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2. Das liebe Geld

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Carmen Reiter

DIE ALKOHOLIKERIN

All den Frauen, die sich in meinen Aufzeichnungen selbst erkennen

Inhaltsverzeichnis

1. Die Putzfrau 25. Gruß und Schlusswort

2. Das liebe Geld

3. Das Ändern

4. Das Tabuthema

5. Mein Leben in Bildern

6. Die Notizen

7. Der Auserwählte

8. Der Alkohol und der Alkoholismus

9. Unsere Hobbys

10. Das platte Land

11. Lebenslauf oder „Lebenslauf“?

12. Mein Berufsleben

13. Jene, die man sich nicht aussuchen kann

14. Ein Tag aus meinem Leben

15. Mein Weg in die Sucht

16. Die Therapie I

17. Die Therapie II

18. Das AA-Programm

19. Die Früchte meines Lebens

20. Klartext I

21. Klartext II

22. Die Stürme meines Lebens

23. Das Loch in der Seele

24. Das Sparbuch

1. Die Putzfrau

Die Putzfrau kommt am Mittwoch.

Gott, was bin ich froh, dass die Putzfrau kommt, wenn auch erst am Mittwoch. Noch froher bin ich über den Umstand, dass ich mich durchgesetzt habe, denn mein Mann duldet keine Putzfrau in unserem Haus. Aber es ist mir egal, sie kommt jetzt und Schluss, denn ich bin in letzter Zeit aufmüpfig geworden. Mein Mann mag wohl durch den Krempel waten, der im Hause herumliegt, es macht ihm offensichtlich nichts aus, mir aber schon, und ich habe nicht mehr die Kraft, weiterhin alles selbst zu machen. Ich habe ebenfalls nicht mehr die Kraft und vor allem nicht mehr die Lust, Mittel zum Zweck für wen auch immer zu sein. Denn so sah mein ganzes Eheleben aus: Ich wurde selbstverständlich wie die Atemluft in Anspruch genommen. Ich war die selbstverständlich vorhandene, gottgegebene Energie, die dafür da war, um sie in Anspruch zu nehmen, damit andere ihre Träume leben konnten. Freilich, ich trage für diesen Sachverhalt zumindest einen Teil der Verantwortung, denn ich habe es zugelassen, aber ich tat es im guten Glauben. Denn ich dachte, so gehört sich das, so ist das irdische Glück, oder zumindest die Zufriedenheit, zu erhaschen. Dem war aber nicht so, und ich fing an, dem Entspannungsmittel Alkohol zuzusprechen. Da ich in mir aber auch alle anderen Voraussetzungen vereine, die der Sucht die Bahn brechen, wurde ich zur Alkoholikerin. Aber ich möchte nicht mehr trinken, ich möchte nicht mehr in das seelische und körperliche Elend zurück, so schaue ich in mich und um mich, und mein Schmerz und meine Unzufriedenheit sprudeln nur so aus mir heraus, als ob ich eine leckgeschlagene Wasserleitung wäre oder ein mit Überdruck wasserspeiender Springbrunnen.

Ich will die Dinge benennen, die mir Schmerz bereiten, ich will aussprechen, was nicht in Ordnung war und immer noch nicht ist. Ich hoffe so wahrgenommen zu werden, als eigenständige Person wahrgenommen zu werden, zur Partnerin zu avancieren, mir den nötigen und lange vermissten Respekt zu verschaffen und das Recht, mein eigenes, autarkes Leben führen zu dürfen. Ich möchte nicht mehr das Leben eines Subjekts führen, das sein selbstauferlegtes Pensum ohne zu trinken nicht schafft, weswegen ich als Schwächling wahrgenommen und behandelt werde.

Ich bin keine gute Rednerin, keine gute Erzählerin, aber ich muss mich entäußern, wenn auch ungeordnet und chaotisch, für die Ordnung in dem, was ich zu sagen habe , sorge ich später.

Mein Mann ist ein herzensguter Mensch, aber er begreift meine spät erwachten Ansprüche nicht. Die Emanzipationsversuche einer grauen Maus; es war doch alles gut bis jetzt, alles funktionierte bestens in seinem Sinne. Na ja, es war schon peinlich, eine trinkende Ehefrau zu haben, welcher Umstand freilich in dem kleinen Ort, in dem wir wohnen, vor keinem lange zu verbergen war. Und diese Ehefrau, die Jahrzehnte lang nie aufmuckte und immer alles tat, damit er seinen Traum leben konnte, will jetzt plötzlich eine gleichberechtigte Partnerin sein, fordert Mitspracherecht, meldet den Anspruch auf die Erfüllung ihrer Wünsche an. Ich verstehe seine Irritation, aber sie ist kein Grund mehr für mich, den ungestümen Schrei meines eigenen Lebens nach Erblühen, nach Erfüllung und nach Sättigung zu überhören.

Das gleiche gilt für meine Tochter, meinen Schwiegersohn und meinen Enkel. Ich helfe gerne, wie jede Großmutter, aber ich habe Schwierigkeiten mit ihrer Lebensart. Auch ist der Schwiegersohn nicht nach meinem Geschmack, da er Eigenschaften an den Tag legt, die mir irrational erscheinen. Nun, ich weiß, die wenigsten Schwiegermütter kriegen Schwiegersöhne nach ihrem Geschmack und umgekehrt. Und doch lastet es auf meinem Gemüt.

