Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden 7 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 3

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»Mei, heut ist so ein Tag, da würd ich am liebsten gar nicht mehr von hier fortgehen«, erklärte die pummelige Mittsechzigerin in dem blauen Trachtenkostüm, die vor dem Empfangstresen in der Praxis Norden stand.

»Und warum ist das so, Frau Meier?«, fragte Sophia von Arnsberg, die hübsche junge Frau mit dem hellblonden Haar, die hinter dem Tresen stand und die Patienten in der Reihenfolge ihres Eintreffens in eine Liste eintrug.

»Ich denke, es ist wegen unserer Klimaanlage«, klärte sie Lydia Seeger auf. Ihre Kollegin, eine sportliche junge Frau mit kinnlangem dunkelblondem Haar, stand neben ihr und übertrug die Ergebnisse der Laboruntersuchungen, die das Institut ihnen jeden Morgen per E-Mail zusandte, in die Patientenblätter.

»Ganz genau, schön kühl habt ihr’s hier«, stimmte Gusti Meier Lydia zu. »Da wird der eine oder andere sich doch gleich wohler fühlen, wenn er nur ein bissel Zeit bei euch im Wartezimmer verbringt.«

»Zum Abkühlen würde ich Ihnen einen Aufenthalt im Schwimmbad oder die Anschaffung einer Klimaanlage empfehlen. Wir sind nämlich kein Wellnesstempel, sondern eine Arztpraxis. Das wissen Sie doch, Frau Meier«, entgegnete Lydia und sah Gusti mit strenger Miene an.

»Es spricht nichts dagegen, sich in einer Arztpraxis wohlzufühlen. Meistens ist man doch recht angespannt, wenn man sich entschließt, einen Arzt aufzusuchen, weil man Angst vor einer schlimmen Diagnose hat.«

»Das trifft auf Sie aber nicht zu, Frau Meier. Sie haben sicher keine Angst, eine Arztpraxis aufzusuchen.«

»Seitdem ich hierherkomme, ist es nicht mehr so, weil es hier halt recht gemütlich ist.«

»Das nehme ich dann mal als Kompliment. Und warum sind Sie heute bei uns?«, fragte Lydia.

»Hitzewallungen, und jetzt setz ich mich in euer klimatisiertes Wartezimmer und genieße die angenehme Atmosphäre.«

»Glücklicherweise hat nicht jeder so große Sehnsucht nach uns, sonst müssten wir vierundzwanzig Stunden geöffnet haben«, sagte Sophia leise, nachdem Gusti in das Wartezimmer mit seinen gelben Sesseln und hochgewachsenen Grünpflanzen gegangen war.

»Sehnsucht nach der Praxis oder unserem Chef?«

»Das kommt darauf an, wer zu uns kommt. Aber jetzt gerade kommt jemand zu dir«, sagte Sophia und schaute zur Eingangstür.

»Welchen Eindruck macht er? Denkst du, er hat gute Nachrichten?«, fragte Lydia ihre Freundin und Kollegin, als sie den sportlichen jungen Mann in dem hellgrauen Anzug hereinkommen sah.

»Du sprichst von der Wohnung, die ihr gestern besichtigt habt?«

»Ja, schon, Thomas wollte herkommen, falls er etwas von dem Vermieter hört.«

»Denkst du, er hat sich heute Morgen schon gemeldet?«

»Das werden wir gleich wissen.«

»Hallo, mein Schatz, alles gut bei dir?«, fragte Thomas, als er näherkam.

»Ja, alles bestens. Gibt es Neuigkeiten?«

»Ich habe gerade mit dem Vermieter gesprochen.«

»Und?«, fragte Lydia und sah Thomas gespannt an.

»Wir können morgen vorbeikommen, den Mietvertrag unterschreiben.«

»Morgen schon? Das ist großartig«, sagte sie und versank für einen Moment in seinen dunklen Augen. »Wir haben eine Wohnung!«, jubelte sie gleich darauf, als hätte sie es erst jetzt richtig begriffen. Sie kam hinter dem Tresen hervor, umarmte Thomas und küsste ihn zärtlich auf den Mund. »Was denkst du, wie haben wir es geschafft, die anderen Bewerber auszustechen?«

»Der Vermieter meinte, dass er große Hochachtung vor Menschen hat, die sich freiwillig in Gefahr begeben, um andere zu retten.«

»Das bedeutet wohl, dass wir beide bei der Freiwilligen Feuerwehr sind, das hat den Ausschlag gegeben.«

»Ich würde es gut finden, wenn es so wäre«, mischte sich Sophia ein, die Lydia und Thomas für ihren Mut, in brennende Häuser zu gehen, um Menschen zu bergen, bewunderte.

»Ein wenig Anerkennung tut immer gut«, sagte Thomas und schenkte Sophia ein Lächeln. »Aber letztendlich ist es auch egal, warum er uns die Wohnung geben will, wir freuen uns einfach, dass es geklappt hat. Ich muss dann wieder zurück in den Laden. Wir sehen uns heute Abend«, verabschiedete sich Thomas.

»Bis heute Abend«, sagte Lydia.

