zeit als Au-pair-Mädchen spielen werden. Die Dame des Hauses scheint wirklich ein Händchen für ein gemütliches Heim zu haben. Ich bin jetzt schon auf den Rest des Hauses gespannt…
Am anderen Ende des Raumes ist schon liebevoll der Mahagonitisch für das Essen gedeckt. Hübsche Platzdeckchen sowie echtes Silberbesteck und Weingläser aus Kristall runden das Ganze ab. Was es wohl zu Essen gibt? Nach dem Minisnack im Flieger habe ich nun doch gewaltig Appetit. Wobei man ja der englischen Küche so einiges nachsagt. Lassen wir uns überraschen. Und schon ist es soweit, Frau Ramsay entschuldigt sich in die Küche, kommt nach wenigen Minuten zurück, mit einer Schüssel Ofenkartoffeln und einer Schüssel Rosenkohl. Spontan denke ich, Rosenkohl wäre jetzt was für meine Mama, die kann sich da reinlegen. Frau Ramsay rauscht schon wieder raus aus dem Raum, um gleich darauf wieder mit einer großen Platte mit gebratenem Huhn und einer Sauciere zurückzukehren. Nun kommt der Einsatz von Herrn Ramsay: ER ist für das Tranchieren des Flattermanns zuständig. Es geht ihm sehr leicht von der Hand, und sofort erfahren wir auch warum: mit einem Grinsen im Gesicht sagt Herr Ramsay, daß es wohl etwas wert sei, einen Chirurgen im Haus zu haben. Was!!!??? Ist es jetzt doch so, daß ich in eine wohlhabende Familie geraten bin? Na, schaden kann das bestimmt nicht, denn daß hier in diesem Haus auf Ordnung und Anstand geachtet wird, merkt man. Aber auf diese Aspekte haben meine Eltern auch immer Wert gelegt. Und es hat weder meinem Bruder noch mir bisher geschadet.
Herr Ramsay erklärt, daß er viele Jahre am St. Bartholomews-Hospital in London als Chirurg gearbeitet hat und nun noch als unterstützender Berater einige Tage pro Woche in derselben Klinik arbeitet. Das Auge ist mit 70 Jahren nun doch nicht mehr so klar, um sich selber ans Skalpell zu wagen, aber seine lange Berufserfahrung gibt er sehr gerne an die Kollegen weiter. Wir erfahren, daß er vor Jahren sogar die Frau von Golfprofi Bernhard Langer erfolgreich operiert hat.
Traurig sei Herr Ramsay nicht, daß er nicht mehr Vollzeit arbeite, schließlich habe er nun viel mehr Zeit, um sein großes Hobby zu pflegen: das Segeln. Oft fahre er mit seinem ältesten Sohn Jonathan auf die Isle of Wight, um dort ein wenig auf dem Meer zu schippern. Mir fällt auf, daß Herr Ramsay nun bereits zum zweiten Mal ein Inhalierspray einatmet, welches er aus seiner Jackentasche holt. Ich spreche ihn darauf an, und er erklärt uns, daß er unter Asthma leidet und ihm das Spray sehr gut hilft. Mehrmals am Tag muß er inhalieren und das Spray immer in Reichweite haben.
Plötzlich geht die Türe zum Wohn-Eßzimmer auf und ein junger Mann fragt leise, ob er nun weggehen könne. "Ja, sag mal, möchtest Du Carmen und ihrem Vater aus Deutschland nicht erst mal Guten Tag sagen? Und außerdem, magst Du nicht mit uns essen? Es gibt Hühnchen, das ißt du doch so gerne?" Dies muß Alasdair sein, der jüngste Sohn der Familie, er ist 25 Jahre alt und wohnt mit im Haus. Er kommt schüchtern auf uns zu, drückt meinem Vater und mir mit einem kurzen "high" die Hand, sagt "no, thanks" zu seiner Mutter und verläßt den Raum. Ich habe den Eindruck, daß es seinen Eltern etwas unangenehm, fast peinlich ist, wie sich der Jüngste gerade aufgeführt hat. Ist es Schüchternheit, daß Alasdair so reagiert, oder ist da ein kleiner Schatten auf der Familie, ich meine, vielleicht ist er ja so etwas wie das Schwarze Schaf der Familie……. Vielleicht habe ich aber auch schon gewisse Vorurteile? Aber Sie werden noch sehen, meine Vorahnung hat mich nicht ganz getäuscht, und in den nächsten Monaten mit Alasdair unter einem Dach werde ich noch so einiges erleben……..
Doch nun zurück zu dem köstlichen Essen, was Frau Ramsay zubereitet hat. Es schmeckt einfach vorzüglich. Nach dem Essen räume ich mit meiner Gastmutter den Tisch ab und nun kommt die Frage, auf die ich schon so lange gewartet habe: ob ich denn den Rest vom Haus sehen möchte… Ja, ja, ja, würde ich am liebsten laut rufen, aber ich halte mich zurück und antworte: "Oh, sehr gerne!"
Herr Ramsay und mein Vater bleiben im Wohnzimmer sitzen und ich bin sicher, sie werden sich beide blendend verstehen und sicherlich über ihre Berufe sprechen…
Die Küche habe ich vorhin beim Geschirrabräumen ja bereits aus dem Augenwinkel etwas beäugen können, aber nun darf ich mich da genauer umsehen: es ist eine typische Küche im englischen Landhausstil, DEN Einrichtungsstil, den ich auch gerne mal in meiner späteren Wohnung bevorzugen würde. Eine weiße Küchenzeile in L-Form nimmt den größten Teil der Küche ein. An Haken hängen lauter Töpfe und Pfannen aus Kupfer, ein großer Holztisch mit gemütlich aussehenden Stühlen mit dicken geblümten Sitzkissen ziert den Raum. Ein riesengroßer Strauß Wiesenblumen schmückt den Tisch. Die große Liebe meiner Gastmutter zu Blumen wird sowieso im gesamten Haus deutlich. In der Küche stehen überall Blechdosen und Keramikgegenstände liebevoll dekoriert herum. Und ich bin hoch erfreut, eine Geschirrspülmaschine zu entdecken. An der Speisekammer vorbei geht es nun weiter zum Gästezimmer: hier sehe ich in der Mitte des Raumes ein riesengroßes Bett, Marke "King Size" mit geblümten Steppdecken und einladend vielen dicken Kopf- und Zierkissen. Duftige Vorhänge lassen das Tageslicht herein, neben dem Bett ein alter Schaukelstuhl, gegenüber der Schlafstätte ein Bücherregal (auf all die Bücher bin ich nun auch schon neugierig, da ich doch eine Leseratte sondergleichen bin – das habe ich garantiert von meinen Eltern geerbt…). Also, in diesem Zimmer würde ich mich als Gast pudelwohl fühlen und bestimmt herrlich schlummern. An das Gästezimmer grenzt ein kleines Badezimmer, welches zweckmäßig eingerichtet ist. Nun laufe ich mit Frau Ramsay eine elegante Treppe nach oben, wo die Schlafzimmer sind. Zuerst zeigt sie mir ihr Schlafzimmer, eine ähnliche Ausgabe des Gästezimmers, nur in noch größerem Format. Auffällig ist, daß die schweren Vorhänge dasselbe Muster haben wie die Bettbezüge. Ein Büfett mit lauter Parfümfläschchen und Fotos der Söhne und Enkelkinder ziert die Wand gegenüber des Bettes, an dessen Fußende eine riesige Holztruhe steht. Das ganze Haus strahlt eine solche Wärme aus, daß ich mich jetzt schon sehr heimisch fühle. Kaum habe ich dieses Gefühl genossen, erklärt mir Frau Ramsay, daß nun langsam der Umzug in Angriff genommen werden muß. Umzug, welcher Umzug?? Dieses Haus verlassen?? Also, die Familie plant, dieses riesengroße Haus zu verlassen, weil es eben einfach zu riesengroß sei. Zwar seien die Au-pair-Mädchen bisher immer als Hilfe dagewesen, und einmal pro Woche kommt auch noch eine Putzfrau, die saubermacht, wenn die Mädchen ihren freien Tag haben, aber das Haus ist einfach zu groß, es hat zu viele Zimmer. Damals, als noch alle drei Jungs mit im Haus wohnten, sei die Größe noch recht vertretbar gewesen, aber nun, wo die beiden Herrschaften auch langsam älter werden, wird es etwas schwieriger. Also, kaum bin ich hier, muß ich auch schon wieder weg. Wo geht es denn hin? Ich erfahre: wir ziehen nach Farnham Common, das ist auch ein kleines Dorf, knapp drei Kilometer von Stoke Poges entfernt. Na, das geht ja dann noch. Dann habe ich keine Probleme, meine Schule in Windsor zu besuchen, wo Stoke Poges und Farnham Common auf derselben Buslinie liegen. Und wann soll es losgehen mit dem Umzug? In genau vier Wochen! Oh, weia, das ist nicht mehr lang bis dahin und das Haus ist noch voller Möbel, es ist noch kein einziger Umzugskarton gepackt. Aber schon scheint meine Gastmutter meine Gedanken gelesen zu haben und sagt, daß eine Umzugsfirma alles packen wird, außer dem teuren Geschirr und persönlichen Sachen. Und ich bekomme schon jetzt die Aufgabe, die Bücher des Haushaltes zu verpacken: die teuren in Kisten, vorher mit Seidenpapier eingepackt, die nicht so wertvollen werden gebündelt mit Schnüren umwickelt. So kann man sie besser transportieren. Na, wir werden mal sehen, wie das abläuft, jetzt interessiert mich aber erst mal, den Rest des Hauses "Warneford" zu sehen. Weiter geht es mit dem Ankleidezimmer von Herrn Ramsay, ich glaube, daß er mehr Kleidungsstücke hat, als sich manche Dame wünschen mag. Zumindest sehe ich Anzüge in allen Farbschlägen. Schon jetzt wird mir schwindelig, wenn ich an das Bügeln all der Hemden denke. Nun öffnet Frau Ramsay die Tür zum Zimmer von Sohnemann Alasdair, der ja bisher nur kurz zu sehen war. Ich erkenne zwischen Bett und Schränken eigentlich nur ein mittelgroßes Chaos an Klamotten, und Frau Ramsay scheint zu ahnen, was ich denke, denn sie sagt, daß sich Alasdair immer zigmal umzieht, bevor er zum Ausgehen das richtige Outfit gefunden hat. Mannomann, es wird ja immer lustiger hier.