Mit meiner eigenen Schwiegermutter komme ich inzwischen klar, wenn auch anfangs ihre beginnende Demenz mich überforderte. Heute, wenn sie nach ihrer längst verstorbenen Mutter sucht, gehe ich mit ihr einfach zum Friedhof an deren Grab. Es überrascht mich, wie ruhig sie bleibt, hatte sie doch ganz offensichtlich nicht zu einem Grab geführt werden wollen, sondern zu der noch lebenden Mutter. Ob wohl auch mein Mann mit der Zeit mit der Demenz seiner Mutter zurecht kommen wird? Denn meine Kraft reicht bestimmt nicht aus, um neben meinen sonstigen Pflichten auch noch ganz alleine die Pflege eines dementen Menschen zu schultern.

Durch welchen Anlass auch immer, kommen mir mein Vater und mein Schwiegervater in den Sinn, die, für mich auf unbegreifliche Weise, die russische Gefangenschaft überlebt haben. Dazu jedoch später mehr, denn ich habe ohnehin viel über die Verwandtschaft zu sagen, über die erfreuliche wie auch weniger erfreuliche, um nicht zu sagen über die leidvollen, ja, teilweise kaputten Verbindungen zwischen ihr und mir.

Es rennt ein Haufen Prominenter durch die Weltgeschichte, die über ihre besoffenen, prügelnden Väter berichten. Sie wurden missbraucht oder sogar erst als Erwachsene vergewaltigt, die sich zum Drogenmissbrauch bekennen. All diese Leute verstärken damit das Interesse an sich selbst und ihren Werken, und der Namenlose, dessen Leben womöglich viel tragischer ist, leidet im Schweigen und hat kein Forum. So entschloss ich mich, meine mich bewegenden Angelegenheiten zu Papier zu bringen, denn dieses ist bekannterweise geduldig. Ich muss mich äußern, denn sonst ersticke ich, und zwar durch den Alkohol, und das möchte ich nicht. Ich möchte raus aus dem viel zu engen Käfig, raus aus der Unmündigkeit, weg von meinem Status als willenloses Mädchen für Alles. Ich möchte leben und ich möchte spüren, dass ich mein Leben lebe.

Habe ich anfangs von einer Putzfrau gesprochen? Ja, das habe ich, und zwar obwohl ich im Hinterkopf weiß, dass dieser Beruf „Reinigungskraft“ heißt. Nun, die politische Korrektheit ist mir momentan so was von egal, mir steht der Sinn wirklich nicht danach, ihr gerecht zu werden. Außerdem sprechen die Menschen, die ihr Geld damit verdienen, anderer Leute Dreck zu beseitigen, von sich so, und die ganze Welt nennt sie so, bis auf die offiziellen Statements natürlich, also was soll das. Lächerliche Spitzfindigkeiten sind mir im Moment herzlich egal, denn ich ringe nach Luft. Unser Haus sieht wie eine Rumpelkammer aus, in jedem Zimmer steht etwas von allem, es läuft bald über. Manchmal ist mir danach, einfach einen Container zu bestellen, und tabula rasa zu machen. Aber wir alle trennen uns so schwer von unseren Sachen. So ist der Gedanke an den Müllcontainer nur ein gefühlsmäßiges Aufbäumen einer überforderten Hausfrau, und die Einstellung einer Hilfskraft ein rationales Vorgehen. Meine Teilzeitangestellte ist eine lebenserfahrene Frau aus einem Nachbardorf. Sie ist auch meine Vertraute in so mancher Angelegenheit und weiß um mein Alkoholproblem. Wir sind auch per „Du“ und sie hat mein Vertrauen noch nie missbraucht. Bei anderen meiner Bekannten, auch denen, die unter die Spalte „Freunde“ fallen, dürfte das nicht immer der Fall sein. Da habe ich nämlich manchmal den Verdacht, dass sie sich an meinen Problemen weiden.

Was mich jedoch bei der Angelegenheit „Putzfrau“ am meisten aufbaut, ist der Fakt, dass ich endlich und ohne länger auf die Einsicht meines Mannes zu warten, mir Hilfe in Sachen Ordnung und Sauberkeit in unserem Haushalt geholt habe.

Geld haben wir, ich und mein Mann, genug, Gott sei Dank. Auch unsere beiden Kinder können wir gut versorgen. Wir sind so gut situiert, das man uns, freilich nicht ohne Häme, „Milliardäre“ nennt. Das ist maßlos übertrieben, denn zu Milliardären fehlen uns weit über 99 Prozent von den 1000 Millionen, die dazu nötig sind.

Es ist wahr: Seit vielen Jahren schon geben wir monatlich für unseen Lebens – Haus – und Hofunterhalt monatlich eine Summe aus, von der eine schwer arbeitende Verkäuferin, in welcher Supermarktkette auch immer, nur träumen kann. Es kommt nicht daher, weil wir irgendwelche überdurchschnittlich gut dotierten Stellen bekleiden, Unmengen geerbt, übertrieben gespart hätten oder sonst etwas. Nein, wir hatten einfach kein Bedürfnis danach, ein Leben auf hohem Fuß zu führen. Dies führte nicht dazu, uns auf dem einem oder anderen Dorffest ein Getränk mehr nur deswegen nicht zu gönnen, weil man für das gleiche Geld im Supermarkt gleich einige Flaschen davon bekommen könnte. Ein ganzes Leben lang fuhren wir auch nur Mittelklassewagen, denn es gelüstete uns nicht danach, mit teuren Autos zu protzen. Allerdings eine verschrobene Pfennigfuchserin war ich nie. Ich mag auch schöne Kleidung und habe davon nach meinem Ermessen genug. Dass mein Leben mir aber einen Überfluss an Gelegenheiten geboten hätte, mich äußerlich hübsch zu machen, kann ich nicht behaupten. Ich habe diesbezüglich jedoch keinen Nachholbedarf. Ich werde auch weiterhin weder die Pferde im kniefreien Kleid füttern noch in Pumps meine Hausarbeit verrichten. Mich sauber und adrett zu kleiden – die Gelegenheiten dazu werde ich allerdings in Zukunft noch öfters nutzen.

