Читать книгу Mami Bestseller 17 – Familienroman - Carmen Lindenau - Страница 3
ОглавлениеSeit ihrem sechsten Lebensjahr antwortete Jenny auf die Frage, was sie einmal werden wolle, stets: »Mami.«
Später änderten sich die Formulierungen. Aus Mami wurde: »Mutter… am liebsten.« Und noch etwas später dann, während der Ausbildung: »Irgend etwas mit Kindern, erst beruflich, dann privat.«
Das »erst beruflich« hatte sie nun. Sie war Kindergärtnerin geworden. Sie liebte Kinder, und die Kinder liebten sie.
Das »dann privat« stand kurz vor der Tür. Sie war verlobt mit Claus Hübner, würde ihn bald heiraten, und dann…
»Vier«, antwortete sie jetzt immer, wenn man sie fragte, wieviel Kinder sie haben wollte. »Vier mindestens.«
Und jeder, der Jenny Amrast dabei ansah, glaubte ihr aufs Wort.
»Du hast dir auch den richtigen Mann dafür ausgesucht«, behauptete Carola, die Kollegin, die ständig damit beschäftigt war, Jenny daran zu hindern, die Kinder zu sehr zu verwöhnen.
»Wie meinst du denn das?«
Jenny hatte eine unnachahmliche Art, die rechte Augenbraue zu heben.
Ihr kleines, herzförmiges samtenes Gesicht mit den grauen Augen unter einer braunen Lockenfülle sah dann so blasiert aus wie das einer beleidigten Großherzogin. Jetzt sah sie so aus. Carola lachte.
»Laß die Faxen! Ich meine damit, daß Claus genauso kinderjeck ist wie du.«
Jenny hatte auf der Stelle wieder ihren normalen Gesichtsaudruck.
»Na, gottlob!« sagte sie und biß in ihr Butterbrot.
Es war Pause, Aufsicht hatten Petra und Irmgard. Sie lauschten eine Weile den endlich einmal ruhigen Geräuschen aus dem Frühstückszimmer, wo im Augenblick siebzig Kinder ihr Frühstück verzehrten und ihren Tee tranken.
Nur hin und wieder klang ein Kichern auf, dann mal ein lauteres Wort, aber sonst war es friedlich. So friedlich war es nur um diese Stunde.
»Die meisten Männer…« Carola blickte hinaus auf den Spielrasen, auf die Schaukeln, Klettergerüste und Rutschen, die bunt im Sonnenlicht aufleuchteten.
Sie waren endlich frisch gestrichen worden. Grundgütiger Himmel. War das ein Kampf gewesen!
Jenny war ein von Natur aus geduldiger Mensch. Aber jetzt dauerte es ihr doch zu lange.
»Die meisten Männer?« half sie Carola, die wieder so aussah, als meditiere sie am hellichten Vormittag.
Carolas Blick kam zurück.
»Ah ja! Ich wollte sagen, die meisten Männer…«
»Das…«, Jenny grinste, »hast du bereits gesagt!«
»Unterbrich mich doch nicht dauernd!«
»Schon gut, schon gut! Also, die meisten Männer…«
»Die meisten Männer wollen heutzutage doch bloß noch ein Kind, und das möglichst erst, wenn das Auto da ist, die Wohnung oder das Haus und alles andere drum und dran.«
Jenny kaute erst sorgfältig ihren Mund leer.
»Sprichst du aus Erfahrung?« fragte sie dann Carola, hob die Thermosflasche, schaukelte sie, goß dann noch Kaffee ein.
»Ja«, sagte sie.
Eine Weile schwiegen sie. Jenny dachte an Claus, dachte daran, daß sie sich heute abend sehen würden, daß sie dann wieder ihre Pläne, ihre Zukunftspläne wohl zum hundertsten Male mit unverminderter Freude durchkauen würden.
Ach, und diese Pläne – wie sie sich glichen. Ihre und Claus’. Sie hatten die gleichen Wünsche, die gleichen Vorstellungen von ihrem gemeinsamen Leben…
Sie sah Carolas ruhiges Gesicht. Eigentlich wußte man nie so recht, was sie dachte. Aber das war ja bei vielen Leuten so, die nicht richtig glücklich waren.
»Wenn ihr erst verheiratet seid«, sagte Jenny und lächelte, »dann sieht das schon anders aus.«
Carola war nur zwei Jahre älter als Jenny, aber sie sah sie jetzt an, wie eine lebenserfahrene Glucke ihr noch flaumiges Küken betrachtet.
»Hast du eine Ahnung! Dann geht es erst richtig los! Dann wird gemeinsam gearbeitet, dann wird Geld verdient! Und dann können wir uns erst richtig was leisten!«
Die Bitterkeit in ihrer Stimme war unüberhörbar.
»Das wußte ich ja gar nicht.«
»Ich habe ja auch nie darüber gesprochen.«
»Aber… aber mit Walter hast du doch sicher gesprochen?«
Carola stand auf und reckte ihre Wirbelsäule. Sie saßen in den Kinderstühlen. Reine Gewohnheitssache, sich darin wohl zu fühlen. Nur nicht, wenn man es mit der Bandscheibe hatte, wie Carola.
»Er hat gesprochen«, sagte sie zu einem der kindlichen Gemälde, von denen eine lange Reihe an die Wand geheftet waren.
Es waren knallbunte Bilder, phantasievoll bis zur Unkenntlichkeit, aber mit großer Begeisterung gemalt.
»Und du? Ach, du liebe Zeit! Ich habe gar nicht richtig nachgedacht, zu Anfang…«
»Anfang! Seitdem hat der Rhein dreimal Hochwasser gehabt, Teuerste. Wie sieht es denn jetzt bei euch, beziehungsweise bei dir aus?«
Carola setzte sich auf den runden Basteltisch und streckte ihre Beine aus. Sie sah auf ihre gelben Sandalen.
