Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden Box 2 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 6

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»Guten Morgen, Herr Merzinger, wie geht es Ihnen?«, erkundigte sich Danny mit einem freundlichen Lächeln, als der erste Patient des Tages in sein Sprechzimmer kam.

»Schon um einiges besser, Herr Doktor«, entgegnete Korbinian Merzinger. Er öffnete die Knöpfe seiner dunkelblauen Trachtenjacke, bevor er auf dem Stuhl vor Dannys Schreibtisch Platz nahm. »Aber der Arm ist halt noch immer nicht in Ordnung«, sagte er.

»Bis ein Bruch ausgeheilt ist, das dauert seine Zeit. Sie müssen noch ein wenig Geduld haben«, entgegnete Danny. Vor vier Wochen war der Mann seiner freundlichen Haushaltshilfe Valentina im Garten gestürzt und hatte sich eine Knieverletzung und einen Armbruch zugezogen.

»Ich weiß, Herr Doktor«, seufzte der kräftige Mann mit dem dichten grauen Haar und ließ seinen Blick durch das Sprechzimmer gleiten, musterte den großen weißen Schreibtisch, die Designerlampe mit dem weißen Schirm, der direkt über dem Schreibtisch hing, und blieb an der antiken Standuhr hängen, die in der Ecke neben der Untersuchungsliege stand. »In meinem vorgerückten Alter dauert es vermutlich noch ein bissel länger als bei einem jüngeren Menschen«, fügte er mit einem bedauernden Achselzucken hinzu.

»Die Standuhr ist über hundert Jahre alt, dagegen sind Sie mit Ihren 65 Jahren noch ausgesprochen jung«, antwortete Danny, der Korbinians Blick gefolgt war.

»Es fühlt sich aber gerade so an, als sei ich schon recht alt. Bedauerlicherweise werden nun auch noch andere unter meiner momentanen Behinderung leiden müssen.«

»Was genau meinen Sie damit?«, fragte Danny nach.

»In der nächsten Woche wollte ich meinen Titel als Schützenkönig bei den Bogenschützen verteidigen, aber das geht ja nun leider nicht.«

»Das tut mir sehr leid, Herr Merzinger«, entgegnete Danny mitfühlend.

»Das mit der Titelverteidigung trifft nur mich, und ich würde es schon schaffen, mich damit abzufinden, aber da ist noch der Teamwettbewerb.«

»An dem Sie auch teilnehmen wollten, nehme ich an.«

»Richtig, das wollte ich. Leider gibt es keinen Ersatz für mich, und mein Team wird wohl nicht am Wettbewerb teilnehmen können. Ich werde also noch drei hervor­ragende Bogenschützen enttäuschen.«

»Ich war während meines Studiums auch Mitglied in einem Bogenschützenverein. Für mich war es immer ein Sport, bei dem ich abschalten konnte.«

»Es erfordert die ganze Aufmerksamkeit des Schützen, den Pfeil ins Ziel zu bringen. Da bleibt kein Platz für andere Gedanken.«

»Genauso ist es«, stimmte Danny ihm zu. »Ich sehe mir jetzt erst einmal Ihr Knie und Ihren Arm an. Nehmen Sie bitte auf der Liege Platz«, bat er Korbinian. Er wollte sich davon überzeugen, dass die Knieverletzung weiterhin gut verheilte und überprüfen, wie weit der Arm schon belastbar war. »Es sieht alles gut aus«, versicherte Danny seinem Patienten. »Was ist mit der Allergie? Bleiben die Anfälle aus, wenn Sie Sellerie meiden?«

»Bisher schon, und für alle Fälle habe ich die Tropfen immer bei mir, die Sie mir verschrieben haben.«

»Die sollten Sie auch immer bei sich haben.« Korbinian hatte erst vor Kurzem festgestellt, dass er auf bestimmte Lebensmittel allergisch reagierte. Ein allergischer Anfall war auch der Grund für den Sturz in seinem Garten gewesen.

»Valentina und ich haben uns nun doch für eine Reise entschieden, so wie wir sie ursprünglich anlässlich unserer Silberhochzeit geplant hatten.«

»Wohin soll es denn gehen?«, fragte Danny.

»Wir haben eine Rundreise mit dem Bus durch Skandinavien gebucht. Immer nur kurze Strecken, damit es nicht zu anstrengend wird.«

»Sie können sich schon noch einiges zumuten«, entgegnete Danny lächelnd.

»Freilich, aber wir wollen es ein bissel gemütlich haben. Sagen Sie, Doktor Norden, wann haben Sie denn das letzte Mal einen Bogen gehalten?«, fragte Korbinian, während er noch auf der Untersuchungsliege saß.

»Es ist schon einige Jahre her.«

»Wie gut waren Sie im Bogenschießen?«

»Ich habe an einigen Vereinsmeisterschaften teilgenommen und ganz gut abgeschnitten.«

»Könnten Sie sich vorstellen, noch einmal an einer Meisterschaft teilzunehmen?«

»Sie denken aber nicht daran, dass ich Sie in diesem Teamwettbewerb vertreten könnte?«, fragte Danny verblüfft.

»Genau daran habe ich gedacht«, gab Korbinian zu.

»Ich bin aber kein Mitglied in Ihrem Verein. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie keinen besseren Ersatz finden könnten.«

»Ich bin sicher, Sie sind die beste Wahl. Einen Fremden nimmt der Verein gewöhnlich nicht so schnell auf, bei Ihnen werden Sie eine Ausnahme machen. Die Leute mögen Sie. Sie haben hier bereits einen ausgezeichneten Ruf. Der Verein wird sich gern mit Ihrer Mitgliedschaft schmücken.«

»Das klingt, als wäre ich eine bekannte Persönlichkeit.«

»Bekannt und beliebt. Die Leute sind dankbar, dass Sie Ihre Praxis hierher zu uns verlegt haben.«

»Das halte ich allerdings auch für eine gute Entscheidung.«

»Freilich, war es eine gute Entscheidung, Herr Doktor, schon wegen der Nachbarschaft«, entgegnete Korbinian schmunzelnd.

»Da kann ich nicht widersprechen«, antwortete Danny lächelnd. Er wusste natürlich, dass Korbinian auf die Mais anspielte, deren Garten an seinen grenzte.

»Die Leute glauben, dass Sie und Frau Doktor Mai bereits ein Paar sind.«

»So ist es aber nicht«, widersprach Danny dieser Vermutung der Nachbarschaft.

»So wird es aber kommen. Vertrauen Sie dem Gespür eines alten Mannes mit Lebenserfahrung«, antwortete Korbinian augenzwinkernd.

»Mal sehen, was die Zukunft bringt«, entgegnete Danny, weil ihm das Thema wie immer unangenehm war. Es war kein Geheimnis, dass er und die junge Psychologin befreundet waren und hin und wieder miteinander ausgingen. Sie waren aber kein Paar, obwohl es sich manchmal so anfühlte, und er sich eigentlich auch mehr Nähe zu Olivia Mai wünschte. Es war nur diese Angst vor einer neuen Enttäuschung, die ihn davon abhielt, mehr zuzulassen.

»Wissen Sie, Herr Doktor, manchmal braucht es nur einen Schritt, um die Schatten der Vergangenheit loszuwerden.«

»Und welcher Schritt wäre das in meinem Fall?«, fragte Danny. Er hatte zu Korbinian ebenso viel Vertrauen wie zu Valentina, die ihm stets mit mütterlicher Herzlichkeit begegnete.

»Soll ich es ganz direkt aussprechen?«

»Ich bitte darum.«

»Dann würde ich sagen, es wäre der erste Kuss.«

»Ich werde darüber nachdenken.«

»Das sollten Sie tun.«

»Vielen Dank, für diesen Rat«, sagte Danny lächelnd.

»Sehr gern, Herr Doktor. Um noch einmal auf den Teamwettbewerb der Bogenschützen zurückzukommen. Wären Sie denn bereit, mitzumachen, sollte sich die Vereinsleitung darauf einlassen?«

»Ich müsste vorher trainieren.«

»Kein Problem, das arrangiere ich.«

»Sie dürfen nicht zu viel von mir erwarten. Ich werde nicht mit den Besten mithalten können.«

»Die Hauptsache ist, dass wir einen vierten Mann haben.«

»Also gut, dann versuchen Sie es«, erklärte sich Danny einverstanden.

»Ich melde mich bei Ihnen. Vielen Dank, Herr Doktor.«

»Wir sehen uns dann in vierzehn Tagen zur nächsten Kontrolle wieder«, sagte Danny, als er Korbinian gleich darauf die Tür des Sprechzimmers aufhielt und sich von ihm verabschiedete.

»Ich nehme an, dass wir uns vorher noch einige Male sehen werden. Der Wettbewerb findet bereits am übernächsten Wochenende statt.«

»Das ist nicht viel Zeit.«

»Stimmt, aber Sie bekommen das hin, da bin ich sicher«, sagte Korbinian und wünschte Danny noch einen schönen Tag, bevor er das Sprechzimmer verließ.

Hoffentlich kann ich dieser Vorstellung gerecht werden, die Sie von mir haben, dachte Danny, als er zurück zu seinem Schreibtisch ging, um Frau Lechner, seine nächste Patientin aufzurufen.

»Sie sehen erholt aus, Frau Lechner«, begrüßte er Agnes Lechner, die vor einiger Zeit ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert hatte.

»Mir geht es auch gut«, sagte Agnes, die in ihrem hellbeigen Kostüm äußerst elegant aussah.

»Das heißt, Sie bleiben bei Ihrer Familie?«, fragte Danny, nachdem Agnes an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Ja, ich bleibe, und inzwischen sogar ohne schlechtes Gewissen. Mein Sohn, meine Schwiegertochter und mein Enkel haben mich gebeten, nicht ins Altenheim zu ziehen. Sie haben gesagt, dass ich ihnen fehlen würde. Sie meinten, ich müsste in Zukunft auch gar nichts mehr tun, weder im Haushalt noch in unserem Handarbeitsladen, falls mir diese Arbeiten inzwischen zu viel seien.«

»Ich nehme an, auf diesen Vorschlag sind Sie nicht eingegangen.« Vor ein paar Wochen war die alte Dame bei ihm gewesen, weil sie glaubte, sie müsse sich in ihrem Alter einen Platz im Altenheim suchen, um ihrer Familie nicht zur Last zu fallen. Er hatte sie gebeten, sich das noch einmal zu überlegen, weil er wusste, wie sehr sie an ihrer Familie hing.