Das mit unserem Wohlstand kam, weil wir von Haus aus so gestrickt waren, dass man Geld zusammen hält, denn die Not der Nachkriegszeit saß noch tief in den Knochen. So legten wir alles, was nicht verbraucht wurde, auf die Seite, und sobald genug da war, investierten wir es in Miethäuser.

Vielleicht würde der eine oder der andere im Dorf es zutreffend finden, wenn auf meinem künftigen Grabstein der unmögliche Spruch „Arbeit war ihr Leben“ stehen würde. Da wäre ich aber nicht ganz zufrieden, denn ich möchte schon mein restliches Leben noch mit anderen Inhalten füllen. Denn ich lebe noch und ich möchte nicht mehr nur noch dafür leben, dass das Geld immer mehr wird. Es wird sowieso, aus sich heraus, noch mehr, denn soweit haben wir es materiell durchaus gebracht. Jedoch ich habe dafür einen viel zu hohen Preis bezahlt, weil ich es nicht anders wusste. Oder soll ich sagen: Weil ich mir nicht zutraute, anders zu leben? Jetzt, Hier und Heute, traue ich mich und nur das zählt.

Mich hat inzwischen die banale Redensart „Das letzte Hemd hat keine Taschen“ erreicht, aber nicht oberflächlich, wie sie einem jeden Menschen bekannt ist, sondern sie ist bis in das Tabernakel meiner Seele gedrungen.

Heißt das, ich will jetzt mein Leben damit verbringen, unser Geld zu verbraten? Keineswegs. Ja, ich möchte schon in Urlaub fahren und klar, das kostet was. Allerdings es ist mir ebenfalls klar, dass ich mir für das ganze Hab und Gut, das wir unser eigen nennen dürfen, die ersehnte Zufriedenheit und Sättigung nicht kaufen kann. Doch eines möchte ich bestimmt nicht: Wie ein seelenloser Roboter in meinem restlichen Leben noch mehr Geld anhäufen. Ich möchte nicht so enden, wie die über achtzigjährigen Frauen, denen man zuweilen in den Banken und Sparkassen begegnet, die ihr Geld, das sie sich vielleicht vom Munde abgespart haben, noch auf viele Jahre anlegen, weil sie weder mit diesem noch mit ihrem Leben etwas anderes anzufangen wissen. Und wir, ich und mein Mann, sind in der glücklichen Lage, des Geldes wegen nicht mehr arbeiten zu müssen. Das heißt nicht, dass wir es nicht machen wollen oder sollen. Aber wir müssen es nicht, um unsere Töpfe voll zu kriegen, die Zimmer warm und erleuchtet zu halten, uns angemessen kleiden und unsere finanziellen Verpflichtungen vom Guthaben bezahlen zu können

Ich möchte, das die Geringschätzung aus meinem Leben verschwindet. Ich möchte über alles, was meine Angelegenheiten und meine Person anbetrifft, konsultiert werden. Ich möchte nicht ungefragt in Anspruch genommen werden. Ich möchte, das man hört, was ich sage und sich darüber nicht einfach hinwegsetzt als wäre ich ein Nichts.

In Sachen Geld ist das bei uns aber so. mein Mann kauft ein Grundstück und informiert mich erst im nach hinein darüber. Er steckt Geld in einen Hallenbau, den er mit etlichen Treckern und einer Unmenge an Zubehör, Werkzeug und Spezialwerkzeug füllt, ohne mich gefragt zu haben, ob ich meine 50% Anteil am Vermögen in ein solches Vorhaben anlegen will oder nicht.

In sein Hobby, dass weitgehend sein Leben ausfüllt, steckt mein Mann also einen Haufen Geld rein, und zwar nach eigener Lust und Laune. Für ein neues Ehebett nach 35 Jahren aber musste ich einen zweijährigen Kampf führen, um es endlich bestellen zu dürfen. Hallo? Wo sind wir denn? Darf ich denn über meine 50 Prozent nicht frei verfügen?

Ich will konsultiert werden! Ich bin keine Wohlstands- und Machtbeschafferin für andere! Ich will nicht behandelt werden wie der Mohr, der seine Schuldigkeit getan hat, wonach er sich in die Unmündigkeit zu verdrücken und weiter zu ackern hat, auf dass andere wohlhabend und wichtig tun können! Der Argument „Im Lichte der Rechtslage gehört sowieso alles zu 50% Dir!“ zieht nicht, denn ich will auch an Entscheidungen über meine 50 % beteiligt werden, mitreden dürfen, ich brauche keinen Vormund, der für mein Wohl sorgt. Ich habe über 40 Jahre lang für das Wohl dreier anderer Menschen gesorgt, damit sie sich ihren Dingen zuwenden können. Somit habe ich hinreichend bewiesen, dass ich auch für mich persönlich sorgen kann. Der Luft zum Atmen mag es egal sein, ob man ihr Vorhandensein stets wahrnimmt, mir ist es nicht egal, denn ich bin ein Mensch, der ohne wahrgenommen zu werden verdorrt wie die Pflanze, der man Wasser entzieht.

Es ist beileibe nicht so, dass ich meinem Mann sein Hobby nicht gönne, im Gegenteil, ich sehe doch, wie viel Freude er daran hat, und ich hätte sowieso eingewilligt, wenn er gefragt hätte; aber ich wäre mir als ernst genommene Partnerin vorgekommen, als gleichberechtigt. Was muss das für ein himmlisches Gefühl sein!

Die Einstellung der Putzfrau habe ich aber auf meine Kappe genommen. Habe mich endlich getraut, etwas, was ich für nötig halte, auch ohne Segen meines Mannes durchzusetzen.