»Ich glaube, ich habe den Zeitpunkt verpaßt.«
»Unsinn!«
»Doch, doch! Was man im Anfang nicht gleich klarstellt, tja, das läßt sich dann eben nicht mehr regeln.«
»Mach doch keine Witze! Du wirst doch wohl imstande sein, ihm zu sagen: Hör mal, mein Herzblatt, oder wie du ihn nennst, ich will kein Auto…«
»Oh«, unterbrach Carola sie, »das will ich schon, aber nicht nur!«
»Laß mich doch mal zu Ende reden! Also, ich will kein Auto, jedenfalls nicht nur, ich will auch nicht nur für Stuß und Staat arbeiten. Ich möchte Kinder haben, und zwar nicht nur eins, und ich will dir sagen…«
Jennys Augen waren rund geworden, und ihre Rede wurde von schnellen, beinahe südländischen Handbewegungen unterstrichen »Hör auf!« sagte Carola und lächelte.
»Bitte!« Jenny machte wieder ihr Großherzoginnengesicht. »Wie du willst!«
»Weißt du – ich habe natürlich mit ihm gesprochen.«
»Und deine Wünsche geäußert?«
»Meine Vorstellungen«, korrigierte Carola.
»Ist doch Jacke wie Hose. Und? Was sagt er?«
Carola drehte sich herum. Sie rollte ihr Butterbrot wieder ins Pergament, drehte die Thermosflasche zu und erwiderte: »Eigentlich hat er mich immer davon überzeugt, daß er recht hat, daß seine Auffassung die richtige ist und so weiter.«
Jenny dachte lange nach, wobei sie unentwegt aß. Es gab nichts, was Jenny am Essen hätte hindern können.
Dabei war sie superschlank. Ihre Mutter behauptete sogar, mager. Aber das stimmte nicht. Nicht ganz.
»Du liebst ihn!« konstatierte sie dann.
Carola sah erheitert aus.
»Allerdings«, gab sie dann lächelnd zu.
Jenny blickte sie von unten herauf an, und Carola dachte – übrigens nicht zum ersten Mal und auch nicht als einzige – wie hübsch Jenny doch war.
»Und er liebt dich?«
»Ja, das weiß ich.«
»Genau?«
»Ganz genau!«
»Na, Mensch!« Jenny gab sich einen Stoß und stand auf. »Dann laß doch alles auf dich zukommen! Du wirst Kinder kriegen können am laufenden Band. Wenn man sich liebt!«
»Oh, Jenny! Bitte, spar deine Luft für gleich. Die Kinder brauchen deine Reden mehr als ich!«
Zwei, drei Sekunden lang sah Jenny aus wie eine Schülerin. Ihr pikantes, lebhaftes Gesicht war ganz ruhig.
»Ich meinte es ernst«, sagte sie still.
»Ja«, erwiderte Carola, »ich weiß. Aber wenn ich jetzt nicht aufhöre, darüber nachzudenken und zu reden, begleitet mich der Gedanke den ganzen Tag. Und das kann ich nicht vertragen.«
»Wieso?« Jenny hatte plötzlich alles verstanden. »Er sitzt doch fest bei dir, der Gedanke. Er läßt dich doch ohnehin nicht los. Nie! Hab’ ich recht oder nicht?«
»Doch«, gab Carola zu, ohne Jenny anzusehen. »Aber jetzt turne ich noch fünf Minuten!«
Sie ging hinaus, und Jenny folgte ihr.
Sie machten täglich fünf Minuten Übungen in dem Gymnastikraum, in dem sie auch mit den Kindern turnten.
Jenny hielt nicht viel davon, sie war überhaupt nicht allzu sportlich. Und strenggenommen turnte sie die täglichen fünf Minuten auch nur Carola zuliebe, obwohl sie sich danach immer richtig wohl fühlte.
Als sie zurück in die Spielzimmer kamen und ihre Gruppe übernahmen, war der Lärm bereits in vollem Gange.
Jennys Blick streifte liebevoll über die tobende Gruppe.
»Sie sind außer Rand und Band«, sagte sie zu Carola.
»Wann sind sie das mal nicht?«
Jenny hörte gar nicht richtig hin.
»Am besten, wir gehen mit ihnen nach draußen. Ist sowieso das beste bei dem schönen Wetter.«
Sie klatschte in die Hände, brachte ihre Stimme auf Feldwebellautstärke und rief: »Kinder! Ruhe bitte! Bitte
Rrruuuuhe!«
Trotzdem dauerte es eine ganze Zeit, bis es still wurde.
»Laßt doch Tante Jenny auch mal was sagen!« schrie James, der Große.
Er war sechs, kam bald in die Schule und hatte sich im letzten halben Jahr zu Jennys rechter Hand entwickelt.
Er liebte sie abgöttisch, und es hatte echte Schwierigkeiten gegeben, ihm die Notwendigkeit eines Schulbesuchs klarzumachen.
Erst als Jenny Besuche versprochen und erlaubt hatte, war er mit seiner Einschulung einverstanden gewesen.
James ist eine Autorität, dachte Jenny amüsiert, mehr als ich. Aber ich kann ja schließlich auch nicht mit erhobenen Fäusten auf die Kinder zugehen, so wie James jetzt!
Sie stellte sich hinter ihn und legte ihm beide Hände auf seine magere Brust.
»Wir gehen nach draußen.«
Alles Weitere ging in einem Gejole in Häuserblocklautstärke unter.
Die Kinder stürmten die Kleiderhaken, drängten und zwängten sich in ihre Jacken. Pausenloses Geplapper begleitete die eilige Tätigkeit.
Jenny ging dazwischen durch und half, wo Hilfe erforderlich war, zog Reißverschlüsse hoch, wechselte Pantoffeln gegen Sandalen aus, band Schuhbänder zu, knöpfte viel zu große Knöpfe in viel zu kleine Knopflöcher, machte Zopfspangen zu, und und, und… Sie sah glücklich dabei aus, und sie war es auch.