Nun kommt das rosafarbene Bad, das ich mir mit Alasdair teilen soll. Es ist im wahrsten Sinne des Wortes "pretty in pink", alles, aber auch alles ist in rosa eingerichtet. Dann gehen wir zum gelbfarbenen Bad, welches Herr und Frau Ramsay benutzen. Hier ist eben alles – wie sollte es auch anders sein – in gelb eingerichtet. Die Badewanne ist gelb gefliest, die Badematten sind gelb, die Wandkacheln sind gelb, eben alles…. Es ist eben auch alles Geschmackssache.
Und nun steigt für mich die Spannung, denn nun kommt "mein" Zimmer an die Reihe, das Zimmer, in dem ich nun die nächsten vier Wochen wohnen werde. Es ist ebenso wie die anderen Zimmer des Hauses (mit Ausnahme der Badezimmer vielleicht!) eine Augenweide: ein großes Bett, welches direkt unter dem Fenster steht, von dem ich einen wundervollen Blick in den Vorgarten habe, neben dem Bett ein Nachttischchen mit einem riesengroßen Wecker, ein Schreibtisch mit Stuhl, ein Tisch mit Fernseher und Kassettenrekorder, und ein passables Bücherregal sind nun erst mal für mich. Gemütlich, das Ganze, sehr gemütlich. Das sage ich auch meiner Gastmutti, daß mir das alles hier sehr gut gefällt. Nun gehen wir wieder nach unten ins Erdgeschoß, wo wir Herrn Ramsay und meinen Vater schon fleißig plaudern hören. Vom Flur kommt man in den Wintergarten, es kommt mir langsam vor wie in einem Film. Riesengroße Farne und Palmen schmücken diesen Wintergarten. Weiße Rattansessel und eine große weiße Rattanbank umrunden einen weißen Rattantisch. Fluffige Auflagen in weiß-blau-gestreift laden schon wieder zum Sitzen ein. Den Wintergarten teilen sich meine Gasteltern als Büro. Vom Wintergarten aus hat man einen tollen Blick in den Traumgarten, und nun betreten wir diesen. Wie auf Bestellung kommt die Sonne nun auch heraus und man fühlt sich fast wie im Urlaub. Ein Jammer, dieses tolle Haus aufzugeben, aber ich verstehe natürlich auch die Beweggründe meiner Gasteltern, dieses Haus hier kostet auch in der Unterhaltung jede Menge Geld. Der Garten hat eine riesengroße Rasenfläche, welche umrundet ist von hohen Bäumen und Sträuchern. Von keinem Nachbarn in irgendeiner Form einzusehen. Labrador Marc, von seiner Familie liebevoll "Marcy-Boy" genannt, kann sich hier immer herrlich austoben. Und hinter dem Garten beginnt ein kleines Laubwäldchen, ca. 100 Meter breit. Durch ihn schlängelt sich ein Weg, und wenn man den entlangläuft, betritt man den Stoke Poges Golf-Club. Meine Gasteltern sind damals extra in diesen Club eingetreten, damit sie bei ihren täglichen Spaziergängen mit ihren Hunden die Anlage betreten dürfen. Logischerweise nicht dort, wo die Golfer sind, aber außenherum um den Golfplatz darf man sich bewegen.
So, nun habe ich soweit alles von meinem neuen Zuhause gesehen. Imposant. Ich bin überwältigt. So riesig und wundervoll habe ich mir das Haus nicht vorgestellt. Als meine Gastmutter und ich von unserem kleinen Ausflug zurückkehren, sehe ich, dass "Warneford" von der Gartenseite fast komplett von Efeu umrankt ist. Märchenhaft. So langsam fühle ich mich wie in einem der von mir geliebten Rosamunde-Pilcher-Filme, nur das Meer fehlt noch.
Wir gesellen uns wieder zu den beiden Herren. Herr Ramsay kann sich meinen Vornamen irgendwie schlecht merken, so rutscht ihm ab und an ein "What´s her name?" ("Wie heißt sie?") heraus. Frau Ramsay erklärt mir, wie sie sich das mit meiner Arbeit hier im Haus vorgestellt hat: da sie und ihr Mann ja sehr viel am Tag unterwegs seien, liegt es an mir, die Hausarbeit zu machen, wie Staubwischen, Staubsaugen, durchwischen, etc., Alasdair und mir das Mittagessen zuzubereiten, Gemüse für das Abendessen für uns vier vorzubereiten und mit dem Hund spazierenzugehen. Morgens würde Frau Ramsay mir eine "To-do-Liste" schreiben, was alles zu tun sei. Und Alasdair sei Künstler, er malt, sei aber tagsüber viel zu Hause, gegen Abend gehe er oft aus. Meist fahre ihn seine Mutter mit dem Auto, da er keinen Führerschein besitze. Frau Ramsay arbeitet als Sozialarbeiterin für den "Lady Hoare Trust", das ist eine Stiftung, die sich für Opfer von Thalidomid (in Deutschland ist das Contergan) einsetzt. Demnach ist auch sie oft am Tag unterwegs, aber am späten Nachmittag zum Tee seien sie und ihr Mann meist auch wieder zu Hause. Und das Abendessen bereiten sie und ich dann gemeinsam zu. Zweimal in der Woche kann ich die Windsor High School besuchen, wo ich mein Englisch verbessern kann und in ca. 9 Monaten das "Cambridge First Certificate in English" absolvieren kann. Dieses Zertifikat ist auch in Deutschland anerkannt. Einmal in der Woche, aus Sicht meiner Gastmutter ist das der Mittwoch, habe ich meinen freien Tag, wo ich nach dem Frühstück bis zum Abendessen Ausgang habe. In dieser Zeit kommt Frau Taylor, die Putzfrau, und kümmert sich um das Haus. Sie ist auch allein für das Reinigen der diversen Skulpturen aus Sterlingsilber zuständig. Einmal in der Woche einen freien Tag, und ich darf machen was ich will, dorthin fahren, wohin ich möchte…..London, ich komme!!!!!!!!! Habe ich doch schon in Deutschland in meinem Baedeker Reiseführer London so viel über diese tolle Stadt gelesen: Madame Toussauds Wachsfigurenkabinett, Tower Bridge, Big Ben, Kaufhaus Harrods, und und und….. Oh, ich freue mich schon jetzt auf all das.
Frau Ramsay fragt, ob ich nun meine Koffer auspacken möchte und mich oben in meinem Zimmer etwas einrichten will. Als ich oben bin und auspacke, entdecke ich in einem der Koffer einen süßen kleinen Clown, den muß mir meine Mama still und heimlich noch eingepackt haben. Und schon kommen mir die Tränen, ein wenig Heimweh ist mal wieder im Spiel. Aber da muß ich jetzt durch, ich will das knappe Jahr hier durchhalten.
Nun ist es langsam später Abend geworden und wir alle verabschieden uns und gehen zu Bett. Ich bin gespannt, wie ich die erste Nacht schlafe.
23. August 1986
Erstaunlicherweise doch sehr gut! Es ist ein trüber aber milder und trockener Samstagmorgen und wir treffen uns beim Frühstück wieder. Wie ein Heinzelmännchen hat Frau Ramsay schon alles vorbereitet. Es gibt Toast, Spiegeleier, merkwürdige kleine Minibratwürstchen, deren Fan, wie sich herausstellen wird, ICH bestimmt niemals werde, die typisch englische bittere Orangenmarmelade, Grumpets, das sind kleine durchlöcherte Toasts, die mit der gesalzenen Butter einmalig schmecken, als Getränk gibt es schwarzen Tee mit Milch und Kaffee sowie Orangensaft. Von allem wird probiert, klarer Favorit sind die Grumpets. Die Orangenmarmelade trifft so gar nicht meinen Geschmack und die Würstchen….na, ja, es ist eben alles eine Frage des Geschmacks. Aber um Frau Ramsay nicht zu kränken, probiere ich von allem etwas, mit dem Hintergedanken, daß ich mir beim ersten Einkauf ja ein paar andere Lebensmittel kaufen kann. Mein deutscher Magen ist da doch eher Nutella oder Erdbeermarmelade gewöhnt.
Frisch gestärkt wollen mein Vater und ich gerne noch am letzten gemeinsamen Tag etwas zusammen unternehmen. Frau Ramsay bietet uns an, uns mit dem Wagen nach Windsor zu fahren, und uns am späten Nachmittag an einem ausgemachten Treffpunkt wieder abzuholen Mein Papa fragt, ob er denn vorher auch mal den Golfplatz hinter dem Haus sehen könne. Also beschließen wir, daß wir vier einen gemeinsamen Spaziergang dorthin machen. Unterwegs erfahren wir von meinen Gasteltern so einige interessante Fakten über Stoke Poges und den Golfplatz: in Stoke Poges gibt es ein Rittergut, welches ein berühmter historischer Platz ist. Queen Elizabeth I. besuchte es im Jahr 1601. Im Jahre 1647 war King Charles I. in dem Rittergut gefangen gehalten worden, bevor er hingerichtet wurde. Später kam das Gut in den Besitz von William Penn, dem Mann, der Pennsylvania gründete. Es blieb für mindestens zwei Generationen in seiner Familie. Weiterhin erklärt uns mein Gastpapa, daß Stoke Poges in dem Buch "Schöne neue Welt" von Aldous Huxley erwähnt wird, denn darin erscheint der Golfplatz vom Stoke Poges Golfclub als regelmäßig besuchter Platz. Und noch was Interessantes zum Thema: im James-Bond-Film "Goldfinger" wird der Stoke Poges Golfclub Treffpunkt von zwei der Schauspieler. Nun haben wir unseren kleinen Rundgang am Rande des Golfplatzes beendet und wir gehen durch das kleine Wäldchen wieder zum Haus zurück. Herr Ramsay zieht sich zum Lesen des Daily Telegraph ins Wohnzimmer zurück und Frau Ramsay geht mit uns zur Garage. Dort steigen wir in ihren mintgrünen Citroen und starten Richtung Windsor, welches nur ca. 6 km von Stoke Poges und ca. 35 km westlich von London in der Grafschaft Berkshire liegt. An der Bushaltestelle von Windsor Castle, also dem Schloß Windsor, läßt sie uns aussteigen und wir vereinbaren, uns hier wieder um 17.30 Uhr zu treffen. Hier in der Stadt Windsor ist aber an diesem Samstag im August so einiges los. Jede Menge Touristen sind unterwegs und strömen zum Eingang von Schloß Windsor. In der High Street ist auch ordentlich Trubel, links und rechts säumt ein Laden den anderen. Mein Papa und ich beschließen, es den Touristen gleichzutun und erst mal das Schloß zu besichtigen, für die Einkaufsstraße ist später noch Zeit, da werden wir dann bestimmt auch was Eßbares finden. Aber jetzt, gestärkt durch das Frühstück, sind wir fit für einen kleinen Kulturtrip. Also hinein zum Haupteingang, an der Kasse bezahlen, gleich noch einen kleinen Reiseführer mitnehmen und schon sehen wir eines der ersten typisch englischen Symbole: die Wachleute mit den Bärenfellmützen, die ohne Regung stundenlang Wache stehen. Etwas anderes typisch Englisches haben wir auf der Fahrt hierher nach Windsor bereits gesehen: die roten Doppeldeckerbusse. Also, nun stehen mein Vater und ich im Innenhof von Windsor Castle.