»Wie der typische Optiker sieht er nicht aus«, stellte Sophia fest, als sie Thomas nachschaute, der im Optikerladen seines Vaters arbeitete.

»Wie sieht denn der typische Optiker aus?«, fragte Lydia.

»Klein, schmal und mit Brille.«

»Keine Ahnung, wie du darauf kommst«, entgegnete Lydia lachend. »Guten Morgen, Herr Doktor«, wandte sie sich Danny zu, der in diesem Moment in die Praxis kam.

»Guten Morgen«, antwortete Danny freundlich, der von einem frühen Hausbesuch bei einem seiner ältesten Patienten, der an hohem Fieber litt, zurückkam.

»Wie geht es Herrn Plotter?«, erkundigte sich Sophia nach dem Patienten, der vor kurzem seinen 95. Geburtstag gefeiert hatte.

»Ich musste ihn mit Verdacht auf Lungenentzündung ins Krankenhaus überweisen.«

»Das wird ihm nicht gefallen haben, aber in seinem Alter ist er dort wohl im Moment am besten aufgehoben.«

»Zumindest bis das Fieber gesunken ist und wir keine Komplikationen mehr befürchten müssen. Frau Meier ist schon wieder hier?«, stellte Danny fest, als er einen Blick ins Wartezimmer warf.

»Hitzewallungen«, raunte Lydia ihm zu.

»Das ist neu.«

»Aber bei diesen Temperaturen ist das ein weitverbreitetes Leiden«, entgegnete Lydia schmunzelnd.

»Sie hat die Praxis mit einem Wellnesstempel verglichen«, sagte Sophia und erzählte Danny von ihrem Gespräch mit Gusti.

»Wir wissen, wie sie ist, geben wir ihr drei Minuten«, entgegnete er lächelnd. Er hatte bereits vor einiger Zeit beschlossen, Gustis häufige Besuche bei ihm gelassen hinzunehmen. Meistens waren ihre angeblichen Beschwerden nur vorgeschoben, um ein paar Minuten mit ihm zu plaudern. Offensichtlich fühlte sie sich in seiner Praxis tatsächlich äußerst wohl, und da er glücklicherweise nur diese eine Patientin hatte, die nach dieser Art Aufmerksamkeit verlangte, störten Gustis Besuche den Praxisablauf nicht allzu sehr. Von vornherein wegschicken wollte er sie nicht, um nicht Gefahr zu laufen, echte Beschwerden zu übersehen. »Wie war die Wohnungsbesichtigung gestern?«, wollte Danny von Lydia wissen.

»Wir haben unsere Traumwohnung gefunden. Drei Zimmer im Dachgeschoss mit riesiger Terrasse, Ausblick bei klarem Wetter bis zu den Alpen hin eingeschlossen«, erzählte sie ihm.

»Sie hat mir heute schon von dieser Wohnung vorgeschwärmt. Sie muss wirklich super schön sein«, sagte Sophia.

»Du wirst dich bei der Einweihungsfeier davon überzeugen können. Zu der Sie natürlich auch eingeladen sind«, versicherte Lydia Danny.

»Zuerst müsst ihr den Mietvertrag unterschreiben«, erinnerte Sophia sie daran, dass das noch nicht passiert war.

»Du hast es doch gerade gehört, das wird morgen erledigt.«

»Zur Wohnung gratulieren werde ich aber erst, nachdem der Vertrag unterschrieben ist.«

»So werde ich es auch halten«, schloss sich Sophia Danny an.

»Es wird Zeit, unsere Besucher warten«, sagte Danny und ging den Gang entlang zu seinem Sprechzimmer.

Wie immer, seitdem sie schon am Vormittag die Klimaanlage einschalteten, mussten die Fenster geschlossen bleiben, um die Räume nicht unnötig aufzuheizen. Da aber Lydia und Sophia morgens erst einmal die Praxis lüfteten, roch es auch im Sprechzimmer noch angenehm nach frischer Luft.

Er stellte die Arzttasche, die er zu seinem Hausbesuch mitgenommen hatte, ab, wusch sich gründlich die Hände an dem Waschbecken neben der Untersuchungsliege und setzte sich hinter den Schreibtisch. Vorsichtig schob er die Lampe mit dem weißen Schirm, die mit einem biegsamen Stahlarm seitlich an dem weißen Schreibtisch befestigt war, ein Stück zur Seite, um mehr Bewegungsfreiheit zu haben.

Bevor er Herrn Schulte, seinen ersten Patienten an diesem Vormittag, aufrief, schaute er noch einen Augenblick lang auf die goldfarbenen Zeiger der alten Standuhr, die an der Wand gegenüberstand. Die Zeiger ein paar Sekunden lang auf dem Weg über das Ziffernblatt zu verfolgen, verlieh ihm die Ruhe, die er für die nächsten Stunden brauchte.

»Guten Morgen, Herr Schulte«, begrüßte er den schmächtigen alten Mann in der buntkarierten Strickjacke, der auf einen Stock gestützt in sein Sprechzimmer kam, nachdem er ihn über die Sprechanlage zu sich gebeten hatte. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte er ihn, als er sich auf einen der beiden Stühle vor seinen Schreibtisch setzte.