Draußen dann saß sie nicht bei Carola, sondern betätigte sich mit den Kindern.
Sie ist selbst noch ein Kind, dachte Carola, und sie hat an der Spielerei auch ganz genauso viel Spaß wie ein Kind.
Jenny war zu beneiden. Ihr gelang alles, was sie in Angriff nahm. Sie bekam alles, was sie sich erträumte. Irgendwie war sie Jenny im Glück.
Gerechterweise mußte Carola zugeben, daß Jennys Träume sehr reale, verwirklichungsfähige Träume waren. Aber trotzdem…
Ihre eigenen Träume waren ja ähnlich, nur hatte sie nicht den Partner gefunden, der exakt die gleichen Träume träumte.
Walters Träume lagen auf einer andern Ebene. Er verstand unter Glück und Familienleben etwas anderes als sie. Selbst unter Leben verstand er etwas anderes.
Aber Jenny hatte recht. Sie liebten sich, und alles würde gut werden. Sie würden sich zusammenraufen und ihre Wünsche einander anpassen.
Einige Augenblicke lang war Carola sehr froh, fast euphorisch. Sie würde heute mit ihm sprechen.
»Heee!« hörte sie Jennys Stimme. »Warum weint denn Frauke da?«
Gleich darauf hatte sie Frauke im Arm. Wie Jenny das tat, wie sie die Kinder mit Zärtlichkeit überströmte, wie sie in Sekundenschnelle Trost gab, das machte ihr niemand nach. Das war nicht nachzumachen, das war auch nicht zu lernen. Das war in dem Menschen. In Jenny.
Jenny war die einzige unter den Kolleginnen, der die Kinder noch nie, nicht ein einziges Mal in den drei Jahren, auf die Nerven gegangen waren.
Wenn die anderen erschöpft waren, denn Kinder kosten Nerven, so blühte Jenny immer mehr und mehr auf.
Es war, als zöge sie Kraft und Freude aus den Kindern.
Sie wird einmal nicht vier, überlegte Carola, sie wird sechs und mehr Kinder haben!
*
Der Tag war um.
Carola war erschossen. Jenny sah aus wie das blühende Leben.
»Ich frage mich, wie du das machst!« stöhnte Carola. »Du mußt Nerven wie Drahtseile haben!«
Jenny streifte ein anderes Kleid über. Sie würde sich in zehn Minuten mit Claus treffen.
»Ich will dir ein Geheimnis verraten«, lachte sie.
»Da bin ich gespannt!«
»Ich habe überhaupt keine Nerven!«
»Das merkt man!« entgegnete Carola trocken, aber ohne Neid.
»Kinder«, dozierte Jenny ernsthaft und sah dabei selbst aus wie ein etwas zu groß geratenes Kind. »Kinder machen mich munter! Einfach munter!«
Sie knöpfte die lange Reihe der winzigen Knöpfe sorgfältig zu, hin und wieder einen Blick in den Spiegel werfend.
»Sie sind für mich wie ein Anregungsmittel! Frag mich nicht, wieso, denn ich weiß es nicht. Es ist einfach so. Ich bin schon so auf die Welt gekommen, glaube ich manchmal.«
»Als ewiges Kind?« fragte Carola in einem liebevollen, neckenden Ton.
Jenny hatte die Knopfreihe fertig und betrachtete sich im Spiegel.
»Vermutlich«, erwiderte sie. »Aber es ist schön, einfach schön. Ich jedenfalls fühle mich wohl, so wie ich bin.«
Carola war unvermittelt wieder ernstgeworden.
»Du wirst deinen Kindern eine wundervolle Mutter sein«, sagte sie leise, »sie sind schon jetzt zu beneiden!«
Mit der gleichen Zärtlichkeit, mit der sie Kinder behandelte, streichelte Jenny Carolas bloßen Arm.
»Du auch«, murmelte sie, und ihr behutsames Lächeln war wie Trost für alles.
Kein Wunder, daß die Kinder sie so liebten, diese Jenny.
Sie wandten sich zum Gehen, als das Telefon im ›Tantenzimmer‹ läutete.
Carola ging an den Apparat.
»Für dich«, sagte sie dann, »deine Mutter.«
Jenny nahm den Hörer.
»Hallo, Mam, was gibt es?«
Frau Amrasts Stimme klang heller als sonst, und sie sprach schneller als gewöhnlich.
Jenny lächelte in sich hinein. Daß Mütter immer glaubten, Kinder merkten nichts!
»Eigentlich nichts. Ich wollte nur hören, wann du heute nach Hause kommst, so ungefähr. Du triffst dich doch mit Claus, oder hatte ich das falsch verstanden?«
»Nein, hast es richtig verstanden. Ich denke, daß ich gegen elf zu Hause hin. Warum denn, Mam?«
»Na ja, weißt du, Kind, ich habe da eine Einladung, und ich dachte…«
»Geh nur, Mam. Auch wenn ich eher zu Hause sein sollte. Du brauchst doch nicht immer auf mich zu warten!«
»Wenn ich nur sicher wäre, daß du auch was Ordentliches ißt!«
»Ich esse doch immer ordentlich.«
»Aber nicht abends!«
Das stimmte. Jenny konnte den ganzen lieben langen Tag pausenlos essen, immer mit Appetit und alles, was auf den Tisch kam. Aber wenn es Abend wurde, war’s vorbei. Sie hatte dann auch nicht ein Fünkchen Appetit mehr.
»Vielleicht bin ich deshalb so schlank.«
»Das ist keine Schlankheit, das ist schon…«
»Mam, komm, laß uns am Telefon nicht über das alte Thema streiten. Also, du kannst beruhigt gehen. Ich verspreche hiermit hoch und heilig, heute abend noch was zu essen. Gut so?«
»Gut so, Schatz, viel Spaß dann. Grüß Claus von mir.«
»Mach’ ich. Und du auch.«
Frau Amrast war irritiert »Wie bitte?«
Jenny feixte.