»Auch in meinem Alter will man sich doch noch nützlich fühlen. Wir haben beschlossen, dass erst einmal alles so bleibt, wie bisher.«

»Das ist eine gute Nachricht.«

»Ich wollte Ihnen danken, dass Sie mich dazu gebracht haben, nicht voreilig zu handeln.«

»Dafür bin ich da, meine Patienten vor Schaden zu bewahren.« Er wusste, dass Olivia neulich bei einem Besuch im Handarbeitsladen der Lechners mit Agnes’ Schwiegertochter über die Bedenken älterer Menschen, auch in hohem Alter bei der Familie zu wohnen, gesprochen hatte. Das hatte offensichtlich dazu geführt, dass der Familie bewusst geworden war, was in Agnes gerade vor sich ging. »Was kann ich denn heute für Sie tun, Frau Lechner? Brauchen Sie neue Salbe gegen Ihre Schuppenflechte«, fragte er.

»Ein Rezept würde ich schon gern mitnehmen, obwohl es mir zurzeit sehr viel besser geht. Das liegt wohl daran, dass ich nicht mehr über einen Umzug ins Altenheim nachdenke.«

»Das ist durchaus möglich«, stimmte Danny ihr zu. »Darf ich mal sehen«, bat er sie.

»Aber ja.« Frau Lechner zog die Jacke aus, die sie über ihrem kurzärmligen Pulli trug. Die unheilbare Krankheit beschränkte sich bei ihr hauptsächlich auf die Arme und den Hals.

»Kaum etwas zu sehen, das sieht wirklich gut aus«, stellte Danny zufrieden fest, nachdem er sich die sonst stark geröteten Hautpartien angesehen hatte.

»Mei, ein wohlmeinender Rat ist halt oft die beste Medizin«, sagte Frau Lechner und zog ihre Jacke wieder an, während Danny ihr ein Rezept für die Salbe ausstellte, die sie immer auf Vorrat zu Hause hatte.

»Vielen Dank, Herr Doktor. Schade, dass Sie dem Korbinian nicht auch mit einer Salbe helfen können, seinen Arm zu heilen. Er hat mir vorhin im Wartezimmer erzählt, dass er sich ganz schlecht fühlt, weil er sein Team im Bogenschützenverein beim kommenden Wettbewerb nicht unterstützen kann. Mein Mann, Gott hab ihn selig, war auch ein recht guter Bogenschütze in diesem Verein. So ein Teamwettbewerb war immer ganz was Besonderes«, erzählte Agnes.

»Vielleicht findet sich ein Ersatz«, sagte Danny, nachdem er Frau Lechner das Rezept gereicht hatte und sie zur Tür brachte.

»Da müsst schon ein Wunder geschehen, hat der Korbinian gemeint. Aber wer weiß, hin und wieder gibt es Wunder. Auf Wiedersehen, Herr Doktor, und noch mal vielen Dank«, verabschiedete sich Agnes.

Vielleicht bin ich ja das Wunder, dachte Danny und lächelte in sich hinein, als er die Tür hinter Agnes schloss.

An diesem Vormittag kamen die meisten Patienten wegen Kleinigkeiten zu ihm. Hautabschürfungen, Schnupfen, leichte Magenschmerzen, verursacht durch zu fettes Essen. Zwei Patienten, zwei älteren Herren, die trotz ihrer Diabeteserkrankung nicht auf ihre Ernährung achteten, musste er ins Gewissen reden. Kurz nach zwölf hatte der letzte Patient das Sprechzimmer verlassen, und Danny ging zum Empfangstresen, um Sophia und Lydia, seine beiden Mitarbeiterinnen, zu fragen, ob es vor der Mittagspause noch etwas zu besprechen gab.

Der Empfangsbereich mit den weißen Wänden, den hellen Fliesen und dem modernen Tresen mit der eingebauten LED-Leiste, die den Boden beleuchtete, und die antike Kommode aus Kirschbaumholz als Kontrast gefiel Danny immer noch gut. Auch der Wartebereich mit seinem Holzboden, den gelben Sesseln aus Kunstleder und den Grünpflanzen trug zu einer angenehmen Atmosphäre bei, wie ihm die Patienten versicherten.

Sophia, eine zierliche junge Frau, die ihr hellblondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug, und Lydia, schlank und sportlich durchtrainiert mit kinnlangem dunkelblondem Haar, standen hinter dem Tresen. Lydia fuhr den Computer herunter, und Sophia schaltete den Anrufbeantworter ein.

»Gibt es noch etwas, was ich wissen müsste?«, fragte Danny die beiden.

»Nein, es gab keine besonderen Vorkommnisse«, antwortete ihm Lydia. »Schade nur, dass Herr Merzinger noch nicht gesund ist, jetzt wird Thomas wohl auf den Teamwettbewerb beim Bogenschießen verzichten müssen«, seufzte sie.

»Thomas ist auch Bogenschütze?«

»Schon einige Jahre.«

»Vielleicht kommt ja doch noch ein Team zustande«, sagte Danny. Er hatte Thomas, Lydias Freund, schon einige Male getroffen, aber er hatte bisher nicht gewusst, dass er im Bogenschützenverein war.

»Ich wüsste nicht, wer einspringen könnte. Das Team hat sich schon umgehört.«

»Es sind ja noch ein paar Tage.«

»Daniel, Sie sind ein großer Optimist«, entgegnete Lydia lachend.

»Und dafür lieben ihn unsere Patienten«, sagte Sophia und betrachtete ihn mit einem bewundernden Lächeln.

»Danke, ich habe heute schon ­einige Komplimente bekommen. Hoffentlich kann ich diese Erwartungen erfüllen, die alle an mich stellen«, antwortete Danny nachdenklich. Er hatte sich mit den Ellbogen auf dem Tresen abgestützt und ließ seinen Kopf in die Hände sinken.

»Bleiben Sie einfach so, wie Sie sind, dann werden Sie niemanden enttäuschen«, versicherte ihm Sophia.

»Korbinian Merzinger hat mich gefragt, ob ich ihn vertreten will«, eröffnete er den beiden.

»Beim Bogenschießen?«, fragte Lydia erstaunt.

»Früher war ich in diesem Sport ziemlich gut.«

»Daniel, Sie überraschen mich immer wieder aufs Neue. Was bedeutet denn früher?«

»Es war mein Hobby, als ich noch Student war. Aber noch ist gar nichts sicher. Herr Merzinger muss erst einmal eine Mitgliedschaft im Verein für mich erreichen, und dann werde ich ein paar Tage trainieren müssen, um herauszufinden, ob ich überhaupt eine Hilfe für das Team sein kann.«

»Thomas wird Ihnen beim Training helfen«, versicherte ihm Lydia.

»Ich komme darauf zurück, sollte ich ins Team aufgenommen werden. Wir sehen uns heute Nachmittag«, sagte Danny. Er verabschiedete sich von den beiden und verließ die Praxis durch den Hausgang, der in den anderen Teil des Gebäudes in seine Wohnung führte.

*

Nachdem Danny seine Praxiskleidung gegen Jeans und T-Shirt getauscht hatte, ging er in die Küche, einen lichtdurchfluteten Raum mit zwei großen Fenstern. Der restaurierte blaue Kachelofen war der Blickfang in diesem Zimmer mit den Küchenmöbeln aus weißem Holz und dem Esstisch mit den hellen Lederstühlen.

Valentina hatte für ihn einen Gemüseauflauf vorbereitet, den er nur noch im Backofen überbacken musste.

Um diese Jahreszeit verbrachte Danny seine Mittagspause gern auf der Terrasse. Der robuste Holztisch war groß genug, um acht Personen Platz zu bieten. Im Moment standen aber nur vier der bequemen Stühle mit den hohen Lehnen draußen. Danny setzte sich mit dem Rücken zum Haus an den Tisch und ließ seinen Blick über den Garten schweifen.

»Hallo, Ortrud, meine Schöne«, begrüßte er die rotgetigerte Katze seiner Nachbarinnen, die durch den Garten schlich.

Sie kam mit hoch aufgestelltem Schwanz zu ihm, nachdem er sie angesprochen hatte, strich um seine Beine herum und sprang dann auf den Stuhl neben ihm. Sie schnurrte laut, während sie ihn mit ihren blauen Augen anschaute.

»Ich denke nicht, dass dieses Essen etwas für dich ist«, sagte Danny.

So als hätte Ortrud ihn verstanden, streckte sie sich entspannt auf dem Stuhl aus und schaute, genau wie er, in den Garten mit seinen gepflegten Blumenbeeten und den hochgewachsenen Birken. Er war gerade fertig mit seinem Essen, als sein Handy läutete. Es war Korbinian Merzinger, der ihm mitteilte, dass der Bogenschützenverein sich glücklich schätzen würde, wenn er sich zu einer Mitgliedschaft entschloss.

»Wann könnte ich denn zum Training kommen?«, fragte Danny.

»Das heißt, Sie werden bei uns mitmachen. Das finde ich großartig«, sagte Korbinian und die Freude über Dannys Entscheidung war ihm anzuhören. »Heute Abend ab sieben ist mein Team zum Training in der Halle. Wenn Sie Zeit hätten, dazuzukommen, dann wäre das ein guter Einstieg.«

»Falls kein Notfall dazwischenkommt, werde ich da sein«, versprach ihm Danny.

»Dann sehen wir uns heute Abend«, sagte Korbinian und beendete das Gespräch.

»Was meinst du, Ortrud, werde ich das hinbekommen?«, wandte sich Danny an die Katze und kraulte ihren Kopf, den sie genüsslich gegen seine Hand drückte.

»Was möchtest du denn hinbekommen? Oder sprichst du nur mit Ortrud darüber?«, fragte Olivia Mai, die vom Grundstück nebenan über die Hecke schaute.