Beim Laufen lese ich immer wieder mal etwas aus dem Reiseführer über das Schloß vor und stelle fest, daß ich Glück gehabt habe, zwar in Stoke Poges eine sehr ländliche Übergangsheimat gefunden zu haben, von der aus aber leicht London, Windsor, Ascot und viele andere bekannte Städte erreicht werden können. Bestimmt werde ich den einen oder anderen freien Tag dafür nutzen, gewisse Sehenswürdigkeiten "abzuklappern". Wie gut, daß ich meine kleine Pocket-Kamera dabei habe, da werde ich bestimmt den einen oder anderen Film verknipsen. So auch hier in Windsor. Ich habe schon ein paar Fotos geschossen. Nun, in dem Reiseführer steht unter anderem drin, daß Schloß Windsor das größte private und älteste durchgängig bewohnte Schloß der Welt ist, ca. 900 Jahre alt. Zusammen mit Buckingham Palace und dem Holyrood Palace in Edinburgh ist es eine der offiziellen Hauptresidenzen der britischen Monarchin. Königin Elizabeth II. verbringt viele Wochenenden des Jahres auf Schloß Windsor. Dabei nutzt sie die Gebäude sowohl für Empfänge des Staates als auch zu privaten Zwecken. Oh, nun lesen wir was Interessantes: ist die Königin auf Windsor Castle anwesend, wird die Königliche Flagge am Round Tower gehisst. Ist sie nicht da, flattert der Union Jack. Also, schnell mal schauen, welche Flagge hängt…… Round Tower, Blick gen Himmel: nein, "nur" der Union Jack, Elizabeth II. ist nicht da! Schade, klappt vielleicht ein anderes Mal. Schloß Windsor, so lese ich weiter, liegt in einem über 10 Hektar großen Gelände. Das Schloß wurde unter Wilhelm dem Eroberer wegen seiner günstigen Lage auf einer Anhöhe am Themseufer zur Verteidigung der westlichen Zugangswege nach London errichtet. Zu den Höhepunkten im Schloß zählt der Waterloo-Saal, der zum Andenken des Sieges der britischen Armee über Napoleon 1815 erbaut wurde, die prächtigen Staatsgemächer und Queen Marys Puppenhaus. Dieses Puppenhaus war ein Hobby von Queen Mary, der Großmutter der heutigen Queen. Wie gut, daß die von meinem Vater und mir gekaufte Eintrittskarte auch den Eintritt zu diesem Puppenhaus beinhaltet. Ich freue mich schon jetzt auf das Haus in Miniaturgröße, Maßstab 1:12, das ca. 1920 erschaffen wurde.
Weiterhin befinden sich in vielen Räumen des Schlosses Zeichnungen aus der Königlichen Sammlung, darunter Werke von Rubens, Rembrandt, Holbein und Van Dyck. Beim Laufen und Lesen hat mein Papa auch schon das Eingangsschild zu Queen Marys Doll House entdeckt. Sicherheitsleute checken die Handtaschen der Besucher und schon dürfen wir rein.
Wir sind total begeistert von der liebevollen und detailgetreuen Aufmachung des Puppenhauses: echte Gemälde, handbestickte Bettwäsche, einen Weinkeller mit gefüllten Fässern und Flaschen, Badezimmer mit Fließwasser (ja, unglaublich, aber sogar die Toilettenspülungen in dem Puppenhaus funktionieren!), Bleikristalllüster, Bücher mit Leder gebunden und und und. Eben alles in Miniatur. Oh, das Doll House hat uns sehr gut gefallen, nun gehen wir weiter zur St. Georgs-Kapelle, sie soll laut Reiseführer einer der Höhepunkte bei einem Besuch des Schlosses sein. Den Grundstein für die Kapelle legte 1475 König Eduard IV. und die unter König Heinrich VII. fertiggestellt wurde. In der Kapelle befinden sich zahlreiche Grabmäler britischer Herrscher, darunter die von König Heinrich VIII., Jane Seymour, Karl I. und Georg V.
Nun aber erst mal genug Kultur. Alles in der kurzen Zeit zu sehen, ist sowieso nicht machbar, aber ich denke, ich werde bestimmt noch mal einen Tag zur Verfügung haben, um mir Schloß Windsor genauer anzusehen. Jetzt haben mein Vater und ich doch Hunger bekommen, verlassen Windsor Castle und stürzen uns in das Getümmel der Windsor High Street.
Ein Bäcker wäre jetzt toll. Ein Plunderstückchen oder ähnliches. Der Duft, der uns schon beim Vorbeischlendern an den ersten Geschäften entgegenschlägt, ist klasse: eine Kaffeerösterei. Durch das Schaufenster können wir die riesigen Apparate sehen, die leckeren Kaffee rösten. Das Aroma ist noch zig Meter weiter zu bemerken. In der Straße gibt es jede Menge kleine Läden und Boutiquen, den Supermarkt Waitrose, in dem ich noch so einiges in den nächsten Monaten kaufen werde, den Textilladen "Laura Ashley", wo ich mich schon hier und jetzt in die blumigen Kissen und Steppdecken verliebe, und endlich entdecken wir eine Patisserie. In der Auslage lacht uns schon viel Gebäck an und wir entscheiden uns für Rosinenbrötchen. Voller Appetit beißen wir hinein und im selben Moment schauen mein Vater und ich uns an und müssen beide lachen, denn dieses Zeugs ist so was von eklig süß, das kann man nicht essen. Wie gut, daß wir vor ein paar Minuten noch einen "Mac Donald´s" entdeckt haben. Also wieder paar Hundert Meter zurück und wir stopfen ein paar Cheeseburger und Cola in uns rein. Ist zwar nichts typisch Englisches, aber es macht satt und läßt uns das quietschsüße Zuckerzeugs vergessen. Ich merke langsam, daß ich mich noch sehr an die englische Küche gewöhnen muß.
Unterhalb der Burg fließt die Themse auf ihrem Weg nach Osten zur Hauptstadt London. Wir laufen noch ein paar Hundert Meter und kommen an eine kleine Brücke, die über die Themse geht und auf der anderen Seite ist die Stadt Eton. Ich dachte gar nicht, daß dieses Städtchen mit der Eliteschule so nah an Windsor ist. Wir riskieren es, trotz Zeitmangel, über die Brücke rüber nach Eton zu laufen. Eton ist wirklich ein entzückendes kleines Städtchen mit sehr netten Läden und Antiquitätengeschäften. Zufälligerweise ist an diesem Samstag gerade Flohmarkt und da mein Papa und ich Flohmärkte über alles lieben, schauen wir mal, ob wir nicht was abstauben können. Nach kurzer Zeit werden wir sogar fündig, mein Papa schenkt mir ein kleines Wörterbuch Deutsch-Englisch / Englisch-Deutsch, als Andenken, so sagt er. Wann immer ich darin ein Wort suche, werde ich an ihn denken. Für 30 Pence, umgerechnet 90 Pfennig, ergattern wir das gute Stück. Jetzt aber wollen wir mal meine Mutti in Deutschland anrufen, wir finden eine Telefonzelle und wählen. Nichts passiert. Neuer Versuch. Wieder nichts. Trotz der Deutschlandvorwahl 0049 passiert gar nichts. In einem Geschäft fragen wir nach, ob es einen Trick gibt beim Telefonieren und man erklärt uns, daß man nach der Deutschlandvorwahl die Null vom Ort weglassen muß. O.k., noch mal ein Versuch: 0049-6186-912…Ja, und nun klingelt es am anderen Ende und nach kurzer Zeit meldet sich meine Mama, die sich über den Anruf sehr freut. Wir erzählen in kurzen Worten, daß alles klar ist und daß mein Papa morgen alles genau berichten wird, wenn er wieder in Deutschland ist.
So, nun ist es aber an der Zeit, zurück zur Bushaltestelle zu gehen, damit wir Frau Ramsay nicht zu lange warten lassen müssen. Wir kommen wieder an Schloß Windsor vorbei und da sehen wir auch schon das Auto der Gastmutti. Alles in allem finde ich Windsor sehr schön, und ich bin schon sehr gespannt, was ich da noch alles entdecken werde, denn schließlich werde ich in dieser Stadt zwei Mal in der Woche sein, wenn ich das College hier besuche, um das First Certificate zu erwerben. Nur eine Sache finde ich etwas negativ an der hübschen Stadt: pausenlos donnern Flugzeuge über Windsor hinweg, und zwar sehr tief. Der Flughafen Heathrow ist halt nicht weit entfernt.
Kurze Anmerkung: Einen Stich ins Herz hat es mir fünf Jahre nach meinem Englandaufenthalt versetzt: in den Medien hörte ich von einem verheerenden Brand im Jahr 1992, es wurden in Windsor Castle mehr als 100 Räume sowie die St.-Georgs –Kapelle zerstört. Die originalgetreue Restaurierung hat ca. 37 Millionen Britische Pfund gekostet. Es waren dramatische Bilder, die damals durch TV und die Zeitungen gingen, als die Flammen aus dem Gebäude schossen. Ein defekter Halogenstrahler war Ursache dieser Katastrophe. Als ich im Jahre 1996, praktisch zum 10. Jahrestag meiner Au-pair-Mädchen-Zeit wieder mal Windsor Castle besuchte, erinnerte nichts mehr an das Unglück des Brandes. Alles sah aus wie damals im August 1986, als ich das erste Mal in Windsor war.