»Ich meine, dir auch einen schönen Abend, Mama.«
»Ach so! Ja, danke. Bis denn, Jennylein!«
Jenny legte auf. Carola stand wartend an der Tür. Mit ihrem liebevoll geformten Kinn wies Jenny auf das Telefon.
»Meine alte Dame geht auf Freiersfüßen und glaubt, ich hätte keine Ahnung!«
Sie lachte fröhlich auf.
»Deine alte Dame ist eben vierundvierzig Jahre alt!« sagte Carola.
»Eben! Ich wünsche es ihr von ganzem Herzen! Ich habe ja gar nichts dagegen. Und Bernd auch nicht.«
Bernd war Jennys Bruder. Er studierte zur Zeit in Tübingen.
Beider Vater war seit fünfzehn Jahren tot, sie hatten nur noch eine schwache Erinnerung an ihn.
Mam hatte, obwohl eine zarte, verwöhnte Frau, bewiesen, daß sie ihren Mann stehen konnte, und ihre Kinder großgezogen, ohne daß denen das Fehlen des Vaters beklagenswert bewußt geworden wäre.
Da sie finanziell einigermaßen versorgt waren, konnte Frau Amrast es sich leisten, nicht arbeiten zu gehen, sondern ganz für ihre Kinder dazusein.
Das war auch so gewesen, bis vor wenigen Monaten. Da war ihr ein Mann begegnet, bei dem sie glaubte, noch einmal ein neues Glück zu finden.
Bernd war aus dem Haus, Jenny würde bald gehen. Es würde still werden um sie herum. Und sie war ja noch jung.
»Weiß sie das?«
»Nein. Sie hat uns ja nie gefragt. Du, sie macht alles so unheimlich heimlich oder so heimlich unheimlich, daß ein Blinder mit ’nem Krückstock merken muß, was los ist«
»Wie du darüber sprichst!«
Jenny sah erstaunt auf.
»Ja, wie soll ich denn darüber sprechen? Wie ein Pastor? Oder wie?«
Carola zuckte die Schultern.
»Ich meine mit ein bißchen mehr Respekt vor den Gefühlen deiner Mutter.«
Sie waren weitergegangen, standen schon vor der Tür, die Jenny abschloß. Sie zog den Schlüssel heraus und sah ihn an.
»Carola, die Gefühle meiner Mutter sind mir so heilig wie nichts sonst auf der Welt. Ich liebe meine Mutter und wünsche ihr alles Glück dieser Erde.«
Das hatte sie leise gesagt, fast feierlich. Jetzt hob sie ihre Stimme und ließ ihre grauen Augen funkeln, daß sie grün wirkten.
»Aber deshalb muß ich doch nicht im Beerdigungston darüber reden, verflixt noch mal! Liebe ist doch was Schönes! Warum soll man nicht lachen dabei?«
Sekundenlang starrte Carola Jenny mit offenem Mund an.
»Ja«, sagte sie dann endlich, »du hast recht! Warum eigentlich nicht?«
Arm in Arm gingen sie zu Jennys Wagen.
»Ich fahre dich eben nach Hause.«
»Wartet Claus nicht?«
»Schon, aber er wartet gern. Er weiß ja, daß ich komme, wenn auch manchmal fünf Minuten später.«
Sicher und geschickt lenkte Jenny ihren kleinen roten Flitzer durch den Nachmittagsverkehr, der dicht war, wie jeden Tag um diese Zeit. Aber ihr machte das nichts, sie liebte das Autofahren, auch wenn es mal kein reines Vergnügen war.
Jenny hatte das glückliche Naturell der Leute, die über alles lachen oder doch zumindest lächeln können.
Außerdem gönnte sie jemandem, der sich die Vorfahrt erzwang, diese von ganzem Herzen.
Sie fuhr mit Gelassenheit und Spaß durch den brandenden Verkehr, der für den gewöhnlichen Sterbenden eine Tortur war.
»Da wären wir«, sagte sie vor Carolas Haustür.
»Danke dir. Bis morgen dann. Und schönen Abend noch.«
Jenny orientierte sich bereits im Rückspiegel.
»Dir auch, bis morgen also.«
Carola winkte ihr nach, ohne zu ahnen, daß sie Jenny zum vorletzten Male sah. Jedenfalls die Jenny, die sie kannte.
*
Claus Hübner kannte das. Er konnte sich gar nicht erinnern, einmal nicht auf Jenny gewartet zu haben.
Aber das machte nichts. Ein kleines, kühles Düsseldorfer Alt nach des Tages Arbeit und vor dem gemeinsamen Abendessen tat ihm gut.
Zum Zeitungslesen war er heute auch noch nicht gekommen, das konnte er jetzt nachholen.
Jupp, der Wirt der kleinen Altstadtkneipe, stellte ihm unaufgefordert ein zweites Glas hin.
»Se is heute aber janz schön schpät dran, wa?« fragte er und nahm den überfüllten Aschenbecher vom Tisch.
»Wann mal nicht?« lächelte Claus.
Der Wirt lächelte zurück. »Auf dat Mächen«, bemerkte er und rollte die Augen, »tät’ ich auch wachten.«
Claus kramte in seinen Taschen »Hast du Zigaretten da?«
»Han isch. Aber nischt deine Sorte. Isch will ja schließlich meine Gäste nischt verjiften!«
Claus seufzte gespielt ergeben.
»Dann sei ein Kumpel und bring mir eine Schachtel deiner gängigsten Sorte.«
Jupp holte sie, und nachdem er die Schachtel geöffnet hatte, brach Claus als erstes den Filter von der Zigarette.
»Wat du da machs, is ja läscherlisch!« sagte Jupp kopfschüttelnd.
Er ging zur Theke zurück und goß sich einen Schnaps ein, den er ruhig trank.