»Die Arthrose in meinem Knie macht mir wieder zu schaffen. Die letzten Wochen war es eigentlich gut auszuhalten, aber jetzt tut es schon recht weh, gerad in der Nacht im Liegen zieht es stark an der Innenseite«, erzählte ihm Ottmar Schulte, der bald seinen 87. Geburtstag feiern würde.

»Dann müssen wir jetzt unbedingt etwas tun, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen«, sagte Danny.

»Die Ursel Dornapfel geht doch zu dem jungen Physiotherapeuten. Wie heißt er noch gleich? Lorenz usw. …«

»Lorenz Bergwald«, half Danny ihm aus der Verlegenheit.

»Richtig, Lorenz Bergwald. Die Ursel ist ja nun auch schon über die siebzig hinaus und meinte, dass sie so gut wie keine Beschwerden mehr in ihren Knien hat und sogar wieder wandern gehen kann. Bevor ich mich einer Operation unterziehe, möchte ich es auch gern mal mit einer Physiotherapie versuchen.«

»Von einer Operation möchte ich Ihnen auch abraten. Die ist wirklich nur die letzte Option.«

»Dann könnte die Gymnastik bei mir auch noch etwas bewirken?«

»Auf jeden Fall«, machte Danny Ottmar Mut. »Wir machen aber zur Sicherheit auch noch ein Blutbild, um uns die Entzündungswerte anzusehen.«

»Das wäre mir eine Beruhigung.«

»Ansonsten haben wir Sie ja erst vor zwei Monaten gründlich untersucht. Oder haben Sie noch andere Beschwerden?«

»Nein, sonst ist alles so weit in Ordnung.«

»Das höre ich gern, bitte sehr, für Sie«, sagte Danny und reichte Ottmar das Rezept für die Krankengymnastik.

»Danke, Herr Doktor, ich werde mir gleich heute einen Termin geben lassen.«

»Sophia, Herr Schulte bekommt ein großes Blutbild«, informierte Danny Sophia über das Haustelefon, bevor er Herrn Schulte zur Tür des Sprechzimmers begleitete.

»Wann kann ich wegen des Ergebnisses der Blutuntersuchung anrufen?«, fragte Ottmar.

»Morgen Nachmittag«, antwortete Danny und verabschiedete sich von ihm. Seine nächste Patientin war Gusti Meier, die er gleich darauf aufrief.

»Guten Morgen, Herr Doktor, mir ist in den letzten Tagen recht oft unerträglich heiß, beinahe so, als hätte ich Fieber«, erklärte sie ihm, nachdem er sie begrüßt hatte und sie auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz genommen hatte.

»Haben Sie denn Fieber?«, fragte Danny.

»Nein, es fühlt sich nur so an.«

»Wann treten diese Beschwerden denn auf?«

»Meistens am Nachmittag, wenn ich auf der Terrasse beim Nachmittagskaffee sitze. Könnt es vielleicht am Kaffee liegen? Müsst ich mal wieder ein EKG machen lassen?«

»Das können wir tun, sicher. Aber ich denke, Sie müssen sich keine Sorgen machen. Es liegt vermutlich an den hohen Temperaturen, die wir augenblicklich alle aushalten müssen«, beruhigte Danny sie.

»Ich habe gelesen, dass auch Frauen in meinem Alter noch an hormonbedingten Hitzewallungen leiden können. Die Hormone werden ja nur nach und nach weniger, und das ist ein langer Prozess.«

»Stimmt, damit haben Sie recht, aber wirklich große Auswirkungen dürfte dieser Wandel in Ihrem Alter nicht mehr haben. Aber wenn Sie möchten, können wir auch gern einen Hormonstatus machen, letztendlich ist jeder Mensch ein Individuum.«

»Danke, Herr Doktor, Sie nehmen Ihre Patienten ernst«, sagte sie und sah Danny mit einem dankbaren Lächeln an. »Ich lass mir dann einen Termin für ein EKG geben.«

»Wir können das auch gleich erledigen und Ihnen auch Blut abnehmen, um den Stand der Hormone zu bestimmen.«

»Ich komm lieber noch mal vorbei.«

»Ganz wie Sie wollen«, sagte Danny, der mit dieser Antwort gerechnet hatte, weil ein weiterer Termin ihr die Möglichkeit eröffnete, erneut in die Praxis zu kommen, um ein Schwätzchen mit den Nachbarn zu halten, die sie im Wartezimmer traf.

»Geh, was ist das?« Erschrocken starrte Gusti aus dem Fenster des Sprechzimmers, als sie aufstand, um sich von Danny zu verabschieden.

»Das sieht nach einem Großbrand aus«, sagte Danny, als er ihrem Blick folgte und die riesige Rauchwolke sah, die zum Himmel aufstieg.

»Es scheint ganz in der Nähe zu sein«, mutmaßte Gusti.

»Auf den ersten Blick sieht es so aus«, stimmte Danny ihr zu, obwohl ihm bewusst war, dass die Rauchsäule auch die Folge eines weiter entfernten Brandes sein konnte.