Frau Ramsay ist schon ganz neugierig, was mein Papa und ich von unserem gemeinsamen Ausflug zu berichten haben. In Stoke Poges angekommen, ist schon alles für das gemeinsame Abendessen vorbereitet: es gibt Lammkoteletts mit der typisch englischen Minzsauce und Kartoffelbrei. Abgesehen von der Minzsauce bin ich recht angetan von diesem Gericht.
Nach dem Hauptgang reicht Frau Ramsay noch eine Käseplatte, wo wir richtig englische Käsesorten kennenlernen. Stilton, Cheddar, Gloucester, lauter leckere Käse, und mein absoluter Favorit ist und bleibt der Stilton, ein edler Blauschimmelkäse von angenehm pikanter Würze und feinem Duft.
Ja, und nun sitzen wir vier, mal wieder ohne Alasdair, der hat sich zu einem Kumpel verdrückt, bei einem Glas Wein zusammen und ich habe einen Kloß im Hals, da ich morgen um diese Zeit allein mit meiner Familie hier sein werde. Morgen früh müssen wir meinen Vater zum Flughafen bringen. Mein Papa bestätigt Familie Ramsay, daß er mich mit einem guten Gefühl hierläßt, denn die beiden haben sich als nette Leute dargestellt, und wir alle denken, daß ich die Zeit hier in England bei ihnen sehr gut aufgehoben sein werde. Nun plaudern wir noch über dies und jenes, dann ist es Zeit, zu Bett zu gehen.
24. August 1986
Nach dem Frühstück heute klingelt der zweitälteste Sohn William an der Haustür. Er wohnt mit seiner Frau Fiona und den Söhnen William, fünf Jahre alt, und James, 18 Monate alt, in Gerrards Cross, wenige Kilometer von Stoke Poges, entfernt. Er ist erfreut, uns kennenzulernen. Er übernimmt auch heute die Fahrt zum Flughafen, denn er hatte in London sowieso noch etwas zu erledigen. Jetzt muß Papas Reiseköfferchen ins Auto, aber was ist denn jetzt los? Hund Marc zupft und zieht an Papas Schnürsenkeln herum. Herr Ramsay erklärt, daß er das immer macht, wenn Leute gehen wollen, die er mag. Eine nette Geste des Hundes, die mich persönlich sehr rührt. Mein Vater verabschiedet sich von Herrn und Frau Ramsay, bedankt sich für alles und nun geht es in Williams Wagen. Unterwegs kommen wir unter anderem auf seinen Beruf zu sprechen und er berichtet, er sei Direktor der Rothschild-Bank in London. Na, bitte, wieder so ein helles Köpfchen in der Familie. Er ist auch wirklich sehr nett und ich bin schon auf seine Frau und die kleinen Jungs gespannt.
In Heathrow angekommen wird es nun bitterernst: ich muß mich von meinem Papa verabschieden und es tut verdammt weh, daß er nun ohne mich nach Hause fährt. Ich muß weinen und auch ihm stehen Tränen in den Augen. Aber es nutzt alles nichts, jetzt beginnt meine neue Herausforderung und ich will und werde mich ihr, so gut ich kann, stellen. Eine letzte Umarmung, ein letztes Winken und ich, Carmen, komme mir irgendwie vor, als sei ich allein auf dieser Welt. Während der Fahrt nach Stoke Poges bin ich William kein großer Entertainer. Wieder in "Warneford" angekommen, sagt meine Ersatzmutter, daß ich nun bügeln kann, das würde mich ablenken. Im ersten Moment bin ich innerlich perplex, aber im Nachhinein denke ich, wollte sie wirklich, daß ich abgelenkt würde vom Gefühl des Heimwehs. Also gehe ich in den Hauswirtschaftsraum neben der Küche, bügele, was das Zeugs hält, und höre, wie meine Herrschaften gemeinsam mit William eine Art zweites Frühstück machen. Da Bügeln ja nicht gerade die Hirnzellen stark anstrengt, kann ich so meinen eigenen Gedanken nachhängen. Nach knappen eineinhalb Stunden bin ich mit meiner Arbeit fertig. Frau Ramsay sagt, ob ich nicht ein wenig mit dem Hund spazieren gehen wolle, so werden wir uns bestimmt gut aneinander gewöhnen. Aber ich solle Marc vorläufig draußen nicht von der der Leine nehmen. Also schnappe ich mir den Hund und wir gehen Richtung Golfplatz. Dieser Gassigang macht richtig Spaß, Marc ist ein lieber Kerl, zieht nicht an der Leine, bleibt aber nur alle paar Zentimeter stehen, um zu schnüffeln. Es ist herrlich ruhig hier auf unserem kleinen Ausflug und ich rede mit Marc, als sei er ein Mensch. Ich mag ihn bereits sehr, ob er mich auch gern hat? Zurück zuhause erklärt mir Frau Ramsay, daß Marc ab und an unter epileptischen Anfällen leidet. Sie äußern sich darin, daß sich sein Körper plötzlich stark verkrampft und daß Schaum aus seinem Maul kommt, der Blick wird starr. Sie sagt mir das sicherheitshalber jetzt, damit ich keine Angst bekomme, wenn ihm das mal passiert. Diese Anfälle passieren wirklich äußerst selten, sind mit einer täglichen Tablette recht gut in den Griff zu bekommen. Wenn ein solcher Anfall passiert, soll man sich am besten zu dem Hund auf den Boden knien, ihn streicheln und etwas festhalten, damit er nicht unkontrolliert wogegen prallt. Oh, je, der arme Kerl. Wenigstens weiß ich dann Bescheid, wenn er solch einen so genannten "fit" bekommt.
Und dann bekomme ich auch gleich eine Einweisung in der Benutzung der diversen Teetabletts. Meine Gastmutti scheint da etwas eigen zu sein, aber sie hat für ihre täglichen diversen tea-times immer unterschiedliche Tabletts mit Kanne und Tasse. Fast alle Engländer lieben morgens, fast sofort nach dem Aufstehen, eine kräftige Tasse Tee zur Stärkung So hat es auch Frau Ramsay gerne. Ich soll morgens um 8 Uhr in der Küche sein, dann möchte sie eine Kanne schwarzen Tee plus Milch und Zuckerdose auf das Tischchen VOR ihrem Schlafzimmer gestellt bekommen. Aber bitte die große rot-weiß geblümte Kanne und dazu passende Tasse dafür nehmen. Zum 17 Uhr-Tee möchte sie das Tablett im Wohnzimmer serviert bekommen, und hierfür mag sie die silberne Teekanne mit der weißen Tasse haben. Nach dem Abendessen trinkt sie gerne nochmals ein Täßchen Tee und nun kommt die 3. Version zum Einsatz: die blau-graue Steingutkanne mit dazugehöriger Tasse
Für Sie mag das jetzt äußerst penibel, fast spießig, klingen, aber glauben Sie mir, es hat sich im nachhinein herauskristallisiert, daß diese "Teekannen-Macke" das einzige Manko an meiner Gastmutti ist, ansonsten ist es ein tolles Auskommen mit ihr. Und ich respektiere ihren Wunsch und werde ihr den Tee so servieren, wie sie es wünscht. Ich darf nie vergessen, sie ist der Boss und es sollte ein Leichtes sein, ihrer Bitte nachzukommen. Also, noch mal alles ins Gedächtnis rufen mit den Kannen und Tassen, dann müßte es klappen.
So, nun ist es auch schon wieder Zeit für die Vorbereitung des Abendessens: es gibt heute Shepherd´s Pie, einen Auflauf aus Lammhack, der mit einer Kartoffelhaube überbacken wird. Alasdair ißt heute auch mit, vielleicht kommen wir ja jetzt mal langsam ins Gespräch. Und Marc sitzt neben Frau Ramsays Stuhl, die Augen in Tischhöhe, er scheint gerne zu betteln und damit auch Erfolg zu haben. Denn ab und an läßt sein Frauchen mal ein Häppchen fallen. Dauert dies zu lange, fordert er sein Recht ein, indem er mit der Pfote über die blanke Mahagonitischplatte streicht. Dabei hört man auch seine Krallen kratzen. Er kriegt dann zwar liebevoll geschimpft, aber weder sein Herrchen noch sein Frauchen sind besonders böse über sein Verhalten. An den Wein zum Essen muß ich mich erst gewöhnen, zuhause gab es gewöhnlich Limonade zum Essen, aber hier bei Ramsays wird zum Abendessen gerne eine Flasche Muskateller geöffnet. Herr Ramsay fragt, ob ich, "What´s her name?", auch ein Glas Wein möchte. Sehr gerne! Nun fragt Frau Ramsay ihren Sohn, wie sein Tag war. Er antwortet "o.k.", ob er schüchtern ist, weil jemand Neues mit am Tisch sitzt? Während des Essens berichtet meine Gastmutti, daß Conny aus Husum das Au-pair-Mädchen VOR mir war. Eine sehr Nette, so hilfsbereit und immer gut gelaunt und es ist doch wunderbar, daß immer noch Kontakt zu ihr besteht. Ups, da hängt ja wohl die Meßlatte für mich extrem hoch, oder?! Und jetzt schaltet sich sogar Alasdair ein, ja, die Conny, die war von ALLEN bisher dagewesenen Mädchen das allernetteste gewesen. Na, da ist sicherlich so einiges zu tun, um an die Leistungen von Conny ranzukommen. Nett bin ich aber eigentlich auch, das haben mir zumindest in Deutschland viele Leute bestätigt, und meine Hilfsbereitschaft ist auch nicht zu unterschätzen. Launenhaft bin ich auch nicht, sondern ein Mensch, der gern und viel lacht und der, wie Freunde oft sagen, "Hummeln im Hintern" hat. Ich werde jedenfalls alles geben, damit Herr und Frau Ramsay nicht enttäuscht sind, mich hierher geholt zu haben.