Es war um diese Zeit noch still. Der Betrieb kam erst später.
Aber ihm war diese Stunde lieber, mit den drei Stammgästen, mit denen man auch mal reden konnte. Das war so eine kleine Erholung für den Abend, der brabbelnde, randalierende, singende, in jedem Fall dummes Zeug redende Betrunkene brachte.
»Willste auch einen?« rief er zu Claus rüber. »Jeht auf meine Reschnung.«
Claus lachte. »Da werd’ ich doch nicht nein sagen!«
»Haste auch dat Auto nisch mit?« erkundigte Jupp sich, bevor er einschüttete.
»Doch. Aber wir gehen gleich noch essen, danach ist alles abgebaut.«
»Isch wär’ da nisch so sischer. Aber du solls nisch sagen, dat isch ’ne Jeizkragen wär’.«
»Ich sag’ das nicht«, erklärte Claus und nahm das randvoll gefüllte Glas in Empfang, »ich denke es nur.«
In Jupps Augen sammelte sich Wohlwollen.
»Wenn minge Sohn so ’n bißchen wat von dir hätt’, Mensch, dat täte ihm jut!«
Claus schüttelte sich und stieß den Atem aus.
»Laß den Felix man«, sagte er dann, »der macht schon seinen Weg!«
»Dein Wocht in Jottes Jehörjang!«
Damit ging er wieder zur Theke zurück. Felix, sein Sohn, hatte sich geweigert, die traditionsreiche Kneipe seines Vaters und seines Großvaters zu übernehmen, und studierte nun.
Ich hätte ihn eben, dachte Jupp erbost, nicht aufs Gymnasium schicken sollen. Damit hat alles angefangen. Da lernen sie so’n Zeug.
Er gönnte sich noch einen kleinen Schnaps, damit war dann Schluß für heute, und darin war Jupp eisern.
Betrunkene Wirte sind schlechte Wirte.
Aber, na ja, stolz war er auf seinen Sohn. Nur wen, bitte schön, jing dat wat an, ha?
Die Tür wurde aufgestoßen.
Und plötzlich war die kleine, stille Kneipe voller Leben.
Jenny kam lachend herein, begrüßte erst Jupp, der sisch jenauso ’n Mädchen für seinen Felix wünschte und Jenny entsprechend liebevoll behandelte.
Er zapfte schon ein Alt für sie, noch bevor sie am Tisch war.
Er wußte, daß sie das mochte, so als erste Feierabendhandlung.
»Hey!« hörte er sie sagen und sah sie sich zu Claus hinunterbeugen.
An sich haßte Jupp öffentliche Küssereien. Aber bei Jenny – bei Jenny war alles anders. Alles so natürlich.
Jupp kam und stellte das Glas nicht auf den Tisch, sondern gab es Jenny in die Hand.
»Laß et dir schmecken«, sagte er und sah ihr mit Freuden zu, wie sie trank.
Sie trank immer nur ein einziges Alt. Aber wie sie das trank, mit welchem Genuß, mit welchem Gesichtsausdruck.
»Aaahh!« machte sie dann jedesmal. »Das tat gut!«
Und wenn sie das gesagt hatte, schlenderte Jupp zurück hinter die Theke.
»Ich bin wieder spät dran heute, wie?« Jenny legte beide Unterarme auf den Tisch und blickte Claus von unten herauf reuig an.
»Tu nicht so, als ob es dir leid täte!«
»Es tut mir leid! Jedesmal!«
»Man sieht es dir an!«
Sie lachten gemeinsam leise auf.
»Wirklich! Aber irgendwie schaffe ich es nie. Woran mag das bloß liegen?«
»Denk nicht drüber nach. Heute war es ja nur eine knappe halbe Stunde!«
Jenny zog die Stirn kraus.
»Ah ja! Jetzt fällts mir ein. Erst das Gespräch mit Carola, dann rief Mam noch an. Siehst du, es war nicht meine Schuld.«
Ihr Blick war triumphierend.
»Was war das denn für ein Gespräch mit Carola?«
Jenny schob ihre Hand unter seine und ließ sie dort liegen.
»Sie behauptet, alle Männer wollten keine Kinder oder eventuell höchstens eins.«
»Ha! Meiner Ansicht nach neigen eher die Frauen zu einer solchen Einstellung.«
»Na, ich weiß nicht. Es sind doch die Männer, die Autos wollen, die…«
Claus feixte wie ein Honigkuchenpferd.
»Wenn ich da – apropos Auto – so an dich denke…«
»Ich bin die berühmte Ausnahme, die die Regel nur bestätigt. Ich mag eben Autos auch.«
Er beugte sich vor, sein Gesicht war ganz nahe vor ihrem.
»Was magst du denn sonst noch?«
Jennys Mundwinkel hoben sich.
»Männer!« sagte sie mit Bärenstimme.
»Viele?«
»Einen.«
»Und was noch?«
»Kinder.«
»Wie viele?«
»Sechs.«
»Würden es vier – für den Anfang vielleicht auch tun?«
»Zur Not, ja.«
»Was weiter?«
Er sah sie beschwörend und schweigend an.
»Ach so, ja! Ich liebe dich!«
Claus machte tadelnde Augen und einen sparsamen Mund.
»Daß man dich erst immer an alles erinnern muß. Das ist ja schrecklich!«
»Entschuldige, Liebster!« lispelte Jenny gekonnt und ließ ihre Wimpern flattern.
Mein Gott, wie oft hatten sie dieses kleine Spiel schon gespielt und spielten es immer wieder. Sie wurden es nicht leid.
Claus wußte, wie albern es war, aber unter Liebenden war es eben nicht albern.
Ihre Hände bewegten sich umeinander, ganz leicht nur, unauffällig, nicht sichtbar, nicht spürbar für einen Dritten.
Mit der freien Hand nahm Jenny ihr Glas und trank einen Schluck.