3. Das Ändern

Ich will die Welt nicht ändern. Nicht mal Immanuel Kant oder Nikolaus Kopernikus wollten die Welt ändern. Sie haben nur in sich hineingehorcht und um sich geschaut und niedergeschrieben was sie fanden, und als der König dem Immanuel den Mund verbot, hat dieser ihn auch gehalten. Sobald sich aber die Lage änderte, hat er weiter geschrieben und seine Arbeit hat die Welt verändert. Auch viele andere, die die Welt zum Positiven veränderten, haben gar nicht daran gedacht, genau das zu erreichen, sondern einfach nur gemacht, was sie meinten, machen zu müssen. Meine Lage ist da schon anders. Ich möchte mich ändern, damit die Welt um mich herum sich ändert, denn nur wer sich selber ändert, kann auch andere, somit seine Umwelt, verändern. Am liebsten würde ich alles belassen wie es ist, aber dann verschwindet nicht der Druck von meiner Seele. So bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zu verändern. Ich möchte mich nicht ändern, um die Welt zu verbessern, sondern nur deshalb, dass endlich auch Helle und zufriedene Gelassenheit in mein Leben eintreten. Das bin ich mir wert.

Vor mir liegt eine dicke Mappe voll beschriebener Blätter. Das älteste ist schon mehrere Jahre alt. So lange schon schreibe ich meine Angelegenheiten nieder, um Dampf abzulassen, um nach Luft schnappen zu können, um nicht die Rettung im neuerlichen Suff suchen zu müssen. Die Notizen sind nichts weiter, als das Gestöhne einer gemarterten Seele. Man kann ihnen jedoch noch eine andere Gemeinsamkeit entnehmen, und zwar den Schrei danach, die Umwelt möge doch bitte meinen Durst nach Zuwendung und Anerkennung erkennen und stillen.

Ja, ich habe immer erwartet, dass die Rettung von Außen kommt, dass andere Menschen meinen Anspruch nach Anerkennung, Geborgenheit und allem anderen nicht nur erkennen, sondern auch stillen. Ich habe danach gelechzt bis zum körperlichen Schmerz. Ich hatte eine Vorstellung davon, was mir fehlt, was mir helfen kann, und habe danach einen Anspruch und ein Verlangen entwickelt, die mir den Verstand raubten. Darüber hinaus raubten mir mein Anspruch und mein Verlangen auch den Genuss an den aneinander folgenden Tagen mit ihren mal mehr und mal weniger guten Vorkommnissen, weil sie nicht so waren, wie ich sie gerne gelebt hätte. Auch empfand ich keinerlei Freude und Genugtuung an meinem Tun und Lassen. Trotz dieses katastrophalen Seelenzustands hörte ich aber nicht auf das zu tun, von dem ich meinte, das man es von mir erwarte und das ich für meine Pflicht hielt. Die meiste Energie steckte ich aber in meinen Anspruch und die Erwartung, dass meine Umwelt endlich anfinge, meinen seelischen Durst zu stillen und mein subjektiv heftig empfundenes Manko an Anerkennung auszugleichen. Solches tut die Umwelt aber von sich aus nicht. Sie muss dazu gebracht werden. Und das geht nur, wenn ich anfange, in ihr anders zu agieren, und auf sie anders zu reagieren.

Auf einem der vor mir liegenden Zettel sehe ich die Frage: „Wie ich es mir gut gehen lassen kann?“ Darunter die Antwort: „Pferde besuchen.“ Ein wenig dürftig, nicht wahr? Bei einem Ehemann, zwei Kindern, großer Verwandtschaft nebst Nachbarschaft, letztlich robuster Gesundheit, einem nie angezweifelten festen Glauben an Gott und einem ansehnlichen Besitz nur ein einziges Lichtlein am Horizont: Die Pferde...

Mir ist bekannt, das ausgerechnet Bier den Durst am besten stillen kann. Ebenfalls ist mir bekannt, dass Alkohol ein gutes, dabei einfach anzuwendendes Entspannungsmittel ist. Aber: Habe ich je wegen des Durstes Alkohol getrunken? Nein, und in Wirklichkeit auch nicht um zu entspannen. Ich trank, weil ich verdrängen, vergessen wollte, ich wollte mich betäuben, die Marter meiner Seele nicht spüren. Diese erschienen unter dem Einfluss vom Alkohol in der Tat erträglicher, verschwand aber nie ganz und wehe, wenn die Wirkung meines „Heilmittels“ nachließ: Es potenzierte mein Leiden.

Da fällt mir noch ein Zettel ins Auge, voller emotionalen Elends, voller in Worte gefasster Tränen. Am Schluss steht der Satz. „Ich kann nicht mehr, und hoffe doch noch immer...“ Die Seele schrie wie am Spieß und ich schrieb: „Hoffnung“. Wahrscheinlich ist es die nie verloren gegangene Hoffnung, warum ich jetzt die Kraft verspüre, weiter zu machen und mein leben zu verändern.

Es ist wahr, dass viele Zustände auf dieser Welt mich stören, ohne jedoch an meiner Seele zu nagen, wie es bei manchem meiner Zeit – und Leidensgenossen der Fall ist. Aber ich will nicht die Welt verändern, dafür bekleide ich weder einen entsprechenden Posten in der Gesellschaft noch verfüge ich über eine dazu notwendige Hausmacht, wie eine Partei oder Institution, zum Beispiel. Aber eine Art von Macht hat mir der Gott gegeben, ich muss sie nur zu nutzen lernen: Die Macht, mich, meine Verhaltensweisen und meine Denkweise zu ändern. So will ich es also tun, das nicht in der Absicht, dadurch nebenbei die Welt zu verändern. Allerdings ist mir klar, dass dann mein Glück, mein Lebensgefühl und meine Zufriedenheit weder vom Verhalten meiner Mitmenschen noch vom Zustand meiner Umwelt abhängig sein werden, und ich mir nicht nur mit dem Besuch des Pferdestalls werde Freude verschaffen können.