Nach dem Essen räume ich den Tisch ab, während Herr und Frau Ramsay sich zum Fernsehschauen ins Wohnzimmer zurückziehen. Ich packe das Geschirr in die Spülmaschine, räume noch die Küche auf und überlege, was ich denn nun machen soll. Ist es in Ordnung, wenn ich mit meinen Gasteltern fernsehe, oder hätten sie es lieber, wenn ich nach oben in mein Zimmer gehe? Ich öffne die Wohnzimmertür und frage, ob ich mich dazu setzen darf. "Natürlich", sagt meine Gastmutter. Also, Frage geklärt. Würde mir auch nicht gefallen, wenn ich allein oben wäre. Familienanschluß ist schon das, was ich mir wünsche. Gemeinsam sehen wir uns einen Krimi an, meine Redehemmung ist immer noch groß, von allein etwas zu sagen oder fragen, fällt mir noch sehr schwer, und wenn ich etwas gefragt werde, ist mir mein englisches Gestammel selber fast peinlich. Ich lege große Hoffnung in meinen in Kürze beginnenden Englischkurs. Jetzt klingelt das Telefon. Frau Ramsay sagt, wenn ich ans Telefon gehe, soll ich den Namen des Ortes "Stoke Poges" nennen und dann die Telefonnummer "5-6-1-4". O.k., ich versuche es mal. Große Freude: mein Papa ist am Apparat, will Bescheid geben, daß er wieder gut gelandet ist und daß mich meine Eltern vermissen. Da ist er wieder, der Kloß im Hals, den ich tapfer herunterschlucke. Wir plaudern eine ganze Weile, dann spreche ich noch mit meiner Mama, und dann verabschieden wir uns langsam, und ich bekomme das Versprechen meiner Eltern, daß sie mich jeden 2. Sonntag anrufen werden, und außerdem gibt es ja auch noch den Postweg, um Kontakt zu halten. Fein, dann freue ich mich schon jetzt auf den übernächsten Sonntag, wenn sie mich wieder anrufen. Wir vereinbaren noch gleich eine Uhrzeit, 18 Uhr, dann legen wir auf.
Etwas später hat meine Gastfamilie noch ein Geschenk für mich. Eigentlich sind es zwei Geschenke, zum einen eine Jahresfahrkarte für mich, die kann ich immer benutzen, wenn ich zum College nach Windsor fahre. Frau Ramsay erklärt mir, daß ich diese Karte auch nutzen kann, wenn ich nach London fahre und in Slough Busstation umsteigen möchte. Klasse, ich muß mich um keine Fahrkarten kümmern! Als zweites Geschenk habe ich von ihnen eine "StudentCard" bekommen, die für 18-25-Jährige gilt, diese kann ich in allen Museen und bei Sehenswürdigkeiten, bei denen Eintritt verlangt wird, vorzeigen, und ich muß nur den halben Eintrittspreis bezahlen. Das ist echt toll! Super!
25. August 1986
Am nächsten Morgen um 8.00 Uhr beginnt mein Alltag als Au-pair-Mädchen. Am Vorabend hat mir Frau Ramsay eine Liste geschrieben, was ich immer zu erledigen habe. Das sind Haushaltstätigkeiten, die ich vormittags erledige. So leere ich jeden Morgen die Geschirrspülmaschine, bringe den Müll raus, decke den Frühstückstisch, schäle Kartoffeln oder putze Gemüse. Jeden Tag wird ein anderes Zimmer gereinigt und einmal pro Woche werden die Betten abgezogen. Das Mittagessen fällt wochentags bei den Engländern immer etwas kleiner aus, da am Abend üppiger gegessen wird. So auch hier bei uns. Nach dem Mittag habe ich bis 17 Uhr Zeit zur freien Verfügung, dann möchte Frau Ramsay ihren Tee und dann bereiten wir das Abendessen gemeinsam zu. Und am Beginn jeden Tages steht der Spaziergang mit Marc auf dem Programm. Heute soll ich auch das gelbe Bad putzen, dann Kartoffeln schälen für das Abendessen (die kommen gleich in einen Topf Wasser, damit sie nicht braun werden), uns so langsam soll ich daran gehen, die vielen Bücher mit Paketband zu binden und an der Wand des Gästezimmers zu stapeln. Also mache ich mich ans Werk. Der Spaziergang am frühen Morgen tut wirklich gut. Jetzt geht es ans gelbe Bad. Ich muß erst mal mit den diversen Reinigungsmitteln zurechtkommen, beim Putzen des Badspiegels unterläuft mir ein Fehler, denn ich verwechsle den Glasreiniger mit einer Scheuermilch. Das führt dazu, daß der Spiegel jede Menge Schlieren aufweist. Schon steht meine Gastmutti hinter mir, um zu schauen, wie ich klarkomme. Und dann auch prompt diese Panne…..
Sie holt aus dem Putzmittelschrank die richtige Flasche heraus und ich poliere den Spiegel noch zwei bis dreimal, dann erstrahlt er in einem tollen Glanz. Nur aus Fehlern kann man lernen. Jetzt geht es mit einer dicken Rolle Paketschnur an die Bücher. Ich packe immer so sechs bis acht Bücher zusammen, zwischendrin packt mich immer mal die Neugier und ich schaue mir das eine oder andere Buch genauer an. Jetzt wird es Zeit, die Kartoffeln zu schälen, mit dem mir unbekannten Sparschäler schnippel ich mir ein paar Mal in die Finger. Zum Mittagessen gibt es Pilzsuppe aus der Dose. Dazu gibt es Toast.
Nach dem Aufräumen der Küche habe ich nun knapp vier Stunden Freizeit. Ich beschließe, mit dem Fahrrad nach Stoke Poges Village zu fahren, denn hier sollen so einige kleine Läden sein. Das möchte ich mir mal ansehen. Also strampele ich los mit dem alten Fahrrad, welches Alasdair und ich uns teilen sollen. Nach ein paar Hundert Metern hupt der erste Wagen, nach weiteren Minuten kommt mir ein Auto entgegen, dessen Fahrer wild fuchtelt. Das kann doch gar nicht sein, daß die Leute mich hier schon kennen! Da dämmert es mir: ich fahre schon die ganze Zeit auf der falschen Straßenseite. Habe den englischen Linksverkehr total vergessen. Ich will ja nicht schon nach ein paar Tagen hier in England unter die Räder kommen. An der Einkaufsmeile angekommen, entdecke ich ein paar Geschäfte: ein Kiosk, da kaufe ich mir etwas zu naschen, ein großes Laster von mir, an einem Obststand besorge ich Granny-Smith-Äpfel, in einem Tante-Emma-Laden kaufe ich Erdbeermarmelade und Schokoaufstrich.
Mal sehen, was es hier noch so zu entdecken gibt. Ein kleines Bankhaus, eine Reinigung, eine kleine teure Boutique. Sehr übersichtlich, das Ganze. Ich fahre wieder zurück und bunkere meine Äpfel und die Schokoriegel "Twix" in der Schublade des Schränkchens neben meinem Bett ("Twix" war in Deutschland zur damaligen Zeit "Raider", wurde aber vor einigen Jahren auch in Deutschland in "Twix" umgetauft). In meinem Zimmer ist auch ein Bücherregal, also nutze ich die Zeit vor dem Abendessen noch damit, mir die Buchtitel genauer zu betrachten.
Um 17 Uhr serviere ich Frau Ramsay mit dem richtigen Tablett ihren Tee. Jetzt geht’s an die Zubereitung des Abendessens. Heute soll es Fisch geben, und zwar Lachs. Frau Ramsay bereitet ihn zu, während ich einen grünen Salat mache, die Kartoffeln brodeln schon im Wasser. Beim Essen berichte ich von meinem kleinen Vorfall mit meiner falschen Fahrweise heute Mittag. Das hat zu einigem Gelächter geführt. Ansonsten ist der Abend ruhig verlaufen. Nachdem ich das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine räumte und die Küche saubergemacht habe, schauten wir noch etwas Fern, dabei liegt Marc neben Frau Ramsay und mir auf dem großen Sofa. Herrn Ramsays "Stammplatz" ist ein gemütlicher Ohrensessel, mir fällt auf, daß er immer seine Anzugjacke anbehält: beim Abendessen, beim Fernsehen, immer. Gegen 23 Uhr ist es auch schon wieder Zeit, zu Bett zu gehen.
26. August 1986
Heute Vormittag muß ich nach Windsor zur High School fahren, denn es wird ein Vortest gemacht, bei dem die Lehrer prüfen wollen, ob man für den Anfänger - oder Fortgeschrittenenkurs geeignet ist.
Knapp fünfzehn Minuten Fußweg muß ich ab "Warneford" in Kauf nehmen, um zur Bushaltestelle zu gelangen. Ab dort fährt der Bus direkt nach High Wycombe über Windsor. Und schon sehe ich Windsor Castle wieder, wir fahren an dem Schloß vorbei, und nach einigen Hundert Metern hält der Bus in der Nähe der Schule. Beim Aussteigen bin ich schon ganz erstaunt über die stattliche Anzahl junger Damen und Herren. Wobei die Anzahl der Damen eindeutig überwiegt. Ein Blick auf die Uhr sagt mir, daß ich noch eine knappe halbe Stunde Zeit habe, da der Test erst um 11 Uhr startet. Ich suche schon mal den Raum, in dem ich erscheinen soll, als ich das gecheckt habe, versuche ich, mit einer Gruppe junger Damen ins Gespräch zu kommen, denn beim Vorbeigehen habe ich schon gehört, daß sie deutsch miteinander sprechen. Ich stelle mich kurz mit Namen vor und frage, ob die Mädels auch eine Au-pair-Stelle angenommen haben. Kathi aus Köln ist auch in einem Haushalt angestellt, Eva aus Zürich hat sich ein Jahr Auszeit in der Schweiz genommen, lebt hier in der Nähe bei ihrer Schwester und sucht sich im Umkreis von Windsor einen Job als Kellnerin, aber besonders sympathisch ist mir Verena aus Flensburg, sie ist als Austauschschülerin hier. Wir plaudern noch ein wenig, dann wird es Zeit, die Räume für die Tests aufzusuchen.
In Gruppen von jeweils zehn Personen werden wir in klassenraum-ähnliche Säle gebeten, die Dame, welche meine Gruppe testen wird, stellt sich uns als Mrs. Peach vor. Innerlich muß ich etwas grinsen, denn sie hat etwas von der Art von Fräulein Rottenmeier bei "Heidi". Jedem von uns gibt sie einen Stapel Papiere mit allerlei Englischkrams. Insgesamt 12 Seiten, wie ich erschreckt feststelle. Auch an den Nachbartischen vernehme ich so den einen oder anderen Schnaufer. Mrs. Peach erklärt uns, daß wir maximal drei Stunden Zeit haben, die Bögen zu bearbeiten, wer natürlich eher fertig ist, darf abgeben, und dann wird jede einzelne Arbeit von ihr durchgesehen. Danach wird sich entscheiden, ob man in den Anfängerkurs oder in den Fortgeschrittenenkurs zur Erlangung des "Cambridge First Certificate in English" geht.