»Daniel, ich muss zu einem Einsatz«, verkündete Lydia, die nach einem kurzen Anklopfen ins Sprechzimmer stürmte.

»Wo ist der Brand?«, fragte Danny, weil er davon ausging, dass Lydia als Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr zu diesem Brand gerufen wurde.

»Das Feuer ist im Möbelhaus im Einkaufszentrum ausgebrochen.«

»Wann öffnet es? Um neun oder um zehn?«, fragte Danny und schaute auf die alte Standuhr, die halb zehn anzeigte.

»Um neun«, beantwortete Gusti seine Frage und wurde auf einmal ganz blass. »Das könnt bös ausgehen«, murmelte sie und starrte wieder auf die Rauchsäule.

»Ich weiß nicht, ob ich heute noch mal kommen werde«, sagte Lydia, die noch in der Tür stand.

»Der Brand geht vor, passen Sie auf sich auf, Lydia!«, rief Danny ihr nach, als sie gleich darauf davoneilte.

»Tapferes Madl«, sagte Gusti.

»Ja, allerdings, das ist sie. Sophia wird Ihnen dann einen Termin für das EKG geben.« Ohne Lydia musste Sophia sich auf die unbedingt notwendige Arbeit beschränken. Das EKG, das eigentlich nicht sein musste, hätte er nun ohnehin auf einen anderen Termin verschieben müssen.

Nachdem er Gusti verabschiedet hatte und seinen nächsten Patienten zu sich bat, sah er einen Moment lang auf die Rauchsäule. Sie hatte sich inzwischen in ihren Ausmaßen verdoppelt.

*

Die Feuerwache war mit dem Auto nur fünf Minuten von der Praxis Norden entfernt. Das Tor, hinter dem die Einsatzfahrzeuge standen, war bereits geöffnet, als Lydia gleichzeitig mit Britta Bergmeister eintraf. Britta und sie waren die einzigen Frauen auf dieser Wache, fühlten sich aber beide von ihren männlichen Kollegen als gleichwertig behandelt.

»Weißt du schon etwas Näheres?«, wollte Britta von Lydia wissen, als sie zum Umkleideraum liefen, um ihre Brandschutzkleidung anzuziehen.

»Nein, nur dass der Brand im Möbelhaus ausgebrochen ist.«

»Wollen wir hoffen, dass um diese Zeit noch nicht so viele Leute dort unterwegs waren«, sagte Britta, eine große sportliche Frau mit rotbraunem Haar, das sie eilig zu einem Pferdeschwanz band, den sie unter den Schutzhelm stopfen konnte.

»Da sie schon geöffnet hatten, sollten wir auf Opfer vorbereitet sein«, entgegnete Lydia ruhig und gefasst. Wie ihre Kollegen auch, musste sie ihre Gefühle im Griff haben, sonst war sie nicht in der Lage, ihre Aufgabe zu erfüllen.

Nachdem Britta und sie die rote Brandschutzkleidung und die wasserfesten schwer entflammbaren Stiefel angezogen hatten, liefen sie mit ihren Helmen in der Hand zu ihrem Einsatzfahrzeug. Ihre Kollegen, die alle ihre Arbeitsstellen für den Einsatz verlassen hatten, waren inzwischen eingetroffen und hatten sich umgezogen.

Thomas, der Leiter der Rüstgruppe, die für das schwere Gerät verantwortlich war, das für Rettungseinsätze auch bei Verkehrsunfällen benötigt wurde, winkte Lydia noch einmal zu, bevor er auf den Beifahrersitz seines Einsatzwagens stieg.

»Ihr wolltet doch zusammenziehen. Gibt es da Neuigkeiten?«, fragte Britta, als sie und Lydia gleich darauf zusammen mit ihren Kollegen in dem Wagen mit der Drehleiter saßen.

»Wir werden morgen den Mietvertrag unterschreiben«, verriet sie Britta, während sie, wie alle anderen auch, ihren Schutzhelm aufsetzte.

»Dann lässt die Hochzeit wohl nicht mehr lange auf sich warten«, stellte der junge Mann fest, der Lydia gegenübersaß.

»Ein Schritt nach dem anderen, Kai«, sagte Lydia und lächelte, als auch die anderen Männer sie gespannt ansahen.

Kurz darauf schalteten die Fahrer der beiden Einsatzwagen das Blaulicht und die Sirenen ein, und die Drehleiter verließ gefolgt von dem Wagen der Rüstgruppe die Feuerwache.

Im Einkaufszentrum herrschte blankes Chaos. Mehrere Einsatzwagen der Polizei waren bereits am Brandort eingetroffen, die Polizisten versuchten, die Schaulustigen auf Abstand zu halten und den Weg für die Feuerwehr freizuhalten. ­Dicker Rauch hing über dem Gelände, aus den Fenstern des Möbelhauses züngelten Flammen, und auch auf dem Dach waren bereits die ersten Stichflammen zu sehen.

»Das sieht nicht gut aus«, stellte Lydia fest, als sie sich umschaute.

Die Eingänge zum Bekleidungshaus gegenüber dem Möbelhaus, zum Supermarkt, zur Drogerie und zur Apotheke waren durch den Rauch kaum auszumachen. Die Polizei sperrte den Teil des Parkplatzes, der an das Möbelhaus grenzte, mit gelben Warnbändern ab, damit die Feuerwehr in Ruhe arbeiten konnte.