»Gehen wir essen?«
»Aber ja! Oder hattest du was anderes vor?«
»Nein. Wohin?«
»Schlag du was vor.«
Jenny leckte den Schaum aus den Mundwinkeln.
»Wie ist unsere Finanzlage?«
Claus überlegte kurz.
»Ganz gut. Besser, als ursprünglich vorauszusehen.«
»Prima! Mir wär’ nach chinesisch. Und dir?«
»Auch. Wollen wir gleich, oder warten wir noch etwas?«
Jenny sah auf die Uhr.
»Es ist noch ein bißchen früh, oder?«
»Du hast recht. Laß uns ein Stündchen am Rhein entlanggehen. Wer weiß, wann mal wieder so schönes Wetter ist.«
»O ja! Und nach dem Essen machen wir noch einen kleinen Schaufensterbummel, ja? Ich brauche unbedingt eine neue Handtasche und ein Paar Schuhe.«
Gespieltes Entsetzen im Gesicht fragte Claus: »Schon wieder?«
Jenny dehnte ihre Schultern.
»Schließlich sollst du eine hübsche Frau haben, mein Herz!«
Ganz schnell beugte Claus sich vor.
»Hab’ ich ja!« sagte er leise.
Jennys Augen funkelten.
»Auch barfuß?«
»Auch barfuß!«
Sie seufzte leise auf.
»Ich brauche trotzdem Schuhe, wegen der Erkältungsgefahr, weißt du.«
Jupp kam heran, als hatte er geahnt, daß sie zahlen wollten.
»Passen S’ op auf ihn«, sagte er zu Jenny, »er had ene Schnaps jetrunken!«
Jenny ließ wieder ihre Wimpern flattern.
»Liebe Güte«, flüsterte sie, »ich kriege einen Säufer zum Mann!«
Jupp sah ihr dann mit großem Wohlgefallen nach und rief, als sie sich an der Tür noch einmal strahlend zu ihm herumdrehte:
»Mach’s jut, Mächen!«
Und auch er wußte nicht, daß er diese Jenny nicht wiedersehen würde.
*
Im China-Restaurant bediente Fung-Lai sie persönlich. Sie waren oft hier, ließen sich Zeit beim Essen, genossen jeden Gang.
Jenny war nicht sparsam mit Komplimenten für jedes Gericht. Sie hatte Fung-Lais Herz damit erobert.
Sie waren eben fertig mit dem letzten Gang, als Carola und Walter hereinkamen.
Claus machte ein ergebenes Gesicht, aber Jenny winkte ihnen zu.
»Schade, daß ihr so spät kommt, wir hätten zusammen essen können«, sagte sie.
»Wir wollten nur eine Kleinigkeit haben«, erklärte Carola.
Sie hatte hektische rote Flecken auf den Wangen, und Walter wirkte mürrisch. Noch mürrischer als sonst, dachte Jenny, obwohl sie Walter auf irgendeine Weise gern hatte. Aber eben nur auf irgendeine Weise. Vielleicht nur, weil er mit Carola verlobt war.
Sie hatte nie darüber nachgedacht. Es war ja auch nicht allzu wichtig.
Fung-Lai kam mit der Karte, und selbst die geduldige Jenny verdrehte die Augen angesichts der Unentschlossenheit, mit der Carola und Walter sich zu einer Entscheidung durchrangen! Und das alles für eine Kleinigkeit!
Jenny wußte immer und überall sofort, was sie wollte. Und fiel ihr später mal was anderes ein. Na und? Was soll’s? Das aß sie dann eben beim nächsten Mal.
Endlich waren sie soweit, und Fung-Lai nahm mit asiatischer Höflichkeit die Bestellung entgegen.
Jenny summte leise vor sich hin. Ein gutes Essen machte sie immer noch zufriedener, als sie ohnehin schon war.
»Mam wird sich freuen«, sagte sie unvermittelt.
»Warum?« fragte Claus.
»Weil ich so gut gegessen habe. Du weißt doch, sonst abends…«
Carola warf Walter einen schnellen Blick zu.
»Wir haben deine Mutter vorhin gesehen«, bemerkte sie dann langsam.
»Ah ja? Wo denn?«
»Auf der Kö. Sie saß draußen.«
Jenny stieß einen lautlosen Pfiff aus.
»Allein?«
»Nein«, erwiderte Carola, und sie sah aus, als schäme sie sich, daß sie Jennys Mutter mit einem Mann gesehen hatte.
»Klasse!« meinte Jenny. »Wie sieht er denn aus?«
Walter hatte seinen offensichtlichen Ärger anscheinend überwunden, denn er beugte sich zu Jenny und lächelte sogar.
»Also, er sah richtig gut aus, das muß man schon sagen. Deine Mutter beweist einen guten Geschmack.«
»Was hast denn du geglaubt!« hauchte Jenny liebenswürdig. »Schließlich ist sie ja auch eine schöne Frau!«
Sie sah in die Runde, und ihre Augen sagten: Oder wagt es etwa jemand hier, anderer Meinung zu sein?
»Reg dich ab«, entgegnete Claus trocken, lachte aber dabei.
Fung-Lai brachte für Carola und Walter das Essen. Jenny wunderte sich, wie man in so großem Schweigen essen konnte.
Sie konnte das nicht. Ein Essen ohne Gespräch ist kein Essen. Und ein kleines Lachen während der Mahlzeit fördert die Verdauung.
Aber das war nicht von ihr, das hatte Großvater immer gesagt.
Und der mußte es schließlich wissen, denn er hatte immer viel vom Essen gehalten.
Dafür redete Jenny. Sie redete, redete und redete, bis sie schließlich merkte, daß sie unentwegt allein sprach.
»Ich bin doch kein Alleinunterhalter!« sagte sie laut.
»Du läßt mich ja nicht zu Wort kommen!« konterte Claus.
Carola und Walter sahen sie nur an. Aber gleich würden sie ja wohl auch was sagen, denn die Teller waren fast leer.