Wohlan, dann wollen wir.

Was benötige ich, um mich zu ändern? Vor allen Dingen Nüchternheit. Nüchternheit, das bedeutet nicht nur das Fehlen des Alkohols im Blut und gute Leberwerte, sondern und vor allem Kühle und Sachlichkeit in Gedanken. Es bedeutet Kontrolle – also Machtausübung – über den eigenen Gedankenfluss. Es bedeutet auch Nüchternheit im Gefühlsleben. Ich kann nicht weiterhin in meinem Gefühl so reagieren wie das Echo auf meinen Ruf, wie der Gläubige beim Erschallen der Glocke, wie der Hohlkörper auf Klopfen. Nüchternheit – das bedeutet öfters den Verstand bestimmen zu lassen, nicht zuzulassen, dass er von einem kranken und maßlosen Gefühl verdrängt wird. Ich muss versuchen, meine Gefühle im Zaum zu halten, ihnen nicht nachzugeben, sie nicht einen Knecht meiner Ansprüche werden zu lassen. Es mag anfangs wie eine Herkulesaufgabe erscheinen, jedoch vieles im Leben erweist sich als Papiertiger und als heiße Luft, wenn man über das starke Mittel Zuversicht verfügt. Diese verspüre ich. Ich brauche nur den Alkohol aufzugeben um alles, was ich vermisse, zu erlangen.

4. Das Tabuthema

Vertrauten Menschen gegenüber bin ich durchaus in der Lage, das eine oder das andere aus meinem Geschlechtsleben zumindest anzudeuten. Ich gehöre jedoch nicht zu jenen Frauen, die über Sex so ungezwungen sprechen können, als ob sie sich über den Unterschied zwischen einer roten und einer gelben Paprikaschote unterhielten. Ich sehe aber ein, dass ich mit dem, was für mich in diesem Lebensbereich persönlich Wesentlich ist, nicht hinterm Licht halten kann. So will ich folgendes kundtun: Ich bin eine Frau. Ich kann heute noch wild im Bett werden, wenn auch das Bedürfnis danach nicht mehr so intensiv ist, wie es noch als junge Frau war. Es muss auch nicht mehr so oft sein wie damals. Dies lässt mich aber nichts vermissen, denn ich kann es ja immer noch. Kann, wohl gemerkt. Die Lust danach ist aber fast dauerhaft gedämmt, weil ich durch meinen vom Alkoholkonsum beeinträchtigten Seelenzustand in allen Lebensbereichen letztlich nur wie eine Sparflamme glimme.

Es tut mir leid, dass ich manchmal meinen Mann diesbezüglich abgewiesen habe, mindestens ein Mal sehr heftig sogar, indem ich das gemeinsame Ehebett verließ und mit Zudecke die Couch im Wohnzimmer vorzog. Aber wie soll ich etwas tun, was ich nicht kann, was von mir entfernter ist als der Mond? Wahrlich, ich bin keine Gummipuppe aus dem Hause Uhse und bin auch nicht bereit, meine Würde soweit zu strapazieren, um eine solche abzugeben.

Mir ist bekannt, dass der Mann als solcher öfters will als die Frau. Er kann nichts dafür, so hat ihn der liebe Gott gemacht. Angesichts dessen war ich mein Leben lang bereit, mit meinem Mann öfters Sex zu haben als meine eigene Lust es verlangte. Dies tat ich nicht, weil der Priester im vorehelichen Unterricht uns Frauen dazu anhielt, unseren Ehemännern zu Willen zu sein, wann auch immer sie die Lust überkommt, auf dass wir im Hause vielleicht nur einen zuweilen kratzenden Kater, aber keinen um sich beißenden Tiger haben, sondern weil ich meinen Mann liebe, und ich denke, viele Frauen handeln ebenso. Aber manchmal geht es einfach nicht. Die Fleischeslust ist fern, so fern, und kein Wollen kann sie herbeizaubern.

Es gibt Männer, die dafür kein Verständnis haben, das weiß ich. Sie behandeln diesbezüglich ihre Frauen so, als ob sie sie auf einem Sklavenmarkt in South Carolina gekauft hätten. Sie verlangen einfach ihre Willfährigkeit, sobald sie ihre Lust überkommt. Und ja, es gibt Frauen, es hat sie schon seit Adam und Eva gegeben, und es gibt sie in gar nicht so geringer Anzahl auch Hier und Heute, die das ihr Leben lang mitmachen. So ein Schicksal ist mir Gott sei dank erspart geblieben, und bis zu diesem Grade hätte ich es mit mir sicherlich auch nicht treiben lassen. Des Weiteren gibt es Frauen, auch verheiratete, die mit einem Mann aus Mitleid unter die Decke schlüpfen um daselbst nicht etwa Rosenkranz zu beten. Ich kann es weitgehend verstehen: Die Frau trägt nun mal in sich das Mütterliche, das Fürsorgliche. Aber was sind das für Männer, die eine Frau mittels Mitleid zum Sex verführen? Brauchen sie denn, wie die Halter der Sklavinnen, keine Lust seitens der Frau zu verspüren, um Sättigung im Intimleben zu erlangen?