»Es geht um eine komplizierte Angelegenheit. Falls du ein paar Minuten Zeit hast, erzähle ich es dir«, antwortete Danny der jungen Frau in dem hellgrünen Kleid. Sie hatte langes rotes Haar, helle blaue Augen und ein bezauberndes Lächeln. »Möchtest du etwas trinken oder etwas essen? Ich habe noch genug von Valentinas Auflauf«, sagte er, nachdem Olivia seiner Einladung gefolgt war und sich auf den Stuhl ihm gegenüber setzte.

»Vielen Dank, aber Ophelia kommt in einer halben Stunde von der Schule nach Hause. Ich habe für uns gekocht. Eine Aufgabe, die sonst meine Mutter übernimmt, aber sie ist noch bis nächste Woche bei einer Freundin in der Schweiz, was ich ihr von Herzen gönne. Sie genießt die freie Zeit, die ihr jetzt zur Verfügung steht.«

»Will sie sich ganz aus der Praxis zurückziehen?«

»Nein, das nicht, dazu liebt sie ihren Beruf zu sehr. Wenn sie nicht gerade unterwegs ist, übernimmt sie auch weiterhin den einen oder anderen Patienten. Offensichtlich hast du ja auch eine weitere Mitarbeiterin, zumindest eine, die dir mit ihrem Rat zur Seite steht. Über welche Aufgabe haben du und Ortrud gerade gesprochen?«, fragte Olivia lächelnd.

»Korbinian Merzinger hat mich um etwas gebeten«, sagte Danny und erzählte ihr von dem Teamwettbewerb, an dem er teilnehmen sollte.

»Ich finde, das ist eine gute Idee«, sagte Olivia, nachdem sie gehört hatte, was Korbinian vorgeschlagen hatte.

»Mit mir werden sie aber sicher nicht gewinnen.«

»Aber mit dir können sie am Wettbewerb teilnehmen, und bestimmt bist du besser, als du gerade zugibst.«

»Das wird sich heute Abend herausstellen.«

»Ich werde dich morgen fragen, wie es gelaufen ist. Ich hoffe allerdings, dass du das Tennisspielen nicht zugunsten des Bogenschießens aufgibst, das würde ich wirklich bedauern.«

»Bogenschießen ist mir inzwischen auf Dauer zu aufwendig, und an Wettbewerben will ich auch nicht mehr regelmäßig teilnehmen. Tennis und Squash lässt sich am besten in meinen Tagesablauf integrieren.«

»So sehe ich das auch. Wir könnten demnächst mal wieder ein Doppel im Tennis wagen.«

»Gern, wie wäre es am Sonntag?«

»Tut mir leid, da habe ich schon eine Verabredung«, antwortete sie mit einem Lächeln, das Danny ahnen ließ, dass diese Verabredung ihr vermutlich viel bedeutete. »Wie wäre es mit Montag?«

»Da muss ich wieder zum Training der Bogenschützen.«

»Dann eben an einem anderen Tag. Sag mir einfach Bescheid, wenn du Zeit hast. Und jetzt muss ich los«, sagte Olivia, nachdem sie auf ihre Armbanduhr geschaut hatte. »Ich wünsche dir viel Glück heute Abend.«

»Vielen Dank.«

»Was ist mit dir, Ortrud, kommst du mit?«, wandte sich Olivia an ihre Katze. »Ich deute das als ein Nein«, sagte sie, als Ortrud sich genüsslich auf dem Stuhl ausstreckte und liegen blieb. »Wir sehen uns, Daniel«, verabschiedete sie sich.

»Ja, wir sehen uns«, sagte er leise und schaute ihr nach. Danny wusste längst, dass Olivia ihm mehr bedeutete, als er sich eingestehen wollte.

»Hallo, Doc!«, rief das Mädchen in dem gelben Kleid, das auf dem Fahrrad auf den Hof der Mais einbog.

»Hallo, Ophelia!«, begrüßte Danny Olivias Tochter, die das gleiche rote Haar wie ihre Mutter hatte. Das selbstbewusste Mädchen, das fast jeden Morgen auf einen Sprung vorbeikam, um mit Valentina und ihm Neuigkeiten auszutauschen, war ihm schon richtig ans Herz gewachsen. Genieße ich noch ein bisschen die Sonne, dachte er. Er klappte einen Liegestuhl auf, stellte ihn so hin, dass er im Halbschatten stand, legte sich hin und schloss für ein paar Minuten die Augen.

*

Die Nachmittagssprechstunde verlief ruhig, ohne besondere Vorkommnisse, und Danny war um kurz nach sechs zu Hause. Er aß eine Kleinigkeit, danach ging er in den Keller. Er nahm die Tasche mit dem Bogen von einem der Regale in dem Raum mit den Gegenständen, die er aktuell nicht brauchte, die er aber noch nicht wegwerfen wollte. Außer dem Bogen, den er vor vielen Jahren gekauft hatte, standen dort Kisten voller Geschirr, Haushaltsgeräte speziell für das Backen und Kartons mit Andenken aus seiner Kindheit.

Er hatte sich zwar schon von einigen Dingen getrennt, bevor er in dieses Haus gezogen war, aber wenn er sich so umschaute, konnte er sicher noch mehr Platz schaffen. Sich von Dingen zu trennen, hatte auch etwas Befreiendes, wie er schon oft festgestellt hatte. Nachdem er seinen Bogen auf seine Unversehrtheit überprüft hatte, machte er sich zu Fuß auf den Weg zu den Bogenschützen.

Die Halle, in der der Verein trainierte, war auf demselben Gelände wie die Halle des Tennisclubs, in dem Danny bereits Mitglied war. Die mit künstlichem Licht beleuchtete fensterlose Halle mit den Zuschauertribünen an den beiden Längsseiten hatte einen blauen Kunststoffboden.

Die Aufsteller aus stabilem Holz mit den Zielauflagen standen nebeneinander an der Wand gegenüber des Eingangs.

Die etwa dreißig Schützen un­terschiedlichen Alters und Geschlechts, die bereits in der Halle waren, hatten sich mit ihren Bogen im Abstand von 25 Metern gegenüber der Zieltafeln aufgereiht.

Das leise Zischen, das dem Abstoß des Pfeils folgte, und das sanfte »Plopp«, sobald er in das Holz der Zieltafel eindrang, versetzte Danny in die Zeit zurück, als er selbst noch mehrmals in der Woche zum Bogenschützentraining in eine Halle ging.

»Unser Sport ist recht traditionell, viel hat sich sicher nicht verändert, seitdem Sie ihn betrieben haben«, sagte Korbinian, der ihn am Eingang der Halle erwartete.

»Es sieht noch alles vertraut aus«, gab Danny ihm recht.

»Kommen Sie, ich stelle Sie unserem Vorstandsvorsitzenden vor«, sagte Korbinian und führte Danny in das Büro gleich neben dem Eingang.

Dort wurden sie von Reinhold Eberholz, dem Vereinsvorsitzenden, erwartet. Danny schätzte den korpulenten Mann mit dem lichten Haar, der einen hellgrauen Trachtenanzug trug, auf Anfang sechzig. Er saß in einem schwarzen Bü­rosessel hinter einem schweren Schreibtisch aus hellem Holz. In dem Regal hinter ihm standen die Pokale aufgereiht, die der Verein im Laufe seines Bestehens gewonnen hatte.

»Es freut mich, Sie als neues Mitglied in unserem Verein zu begrüßen. Das Aufnahmeformular können Sie in Ruhe zu Hause durchlesen«, sagte er und reichte Danny ein engbeschriebenes Din-A4 Blatt. »Ich trage Sie für heute zum Schnupperkurs ein, dann sind Sie versichert, falls etwas passiert.«

»In Ordnung, danke.« Danny sah, wie Reinholds Hand zitterte, als er seinen Namen in den Laptop eingab, der auf dem Schreibtisch stand. Überhaupt sah Reinhold Eberholz nicht gesund aus. Er war auffallend blass, und seine Augen wirkten irgendwie trüb. Danny hätte ihn gern gefragt, ob er sich nicht wohlfühlte, aber er hatte den Mann gerade erst kennengelernt und wollte ihn nicht gleich damit konfrontieren, dass er ihn für krank hielt. Außerdem hatte er sich vorhin noch die Homepage des Vereins angesehen. Er wusste, dass Reinhold Eberholz eines der größten Bauunternehmen Bayerns besaß und sehr vermögend war. Er durfte davon ausgehen, dass der Mann es sich leisten konnte, jederzeit einen Arzt aufzusuchen, sollte es ihm nicht gutgehen.

»Korbinian, du kümmerst dich doch um Doktor Norden?«, fragte Reinhold.

»Sicher, das mache ich. Ich dachte allerdings, du wolltest bei unserem Training dabei sein«, wunderte sich Korbinian.

»Das nächste Mal. Ich habe heute noch Papierkram zu erledigen.«

»In Ordnung, dann legen wir mal los. Kommen Sie, Herr Doktor«, bat Korbinian Danny, ihm zu folgen.

»Was ist?«, fragte Danny, als Korbinian vor sich herstarrte und verständnislos den Kopf schüttelte, nachdem sie Reinholds Büro verlassen hatten.

»Reinhold sieht seit einiger Zeit richtig krank aus, aber er geht einfach nicht zum Arzt. Er lebt nach dem Motto, was von selbst kommt, geht auch von selbst«, erzählte ihm Korbinian.

»Er sieht wirklich nicht gut aus«, gab Danny Korbinian recht.

»Dann denken Sie auch, dass er krank ist?«

»Das kann ich so nicht sagen.«

»Nein, natürlich nicht. Tut mir leid, dass ich überhaupt davon angefangen habe. Reinhold ist alt genug, um sich um sich selbst zu kümmern. Wir werden jetzt erst einmal ein paar Pfeile für Ihren Bogen heraussuchen«, sagte Korbinian und schaute auf die Tasche, in der sich Dannys Bogen befand.

Eine Viertelstunde später hatte Danny mit Hilfe von Korbinian die passenden Pfeile in der Aufbewahrungskammer des Vereins herausgesucht und in den Köcher gesteckt, den er von Korbinian bekam und sich über die Schulter hängte.

Draußen in der Halle machte Korbinian ihn mit dem Team bekannt.

»Hallo, Daniel, wir danken Ihnen, dass Sie bei uns mitmachen«, wurde er von Thomas Andorn, Lydias Freund, einem sportlichen jungen Mann mit blondem Haar und dunklen Augen herzlich willkommen geheißen.