Wie viele Menschen sich noch in dem brennenden Gebäude befanden, das wusste niemand. Die Polizisten befragten diejenigen, die dem Brand entkommen konnten und von einer Explosion im Haus berichteten, ob sie etwas über verletzte oder eingeschlossene Personen wussten. Die vielen Autos, die bereits auf dem Parkplatz auf Höhe des Möbelhauses standen, ließen vermuten, dass es an diesem Morgen gut besucht war.

Verletzte, die es aus dem brennenden Gebäude geschafft hatten, saßen oder lagen auf dem Boden des Parkplatzes. Die ersten Krankenwagen trafen ein, als die Feuerwehrleute die Drehleiter ausfuhren, um das Feuer auf dem Dach zu löschen. Die Feuerwehren anderer Stadtteile, die von der Einsatzleitung zur Unterstützung angefordert waren, bogen kurz nach den Krankenwagen auf den Parkplatz ein und ließen sich von der Einsatzleitung vor Ort instruieren. Die Schläuche für das Löschwasser wurden ausgerollt, und alle richteten sich nach den Vorgaben des Leiters der örtlichen Feuerwache.

Zeugen berichteten von eingestürzten Wänden und von Menschen, die möglicherweise noch im Fahrstuhl eingeschlossen waren. Thomas und seine Männer sollten diesen Angaben nachgehen. Lydia und Britta wurden den Löscharbeiten zugeteilt. Wegen der starken Rauchentwicklung innerhalb des Gebäudes verständigten sich die Feuerwehrleute über die in ihre Helme integrierten Funkgeräte. Mit lauter Stimme forderten sie mögliche Verletzte auf, sich zu melden, und waren dann wieder still, um Hilferufe nicht zu überhören.

Zum Entsetzen der Feuerwehrleute war offensichtlich ein Gastank im Kellergeschoss explodiert, hatte ein Loch in den Boden zum Erdgeschoss gesprengt und Menschen in die Tiefe gerissen. Während Lydia sich mit dem Löschtrupp durch das Gebäude weiter vorwärts bewegte, um die Brände in den einzelnen Stockwerken zu löschen, stieg Thomas mit zwei Kollegen von der Rüstgruppe an Seilen gesichert in den Keller hinunter.

Auf dem Weg in den ersten Stock trafen Lydia und die Männer des Löschzuges auf die Rüstgruppe einer anderen Feuerwache, die die Tür des Liftes aufbrach, aus dem verzweifelte Hilferufe drangen. Er steckte zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock fest.

Überall stießen sie auf eingestürzte Zwischenwände und sahen Verletzte, die sich nicht selbst befreien konnten. Lydia und ihr Team kümmerten sich nicht nur um die Löscharbeiten, sie halfen auch, die Verletzten zu bergen. Als Lydia hörte, dass die Sanitäter und Notärzte dringend Unterstützung für die Erstversorgung der Verletzten brauchten, rief sie Danny an, schilderte ihm die Zustände am Brandort und fragte ihn, ob es möglich wäre, dass er und Sophia ihnen helfen konnten.

»Wir haben noch einen Patienten, dann machen wir uns auf den Weg«, versprach ihr Danny.

Als Lydia wenig später zusammen mit Britta einer verletzten Frau aus dem Gebäude heraushalf, waren Daniel und Sophia bereits eingetroffen. Sie sah, wie sie mit einem Sanitäter und einem Notarzt sprachen und sich dann sofort gemeinsam um zwei Männer mit blutenden Kopfwunden kümmerten. Sie ging zu den beiden, nahm kurz ihren Helm ab und bedankte sich bei ihnen, dass sie gekommen waren.

»Die Nachbarschaft ist in heller Aufregung. Der Rauch zieht inzwischen über die Praxis und die umliegenden Häuser hinweg«, erzählte ihr Sophia. »Wie schlimm ist es da drin?«, wollte sie wissen und schaute auf das Möbelhaus, während sie neben einem älteren Mann hockte, der auf dem Boden saß, und dessen Wunde am Hinterkopf sie versorgte.

»Die Lage ist unübersichtlich«, sagte Lydia, setzte ihren Helm wieder auf und lief zurück zum Eingang des zerstörten Gebäudes.

Die Verletzten, die vielen Feuerwehr- und Krankenwagen auf dem Parkplatz ließen keinen Zweifel daran, dass diese Gasexplosion für einige Betroffene schlimme Folgen hatte. Lydia hatte das Gebäude gerade wieder betreten, als es eine weitere Explosion gab.

Wie sie gleich darauf über Funk hörte, hatten ihre Kollegen weitere Opfer gefunden, die hinter einer eingestürzten Mauer auf Rettung warteten. Die Männer der Rüstgruppe, die gerade erst die Leute aus dem Kellergeschoss befreit hatten, machten sich mit ihren Werkzeugen auf den Weg nach oben.

»Schon wieder eine Explosion«, stellte Britta fest, als sie und Lydia etwa die Hälfte der Treppe in den zweiten Stock hinaufgegangen waren.