Nein, ich stehe auf keinen Fall feindlich dem anderen Geschlecht gegenüber und habe Mitgefühl für Männer, die nicht mehr können, aber immer noch wollen müssen. Ich gebe zu, dass meine sich in diesem Bereich offenbarende Überlegenheit als Frau mir einen gewissen Spaß bereitet. Aber Objekt auch noch dann zu sein, wenn es mir schlecht geht und übel ist, ist grausam und unwürdig. Meinem Mann dies begreiflich zu machen, würde für mich Glück bedeuten und ich wäre imstande, ihn noch mehr zu lieben. Und, was damit unabdingbar verbunden ist, mit ihm öfters Sex haben wollen. Mal wieder richtig wild zu werden im Bett, wie ich das kenne, und wogegen ich im Prinzip nichts habe. Aber dazu muss vor allem der Alp weg, der sich auf meinem Brustkorb ausgebreitet hat.

Das Obige sind meist Überlegungen darüber, was ich so im Leben über den Sex mitbekam, denn ich kann mich über diesen Bereich nicht beklagen, mein Mann vielleicht eher. Aber auch hier will ich nicht schweigen, denn ich wünsche mir, dass mein Mann mehr Empfindsamkeit entwickelt, was meine diesbezüglichen Gelüste anbetrifft. Ich wünsche, dass er sich eine Antenne zulegt, die ihm signalisiert, ob es uns möglich ist, sich nah zu kommen, zu entspannen, oder ob ich in einer so miesen Stimmung bin, dass ich durch diese bedingt, gereizt reagiere und ihm wehtue, denn niemand mag abgewiesen werden. Darüber hinaus neigt ein Abgewiesener die Schuld dafür bei sich selbst zu suchen, dabei hat er nur zur falschen Zeit etwas aufs Tapet gebracht, was der andere, auch wenn er wollte, ihm nicht erfüllen kann, weil keiner kann geben, was er im Moment nicht hat. Ich möchte meinen Mann am liebsten nie abweisen. Aber mir ist bewusst, dass ich vorläufig kaum in der Lage sein werde, immer seinem Wunsch nach Sex zu entsprechen. Dafür wiegt all das, was in meinem Gefühl, in meiner Seele nicht im Lot ist, viel zu schwer. Es muss erst gerichtet werden. Diesem Ziel bin ich auch mit dieser Teilschrift näher gekommen.

Auch das mit dem neuen Ehebett, um das ich einen zweijährigen Kampf führen musste, hatte ich mir anders vorgestellt. Ich bin doch nicht ein Bettaccessoire und schon gar nicht eine ausgediente Matratze! Ich bin eine Frau. Um mich muss geworben werden, und zwar liebevoll geworben werden.

5. Mein Leben in Bildern

Vor mir liegt ein Stoß Alben. Ich blättere darin. Es fängt ganz stereotypisch an: Meine Großeltern. Mein Vater in Wehrmachtsuniform. Hochzeitsbild meiner Eltern. Ich als Kind mit meinen Eltern und Geschwistern, meine Einschulung, die Tüte so groß wie ich, Erstkomunionfeier. Unverhofft folgen die Fotos vom Begräbnis meiner Mutter, danach welche, die zum Teil lange vor meiner Geburt gemacht wurden und meine Altvorderen darstellen.

Die nächsten zeigen mich und meinen Verlobten, der seit 40 Jahren mein Ehemann ist, beim Zusammenkehren der Scherben und Papierschnipsel an unserem Polterabend, uns beide bei der Unterschrift unseres Ehevertrages beim Standesamt, als nächstes unser Hochzeitsfoto, ich sitzend, mein Mann stehend. Der Blumenstrauß aus roten und gelben Rosen viel üppiger als auf dem Standesamt, weißes Kleid, Schleier, mit Spitze gesäumte lange Schleppe. Kirche, Pfarrer, Gelöbnis, weiße Kutsche, Hochzeitsfeier, Walzer mit meinem Mann.

Überall sehe ich eine junge Frau, voller Hoffnung, Erwartung und Zuversicht auf die Dinge des kommenden Lebens. Und die kamen auch, jedenfalls laut der Bilder: Hausbau, Kinder, erstes Auto, Urlaub, Ausflüge, Bootsfahrten, Karnevalsfeier, Dorffeste, mein Mann mit seinem ersten Trecker. Die Männer auf den Photos meist in Macho-Posen, nicht selten mit Zigarette und Biergläsern in der Hand, die jungen Frauen immer, die älteren nicht immer lächelnd. Friede, Freude, Eierkuchen nebst vielen anderen Speisen, denn der materielle Überfluss war schon längst da. Der innere Druck, die seelische Not sind den Photos nicht zu entnehmen und ich schätze, ich bin nicht die einzige Person auf diesen Photos, die psychisch unzufrieden war.

Und immer wieder unsere Kinder: Im Steckkissen, im Himmelbett, auf dem Töpfchen, im Sandkasten, auf dem Schlitten im Schnee, beim St. Martinszug, unterm Tannenbaum, kostümiert zu Karnevalszeit.

Alles in allem spiegeln die Photos ein erfolgreiches bürgerliches Leben, festgehalten auf Hochglanzpapier. Dass ich in ihm von Anfang an die Rolle der Magd, des willenlosen Mädchens für alles übernommen hatte, geht aus den Photos nicht hervor. Ich dachte, ja, hoffte, ich war der Meinung, dass man mit Fügsamkeit das Glück herbei zwingen kann. Heute muss ich feststellen, es war ein tragischer Irrtum. Man hatte mich. Man hatte mich wie man ein Haus hat, ein Auto, ein Hobby. Was beschwere ich mich? Ich Carmen, hatte doch auch alles: Einen Mann, zwei Kinder, Haus, Hof, Einkommen, Freunde, Auto, Nachbarn, und vor allem eine robuste Gesundheit, um meinen Pflichten, wie auch dem, was ich für meine Pflicht hielt, gerecht werden zu können. Für all das bin ich dankbar, bloß: Es stellte mich nicht zufrieden, weil sich keiner vorstellen konnte, das ich es nötig hatte, gleichberechtigt zu sein. Ich selber hatte verdrängt, mir die Gleichberechtigung zu holen. Meine Lage war vielleicht vergleichbar mit der althergebrachten Überzeugung der Leute, dass zwei junge Menschen, die mit ihrem zwar naturgemäßen aber unverantwortlichem Verhalten ein Kind zeugten, nur vor den Altar zu treten brauchen und die Liebe, sobald geheiratet war, sich schon von alleine einstellt. Bloß mir fehlte nicht so sehr die Liebe, wie die Gleichberechtigung in der Ehe.