Auch Thorsten Langhammer, ein breitschultriger Mann Anfang fünfzig, und Paul Wender, ein durchtrainierte Mann Mitte vierzig, begrüßten ihn ebenso freundlich.

»Ich kann Ihnen vermutlich nicht zum Sieg verhelfen. Es ist Jahre her, dass ich einen Bogen gehalten habe«, sagte Danny.

»Wir wissen, dass wir ohne Korbinian nicht den ersten Platz machen werden, wir wollen einfach nur dabei sein. Bevor wir anfangen, müssen wir noch eine Formalität klären«, entgegnete Thomas.

»Die wäre?«

»Wir Bogenschützen duzen uns.«

»Ich weiß«, antwortete Daniel lächelnd. Er legte den Bogen an, legte einen Pfeil ein und zielte auf den Aufsteller mit der Zielauflage, die für ihn bestimmt war.

»Nimm dir Zeit«, sagte Thomas, als Danny zuerst den Bogen spannte, ihn aber schnell wieder lockerte, weil er noch nicht das Gefühl hatte, das er brauchte, um dem Pfeil die richtige Zielrichtung vorzugeben.

»Diese Zeit werde ich auch brauchen«, entgegnete Danny, während er den Bogen erneut spannte, das Ziel anvisierte und den Pfeil abschoss.

»Wow, wie lange sagtest du, warst du nicht mehr beim Bogenschießen?«, fragte Thomas verwundert, als Dannys Pfeil nur knapp die Mitte der Zielauflage verfehlte.

»Das war nur Glück.«

»Auf dem sich gut aufbauen lässt. Gleich noch mal«, forderte Thomas Danny auf.

»In Ordnung«, sagte Danny und spannte den nächsten Pfeil in den Bogen.

Dieses Mal landete der Pfeil etwas weiter von der Mitte entfernt, aber immer noch im inneren Drittel der aufgemalten Scheibe.

»Wenn du darauf aufbaust, werden wir auf jeden Fall die Chance auf einen der vorderen Plätze haben«, stimmte Thorsten Thomas’ Einschätzung zu.

»Das denke ich auch«, schloss sich Paul der Meinung der anderen an.

»Das Beste ist, ihr fangt mit dem Training an. Ich übe noch eine Weile allein. Ich verspreche, ich werde niemanden aus Versehen verletzen.«

»Nach diesen beiden Versuchen, gehen wir auch nicht davon aus«, versicherte ihm Thomas.

»Es macht Ihnen Spaß, Herr Doktor«, stellte Korbinian fest, nachdem er Danny eine Weile beobachtet hatte. Er saß auf einem Stuhl hinter den Schützen seines Teams und schien äußerst zufrieden, mit dem, was er sah.

»Offensichtlich habe ich nicht alles verlernt«, musste auch Danny zugeben, da die Pfeile, die er bisher abgeschossen hatte, alle nicht weit vom Mittelpunkt entfernt die Zielvorlage getroffen hatten.

»Wir sollten ein paar Teamdurchgänge machen«, schlug Thomas Danny vor.

»In Ordnung«, erklärte sich Danny einverstanden. Er war überrascht, wie schnell er sich wieder daran gewöhnt hatte, den Bogen richtig zu halten.

Die Mitglieder des Teams stellten sich nebeneinander auf und schossen nacheinander die Pfeile ab. Korbinian rechnete die Punkte zusammen, und danach waren alle noch zuversichtlicher, dass sie mit einer guten Platzierung im Wettbewerb rechnen konnten.

»Korbinian, das war eine ausgezeichnete Idee von dir, Doktor Norden zu uns zu holen«, lobte Reinhold Korbinian und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Er war unbemerkt von den anderen aus seinem Büro gekommen und hatte das Training beobachtet. »Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht und Sie bleiben bei Ihrem Entschluss, dieses Team zu unterstützen«, wandte er sich an Danny.

»Ich werde nicht abspringen«, versicherte ihm Danny. »Was ist mit Ihnen?«, fragte er besorgt nach, als Reinhold eine Hand auf seinen Bauch presste, so als hätte er Schmerzen.

»Es ist nichts, nur ein kurzer Stich, vermutlich habe ich mich falsch bewegt«, antwortete Reinhold und richtete sich wieder auf.

»Du könntest dich auch mal überwinden und dich untersuchen lassen. Doktor Norden ist ein wirklich guter Arzt«, versicherte Korbinian dem Vorstand des Bogenschützenvereins.

»Ich weiß, was sich die Leute über ihn erzählen. Und nachdem ich gesehen habe, wie nah er dem Ziel beim Bogenschießen kommt, weiß ich, dass er erst überlegt, bevor er etwas tut. Vielleicht komme ich demnächst einmal zu Ihnen«, sagte er und wandte sich Danny zu.

»Meine Sprechstunde steht jedem offen, kommen Sie einfach vorbei«, antwortete Danny freundlich.

»Wir gehen noch auf ein Bier ins Ritterstübel, kommst du mit, Daniel?«, fragte Thomas.

»Gern«, sagte Danny. Er wusste, wie wichtig es für ein Team war auch außerhalb des Sports in Kontakt zu bleiben.

»Ich komme auch mit«, sagte Korbinian und schloss sich den anderen an, nachdem sie die Pfeile in die Aufbewahrungskammer zurückgebracht und sich alle von Reinhold verabschiedet hatten.

*

Das Ritterstübel nur ein paar Minuten vom Sportgelände entfernt war das Vereinslokal der Bogenschützen. Die Einrichtung erinnerte an ein Gasthaus im Mittelalter. Grauer Steinboden, längliche Tische und Bänke aus dunklem Holz, eine rustikale Theke, Gemälde von mittelalterlichen Burgen an den unverputzten Natursteinwänden.

Über dem mit roten Steinen ummauerten offenen Kamin hing ein Bogen aus hellem Holz, der laut dem in Messing gerahmten Schild darunter aus dem 14. Jahrhundert stammte. Beleuchtet wurde der Raum von Wandlampen, die in ihrer Form an Fackeln erinnerten und ein orangefarbenes Licht verbreiteten.

»Als Bogenschützen haben wir doch alle einen Bezug zu dieser Zeit«, stellte Thomas schmunzelnd fest, nachdem sie an dem Tisch Platz genommen hatten, der für die Bogenschützen des Vereins reserviert war.

»Ritter gelten auch noch in der heutigen Gesellschaft etwas. Wenn wir von einem Mann behaupten, dass sein Benehmen ritterlich sei, dann sehen wir darin etwas Positives«, sagte Korbinian.

»Ritter stehen für Schutz, Treue und ehrenhaftes Benehmen«, meldete sich Thorsten zu Wort.

»Oder für Mord und Totschlag. Wir sollten die Eroberungszüge vergangener Zeiten nicht vergessen. Einige Ritter waren echt brutal und nur auf Macht aus«, erklärte Paul nachdenklich.

»Es wird immer Menschen geben, die nach Macht streben, daran wird sich vermutlich auch in Zukunft nichts ändern. Aber es gibt auch die anderen, die Robin Hoods, diejenigen, die in vergangenen Zeiten mit Pfeil und Bogen für die Armen gekämpft haben und sich heute mit Worten für eine gerechtere Welt einsetzen«, entgegnete Thomas.

»Stoßen wir auf die Gerechten unserer Welt an«, sagte Thorsten als ihnen die Bedienung, eine Frau Anfang dreißig, in langem Rock und weißer Bluse mit Puffärmeln, die Tonkrüge mit dem Dunkelbier, das sie bestellt hatten, brachte.

»Auf das Gute in der Welt«, schloss sich Korbinian an. »Was ist mit dir?«, wandte er sich an Paul, nachdem sie alle miteinander angestoßen hatten und der sonst stets gut gelaunte Kraftfahrzeugmechaniker gedankenverloren ins Leere starrte.

»Ich glaube, Mia hat das Interesse an mir verloren. Ich bin nicht mehr der edle Ritter, mit dem sie ihr Leben verbringen wollte, wie sie bei unserer Hochzeit gesagt hat«, erzählte Paul mit einem tiefen Seufzer.

»Wie kommst du denn darauf?«, wunderte sich Thomas.

»Sie ist nur noch genervt oder müde, wenn wir zusammen sind. Sie geht jeden Abend früh schlafen, und morgens kommt sie nicht aus dem Bett. Ich denke, sie will mir aus dem Weg gehen.«

»Hattet ihr Streit?«, wollte Korbinian wissen.

»Nein, nicht wirklich, ein paar Meinungsverschiedenheiten, so wie sie alle Paare haben, die schon länger zusammenleben. Ich dachte erst, dass ihr Zustand etwas mit ihrer Schilddrüsenunterfunktion zu tun hat, aber das ist es wohl nicht. Sie war erst neulich bei ihrer Ärztin, und die meinte, dass alle Werte im grünen Bereich seien und sie die Medikamentendosis nicht erhöhen müsse. Das kann dann also nicht der Grund sein, dass wir uns allmählich entfremden.«

»Was sagt denn Mia dazu?«, fragte Thomas.

»Nicht viel, nur, dass ihr alles zu viel sei und sie keine Lust mehr auf gar nichts hat. Auch ihre Arbeit im Reisebüro scheint ihr keinen Spaß mehr zu machen. Ich denke, sie hat genug von ihrem bisherigen Leben und will etwas Neues erleben, und zwar ohne mich, ohne den Mann, den sie schon so lange kennt.«

»Ich will ungern Verwirrung stiften, aber diese extreme Müdigkeit deiner Frau, die du gerade geschildert hast, kann durchaus eine medizinische Ursache haben«, meldete sich Danny zu Wort.

»Aber die Ärztin meinte, Mia sei gesund.«

»Vielleicht sollte Mia einen Arztwechsel in Betracht ziehen«, sagte Thomas.

»Sie ist mit ihrer Ärztin aber zufrieden. Sie geht schon seit ihrer Kindheit zu ihr, und sie vertraut ihr. Ich finde sie allerdings inzwischen ein bisschen schrullig, und ich werde es nicht bedauern, wenn sie im nächsten Jahr in den Ruhestand geht. Nimmst du denn noch neue Patienten auf?«, wandte sich Paul an Danny.

»Wir haben noch Kapazitäten«, sagte Danny.