Gleich darauf sahen sie, wie eine Wand im Ausstellungsraum des zweiten Stockwerkes einstürzte und erneut ein Feuer ausbrach. Sie rannten die Treppe hoch, um ihren Kollegen, die bereits dort oben waren, zur Hilfe zu kommen. Als Lydia sich noch einmal umdrehte, sah sie, wie im Erdgeschoss eine weitere Wand einstürzte. Da das Erdgeschoss inzwischen als geräumt galt, halfen sie dabei, die neuen Brände in den oberen Stockwerken zu löschen. Das Feuer hatte sich schon überall ausgebreitet, das Holz und die Stoffe der Möbel gaben ihm ständig neue Nahrung. Um das Gebäude vor dem Einsturz zu bewahren, musste das Feuer eingedämmt werden, bevor es zu weiteren Gasexplosionen kam.

Als das Feuer im zweiten Stock unter Kontrolle war, schaute Lydia über eine Brüstung ins Erdgeschoss hinunter. Erschrocken hielt sie inne, als sie in den Trümmern der zuletzt eingestürzten Wand einen Feuerwehrhelm wahrnahm. Bevor sie ihre Kollegen zu einer Bergung aufforderte, musste sie sich davon überzeugen, ob es nur ein Helm war, den jemand aus irgendeinem Grund hatte loswerden wollen, oder ob es einen der ihren erwischt hatte.

»Ich bin gleich zurück«, teilte sie ihren Kollegen über Funk mit und lief die Treppe hinunter. Tu nichts Unüberlegtes, erinnerte sie sich daran, dass sie zuerst auf die Eigensicherung achten musste.

Wer als Retter selbst in Gefahr geriet, konnte niemandem mehr helfen. Bevor sie sich den Trümmern näherte, sah sie sich erst einmal um, ob weitere Wände einzustürzen drohten. Aber die Umgebung schien stabil.

»Was machst du hier?«, wunderte sie sich, als Britta plötzlich neben ihr auftauchte.

»Mir war klar, dass du etwas gesehen haben musstest, sonst hättest du dich nicht von der Truppe entfernt. Als ich dir nachsah, habe ich den Helm entdeckt.«

»Okay, sehen wir nach«, sagte Lydia und ging weiter. Kurz darauf war ihr klar, dass es nicht nur ein Helm war, der dort in den Trümmern lag. »Thomas!«, rief sie entsetzt, als sie den Mann erkannte, der dort bis zum Hals begraben war. Sie zog ihren rechten Handschuh aus, hockte sich neben ihn, schob das Visier seines Helmes nach oben und versuchte, seinen Puls an der Halsschlagader zu fühlen. »Thomas, sag etwas«, flehte sie ihn an, als er nicht reagierte.

»Spürst du seinen Puls?«, fragte Britta.

»Nur schwach. Wir müssen ihn hier rausholen.«

»Das werden wir allein nicht schaffen«, stellte Britta fest, als sie auf die großen Trümmerteile schaute, die sich über Thomas auftürmten. »Leute, wir brauchen Hilfe. Thomas ist verschüttet. Erdgeschoss Treppe auf elf Uhr«, gab sie ihren Standort an ihre Kollegen über Funk weiter.

Alle, die es gehört hatten, antworteten ihr, dass sie sich sofort auf den Weg machten, sobald die laufenden Rettungseinsätze abgeschlossen waren.

»Hilf mir!«, herrschte Lydia Britta an, als sie damit begann, die Steine, die sie bewegen konnte, wegzuräumen.

»Sei vorsichtig«, bat Britta sie, als sie einen der schwereren Steine hochzuheben versuchte. »Denk daran, nichts Unüberlegtes tun«, erinnerte sie Lydia an die Eigensicherung.

»Es ist Thomas, ich kann nicht auf die anderen warten«, entgegnete Lydia mit verzweifelter Miene.

»Ja, ich weiß«, sagte Britta und half ihr, den schweren Stein auf die Seite zu räumen. »So schnell wird keiner zu uns kommen«, stellte sie fest, als im ersten Stock wieder eine Explosion zu hören war und Stichflammen in die Höhe schossen.

»Machen wir weiter«, forderte Lydia sie auf.

»Was ist los?«, flüsterte Thomas, als es Britta und Lydia gemeinsam gelang, ihn von einem größeren Trümmerteil zu befreien, das auf seinem Oberkörper gelegen hatte.

»Ganz ruhig, wir holen dich hier raus«, versicherte ihm Lydia, als sie und Britta das nächste Trümmerteil anhoben. »Thomas, bleib bei uns!«, rief sie, als er plötzlich nach Luft rang. Während sie ihre Hand auf seine Wange legte, zog sie ihr Telefon aus der Jackentasche und rief Dannys Handynummer auf. »Daniel, Thomas ist verletzt, ich brauche Hilfe«, sagte sie, als er sich meldete.

»Ich bin gleich da«, versicherte er ihr, nachdem sie ihm gesagt hatte, wo sie sich befanden.