Also mal frisch ans Werk. Zuallererst sollen Name und Telefonnummer des Schülers auf den Bogen geschrieben werden. Dann beginnt der Test: auf der ersten Seite sind jede Menge Bilder, daneben soll man das englische Wort dafür schreiben. Geht noch. Dann eine ganze Seite deutsche Sätze, die ins Englische übersetzt werden soll. Schwierigkeitsgrad steigt. Ich komme langsam ins Schwitzen, mal einen Blick auf die Uhr riskieren, ich denke, ich bin noch im Zeitplan. Jetzt kommt noch jede Menge Grammatikzeugs, und am Schluß noch ein Lückentext. Zwischendurch bekomme ich immer wieder mal mit, daß meine "Kollegen" sich was zu trinken auspacken. Wie dumm, daß ich mir selbst nichts mitgebracht habe, aber ich habe nicht gedacht, daß der Vortest so lange dauern wird. Und eine Pause gibt es nicht, da die Gefahr besteht, daß man Ergebnisse untereinander austauscht oder Fragen bespricht. Durchhalten heißt die Devise. Nach 2 ½ Stunden bin ich mit den Testbögen soweit fertig. Ich gebe aber erst am Schluß der Zeit ab, die halbe Stunde nutze ich noch, um noch mal alles durchzugehen. Ich ändere doch noch so das eine oder andere Geschriebene ab. So, das war´s. Mrs. Peach sammelt die Zettel ein. Jetzt heißt es warten auf den Anruf der Lehrer, spätestens übermorgen werden wir informiert, dann gibt es die Mitteilung, wer wann in welchen Kurs kommt. Nun strömen alle wieder raus, und draußen vor der Tür treffe ich noch mal auf Kathi und Verena, die auch ziemlich ausgelaugt aussehen. Ich verabschiede mich von ihnen und begebe mich wieder zum Bus, der mich nach Stoke Poges bringt. Unterwegs hole ich mir bei Marks & Spencers noch ein superleckeres dreieckiges Sandwich im Zweierpack mit Ei, Thunfisch und köstlicher Sauce. Marks & Spencers ist eigentlich ein Klamottenladen, aber am Eingang haben die riesengroße Kühlregale, in denen es diese Sandwichs in allen Variationen gibt: Schinken und Käse, Salami und Ei, gegrilltes Hähnchen mit Kresse und und und. Im Laufe meiner Zeit in England werde ich noch ein echter Fan dieser belegten Brote.
Gegen 15.30 Uhr wieder zuhause angekommen, ist meine Gastfamilie schon arg neugierig, wie der Test verlief. Frau Ramsay sagt, ich könne doch rasch einen Tee für sie kochen und mir gleich eine Tasse mitbringen. Das finde ich nett. Und so sitzen wir zusammen im Wohnzimmer und ich berichte über den Englischtest, und ehe ich mich versehe hat mir meine Gastmutti Milch in meinen Tee getan. Ups, das mag ich ja eigentlich überhaupt nicht. Aber ich probiere es. Begeistert bin ich nicht und sage ihr, daß ich bisher noch nie Milch in Kaffee geschweige denn in Tee getan habe. Aber alle Engländer trinken ihren schwarzen Tee mit Milch. Aber egal, der Nachmittag mit meiner Gastmutter war gemütlich und nett, vor allen Dingen, weil es sich Marc bei mir so schön auf den Füßen gemütlich gemacht hat. Frau Ramsay ist der Meinung, daß ich "bestimmt in den Fortgeschrittenenkurs kommen werde!" Ihr Wort in Gottes Ohr, dann hätte ich mein Certificate nach 9 Monaten, das heißt im Juni, und das wiederum bedeutet, daß ich danach auch wieder nach Hause, nach Deutschland, könne. Würde ich in den Anfängerkurs kommen, dann würde es bis zum Erreichen des Certificate insgesamt 15 Monate dauern. SO lange will und kann ich nicht hierbleiben, denn ab August ´87 beginnt meine Schulzeit auf dem Wirtschaftsgymnasium. Gut, man könnte natürlich in Deutschland eventuell auf einer Volkshochschule das Cambridge First Certificate
nachholen, aber toll wäre es, wenn das hier in England klappen würde. Nun warten wir erst mal ab, was ich erreicht habe, jetzt liegt es daran, daß Mrs. Peach oder ein Kollege von ihr bei mir anruft.
So langsam bereiten Frau Ramsay und ich unser Abendessen zu, es gibt Irish Stew, dafür werden Hammelfleischwürfel mit Kartoffeln, Gemüse und Zwiebelscheiben im Ofen gedünstet. Praktisch, daß ich morgens nach dem Spaziergang mit dem Hund schon die Kartoffeln geschält und die Erbsen und Möhren vorbereitet habe.
Beim Abendessen fragt mich Herr Ramsay, was ich denn morgen an meinem 1. freien Tag machen möchte. Ich meinerseits antworte mit einer Gegenfrage: was er mir denn mal für ein schönes Ausflugsziel empfehlen würde?
Oh, er hat eine Menge Ideen, was es zu besichtigen gäbe und was man auch in einem Tag schaffen kann: Hampton Court, London, Oxford, Milton´s Cottage………
Ich entscheide mich für Milton´s Cottage, das ist nicht weit von Stoke Poges und es ist bestimmt interessant dort.
27. August 1986
Nun ist es schon Mittwoch geworden, und ich freue mich auf meinen ersten Ausflug an meinem ersten freien Tag. Ich gehe erst noch mit Marc Gassi, dann laufe ich zum Bus. Ich habe von meinen Gasteltern erklärt bekommen, wie ich zu Milton´s Cottage komme, demnach muß ich erst mal nach Gerrards Cross und von dort mit dem Bus 353 nach Chalfont St. Giles fahren. In dem kleinen malerischen Dorf angekommen, halte ich nach dem berühmten Cottage Ausschau. Da sehe ich auch schon ein Hinweisschild und laufe noch ein paar Hundert Meter, dann stehe ich vor "Milton´s Cottage". So ein schnuckeliges Backsteinhäuschen mit einem wunderschönen Landhausgarten. Hier lebte also der berühmte englische Dichter John Milton. Sein Häuschen ist nun ein Museum geworden. Ich trete ein und will meinen Eintritt bezahlen, da kommt ein älterer Mann mit schneeweißen Haaren auf mich zu und fragt, ob ich allein gekommen sei. Als ich bejahe, sagt er, ich habe das Glück, wenn ich möchte, eine alleinige Führung durch das Museum zu erhalten, denn sonst sei noch niemand da. Die meisten Besucher kämen am Wochenende, aber unter der Woche ist immer recht wenig los - besonders vormittags. Da freue ich mich aber, eine Sonderführung, das habe ich ja noch nie erlebt. Nun erhalte ich viele Informationen von dem netten Herrn: Milton´s Cottage ist das einzige noch vorhandene Haus von John Milton, dem großen englischen Dichter und Parlamentarier in Chalfont St. Giles. Er lebte von 1608-1674. Die vier Räume im Erdgeschoß des Museums beinhalten wichtige Ausgaben von Milton´s Dichtkunst, zusammen mit einigen Prosastücken wurden sie zu seiner Lebzeit und auch danach veröffentlicht. Die außergewöhnliche Karriere dieses Genies wird in dem Museum lebhaft dargestellt. Seit seinem 43. Lebensjahr war Milton blind. Im Jahr 1665 flüchtete er mit seiner Frau vor der Pest von London nach Chalfont St. Giles. Hier in seinem Rückzugsgebiet schrieb er feine Dichtkunst. Ungefähr ein Jahr verbrachte Milton in der Hütte. In dieser Zeit beendete er sein bestbekanntestes Werk "Paradise Lost". Milton´s Freund Thomas Ellwood nannte das Cottage "that pretty box in St. Giles" ( d.h. die "hübsche Schachtel in St. Giles").
In den Räumen steht noch der Original Schreibtisch, an dem Milton seine Werke schrieb, sowie sein Schaukelstuhl. Irgendwie hat es für mich etwas Mystisches, mich in Räumen aufzuhalten, in der vor über 300 Jahren Menschen gelebt und gearbeitet haben.
Nun hat der Leiter des Museums die Führung im Museum beendet, und er lädt mich in den Cottage Garten ein. Rund um das Cottage liegt der so liebevoll angelegte Garten, das ist eine wahre Augenweide. Besonders jetzt noch, Ende August, erblühen viele Pflanzen. Pflanzen, die auch in Milton´s Gedichten erwähnt werden, zum Beispiel Iris, Rosen und Jasmin. Also, der Ausflug zu Miltons Cottage hat sich wahrlich gelohnt. Ich sehe mir sehr gerne im Ausland interessante Sehenswürdigkeiten an. Nun knurrt mir aber auch schon wieder der Magen und ich mache mich mal Richtung Dorfzentrum von Chalfont St. Giles, mal sehen, was sich Leckeres zu essen finden lässt. An einer Bäckerei kaufe ich mir zwei pies, das sind Pasteten, die es mit allerlei Füllungen gibt, so mit Nierchen, Rinderhack, Kartoffeln, Zwiebeln etc. Ich entscheide mich für pies mit Hühnchenfleisch und Erbsen.
Auf einer Bank sitzend verspeise ich mein kleines Mittagessen, dann schlendere ich die kleine Hauptstraße des Zentrums entlang, um mir mal ein Bild von den Geschäften zu machen. Da gibt es einen Friseur, einen Citroen-Autohändler, vorbei geht es an einem Metzgerladen, ein kleiner Möbelladen liegt neben einem Zeitungskiosk. Nun noch ein Geschäft, welches Bilder rahmt, dann ein Lädchen für Blumen, welches aber auch Geschenkartikel verkauft. Im dem sehe ich mich auch gleich mal um, denn ich liebe diese so genannten "gift-shops". Dann passiere ich noch ein Restaurant namens "Pheasant Inn", hier lese ich an einer Gedenktafel, daß das Gebäude aus dem 16. Jahrhundert stammt und regelmäßig von Oliver Cromwell und seinen Truppen während des Bürgerkrieges aufgesucht wurde. So langsam gehe ich wieder zurück, kaufe mir beim Zeitungsladen noch ein paar deutsche Illustrierte, dann gehe ich zur Bushaltestelle, um den Heimweg anzutreten. Die Wartezeit auf den Bus vertreibe ich mir damit, indem ich ein wenig in "Das Neue Blatt" und "Tina" blättere.