»Das liegt daran, dass sie in der Praxis Norden äußerst effizient arbeiten. Während der Herr Doktor sich Zeit für seine Patienten nimmt, kümmern sich Sophia und Lydia um einen reibungslosen Ablauf in der Praxis. Zumindest hat mir Valentina das so erzählt«, sagte Korbinian.

»Vielleicht könnte Valentina Mia dazu bringen, dass sie demnächst einmal zu Daniel in die Sprechstunde geht. Möglicherweise steckt doch mehr hinter dieser Müdigkeit als eine stetig wachsende Abneigung gegen mich.«

»Ich werde Valentina bitten, mit Mia zu reden«, versprach Korbinian Paul.

»Danke, es wäre wirklich schön, wenn ich Mia nicht verlieren würde«, sagte Paul leise und trank einen großen Schluck aus seinem Bierkrug. »Aber genug gejammert. Stellen wir einen Trainingsplan auf, schließlich sind wir hier, weil wir uns als Team finden wollen«, lenkte er das Gespräch auf ein anderes Thema.

»Du hast recht, sprechen wir über den Wettbewerb«, stimmte Korbinian Paul zu und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

Danny waren die Männer, die sich über seine Unterstützung freuten, alle sympathisch. Als er sich nach einer Stunde von ihnen verabschiedete, war ihm klar, dass er es nicht bereute, dass er in Korbinians Vorschlag eingewilligt hatte.

Auf dem Heimweg kam er am Haus der Mais vorbei. Nur hinter einem Fenster konnte er noch Licht brennen sehen. Es war Olivias Schlafzimmer. Er dachte daran, sie anzurufen, weil er sich in diesem Moment danach sehnte, ihre Stimme zu hören. Aber schließlich wagte er es nicht, diesem Verlangen nachzugeben, weil es etwas bedeutet hätte, und noch war er nicht soweit ihrer Beziehung diese Bedeutung zuzugestehen.

*

Als er am nächsten Morgen in die Küche kam, stand Valentina in ihrer rotweißgestreiften Schürze am Herd. Gekonnt schleuderte sie den Eierkuchen in die Luft, den sie für ihn zubereitete, fing ihn mit der Pfanne wieder auf, um ihn auf der anderen Seite leicht anzubräunen.

»Einen wunderschönen guten Morgen, Valentina, und ich bin echt beeindruckt«, sagte er und schaute auf die Pfanne.

»Jahrelange Übung«, antwortete sie lächelnd und schob die Brille, die ihr von der Nase zu rutschen drohte, wie einen Haarreif in ihr kurzes weißblondes Haar. »Wie ich gehört habe, ist Ihr erstes Treffen mit den Bogenschützen ausgesprochen gut verlaufen«, sagte sie, nachdem sich Danny an den Tisch gesetzt hatte, auf dem schon eine Kanne mit Kaffee und ein Körbchen mit frischen Brötchen standen.

»Ich war selbst überrascht, dass ich noch einigermaßen mithalten konnte.«

»Geh, Herr Doktor, mithalten, Sie waren wirklich gut, wie mir mein Korbinian mehrfach versichert hat«, sagte Valentina und brachte ihm den Teller mit den Pfannkuchen, den sie mit Frisch­käse bestrichen, zusammengerollt und mit frischen Kräutern garniert hatte. So wie Danny ihn zum Frühstück mochte.

»Vielleicht war es nur Anfängerglück. Warten wir mal ab, wie das zweite Training verläuft.« Danny wollte vermeiden, dass das Team auf die Idee kam, er könnte ihnen doch noch zum Sieg im Wettbewerb verhelfen. Zumal während des Trainings nicht der gleiche Druck aufgebaut wurde wie am Tag des Wettbewerbs.

»Wenn Sie sich etwas vornehmen, dann klappt das auch«, zeigte sich Valentina zuversichtlich. »Was meinst du, Ortrud?«, wandte sie sich an die Katze, die sie wie fast jeden Morgen vor der Tür erwartet hatte und ihr ins Haus gefolgt war, um es sich auf der Fensterbank in Dannys Wohnküche gemütlich zu machen.

»Sie enthält sich wohl der Stimme«, stellte Danny lachend fest, als Ortrud nur kurz aufschaute, gähnte und ihren Kopf wieder auf ihre Pfoten sinken ließ.

»Wie auch immer, ich werde da sein, und Ihnen und den anderen die Daumen drücken.«

»Für was drücken wir die Daumen?«, wollte Ophelia wissen, die in diesem Moment durch die geöffnete Terrassentür hereinkam.

»Doktor Norden nimmt am Wettbewerb der Bogenschützen teil«, klärte Valentina das Mädchen auf.

»Echt? Tennis, Squash und jetzt auch noch Bogenschießen, Sie besitzen viele Talente«, stellte Ophelia anerkennend fest.

»Ich gebe mir Mühe, vielseitig zu sein«, entgegnete Danny schmunzelnd.

»Sie müssen sich keine Mühe geben, Doc, Sie sind ein Naturtalent. Lassen Sie es sich schmecken«, sagte Ophelia und schaute sehnsuchtsvoll auf den Eierkuchen.

»Hast du schon gefrühstückt?«, fragte Valentina das Mädchen.

»Eigentlich schon, aber so ein Pfannkuchen«, entgegnete Ophelia mit einem vielsagenden Blick und spielte mit den Spitzen ihres Pferdeschwanzes.

»Wie viel Zeit hast du noch, bis du zur Schule musst?«

»Zwanzig Minuten.«

»Das reicht, setz dich, ich mach dir einen Eierkuchen.«

»Valentina Sie sind die Beste«, entgegnete Ophelia und setzte sich auf den Stuhl gegenüber Danny, ihrem Stammplatz, wenn sie morgens vorbeikam, um Ortrud abzuholen, was ein paar Mal in der Woche vorkam.

Danny hatte sich inzwischen daran gewöhnt, dass Valentina sich am Morgen mit einer Tasse Kaffee zu ihm an den Tisch setzte, Ophelia dazu kam und sie sich über Neuigkeiten in der Nachbarschaft oder das Weltgeschehen austauschten. Die Gesellschaft der beiden ließ ihn vergessen, dass er eigentlich allein lebte. Ein Zustand, der ihm immer weniger gefiel.

»Für welchen Sport interessiert du dich denn so, Schatzl?«, wollte Valentina wissen, die sich neben Ophelia setzte, nachdem sie ihr den Pfannkuchen zubereitet hatte und ihn ihr auf einem Teller reichte.

»In Heilbronn war ich im Schwimmverein. Im Moment versuche ich es gerade mit Volleyball. Meine Mutter ist aber offensichtlich der Meinung, ich sollte es mal mit Fußball versuchen. Zumindest hat sie mich dazu überredet, am Sonntag zu einem Spiel der Schwabinger Mädchenfußballmannschaft zu gehen, die zu den besten in ihrer Liga gehören.«

»Wie die Zeiten sich doch ändern. Als ich in deinem Alter war, hat kein Madl auch nur daran gedacht, Fußball zu spielen«, wunderte sich Valentina.

»Es gab schon in den 1920er Jahren Frauenmannschaften, vor allen Dingen in England, bei uns war das wohl eher noch eine Randerscheinung«, sagte Danny.

»Wow, Doc, ich bin schon wieder beeindruckt«, stellte Ophelia fest, während sie sich den Eierkuchen schmecken ließ.

»Ich habe während meiner Assistentenzeit im Krankenhaus einige Fußballerinnen behandelt.«

»Und die haben Sie über die Geschichte des Fußballs aufgeklärt?«, fragte Ophelia.

»Richtig«, antwortete Danny schmunzelnd.

»Alles klar, Doc, ich nehme an, es war eine ganz bestimmte Dame, die Ihnen mehr darüber erzählt hat.«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil, nein, wir reden nicht über ihre vergangenen Liebesbeziehungen«, erklärte Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln.

»Geh, Ophelia«, murmelte Valentina und schüttelte den Kopf, weil es ihr offensichtlich unangenehm war, dass das Mädchen so ein Thema ansprach.

»Was denn? Wir sind doch alle aufgeklärte Menschen«, sagte Ophelia und streichelte Valentina liebevoll über den Arm.

»Richtig, das sind wir, und über solche Dinge kann man ruhig sprechen. Es stimmt, ich hatte eine Beziehung mit einer dieser Frauen, aber sie hat nicht lange gehalten«, gab Danny zu.

»Sie waren damals sicher auch noch nicht auf eine feste Beziehung aus, nehme ich an.«

»Das lag wohl daran, dass mir die richtige noch nicht begegnet war.«

»Woran merkt man, dass es die richtige oder der richtige ist?«

»Kind, bitte, das solltest du doch besser mit deiner Mutter besprechen«, mischte sich Valentina vorsichtig in das Gespräch der beiden ein.

»Ich möchte aber wissen, was er dazu sagt«, erklärte Ophelia selbstbewusst und sah Danny direkt an.

»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich lag schon mehr als einmal falsch.«

»Meine Mutter auch. Das heißt dann wohl, dass die Sache sich in der Wirklichkeit schwieriger gestaltet als in Romanen oder Filmen.«

»Vermutlich braucht es ein wenig Zeit, um herauszufinden, ob man auf Dauer zusammenpasst. Die erste Begegnung ist nur so etwas wie die Eröffnung in einem Schachspiel«, sagte Danny. Plötzlich musste er wieder an seine erste Begegnung mit Olivia denken.

Damals, als sie sich im Park von Schloss Nymphenburg getroffen hatten, weil sie sich von einem Mann verfolgt fühlte, der sich in ihrer Nachbarschaft herumtrieb und vor dem sie ihn warnen wollte. Er sah sie noch genau vor sich, wie sie auf ihn zukam, aus dem Sonnenlicht heraustrat, das durch das Laub der Bäume fiel und sie einhüllte. Das hellrote Haar, das leuchtendblaue Kleid, das bei jedem ihrer Schritte in Schwingung geriet, und dann stand sie vor ihm, sah ihn mit ihren hellen blauen Augen an, und er hielt für einen Moment den Atem an, weil ihr Anblick ihn aus der Fassung brachte.

»Alles in Ordnung, Doc?«, fragte Ophelia besorgt, weil Danny ganz offensichtlich mit seinen Gedanken weit fort schien.