Mein Mann drängte nach vorn und ich lief mit. Diese Feststellung bedeutet nicht, dass ich etwa keine Kinder, kein Haus, keinen materiellen Wohlstand haben wollte. Aber mein Leben in der Ehe ist vergleichbar mit dem Schicksal des Babys, das man wickelt, ohne es danach zu fragen, ob es gewickelt werden will. Es ist vergleichbar mit dem psychisch Kranken, den man in eine Gummizelle sperrt, auf dass er sich keine Beulen zuzieht. Mit dem willenlosen Alten, den man immer noch mit Medikamenten und Nahrung versorgt, ohne Rücksicht darauf, ob er weiterhin leben möchte oder inzwischen nur noch einen Wunsch hat: Sobald wie möglich zu sterben.

Ich blättere weiter in den Alben und sehe unser erstes Kind, eine Tochter, in einem Körbchen auf einer Wiese inmitten der Sumpfdotterblumen platziert. Die Tochter mit Kuscheltier am Kinderwagen unseres Sohnes einige Jahre später. Und fast überall ich, die lachende Carmen, das selbst entmündigte Werkzeug zur Erfüllung der Wünsche anderer, der damals überhaupt nicht bewusst war, was mit ihr geschah und wohin die Reise gehen wird. Carmen oder das Lächeln inmitten einer üppigen Mähne von langen, gelockten, roten Haaren. Unter dieser Oberfläche eine hungrige, schreiende Seele.

Heute ist mir bewusst, welch eine Not man hinter Lachen verbergen kann. Ungeachtet dieser Erkenntnis und meines dauerhaften seelischen Tiefs, lache ich immer noch viel. Neckisch sprach mich neulich ein Mann in der Stadt an: „Was strahlen Sie denn so?! Sie sind ja nicht die Sonne!“ Mir wurde schlagartig klar, dass ich genau das in meinem Leben hin und wieder sein wollte: Ein bisschen Sonne. Oder zumindest ein fahl schimmernder Stern.

Vielleicht war ich das auch für meinen Mann und meine Kinder. Allein, sie hatten es mich nie spüren lassen.

6. Die Notizen

Ich habe immer noch den Ordner mit meinen Notizen aus vielen Jahren vor mir liegen. Ein Terminkalender des Jahres 2009 ist darunter, Hefte, Schreibblöcke, einzelne Blätter. Die Notizen an sich sind verstörend. So sehr sie mir im Augenblick ihrer Niederschrift eine Erleichterung verschafften, so wertlos erscheinen sie mir in der Gegenwart. Ja, immer, wenn der Druck übermächtig war, und ich nicht trinken wollte, habe ich ihn mittels Kugelschreiber zu entschärfen versucht und es half, daran erinnere ich mich sehr gut. Heute jedoch sind mir diese Zeilen nur ein hilfloses Winseln.

Ein mehrseitiger Brief an meinen Mann ist darunter, voller Vorwürfe und paradiesischer Vorstellungen drüber, wie es denn wäre, wenn er sich doch bloß mir mehr zuwenden würde. Die Beschreibung eines Tanzvergnügens, an dem ich bitterlich weinte, weil mein Mann, anstatt mit mir zu tanzen, sich unter dem Vorwand, müde zu sein, früh zurückzog und mich dort alleine sitzen ließ. Im gleichen Schriftstück befindet sich auch der Bericht über mein Glück, als an einem anderen Fest unsere Lieblingsmusik gespielt wurde und mein Mann bis zum Schluss da bleib und mit mir tanzte. So einfach bin ich in den siebten Himmel zu heben, allein er merkt das zu selten. Von mir aber wird verlangt, dass ich immer merke, was sich gehört und was getan werden muss. Oder ist das nur meine Einbildung? Tatsache ist, die Ansprüche an mich empfinde ich als zahlreich und hart.

Viele Blätter enthalten nur Arbeitspläne für den gegebenen Tag, sind nur Aufstellungen darüber, was erledigt werden muss, wie Einkäufe, Hausarbeit, Amtsgänge, aktuelle Wünsche meiner Kinder an mich, oder aber auch Planungen über Dorffeste und sonstige soziale und gesellschaftliche Verpflichtungen, an denen ich und mein Mann in unserem Ort regen Anteil haben. Nicht wenige von ihnen verwundern mich dahingehend, weil ich mir gegenwärtig nicht vorstellen kann, mich in einem seelischen Zustand befunden zu haben, um sie in dieser flehenden Sprache zu verfassen; sie sind erschreckend, haarsträubend, voll von unsäglicher Frustration. Diese äußert sich auch in dem nie ausgehändigten Brief an meine Lieben, in dem ich mich dafür entschuldige, dass das Essen zu Mittag schon mal angebrannt war, weil ich wegen zu vielem Alkoholkonsum beim Kochen eingeschlafen war. Im gleichen Brief erwäge ich, die Familie zu verlassen, um mit einer so verzweifelten Tat ihr Erleichterung zu verschaffen, anstatt ein Problem für sie zu sein. Das Schreiben endet mit der Versicherung, dass ich für meinen Mann, dessen lebenslange Zielstrebigkeit ich zu loben nicht vergaß, und meine beiden Kinder nur das Beste will.