Wieder in "Warneford" angekommen, begrüßt mich erst Marc stürmisch, dann treffe ich auf Frau Ramsay. Herr Ramsay ist heute im Krankenhaus in London tätig. Er wird erst später am Abend wieder hier eintreffen. Ich berichte meiner Gastmutti über den heutigen Ausflug, und innerlich bin ich auch eigentlich ganz stolz auf mich, daß ich den Weg auf Anhieb gefunden habe, denn mit meinem Orientierungssinn ist es nämlich irgendwie noch nie so richtig weit her gewesen. Hoffentlich kann ich das hier in England etwas trainieren. Frau Ramsay hat so einen seltsamen Ausdruck im Gesicht, als habe sie etwas auf dem Herzen. Und schon sagt sie, daß eine Mrs. Peach heute Nachmittag angerufen hat. Oh, was mag jetzt kommen? Also, ich soll am Dienstag, dem 2. September, zum Kursbeginn um 11 Uhr in der Schule erscheinen. Ich habe es geschafft, in den Fortgeschrittenenkurs zu kommen!!! Super, tolle Nachricht, denn dann, wenn alles so klappt, wie ich es mir vorstelle, bin ich im Juni nächsten Jahres mit dem Englischkurs durch und habe – hoffentlich – das Cambridge First Certificate in English in der Hand. Ich könnte mir vorstellen, daß diese Unterlagen mir später mal hilfreich sein könnte, zum Beispiel bei der Lehrstellensuche. Frau Ramsay freut sich mit mir, hat es "ja gleich gesagt, daß ich bestimmt in den Fortgeschrittenenkurs komme".
Nun ist mir doch ein nicht allzu kleiner Stein vom Herzen gefallen und ich bin schon ganz gespannt, mit wem ich in dem Kurs sein werde. Hoffentlich sind ein paar nette Leutchen dabei.
Jetzt kann es wieder an die Vorbereitungen fürs Abendessen gehen. Meine Arbeit für heute hat ja Frau Taylor bereits erledigt. Heute abend gibt es Bangers and Mash, das sind Bratwürstchen mit Zwiebeln und Kartoffelbrei, dazu Erbsen. Wir sind schon fast mit dem Essen fertig, da kommt Herr Ramsay etwas erschöpft nach Hause. Als er dann sein Abendessen zu sich nimmt, berichte ich ihm auch von dem Ausflug zu Milton´s Cottage, und daß ich mich für seinen Ausflugstip recht herzlich bedanke.
Alles in Allem kann ich sagen, daß das heute ein ausgesprochen schöner Tag war – inklusive des Wetters.
28. August 1986
Den heutigen Tag verbringe ich vormittags mit Saubermachen des Hauses, Betten abziehen. Mittags mache ich für Alasdair und mich im Ofen ein paar Pastetchen aus der Tiefkühltruhe warm. Frau Ramsay ist heute auch unterwegs für ihre Arbeit für den Lady Hoare Trust. Diese Stiftung wurde von Lady Hoare (Ehefrau vom Lord Major in London, dem Bürgermeister) 1962 ins Leben gerufen, zu dieser Zeit gab es etwa 800 Familien in England, deren neugeborene Kinder mit Conterganschädigungen zur Welt gekommen sind. Schuld an dem Unglück war das Medikament Thalidomid. Seitdem setzen sich Sozialarbeiter (wie Frau Ramsay) für die behinderten Menschen ein. Meine Gastmutter hat heute noch Kontakt zu sehr vielen contergangeschädigten Menschen, denn mit den Spätfolgen haben diese armen Menschen immer noch zu leben. Zum Beispiel leiden viele an Arthrose. Und der Lady Hoare Trust unterstützt diese Menschen sowohl finanziell als auch beratend.
Als Alasdair und ich in der Küche unser Mittagessen verputzen, bedankt er sich sogar, daß ich gekocht habe. Naja, als kochen kann man das Aufwärmen der Pastetchen sicherlich nicht nennen, aber dennoch freue ich mich über die netten Worte. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß mich der jüngste Sohn Ramsays nicht besonders mag.
Frau Ramsay hat mir aufgetragen, mit dem Verschnüren der Bücher fortzufahren. Da bin ich aber auch tagelang beschäftigt, denn Ramsays haben enorm viele Bücher. Und dann kommen ja auch noch die Bücher dran, die ich mit Seidenpapier verpackt in Kisten stapeln soll.
Langsam aber sicher machen sich schon Blasen und wunde Stellen an den kleinen Fingern bemerkbar. Bei solch doch recht monotonen Arbeiten kann man ganz schön die Gedanken schweifen lassen. Jetzt bin ich noch nicht mal eine Woche hier und ich habe schon etliches erlebt. Bisher gefällt es mir hier sehr gut, aber das ist bestimmt normal, da alles noch neu ist und viele Eindrücke auf einen einströmen. Ich habe so einige englische Gerichte gegessen und auch schon eine gewisse Besserung in meinem Englisch festgestellt. Wenn man gezwungen ist, fast den ganzen Tag in einer anderen Sprache zu reden, dann ist das ein gutes Training.
Also, ich bin schon sehr, sehr gespannt, was in den nächsten Monaten hier so alles auf mich zukommen wird……
29. August 1986
Heute ist Freitag, und ich fahre am Nachmittag mit Frau Ramsay zum Einkaufen. Jonathan und seine Frau Cilla haben sich für Samstag zum lunch angekündigt, und ich bin schon sehr gespannt, den ältesten Sohn meiner Gasteltern und dessen Frau kennenzulernen.
Die meisten Wochenendeinkäufe erledigt Frau Ramsay in Beaconsfield, einer Kleinstadt, nicht weit von Stoke Poges entfernt. Wir halten vor einem Supermarkt namens "Selfridge´s", da gibt es laut meiner Gastmutter alles, von Fleisch über Gemüse, Obst und alle weiteren notwendigen Lebensmittel. Unser Einkaufswagen füllt sich innerhalb kürzester Zeit. Und nun erkenne ich auch, was es denn Leckeres zum Mittag geben wird. Roastbeef. Neben den üblichen Sachen, die ein Haushalt so braucht, kaufen wir noch eine gefrorene Torte Schwarzwälder Art und Wein. Während wir unsere Runden durch den Markt drehen, schaue ich mir die englischen Lebensmittel auch etwas genauer an. Die Auswahl an Teesorten und Konfitüren ist enorm, Cornflakes und Müslis in allen Variationen, Dosensuppen am laufenden Meter, Schokolade (meine absolute Schwäche – ich werde im Laufe der Monate etliche Tafeln der Cadbury´s Schokolade futtern). Das Geschäft hier gefällt mir ausgesprochen gut, alles ist sauber und übersichtlich. Mit einigen Tüten bepackt geht es wieder zum Auto. Bevor wir nach Hause fahren, halten wir noch an einem Blumenladen und Frau Ramsay wählt einen schönen bunten Strauß aus. In "Warneford" angekommen, verstauen wir erst einmal alle Einkäufe. Vor der täglichen tea-time will ich noch rasch ein paar Kleidungsstücke bügeln und verziehe mich in den Wirtschaftsraum, da klingelt es an der Tür und wenige Minuten später ruft mich Frau Ramsay. Steve Lever steht mit seiner Schwester im Flur. Sie möchten gerne wissen, wie ich mich eingewöhnt habe. Das finde ich aber echt nett.
Und sie haben sogar noch eine Überraschung für mich. Sie laden mich in einen typisch englischen Pub ein! Jetzt? Ja, alles eben mit meiner Gastmutti abgesprochen. Wir können für drei Stunden "verschwinden". Obwohl ich die beiden jungen Leute noch nie gesehen habe, verstehen wir uns gleich auf Anhieb. Steve spricht sehr gut deutsch, seine Schwester etwas gebrochen. Wir amüsieren uns über diesen enormen Zufall, daß Frau Ramsay auf den von Familie Lever aufgehängten Zettel im Supermarkt auf mich aufmerksam wurde. Ein paar Kilometer, auf halber Strecke von Stoke Poges nach Gerraards Cross, liegt der Pub "Fox and Pheasant". Hier wollen wir einkehren, mein erster Besuch eines Pubs überhaupt. Am Eingang des Lokals prangen ein Fuchs und ein Fasan aus Blech, ganz so, wie der Name es schon ankündigt. Im Inneren des Pubs sieht es sehr gemütlich aus. Es ist etwas schummerig darinnen, in den zahlreichen Nischen und Ecken finden wir einen Platz zum ungestörten Plaudern. Alles ist mit bequemen Ledersesseln und Holzstühlen eingerichtet. Eine riesenlange Theke bildet den Mittelpunkt. Auf unserem Tisch aus dunklem Holz liegt eine Getränkekarte, die ich erst einmal studiere. Das Angebot hier ist enorm: viele internationale Biersorten, vom original englischen Newcastle Brown Ale über Strongbrow Cider bis zum australischen Fosters gibt es hier alles. Und das Bier wird aus Original Englischen Beerpumps gezapft. Es gibt originelle Cocktails zu erschwinglichen Preisen sowie ausgewählte Single Malt Whiskeys. Alles in allem ein rundum multikulturelles Angebot. Auch für das leibliche Wohl ist hier bestens gesorgt: es gibt kleine Snacks, zum Beispiel Clubsandwiches, Fingerfood, das traditionellen Gericht "Fish and Chips", das sind Fischstückchen mit Pommes Frites, sowie English Breakfast. Ich entscheide mich für ein Guinness, ein schönes dunkles Bier. Das Personal ist flott, und aus den Lautsprechern hören wir aktuelle Musik. Besonders im Gedächtnis ist mir das Lied "Killing me softly" von den Fugees. Steve hat noch eine Tüte Walker Chips geordert, oh, denke ich, leckere Kartoffelchips, aber als ich die Kartoffelscheiben probiere, bin ich enttäuscht: es sind salt-vinegar-chips. Eklig, die sind gesalzen und mit Essig gewürzt. Nichts für mich, ich liebe die normalen Kartoffelchips mit Paprikageschmack. Aber Steve und seine Schwester mampfen wie die Wilden. Wir reden über alles mögliche, die Zeit vergeht wie im Fluge. Die beiden versprechen mir, mich in den nächsten Wochen mal zu sich nach Hause nach Gerrards Cross einzuladen. Darauf freue ich mich. So, nun wird es Zeit, daß wir wieder nach "Warneford" fahren. Aber es wird ja sicherlich nicht unser letztes Treffen gewesen sein. Pünktlich setzt mich Steve wieder zuhause ab.