»Ja, alles ist gut«, antwortete er, als er wieder zu sich kam.

»Mama meinte übrigens, Sie will mir am Sonntag jemanden vorstellen, und dabei hatte sie so einen verträumten Blick. Ich dachte, das sollten Sie wissen, Doc«, sagte Ophelia.

»Ich gehe dann mal rüber in die Praxis. Ich wünsche euch beiden einen schönen Tag, und dir natürlich auch, Ortrud«, fügte er hinzu, als die Katze ihren Kopf hob. Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken, was er mit Ophelias Andeutung anfangen sollte. Zumal sie zu diesem Lächeln passte, das er bei Olivia beobachtete, als sie ihm am Tag zuvor erzählte, dass sie am Sonntag nicht zum Tennis kommen konnte, weil sie verabredet war. Er musste dieses unangenehme Gefühl, das Olivias geheimnisvolle Verabredung bei ihm auslöste, verdrängen. Es durfte ihn während der Sprechstunde nicht beschäftigen.

»Irgendetwas hat er«, mutmaßte Ophelia, nachdem Danny gegangen war.

»Vielleicht solltest du mit ihm nicht über solche Sachen sprechen«, entgegnete Valentina.

»Doch, ich denke schon, wir müssen ihn daran erinnern, dass es diese wahre Liebe nach wie vor gibt, auch wenn er das vielleicht zurzeit nicht glauben will«, widersprach Ophelia ihr. »Außerdem wissen wir doch beide, dass es zwischen ihm und meiner Mutter längst gefunkt hat.«

»Soso, das wissen wir also«, entgegnete Valentina schmunzelnd.

»Ich denke schon. Am liebsten wäre es mir, dass er am Sonntag mit uns zu diesem Fußballspiel geht.«

»Wegen dieser Person, die du kennenlernen sollst?«

»Ganz genau. Ich befürchte, meine Mutter will mir einen Mann vorstellen, und ich denke, das wird mir nicht gefallen.«

»Warte doch erst einmal ab, um wen es geht.«

»Ihr verträumter Blick, als sie von diesem Treffen sprach, macht mir aber Angst.«

»Selbst wenn es um einen Mann geht, der deiner Mutter gefällt, wie du gerade vermutest, dann ist es ihre Entscheidung. Eine Entscheidung, die du respektieren solltest.«

»Aber ich habe doch eine andere Idee.«

»Ich weiß«, sagte Valentina und streichelte Ophelia liebevoll über das Haar.

»Gut, warten wir erst einmal ab, was passiert. Ich muss jetzt auch los, sonst komme ich zu spät in die Schule. Vielen Dank, für den Eierkuchen, wir sehen uns, Valentina«, verabschiedete sich Ophelia, nahm Ortrud behutsam auf ihre Arme und verließ die Küche über die Terrasse.

»Mir wär’s auch recht, wenn es so käm, wie du es dir wünschst«, murmelte Valentina und schaute Ophelia noch eine Weile nach.

*

»Wir haben hohen Besuch«, raunte Lydia Danny zu, als er auf seinem Weg ins Sprechzimmer, wie an jedem Morgen, am Empfangstresen stehen blieb, um ein paar Worte mit ihr und Sophia zu sprechen.

»Wer ist es?«, fragte er.

»Reinhold Eberholz, der Vorstandsvorsitzende des Bogenschützenvereins. Sie müssen ihn beeindruck haben, dass er seine Abneigung gegenüber der Ärzteschaft überwunden hat«, fügte Lydia leise hinzu.

»Wie auch immer Sie das geschafft haben, der Mann braucht dringend Hilfe. Er sieht nicht gut aus«, sagte Sophia, nachdem sie kurz durch die Glaswand ins Wartezimmer geschaut hatte. Reinhold saß nach vorn gebeugt in einem der Sessel und starrte vor sich her.

»Wie viele sind vor ihm?«, fragte Danny.

»Nur Frau Meier, die sich wieder einmal einbildet, schwer krank zu sein«, antwortete ihm Sophia. »Ich könnte Herrn Eberholz zur Blutentnahme bitten, ihn aber stattdessen zu Ihnen bringen«, schlug Sophia Danny vor.

»Machen Sie das, danke«, sagte Danny. Mit diesem kleinen Trick würden sie vermeiden, dass Gusti Meier, eine Patientin aus der Nachbarschaft, sich übergangen fühlte und sich aufregte, so wie sie es gern tat, um sich in den Mittelpunkt zu spielen.

Er ging in sein Sprechzimmer, schloss das Fenster, das noch zum Lüften offenstand, und schaltete seinen Computer ein. Gleich darauf klopfte es an seiner Tür.

»Guten Morgen, Herr Eberholz«, begrüßte er den Vorstandsvorsitzenden des Bogenschützenvereins und bat ihn, auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen.

»Gestern hätte ich noch nicht gedacht, dass wir uns so schnell wiedersehen, Herr Doktor, aber ich denke, ich brauche Hilfe«, sagte Reinhold.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Danny. Er sah Reinhold an, dass er Schmerzen hatte und dass er auffallend blass war.

»Ich kann seit Tagen nicht mehr richtig essen. Mir ist ständig übel, und mein Bauch fühlt sich irgendwie hart an«, sagte Reinhold.

»Ich sehe mir das an, legen Sie sich bitte auf die Liege«, bat Danny seinen Patienten.

»Vermutlich ist es nur eine hartnäckige Gastritis«, mutmaßte Reinhold, während er sich auf der Liege ausstreckte.

»Das ist eine Möglichkeit«, entgegnete Danny. Bevor er den Vereinsvorsitzenden nicht gründlich untersucht hatte, würde er sich in keiner Richtung festlegen. Behutsam tastete er seinen Bauchraum ab. »Tut das weh?«, fragte er, als er eine Verhärtung in Höhe der Leber spürte.

»Ja, schon«, gab Reinhold zu, als Danny noch einmal kurz Druck ausübte. »Ist es der Magen?«, wollte er wissen.

»Eher nicht, ich denke, es ist Ihre Leber. Zur Abklärung würde ich mir das gern mit dem Ultraschallgerät ansehen.«

»Ginge das gleich? Oder muss ich mir erst einen Termin geben lassen?«

»Das machen wir natürlich jetzt gleich. Ich wäre ein schlechter Arzt, wenn ich Sie mit unklaren Schmerzen wieder nach Hause schicken würde«, erklärte ihm Danny.

»Das habe ich schon ganz anders erlebt«, entgegnete Reinhold.

»Das tut mir leid, Herr Eberholz. Patienten sollten eine Praxis nicht mit einem unguten Gefühl verlassen. Kommen Sie bitte mit mir«, bat er Reinhold und hielt ihm die Tür des Sprechzimmers auf.

Manchmal fragte er sich, ob einige seiner Kolleginnen oder Kollegen noch nie krank waren oder welchen Grund sie haben könnten, dass sie Patienten so oft im Ungewissen ließen. Vielleicht lag es ­daran, dass viele Ärzte sich besonders gern vor einer Untersuchung drückten, weil sie eine unangenehme Diagnose befürchteten. »Ich mache noch einen Ultraschall«, teilte er Lydia mit, die aus dem Labor kam und ihm und Reinhold im Gang begegnete.

»Danke, dann wissen wir Bescheid«, sagte Lydia und ging zum Empfangstresen. Falls die anderen Patienten ungeduldig wurden, würde sie ihnen etwas von einem Notfall erzählen.

Im Ultraschallraum angekommen bedeckte Danny die Liege mit dem Papier, das sie in Rollen geliefert bekamen und für jeden Patienten erneuerten. Danach bat er Reinhold, seinen Oberkörper freizumachen, damit er ihn untersuchen konnte. »Das wird sich gleich ein wenig kühl anfühlen«, warnte er ihn vor, bevor er das Gel für den Gleitkopf des Ultraschallgerätes auftrug.

»Wir haben heute Morgen schon zwanzig Grad, da kann ich eine kleine Abkühlung gut vertragen«, entgegnete Reinhold und versuchte trotz seiner Schmerzen zu lächeln.

»Alles klar, wenn Sie möchten, können Sie zusehen«, schlug Danny ihm vor und deutete auf den Bildschirm des Ultraschallgerätes, den er so ausgerichtet hatte, dass er und sein Patient die Aufnahmen betrachten konnten.

»Ich denke, das ist nichts für mich«, antwortete Reinhold und wandte seinen Kopf zur anderen Seite.

»In Ordnung«, sagte Danny. Er fuhr mit dem Gleitkopf langsam über Reinholds Bauchraum und machte währenddessen einige Aufnahmen, die er sich nach der Untersuchung noch einmal ansehen konnte. »Ihre Leber ist vergrößert, Herr Eberholz, und ich kann auch einige helle Stellen erkennen«, klärte er seinen Patienten auf, nachdem er sich seine Leber genau angesehen hatte.

»Und was bedeutet das?«, fragte Reinhold.

»Es könnte sich um eine Entzündung handeln.«

»Sie meinen, ich habe mir eine Hepatitis gefangen?«

»Das könnte sein. Zur genaueren Abklärung nehmen wir Ihnen noch Blut ab, dann wissen wir morgen mehr. Melden Sie sich bitte morgen Nachmittag telefonisch, damit wir das Ergebnis besprechen können. Ich schreibe Ihnen noch etwas gegen die Übelkeit und die Schmerzen auf.«

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte Reinhold. Er wischte mit dem Papier, das Danny ihm reichte, das Gel von seinem Bauch und zog sich wieder an.

»Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Herr Eberholz. Sophia, wir brauchen ein großes Blutbild von Herrn Eberholz«, wandte sich Danny an seine Sprechstundenhilfe, als er zusammen mit seinem Patienten den Ultraschallraum verließ.

»Ist recht, Herr Doktor, kommen Sie bitte mit mir, Herr Eberholz«, bat Sophia den Vereinsvorsitzenden der Bogenschützen und ging mit ihm in das Laborzimmer.

Danny warf im Vorbeigehen einen Blick ins Wartezimmer.