»Atme, Thomas, atme!«, rief Lydia, als er plötzlich die Augen verdrehte. Sie beugte sich über ihn und begann sofort, ihn durch die Nase zu beatmen, als ihr klar wurde, dass seine Atmung aussetzte. »Thomas, bitte!«, rief sie, als er nicht reagierte. Sie hatte schon viele Rettungseinsätze mitgemacht, sie wusste, dass es nicht gut um Thomas stand, nicht mit diesen schweren Trümmern, die noch immer auf ihm lagen.

»Lydia, ich löse Sie ab«, sagte Danny, der zusammen mit Sophia gleich darauf zu ihnen kam.

»Bitte, machen Sie, dass er wieder zu sich kommt«, flehte sie Danny an, als er neben Thomas in die Hocke ging.

»Komm, Lydia, lass sie das übernehmen«, sagte Britta und zog Lydia von Thomas fort, als auch Sophia dazu kam, um sich gemeinsam mit Danny um Thomas zu kümmern. »Er wird wieder«, versicherte Britta Lydia.

»Ja, sicher, das sagen wir den Angehörigen auch immer«, murmelte Lydia und schaute auf die Verletzten, die von den Feuerwehrleuten geborgen und nach draußen in Sicherheit gebracht wurden.

»Ruhig weiteratmen, Thomas«, hörte Lydia Danny gleich darauf sagen, und sie spürte, wie sich ihr Herzschlag sofort verlangsamte, als ihr klar wurde, dass Danny ihn wiederbelebt hatte. Sie hatte ihn noch nicht verloren.

Gleich darauf kamen die Männer der Rüstgruppe. Daniel und Sophia machten ihnen Platz, damit sie Thomas aus den Trümmern befreien konnten. Das sieht gar nicht gut aus, dachte Lydia, als sie die etwa dreißig Zentimeter lange Eisenstange sah, die in Thomas’ Bauch steckte. Außerdem hatte er eine blutende Wunde an seinem rechten Oberschenkel.

»Ich versorge die Wunde«, sagte Danny und war sofort wieder bei Thomas.

Sophia assistierte ihm, reichte ihm das Desinfektionsmittel und das Verbandsmaterial, das sie aus seiner Arzttasche herausnahm.

»Die Stange muss im Krankenhaus entfernt werden«, stellte Danny fest, nachdem er sich den Eintrittswinkel des Metallteils angesehen hatte.

»Weil dieser Fremdkörper möglicherweise ein Organ verletzt hat oder es zu einer lebensbedrohlichen Blutung kommen könnte, falls es ohne vorherige Röntgenaufnahme entfernt wird, das ist mir klar«, sagte Lydia, um Danny wissen zu lassen, dass ihr bewusst war, dass er Thomas nicht weiter vor Ort versorgen konnte.

»Wird er durchkommen, Daniel?«, wollte Lydia wissen, nachdem ihre Kollegen Thomas befreit hatten und ihn den Sanitätern übergaben, die Sophia inzwischen gerufen hatte und die mit einer Trage hereinkamen.

»Davon gehen wir einfach aus«, sagte Danny. Über etwas anderes wollte er auch nicht nachdenken. Er kannte Thomas inzwischen ziemlich gut. Seit ihrem gemeinsamen Training für einen Wettbewerb im Bogenschießen waren sie befreundet, und er weigerte sich, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass Thomas dieses Unglück nicht überleben würde.

»Ich fahre mit ins Krankenhaus«, erklärte Lydia.

»Ja, natürlich machst du das«, entgegnete Britta und streichelte ihr kurz über die Schulter.

»Melde dich!«, rief Sophia ihr nach, als sie den Sanitätern folgte, die Thomas zum Krankenwagen brachten, aber Lydia antwortete nicht, ihre Aufmerksamkeit galt allein Thomas. »Gehen Sie bitte aus dem Weg«, herrschte sie den Mann an, der draußen auf dem Parkplatz ihren Weg kreuzte, so als hätte er auf sie gewartet.

»Wie geht es ihm?«, fragte er Lydia, fuhr sich mit der Hand durch sein Haar und sah der Trage nach, auf der Thomas lag.

»Nicht gut«, antwortete sie und streifte den Mann in dem mit Ruß und Betonstaub befleckten dunklen Anzug mit einem kurzen Blick. Sie schätzte ihn auf Anfang fünfzig, und so wie er über den Rand der Designerbrille, große Gläser, schwarzer Rahmen, hinweg schaute, schien er unter Schock zu stehen. »Lassen Sie sich von einem Sanitäter oder Arzt untersuchen«, forderte sie ihn auf. Sie war sicher, wem auch immer er sich anvertraute, derjenige würde gleich feststellen, dass es dem Mann zumindest psychisch nicht gutging.

Thomas’ Kollegen bekamen keine Verschnaufpause. Kaum hatten sie Thomas aus den Trümmern befreit, wurden sie bereits wieder in einen anderen Teil des Gebäudes gerufen, um weitere Opfer zu befreien. Auch Britta musste wieder zu ihren Kollegen, die weitere Brandherde im ersten Stock entdeckt hatten.