»Ich möchte einen Kaffee hinterher«, bemerkte Jenny. »Trinkt ihr einen mit?«
Claus nickte, Carola auch. Nur Walter sagte: »Um diese Zeit?«
Und es klang sehr vorwurfsvoll.
»Na, wenn schon! Oder kannst du nicht schlafen danach?«
»Das nicht, aber es ist nicht gut, so spät am Abend noch Kaffee zu trinken.«
Dabei sah er Carola an, und Jenny tat es schon leid, daß sie zum Mittrinken aufgefordert hatte. Sie legte schnell ihre Hand auf Walters Arm.
»Laß Carola ruhig trinken, sie hat ihn sich verdient. Sie hat heute wieder einen Tag hinter sich! Ich kann dir sagen! Aber du weißt ja, wie sie ist! Alles muß sie selbst machen!«
Walters Augen bekamen ein stilles Strahlen. »Ja…«
Mein Gott, dachte Jenny, er ist stolz auf sie, so stolz! Und benimmt sich trotzdem so daneben.
»Na klar! Besser wäre noch, sie würde einen Kognak trinken, einen doppelten, nach einem solchen Tag!«
Sie sah Walters Kopf sich drehen, sah seine Hand zu Carolas Schultern gehen.
»Soll ich dir einen Kognak bestellen?« fragte er leise. Carola wurde rot. Jenny sah es mit Bestürzung.
»Laß nur«, hörte sie sie sagen, »ein Kaffee tut’s auch.«
»Nein, nein. – Oder vielleicht beides?«
Und Carolas Gesicht erblühte.
Welche sonderbaren Arten Liebe es doch gibt, sinnierte Jenny und warf Claus einen Blick zu, der ihm sagte, er möge sich gefälligst auch ein bißchen um Konversation bemühen.
Claus regelte die Sache auf seine Art. Er ließ – die Bestellung gab er auf, als er angeblich zur Toilette ging – eine Flasche Wein kommen, und eine halbe Stunde später waren sie in das schönste, temperamentvollste Gespräch vertieft.
Eine zweite Flasche kam. Nur Jenny trank nicht. Sie trank nie viel, und wenn sie ein Auto bei sich hatte, schon gar nicht.
Als sie endlich gingen, war es bereits weit nach elf.
Carola und Walter gingen zu ihrem Wagen, und Claus stieg noch auf einen Abschiedskuß zu Jenny ein.
»Diese modernen Frauen!« sagte er klagend und streichelte betrachtend ihr Gesicht.
»Was ist mit denen?«
»Nicht einmal nach Hause fahren kann man sie, weil sie natürlich einen eigenen Wagen haben!«
Jennys Mund war weich und warm und rot, und sie kam nicht mehr dazu, eine Antwort zu geben.
Als Jenny dann abfuhr, winkte Claus ihr noch nach, und sie hielt einen Arm aus dem Wagenfenster.
Er lächelte.
Alles war warm in ihm vor Zuneigung zu Jenny.
Auch er wußte nicht, daß er d i e s e Jenny nicht mehr wiedersehen würde.
*
Frau Amrast war wirklich noch eine äußerst attraktive Frau.
Sie hatte die gleichen sanften Bewegungen wie Jenny und die gleiche herzliche Art.
»Morgen, Mam! Na, gut geschlafen?«
Jenny war bereits fix und fertig angezogen, als sie zum Frühstück kam. Das war sie immer. Sie liebte diese halbe Stunde morgens mit ihrer Mutter, haßte es aber, die Harmonie der Stunde ungewaschen und im Morgenrock zu zerstören.
Frau Amrast sah ihre hübsche Tochter liebevoll an.
»Danke, ja. Und wie geht es dir?«
Jenny übernahm das Kaffee-Einschenken.
»Prächtig, wie immer!«
Sie saßen sich gegenüber. Die frühe Sonne warf ihre ersten Strahlen über den Tisch, auf dem der kleine Strauß aus Jahreszeitblumen niemals fehlte.
»Man sieht es dir an. Wie geht es Claus?«
Jenny schloß ein Auge und sah mit dem andern ihre Mutter vorwurfsvoll an. »Welche Frage, Mam! Einem Mann, der ein Mädchen wie mich hat, muß es doch gutgehen!«
Sie schickte ein Lachen hinterher, um danach in das Brötchen zu beißen.
»Oh! Deine Bescheidenheit!«
»Bescheidenheit«, dozierte Jenny heiter, »hat sich noch nie ausgezahlt!«
Sprüche, Sprüche, nichts als Sprüche. Frau Amrast wußte am besten, wie bescheiden ihre Jenny war. Auch hielt sie sich selbst gar nicht für besonders
hübsch. Und wenn, so tat sie es auf ihre eigene, unauffällige Art.
Jenny beobachtete ihre Mutter. Wie jung sie eigentlich noch war!
»Mam?«
»Ja, mein Schatz?«
»Bist du eigentlich verliebt?«
Frau Amrast blieben die Brötchenkrümel in der Kehle stecken. Sie mußte husten.
»Verliebt?«
»Ja. Spreche ich so undeutlich?«
Noch einmal mußte Frau Amrast husten.
»Wie kommst du denn darauf?« fragte sie danach, Fassung sammelnd.
»Ich bin schließlich nicht blind, nicht dumm, und außerdem kenne ich dich doch ganz genau.«
»Habe ich mich verändert?«
Jenny schüttelte den Kopf.
»Eigentlich nicht.«
»Was dann?«
»Also, ich will aufrichtig sein. Ich habe dich gesehen, und auch andere haben dich gesehen. Mit einem…«, Jenny drehte ihre Augen voll auf und legte Entrüstung hinein, »mit einem Mann!«
»Oh!« machte Frau Amrast nur.
Erst nach einem langen Schluck Kaffee sagte Jenny noch:
»Unsere Stadt heißt schließlich Düsseldorf!«
Das Frühstücksmesser klirrte, als Frau Amrast es auf den Teller legt.