Die meisten Plätze waren besetzt, es würde ein ausgefüllter Vormittag werden. Gusti Meier, seine nächste Patientin, kam fast jede Woche mit irgendwelchen merkwürdigen Symptomen zu ihm. Letztendlich wollte sie aber nur ein wenig plaudern und Neuigkeiten erfahren. Dieses Mal war ein Hautausschlag auf der Stirn ihr Aufhänger. Er konnte ihn schnell als Rückstand eines Haarfärbemittels identifizieren, nachdem sie ihm erzählt hatte, dass sie zwei Tage zuvor bei einer Bekannten war, die ihr die Haare gefärbt hatte.

»Das nächste Mal gehe ich wieder zum Friseur. Da lässt man sich einmal überreden, was Neues auszuprobieren und schon geht es daneben«, schimpfte die kleine rundliche Frau und wischte einen weißen Fussel von ihrem dunkelblauen Trachtenrock.

»Es ist nur eine leichte Verfärbung, die ist bald wieder verschwunden. Sie können es auch mit Creme versuchen, damit verschwindet der Fleck vermutlich schneller«, riet ihr Danny.

»Danke, für den Tipp, ich werde es ausprobieren, sobald ich zu Hause bin.«

»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Danny, als Gusti sitzen blieb und ihn anschaute.

»Für mich nicht, aber ich habe gehört, dass Sie einiges für die Bogenschützen tun. Wissen Sie, mein Sohn gehört auch zu den Bogenschützen. Auch er nimmt mit einem Team am Wettbewerb teil. Alle im Verein sind Ihnen recht dankbar, dass Sie dabei sind. Werden Sie denn nach dem Wettbewerb dem Verein erhalten bleiben?«, fragte Gusti.

»Im Moment zählt erst einmal der Wettbewerb«, antwortete Danny und erhob sich von seinem Platz, das Zeichen für Gusti, dass er ihren Besuch für beendet hielt. Er würde seine Zukunft bei den Bogenschützen sicher nicht mit Gusti Meier besprechen, die dafür bekannt war, gern alle Neuigkeiten, von denen sie erfuhr, weiterzuverbreiten.

»Nun gut, dann gehe ich mal wieder. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Doktor«, verabschiedete sie sich.

»Für Sie auch einen schönen Tag. Grüßen Sie Ihre Familie«, sagte er, hielt ihr die Tür auf und schloss sie gleich wieder, bevor ihr noch etwas einfiel, was sie ihn fragen könnte. Glücklicherweise hatte er nur wenige Patienten, die so häufig zu ihm kamen, ohne dass es einen Grund dafür gab. Dass Gusti diese Besuche bei ihm brauchte, betrachtete er als untypisches Krankheitsbild, das sich gut durch ein paar Minuten seiner Aufmerksamkeit behandeln ließ.

Nein, es geht mich nichts an, dachte er, als er auf dem Weg zu seinem Schreibtisch kurz aus dem Fenster schaute, Olivia auf dem Grundstück nebenan aus dem Haus kommen sah und gleich wieder an ihre Verabredung am kommenden Sonntag dachte. Entschlossen wandte er sich vom Fenster ab, setzte sich hinter seinen Schreibtisch und rief Herrn Schlosser, einen netten älteren Herrn auf, der an Gicht litt und sich regelmäßig von ihm durchchecken ließ.

*

Die Nachmittagssprechstunde verlief ruhig. Die meisten seiner älteren Patienten und die Mütter mit kleinen Kindern bevorzugten den Vormittag. Am Nachmittag kamen die Berufstätigen, die nicht viel Zeit mitbrachten. Eine schnelle Diagnose, ein paar Worte zur Behandlung, gegebenenfalls eine Krankschreibung, mehr wollten sie nicht. Als letzte Patientin an diesem Nachmittag kam Mia Wender, Pauls Frau, zu ihm.

»Mein Mann meinte, ich sollte mit Ihnen über meine Stimmungsschwankungen sprechen«, erklärte ihm Mia, nachdem sie auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Wollen Sie denn auch mit mir darüber sprechen?«, fragte Danny und sah die mollige Frau mit den traurigen dunklen Augen abwartend an.

»Ehrlich gesagt, glaube ich nicht mehr daran, dass sich mein Zustand verbessern lässt. Ich leide seit sechs Jahren an einer Unterfunktion meiner Schilddrüse, Gewichtszunahme und Haarausfall eingeschlossen«, erzählte sie und fasste sich an ihr glanzloses dunkelblondes Haar, das sie streichholzkurz trug, vermutlich, damit nicht gleich auffiel, wie dünn es war.

»Ich gehe davon aus, dass Sie Hormone nehmen.«

»Ja, Thyroxin 125, trotzdem bin ich immer müde, und oft schlecht gelaunt. Ich habe Heißhungerattacken, Angstzustände und möchte mich am liebsten im Bett verkriechen. Meine Ärztin meinte, es sei ein psychisches Problem, und ich müsste mein Leben verändern. Aber ich fühle mich zu schwach, um etwas zu verändern. Alles, was ich tue, ist eine Belastung für mich.«

»Sie sagen, Sie sind immer müde. Geben Sie dieser Müdigkeit denn immer nach?«

»Zuhause schon, während der Arbeit geht es ja nicht.«

»Fühlen Sie sich nach dem Schlaf erholt?«

»Nein, kein bisschen, das ist ja das Problem«, seufzte Mia. »Ich glaube, Paul wird bald die Geduld mit mir verlieren. Mit meinen ständigen Zuständen mache ich ihm das Leben unglaublich schwer. Ich wäre gern wieder fröhlich und ausgeglichen wie vor meiner Krankheit, aber das ist wohl ein Traum, der sich nicht erfüllen wird. Oder sehen Sie das anders?«, fragte sie und nestelte nervös an dem obersten Knopf der weiten Bluse, die sie zu ihrem hellblauen knöchellangen Baumwollrock trug.

»Ich denke, wir sollten einige Blutwerte untersuchen, die Werte der Nebennieren miteingeschlossen.«

»Die Nebennieren? Vermuten Sie, eine Nierenschwäche?«, fragte Mia erschrocken.

»Es wäre eine Möglichkeit, und eine gute dazu. Eine Schwäche der Nebennieren lässt sich durch die Gabe von Hydrocortison heilen. Unser Körper reagiert auf das Zusammenspiel verschiedener Hormone. Nicht nur die Schilddrüse produziert für uns lebenswichtige Hormone, auch die Nebennieren mit der Produktion des Cortisols sind daran beteiligt. Wird es in nicht ausreichendem Maß hergestellt, kann das massive Auswirkungen haben.«

»Würde das meine Beschwerden erklären?«

»Zum Teil. Wir müssten noch weitere Werte untersuchen.«

»Bedeutet das, Sie könnten die Ursache meiner Beschwerden finden?«

»Ich denke schon.« Danny wollte sich gegenüber Mia nicht anmerken lassen, wie entsetzt er über ihre bisherige Behandlung war. Offensichtlich war noch niemand auf die Idee gekommen, eine Untersuchung zu veranlassen, die über die gewöhnliche Blutuntersuchung hinausging.

»Was muss ich tun?«, fragte Mia und ihre Traurigkeit war einem entschlossenen Blick gewichen.

»Wir nehmen Ihnen erst einmal Blut ab, lassen es im Labor gründlich analysieren. Sobald das Ergebnis vorliegt, besprechen wir es.«

»Wie lange wird es dauern, bis wir das Ergebnis haben?«

»Heute haben wir Donnerstag, das Labor nimmt erst morgen früh wieder Proben an. Wir müssen uns also bis zum Montag gedulden.«

»Dann komme ich am Montagnachmittag vorbei.«

»Rufen Sie aber besser vorher an und fragen Sie nach, ob das Ergebnis vorliegt. Einen Moment, bitte«, bat er Mia und nahm den Hörer der Haussprechanlage in die Hand. »Sophia, Frau Wender kommt jetzt zu Ihnen. Wir brauchen ein Blutbild mit Bestimmung des Hormonstatus, inklusive Cortisol«, teilte er Sophia mit, die seinen Anruf entgegennahm.

»In Ordnung«, sagte Sophia und legte wieder auf.

»Sophia erwartet Sie. Wir sehen uns dann nächste Woche«, wandte er sich Mia wieder zu.

»Was passiert, falls das Labor nichts findet, was uns weiterhilft?«, fragte sie.

»Dann suchen wir weiter.«

»Ist das wahr?«, wunderte sich Mia.

»Aber ja, wir wollen doch beide, dass es Ihnen wieder besser geht.«

»Vielen Dank, Doktor Norden. Ich bin sehr froh, dass ich den Rat meines Mannes angenommen habe und Sie aufgesucht habe.«

»Wir werden der Ursache Ihrer Beschwerden auf die Spur kommen«, versicherte Danny ihr. »Grüßen Sie Paul von mir«, sagte er und hielt ihr die Tür des Sprechzimmers auf.

»Das mache ich gern«, sagte sie und verabschiedete sich von ihm.

Zehn Minuten später verließ er sein Sprechzimmer. Das Wartezimmer war leer, und die Türen der Untersuchungszimmer standen offen, so wie jeden Abend, nachdem Sophia und Lydia ihren Rundgang gemacht hatten, um nachzusehen, ob irgendwo Uhren, Schals oder ähnliches herumlag. Patienten ließen ständig etwas liegen. Sie verwahrten alles in einem Schrank in dem Umkleideraum neben der Küche auf, bis die Eigentümer es abholten. Sophia und Lydia waren in der Küche und räumten die Spülmaschine aus, die sie während der Nachmittagssprechstunde hatten laufen lassen.

»Ich bin wirklich froh, dass Mia hier war, Daniel«, sagte Lydia, als er zu ihnen in die Küche kam. »Bevor das mit der Schilddrüse bei ihr losging, war sie eine lebensfrohe junge Frau, und hübsch war sie auch. Sie ist inzwischen nur noch ein Schatten ihrer selbst«, erzählte sie ihm.

»Mit ein bisschen Glück wird Sie Ihre Lebensfreude wiedergewinnen«, entgegnete Danny. »Den übernehme ich«, sagte er und deutete auf den Korb mit dem Besteck.

»Alles klar, Chef«, antwortete Lydia lächelnd und nahm den Korb aus der Spülmaschine.

»Sie vermuten eine Cortisolunterversorgung?«, fragte Sophia, die die gespülten Gläser in einen der Hängeschränke räumte.