30. August 1986
Nach Marcs Spaziergang beginne ich schon mal, langsam alles für den Besuch von Jonathan und Cilla, die in London wohnen, vorzubereiten.
Es gibt ja Roastbeef mit Karotten, außerdem soll es noch Yorkshirepudding geben. Darauf freue ich mich besonders. Puddings und Desserts sind meine große Schwäche. Daß ich heute noch eines besseren belehrt werde, ahne ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Der Braten bruzzelt langsam im Ofen, das hat die Hausherrin bisher erledigt. Die Möhrchen habe ich schon geputzt. Nun kann es ans Tischdecken gehen.
Der Mahagonitisch im Wohn-Esszimmer bekommt eine schöne Damasttischdecke. Dann bekommt jeder ein Platzdeckchen, ich zähle noch mal kurz nach, wie viele Leute wir heute Mittag sein werden: Herr und Frau Ramsay, Johnathan und Cilla, Alasdair und ich. Also sechs Personen. Nun folgt das silberne Besteck, welches ich heute Vormittag schon in "Silver Dip", einem flüssigen Silberreiniger getaucht und anschließend poliert habe. Große Messer und Gabeln (Hauptgang), große Löffel (Suppe), kleine Messer und Gabeln (Käseplatte), kleine Löffel (Nachtisch – Pudding!!!). Mir läuft jetzt schon das Wasser im Mund zusammen, vor allen Dingen bei DEM Duft, der aus dem Backofen der Küche kommt. Nun noch die Bleikristallgläser, aber auch noch einen Schwung normale Wassergläser. Die Tafel sieht in Verbindung mit dem silbernen Kerzenhalter und dem frisch gekauften Blumenstrauß toll aus. Mal sehen, was meine Gastmutti dazu sagt. Ob hier eigentlich immer so üppig eingedeckt wird, wenn die Kinder kommen?
Frau Ramsay gibt mir ihr O.K., der Tisch gefällt ihr, so wie er ist, sehr gut. Während ich mit dem Tisch beschäftigt war, hat meine Gastmutter alles soweit in der Küche vorbereitet. Nun kleidet sie sich um, da der Besuch bald ankommen müßte. In der Zwischenzeit stopfe ich schon mal einiges an gebrauchtem Geschirr in den Geschirrspüler, dann haben wir nachher weniger und es sieht auch ordentlich aus. Herr Ramsay hat aus seinem Weinvorrat einen französischen Rotwein geholt und ihn in den Weinkühler gelegt. Und schon fährt ein Wagen vor, ein silberfarbener Vauxhall, Marcy-Boy bellt auch schon. Jonathan und Cilla sind da. Ich bin sehr gespannt auf die beiden. Mit einem großen "Hallo" werden die beiden begrüßt. Herr Ramsay und er scheinen sich super zu verstehen. Er nennt seinen Sohn "John" und klopft ihm auf die Schulter. Nun begrüßen die beiden mich. Jonathan ist ein großer, sehr schmaler Mann mit etwas zu dünnem Haar für seine 33 Jahre. Er sieht müde aus. Aber er hat ja auch jede Menge Arbeit, ist er doch Arzt an der St. Bartholemews-Klinik in London, an eben der Klinik, an der sein Vater als Berater tätig ist. Cilla ist recht stark geschminkt, blond und schmal. Beide sprechen dieses superklare Oxford-Englisch, wo man wirklich fast jedes Wort versteht. Jonathan und Cilla begrüßen Alasdair, wobei auffällt, daß Al wieder kaum was sagt. Er antwortet immer in extrem kurzen Sätzen, manchmal nur mit ein oder zwei Worten. Die Brüder sehen sich doch auch nicht ständig, da müßte doch mehr zu reden sein, oder?! Mal sehen, ob sich das bei Tisch legt. Nun sitzen alle und Frau Ramsay und ich bringen schon mal die Vorspeise, Ochsenschwanzsuppe, an den Tisch. Herr Ramsay hat bereits den Wein in alle sechs Gläser gefüllt und eine neue Flasche bereitgestellt.
Nun wird gegessen und geplaudert. Herr Ramsay und Jonathan reden über ihre Arbeit, es fallen jede Menge medizinische Fachbegriffe. Ich werde gefragt, wie ich mich bisher eingelebt habe und ich berichte, was ich bisher alles in der kurzen Zeit erlebt habe. Nun kommt das Roastbeef an die Reihe und als Frau Ramsay die Teller anrichtet und ich sie in den Speiseraum bringe, ruft Cilla erfreut: „Oh, Yorkshirepudding!“ Ich verstehe nicht, ich denke, das wird der Nachtisch. Da dämmert es mir: mit Yorkshirepudding sind die kleinen Muffins, die aus Eierkuchenteig hergestellt werden, dann mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss gewürzt werden. Nix süßer Pudding! Als ich die Dinger probiere, bin ich sehr enttäuscht. Sie schmecken ölig, eigentlich nach nichts. In Verbindung mit der leckeren Sauce zu dem Roastbeef mag es ja gehen, aber da ich eine total andere Erwartung an die Yorkshirepuddings hatte, bin ich vom Geschmack enttäuscht. Aber die Engländer lieben diese Beilage zu Steaks oder Roastbeef besonders. Es ist natürlich auch wieder Geschmackssache. Kann ja nicht jeder dasselbe mögen. Na, wieder was gelernt heute. Pudding ist nicht gleich Pudding. Aber ansonsten ist das Essen klasse, das Fleisch auf den Punkt gegart, die Möhrchen sehr zart und die Sauce ein Gedicht. Ich versuche, meiner Gastmutti ein Kompliment zu machen und sage: "Mrs. Ramsay, you are a great cooker!" Worauf alle am Tisch sitzenden Leute lachen. Was ist los? "Cooker" heißt "Herd" und ich hätte "cook" sagen sollen oder wollen, denn DAS hätte "Koch" bedeutet. Aber Frau Ramsay weiß, was ich gemeint habe und bedankt sich. Ich räume schon mal die schmutzigen Teller ab und nun gibt es noch einen Nachtisch, leckeres Erdbeereis. Cilla ist schon pappsatt, ich glaube, sie achtet auch sehr auf ihre Figur. Wie ich erfahren habe, leitet sie eine Modeboutique in London, ganz in der Nähe, wo sie und Jonathan auch ein Häuschen haben. Nach den drei Gängen kommt zum Abschluß der Mahlzeit noch die obligatorische Käseplatte mit Keksen. Dann sind wir aber auch alle satt. Ich bin froh, daß ich mich beim Abwaschen des Geschirrs und Aufräumen der Küche jetzt etwas bewegen kann. Die anderen sind in die Sitzecke des Wohnzimmers verschwunden und trinken noch einen Cognac. Ich höre sie reden und lachen. Ich finde, außer den Yorkshirepuddings und meinem kleinen Tritt in das Fettnäpfchen war dies alles in allem ein harmonischer Nachmittag. Gegen 17 Uhr verabschieden sich Jonathan und Cilla wieder von uns. Jetzt kenne ich schon fast alle Mitglieder des Ramsay-Clans. Das habe ich mir so gedacht, aber da gibt es noch die Schwester von Herrn Ramsay, Thirza Jennings, deren Sohn David, die Schwester von Frau Ramsay, Rose, einen Onkel Allan Young aus Schottland…. Sie alle werde ich im Laufe der nächsten Monate noch kennenlernen.
31. August 1986
Heute ist Sonntag, und Familie Ramsay möchte mit mir in den Gottesdienst gehen. Der findet in der anglikanischen St. Giles-Kirche in Stoke Poges statt. Was ziehe ich am besten an? Jeans-Hosen werden bei meinen Gasteltern sicherlich heute nicht gut ankommen, also entscheide ich mich für meinen weißen knielangen Rock und eine Bluse mit 3/4 –Ärmeln. Das müßte in Ordnung sein so. Mit dem Jaguar fahren wir vier los. Vor der Kirche haben sich schon jede Menge Kirchgänger angesammelt. Plötzlich entdeckt Frau Ramsay den Vikar und steuert zum Begrüßen auf ihn zu. Er ist ein netter Mann in lilafarbener Robe, der mir freundlich "Guten Tag" sagt. Ich denke, er erkennt unter seinen bekannten "Schäfchen" sofort ein neues Gesicht. Nun kommen noch diverse Damen und Herren auf Frau Ramsay zu. Sie ist hier sehr bekannt, man schätzt ihren Einsatz für die Behinderten sehr.
Nach dem Gottesdienst gehen die Kirchgänger gemächlich zum Ausgang. Der Vikar steht mit dem Klingelbeutel in der Tür, verabschiedet jeden einzelnen Besucher persönlich und schüttelt ihm die Hand. Dabei gibt jeder auch gleich eine kleinere oder größere Spende. Netterweise hat mir Frau Ramsay vorhin noch ein paar Ein-Pfund-Münzen in die Hand gedrückt, so kam ich nicht in die Bredouille, kein Geld in den Klingelbeutel zu tun. Sie hat vermutlich gemerkt, daß ich ohne Tasche in den Gottesdienst gegangen bin. Sehr aufmerksam, danke, liebe Frau Ramsay, Sie haben mich vor einer etwas peinlichen Situation gerettet.
Heute haben mich an der St. Giles-Kirche besonders die bunten Kirchenfenster fasziniert. Aber Herr Ramsay sagt, daß noch etwas sehr interessant sei, nämlich die vier Perioden der Architektur der Kirche:
1 Sächsisch
2 Norman A.D. (aus dem Jahre 1086)
3 Frühe Gotik (aus dem Jahre 1220)
4 Tudor A.D. (aus dem Jahre 1558) - aber was bedeutet das nun, denke ich bei mir...
Außerdem ist der Dichter Thomas Gray auf dem Friedhof hinter der Kirche begraben, erklärt Herr Ramsay.
Zuhause angekommen, machen wir uns nur Erbsensuppe aus der Konserve heiß. Dazu toasten wir uns Weißbrot. Dafür gibt es heute am Abend wieder etwas Größeres zu essen.
Am Abend bekomme ich dann das erste Mal meinen Wochenlohn von meinem Gastpapa ausbezahlt: 20 Pfund (ca. 60 DM). Er berichtet mir, wenn wir erstmal in Farnham Common wohnen, bekomme ich ein Bankkonto eröffnet, dann stellt er mir wöchentlich einen Scheck aus, den ich dann immer meinem Konto gutschreiben lassen kann.
Solange bekomme ich wöchentlich das Geld bar ausgezahlt.