»Er konnte seine Beine nicht bewegen«, sagte Sophia, als sie mit Danny das Gebäude verließ, um draußen auf dem Parkplatz bei der Versorgung der Verletzten mitzuhelfen. Sie hatte Thomas’ Bergung beobachtet, und ihr war nicht entgangen, dass seine Beine auf keinerlei Berührung reagiert hatten.

»Das muss noch gar nichts heißen«, entgegnete Daniel, obwohl natürlich auch ihm klar war, dass das Gewicht, das auf Thomas gelastet hatte, möglicherweise erhebliche innere Verletzungen verursacht haben könnte. »Wir sollten uns um die beiden dort kümmern«, sagte er und deutete auf die jungen Frauen, die nebeneinander an der Motorhaube eines roten Kleinwagens lehnten und an den Armen und Beinen bluteten.

»Wir werden wohl hier noch eine Weile gebraucht«, stellte Sophia fest, als sie sich auf dem Parkplatz umschaute. Nach den vielen Verletzten zu urteilen, die dort gerade versorgt wurden, waren an diesem Morgen ganz offensichtlich schon viele Kunden im Möbelhaus unterwegs.

*

Lydia saß hinten im Krankenwagen und hielt Thomas’ Hand. Die Sanitäter hatten ihm eine Sauerstoffmaske aufgesetzt und Elektroden an seinem Oberkörper befestigt, um seine Atmung und seine Herztätigkeit zu überwachen. Obwohl sie Karl, den jungen Sanitäter, kannte, der mit ihr hinten im Wagen saß, da sie sich schon hin und wieder bei Großeinsätzen der Feuerwehr begegnet waren, sprach sie kaum ein Wort mit ihm. Sie hatte solche Angst um Thomas und starrte nur auf den Monitor, der seine Lebensfunktionen anzeigte.

»Er wird wieder«, versicherte ihr Karl, als er sah, wie sie mit den Tränen kämpfte.

»Danke, dass du mich trösten willst, aber noch wissen wir leider gar nichts, und ich bin sicher, dass auch dir das klar sein dürfte«, entgegnete sie.

»Egal wie, du musst einfach das Beste hoffen«, ließ sich Karl nicht entmutigen, ihr Trost zuzusprechen.

Als sie ein paar Minuten später die Notaufnahme der Uniklinik erreichten, litt Thomas erneut unter Atembeschwerden und wurde sofort in den nächsten OP gebracht. Karl und seine Kollegen mussten gleich wieder zurück zum Möbelhaus, um weitere Verletzte abzuholen, und Lydia war nur schwer davon abzubringen, Thomas in den OP zu folgen.

»Wir kümmern uns um ihn, Lydia. Sobald wir mehr wissen, bekommst du Bescheid«, versicherte ihr eine der Schwestern in der Notaufnahme.

Da sie bis vor Kurzem noch als Sanitäterin die Krankenwagen der Feuerwehr begleitet hatte, kannte sie die meisten Ärzte und Schwestern in der Notaufnahme. Seitdem sie sich entschieden hatte, sich der Löschtruppe anzuschließen, sprang sie nur hin und wieder ein, wenn jemand bei den Sanitätern fehlte.

Bisher hatte sie ihre Einsätze bei den Sanitätern immer ganz gut wegstecken können, weil sie noch nie auf Freunde oder Bekannte getroffen war. Sie hatte gelernt, mit diesen schrecklichen Bildern umzugehen, wie sie sie gerade bei Unfällen zu sehen bekam. Sie mussten Abstand zu den Opfern bewahren, um nicht an ihrem Mitgefühl für sie zu zerbrechen. Aber dieses Mal konnte sie keine Mauer aufbauen. Thomas war der Mann, den sie liebte, mit ihm hatte sie ihre Zukunft geplant. Dieses Mal war sie persönlich betroffen, und sie bekam ihre Ängste nicht in den Griff. Sie wusste, dass es nicht gut um Thomas stand und dass sie mit dem Schlimmsten rechnen musste. Sie hatte keine Ahnung, wie sie sich beschäftigen sollte, bis sie endlich hören würde, wie groß seine Chance war, dieses Unglück zu überleben.

Im Wartebereich der Notaufnahme waren alle Stühle belegt, als sie hereinkam. Ein älterer Mann im hellen Anzug stand sofort auf und bot ihr seinen Platz an. »Wir haben gehört, dass ein verletzter Feuerwehrmann eingeliefert wurde, tut uns sehr leid. Waren Sie bei dem Brand am Möbelhaus?«, fragte er, und sie spürte, wie alle im Raum sie abwartend ansahen.

»Ja, ich war auch dort«, sagte Lydia. Sie hatte zwar ihre Jacke und ihren Helm in den Löschwagen gelegt, bevor sie zu Thomas in den Krankenwagen gestiegen war, aber sie trug noch immer die Hose der Feuerwehrschutzkleidung und war als Feuerwehrfrau zu erkennen.

»Danke für Ihren Einsatz und alles Gute für Ihren Kollegen«, sagte der Mann, und andere im Raum schlossen sich sofort an, dankten ihr für ihren Einsatz und wünschten ihrem Kollegen gute Besserung.

Die neue Praxis Dr. Norden 7 – Arztserie

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