»Bist du… enttäuscht?« fragte sie leise. Sie war ganz ernstgeworden.
»Nein!« erwiderte Jenny überrascht. »Nein, Mam, warum sollte ich denn?«
»Weil ich seit Vaters Tod niemals…«
»Fünfzehn Jahre«, murmelte Jenny gedankenverloren.
»Ja, fünfzehn Jahre. Du, ich weiß auch nicht, wie es kam.«
In Jenny sammelte sich so etwas wie ein ganz großes Verstehen.
»Aber Mam, das ist doch nur natürlich! Das finden jedenfalls Bernd und ich.«
Frau Amrast schluckte trocken.
»Bernd weiß es auch schon?«
»Ich habe es ihm gesagt, telefonisch. Ist ja schließlich keine unwichtige Angelegenheit.«
»Aber…«
»Was aber?«
»Aber es hätte doch auch ein… ein Flirt sein können und nicht mehr!«
Jenny lächelte wie eine weise Großmutter.
»Aber doch nicht bei dir, Mam!«
Frau Amrast blickte auf ihren Teller. Jenny hatte recht. Es war kein Flirt.
Es war noch einmal das, was Liebe war, wirkliche Liebe. Stiller als damals mit Jennys Vater, ruhiger, aber ebenso tief.
»Und?« fragte sie. »Was sagst du dazu, du und Bernd?«
Rasch stand Jenny auf und ging um den Tisch herum. Sie hockte sich vor ihre Mutter und blickte sie von unten herauf an. »Wir«, sagte sie ernst und nahm Mams Hände in ihre, »wir finden das Klasse, Mam!«
»Wirklich?«
»Ja! Mein Wort darauf! Und auch Bernds!«
Frau Amrast spürte, wie sich hinter ihren Augen Tränen sammelten.
Erleichterung? Wahrscheinlich. Aber auch eine ganze Menge Glück darüber, daß es ihr gelungen war, solche Kinder aufzuziehen. Kinder mit Verstehen und Verständnis für andere, keine kleinen Egoisten.
»Vielleicht«, stammelte sie, »vielleicht gefällt er euch gar nicht?«
Und Jenny sagte mit der Vernünftigkeit ihrer Generation: »Das muß ja auch nicht sein, Mam, nicht unbedingt. Er muß dir gefallen! Das allein ist wichtig, sonst nichts.«
»Aber es wäre schön, wenn er auch euch…«
»Natürlich wäre es das, und er wird uns sicherlich auch gefallen. Nur – es ist nicht so wichtig. Wir, Mam, wir sind eines Tages ja fort, ich meine, nicht ganz, aber hier…«, sie machte eine Handbewegung, die die Wohnung umschloß, »hier raus, weißt du. Aber er ist da, bei dir. Immer!«
Jenny sah, wie Mam tapfer versuchte, gegen einen Tränenstrom anzukämpfen. Ach, Gott, ach, Gott! Diese sentimentale Generation! Weinen, Tränen. Na gut, warum nicht?
»Wie heißt er überhaupt?« fragte sie, um Mam von dem Kampf mit den Tränen abzulenken.
Frau Amrast suchte nach einem Taschentuch, fand es, fuhr um ihre Nase und sah darüber ihre Tochter mit feuchten Augen an.
»Werner«, sagte sie undeutlich.
Jenny tippte mit dem Zeigefinger gegen Mams Kinn.
»Als Vor- oder als Nachname?«
»Vorname.«
»Und weiter?«
Jenny wunderte sich, daß Mam zögerte. Dann verstand sie es, denn Mam sagte: »Werner Freiherr von und zu Michelstein.«
Jenny sah aus wie auf einem Bild, auf dem sie, sieben Jahre alt, vom Fotoblitz überrascht worden war.
»Mich laust der Pavian!« stieß sie dann endlich, immer noch total perplex, hervor.
Der Tränenkampf war siegreich beendet. Frau Amrast hatte nicht geweint.
Jetzt lächelte sie sogar. Sie lächelte über Jennys so sichtbare Überraschung.
»Warum?« fragte sie.
Jetzt war es Jenny, die trocken schlucken mußte.
»Alter Adel?« fragte sie dann.
»Ja, kann man sagen.«
»Mit Schloß und so?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Wieso?« Jenny erhob sich, ihre Knöchel fingen an zu kribbeln. »So unnatürlich wäre das gar nicht, bei dem Namen.«
Verwirrt blickte sie jetzt auf Mam.
»Wie… wie müssen wir ihn denn anreden?«
Frau Amrast wurde ganz ernst.
»Ich wünsche mir sehr…«, sie verflocht ihre Finger ineinander, »ihr könntet wenigstens Onkel zu ihm sagen. Ich glaube, Vater wäre ein bißchen zuviel verlangt, nicht wahr?«
Erst jetzt hatte Jenny sich von ihrer Verblüffung erholt. Sie war wirklich nicht so leicht zu verwirren, aber das hatte sie echt umgehauen. Sie war aufrichtig genug, sich das einzugestehen.
»Warum nicht?« meinte sie jetzt. »Es kommt darauf an.«
»Worauf?« fragte Mam schnell.
»Darauf, wie wir uns gegenseitig gefallen, nicht wahr?«
Frau Amrast nickte vor sich hin.
»Er ist ein wunderbarer Mensch«, bemerkte sie leise.
»Das möchte ich ihm auch geraten haben! Einem andern würden wir dich nämlich nicht gönnen.«
»Danke.«
»Ist mein Ernst!«
»Ich weiß! Eben drum.«
Unvermittelt kniete Jenny sich vor Mam hin.
»Du…« Ihre warme Stimme hatte einen Hauch Heiserkeit. »Ich wünsche dir alles Glück! Das ganz große Glück wünsche ich dir! Wenn es einer verdient hat, so bist du es!«