Nebst einer Danksagung zur Goldenen Hochzeit meiner Eltern ist auch ein ebenfalls nie abgeschickter Liebesbrief dabei, von dem ich nicht mehr weiß, wann ich ihn für meinen Mann geschrieben habe, der aber von meinen chaotischen inneren Gefühlsstürmen sehr gut Zeugnis ablegt.

In dem Ordner befinden sich ebenfalls Behandlungsverträge über stationäre und teilstationäre Leistungen einschlägiger Einrichtungen zur Suchtbehandlung und ärztliche Berichte über meine zahlreichen diesbezüglichen Krankenhausaufenthalte, die wegen meiner wiederholten Rückfälle stattfanden. Nach einem Rückfall bin ich nämlich immer zum Krankenhaus, um den Entzug unter ärztlicher Aufsicht durchzustehen. Auch der Bericht über meine erste Langzeittherapie ist dabei. Darüber hinaus viele Infoblätter von verschiedensten Angeboten von Einrichtungen zur Bekämpfung von Alkoholabhängigkeit. Ein Informationsblatt über Taijiquan, „eine alte Bewegungskunst“, wie es dort steht, von der ich durchaus annehme, dass sie hilfreich sein kann, wenn man sie über lange Zeit praktiziert. Ich hatte aber noch nicht den Nerv dazu. Diese Kunst ist jedoch nicht geeignet bei Psychotikern, wie daselbst in einer Anmerkung zu lesen ist. Bin ich eine Psychotikerin? In den Berichten von meinen Krankenhausaufenthalten ist davon nirgends die Rede. Die Seelenruhe, solche Übungen auch zu Hause durchzuführen, empfinde ich jedoch nicht. Was muss ich tun, um sie zu erlangen?

Es folgen die Rechnungen über Eigenanteile, Bescheide der Rentenversicherung über die Kostenübernahme, ergänzen diese Sammlung an Dokumenten. Zum Schluss finde ich noch Merkblätter des Sozialpsychiatrischen Dienstes über Vorträge an der Arbeit an sich selbst in Sachen Genuss , „Für sich sorgen“, Zeiteinteilung, Notfallplan bei Suchtdruck, Definition der Stille, Tipps für einen gesunden Schlaf und verschiedene Therapiekonzepte.

Nicht immer, wenn mich früher das Trinkverlangen packte, ich ihm auch widerstehen konnte. Heute ist das anders, wenn ich hin und wieder Suchtdruck verspüre. Es ist so: Ich brauche nur den Alkohol zu opfern um das meiste, wenn nicht alles von dem zu erhalten, wovon ich träume. Warum soll ich dann rückfällig werden?

Ich blättere nochmals in den Papieren und finde auch Zeitungsausschnitte über die Events in unserem kleinen Dorf wie Karneval, Kirmes, Jahrestage, ein Bericht über unsere inzwischen seit Jahrzehnten geschlossene Schule und die dort unterrichtenden Lehrer. Auch von den Sankt Martins Zügen und deren Vorbereitungen, die immer mit viel Arbeit verbunden waren. Ich erledigte das Mdeiste, damit andere dann Spaß an der Feier haben konnten. Noch mehr Auflistungen meiner Tagesabläufe, die nicht selten von ärgerlichen Störungen, die als Wünsche getarnte Ansprüche an mich unterbrochen wurden, die für mich Stress und Mehrarbeit bedeuteten. Wahrlich, für meine Familienangehörigen scheine ich das Mädchen für alles, die Zuflucht in der Not zu sein, allerdings ohne Recht auf Widerspruch. Egal, was ihnen widerfährt, es fällt auf mich zurück und ich soll es für sie richten. In meinen Notizen beschreibe ich auch die kleinen Nadelstiche, mit denen ich mich zur Wehr setze, aber diese Art, sich Ausgleich zu verschaffen, ist eigentlich lächerlich, kontraproduktiv und vor allem nicht ausreichend. „Nein!“ zu sagen wäre das einzig wirksame Mittel gegen das rücksichtslose Benutzen meiner Person durch alle Familienmitglieder.

Nun, nachdem ich meine Notizen durchgesehen habe, stelle ich fest: Mein Weg zur Alkoholabstinenz und Nüchternheit, den ich hinter mir habe, ist schon wahrlich lang. Aber weder die Rückfälle noch das Gefühlschaos in meiner Seele noch das Erzwingenwollen der Dinge haben bewirkt, dass ich weiter gekommen wäre. Ich sehe: Mein Verhalten gleicht dem einer Motte. So wie diese so lange um die Lichtquelle kreist, bis ihre Flügel verbrannt sind, so versuche ich immer wieder mit den gleichen Methoden die Zufriedenheit zu erhaschen. Weil meine Umwelt sich nicht so verhält, wie es mir lieb wäre, gerate ich immer wieder in die seit Jahrzehnten gleichen Gefühlszustände und Verhaltensweisen. Diese sind gleichermaßen schwer erträglich wie wirkungslos. Dann folgt der nächste Rückfall und der Teufelskreis beginnt von Neuem.

Ich glaube, ich muss eine andere Rezeptur anwenden. Ich muss meine Verhaltensweise ändern. Es ist nötig, dass ich meinen reflexartigen Empfindungen nicht nachgebe, und statt dessen meine Gedanken, meine Worte und mein Tun dem Verstand unterordne. Ich glaube, ich schaue mir das AA-Programm näher an. Es heißt, es ist ein spirituelles – also ein geistiges – Programm.

Die Alkoholikerin

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