»Das wäre eine Möglichkeit. Es könnten aber auch noch andere Hormone nicht im Gleichgewicht sein.«

»Die meisten Ärzte denken nicht so weit. Sie untersuchen die Standardwerte, das war es dann. Die Patienten können zusehen, wie sie damit klarkommen. Wir standen auch vor einem Ärztemarathon, nachdem meine Mutter die Diagnose MS bekommen hatte. Seitdem sie Ihre Patientin ist, geht es ihr um einiges besser«, versicherte Sophia ihm.

»Danke, aber ich tue nur das, was man tun sollte, dafür muss ich nicht gelobt werden«, sagte Danny, während er das Besteck in die Schublade mit dem Besteckkasten räumte.

»Sie tun weitaus mehr, als sie tun müssten, Daniel. Sie dürfen sich ruhig hin und wieder loben lassen«, widersprach ihm Lydia.

»Auf jeden Fall«, stimmte Sophia ihr zu.

»Gut, dann nehme ich das mal so hin«, sagte Danny.

Ein paar Minuten später verabschiedeten sie sich voneinander. Sophia und Lydia verließen die Praxis, und er ging hinüber in seine Wohnung. Nachdem er sich umgezogen und etwas gegessen hatte, setzte er sich ins Wohnzimmer, um eine seiner Fachzeitschriften über die neuesten Entwicklungen in der Medizin zu lesen. Kaum hatte er die Zeitschrift aufgeschlagen, rief Viktor an.

Viktor, der die Leitung der chirurgischen Abteilung einer Privatklinik in der Nähe von Innsbruck übernommen hatte, hatte mit ihm zusammen studiert. Sie waren sich vor Kurzem wieder begegnet und hatten ihre alte Freundschaft erneuert. Um sich nicht noch einmal aus den Augen zu verlieren, hatten sie vereinbart, regelmäßig miteinander zu telefonieren.

Dass Viktor plante, mit Carolina, Valentinas Nichte, zusammenzuziehen, freute ihn. Viktor hatte die junge Ernährungsberaterin während eines Besuches bei ihm kennengelernt, sich in sie verliebt und ihr eine gut bezahlte Stelle an seiner Klinik vermittelt. Nachdem Danny zwei Stunden mit Viktor telefoniert hatte, widmete er sich wieder seiner Zeitschrift. Als ihm während des Lesens die Augen zufielen, beschloss er, schlafen zu gehen. Vor dem Einschlafen dachte er an Olivia, so wie fast jeden Abend, seitdem er ihr begegnet war. Falls diese Verabredung am Sonntag, von der sie und Ophelia gesprochen hatten, das bedeutete, was er vermutete, sollte er umgehend damit aufhören. An eine Frau zu denken, die längst vergeben war, konnte nur in Seelenqualen enden.

*

Als Danny am nächsten Morgen in die Praxis kam, lagen die Laborergebnisse der Blutproben des Vortages bereits vor. Das Labor hatte die Auswertungen wie immer per Mail geschickt, und Danny konnte sie sich vor Beginn der Sprechstunde ansehen. Die meisten Werte lagen im Normbereich. Bei einigen Patienten gab es leichte Abweichungen, nichts Dramatisches. Bei Reinhold Eberholz waren die Entzündungswerte der Leber allerdings alarmierend. Er sah auf dem Patientenblatt nach, das im Computer gespeichert war, ob er eine Telefonnummer hinterlassen hatte, auf der er tagsüber zu erreichen war. Reinhold hatte seine Handynummer eintragen lassen.

»Daniel Norden, guten Morgen, Herr Eberholz«, meldete sich Danny, nachdem Reinhold das Gespräch angenommen hatte.

»Guten Morgen, Doktor Norden, sollte ich nicht Sie anrufen, wegen meiner Ergebnisse?«, wunderte sich Reinhold über Dannys Anruf.

»Das ist richtig, so hatten wir es vereinbart. Aber Ihre Werte bereiten mir große Sorgen. Sie leiden an einer massiven Entzündung der Leber, und sollten sich unbedingt in einem Krankenhaus untersuchen lassen, am besten stationär.«

»Ich gehe nicht ins Krankenhaus, auf keinen Fall«, erklärte Reinhold.

»Eine genauere Abklärung Ihres Krankheitsbildes ist aber nur in einem Krankenhaus möglich. Mit Ultraschall und Blutuntersuchungen allein kommen wir nicht weiter.«

»Mit den Tabletten, die Sie mir gegeben haben, geht es mir aber schon viel besser«, entgegnete Reinhold.

»Diese Tabletten sind nicht die Lösung. Sie sind nicht für den Langzeitgebrauch bestimmt. Falls sich Ihr Zustand noch weiter verschlechtert, werden sie auch nicht mehr helfen. Es führt aus meiner Sicht kein Weg an einer weiterführenden Untersuchung vorbei.«

»Gut, dann werde ich mich untersuchen lassen, aber erst einmal nur ambulant.«

»Wie Sie wollen, aber lassen Sie sich bitte untersuchen. Haben Sie eine E-Mail Adresse, an die ich die Überweisung schicken darf?«

»Ja, habe ich«, sagte Reinhold und nannte Danny die Adresse. »Vor Montag werde ich aber nicht hingehen können. Ich habe heute und am Wochenende wichtige Termine, die ich nicht verschieben kann.«

»Sie sollten sie aber verschieben. Es ist wirklich wichtig, dass Sie sich so schnell, wie möglich, untersuchen lassen«, versuchte Danny ihm erneut den Ernst der Lage klar zu machen.

»Ich danke Ihnen, dass Sie sich um mich sorgen, aber das ist unnötig. Die drei Tage wird es schon noch gehen. Davon abgesehen, werde ich vor Montag ohnehin keinen Termin mehr im Krankenhaus bekommen.«

»Genau deshalb hatte ich eine stationäre Einweisung vorgeschlagen.«

»Ich werde schon nicht gleich sterben, Herr Doktor«, antwortete Reinhold lachend.

»Ihre Werte sind aber wirklich kritisch. Es könnte schnell zu einer lebensbedrohlichen Krise kommen«, wiederholte Danny seine Sorge um Reinholds Gesundheit.

»Deshalb nehme ich Ihren Rat auch an. Meine Frau war früher Krankenschwester an der Uniklinik. Sie kennt dort noch einige Leute, und wird mir sicher für Montag einen Termin besorgen können.«

»Gut, Herr Eberholz. Ich schicke Ihnen dann gleich die Überweisung und das Ergebnis der Laboruntersuchung. Sie sollten das Ergebnis mit Ihrer Frau besprechen. Sie kann Ihnen die Werte dann noch einmal erklären.«

»Das mache ich, vielen Dank, für Ihre Mühen, Herr Doktor. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte Reinhold und beendete das Gespräch.

»Dann eben nicht«, murmelte Danny. Er konnte niemanden zwingen, sich einer Untersuchung im Krankenhaus zu unterziehen. Wenn Reinhold Eberholz nicht verstehen wollte, dass sein Zustand höchst bedenklich war, dann konnte er jetzt nur noch darauf hoffen, dass Reinhold seiner Frau den Laborbericht zeigte, den er ihm gleich schicken würde. Als ausgebildete Krankenschwester würde ihr sofort klar sein, dass ihr Mann sofort in ein Krankenhaus gehörte.

Er ging davon aus, dass Reinhold am Abend wieder beim Training der Bogenschützen auftauchen würde, sollte seine Frau ihn nicht davon überzeugen können, sofort ins Krankenhaus zu gehen. Sollte das der Fall sein, würde er noch einmal eindringlich mit ihm reden müssen.

Nachdem er die Mail mit den Anhängen an Reinhold verschickt hatte, rief er die Patientenliste im Computer auf, die Sophia und Lydia jeden Tag anlegten und im Laufe der Sprechstunde ständig aktualisierten, damit er wusste, wer als nächstes an der Reihe war. Bisher standen dort nur Namen ihm bereits bekannter Patienten, die vermutlich nur wegen der üblichen kleineren Wehwehchen kamen. Die schlechte Nachricht des Tages habe ich dann wohl schon hinter mir, dachte er und atmete innerlich auf, bevor er den ersten Patienten aufrief.

Vor einigen Wochen hatte Danny gemeinsam mit Sophia und Lydia beschlossen, dass sie freitags auf die Mittagspause verzichteten, durchgehend bis zwei Uhr geöffnet hatten und danach ins Wochenende gingen. Inzwischen hatten sich auch die Patienten daran gewöhnt, und spätestens um halb drei waren dann auch alle gegangen. So war es auch an diesem Nachmittag. Um kurz vor halb drei verschloss Lydia die Tür der Praxis, danach ging sie in die Küche, setzte sich zu Sophia und Danny an den Tisch, um noch einen Kaffee mit ihnen zu trinken. Es war ihr allwöchentliches Ritual, das Danny eingeführt hatte, damit sie eventuell noch offenstehende Fragen der Woche klären konnten.

»Gab es irgendwelche Vorkommnisse, über die wir noch reden sollten?«, fragte Danny. Er hatte den beiden schon bei ihrer Einstellung gesagt, dass er Wert auf Offenheit legte, um mögliche Missverständnisse aufzuklären, bevor sie das Arbeitsklima beeinträchtigten. Da Sophia und Lydia aber schnell eine herzliche Freundschaft verband, und sie sich beide nicht scheuten, ihm zu sagen, wenn ihnen etwas missfiel, machte er sich schon längst keine Sorgen mehr um das Arbeitsklima.

»Von meiner Seite aus gibt es nichts zu besprechen«, antwortete Sophia.

»Ich hätte da schon etwas«, sagte Lydia.

»Und das wäre?«, fragte Danny.

»Ich habe vorhin mit Thomas telefoniert. Er hat mir erzählt, dass Reinhold heute Abend zum Training kommt, um sich von der Leistung seiner Teams zu überzeugen.«

»Das ist doch verständlich, er ist der Vereinsvorsitzende«, entgegnete Sophia und sah Lydia verwundert an.

»Du hast das Ergebnis seiner Laboruntersuchung nicht gesehen.«

»Stimmt, du hast dich heute Morgen um die Patientenakten gekümmert. Warum? Was ist?«, fragte Sophia.

»Die Entzündungsparameter seiner Leber sind alarmierend«, kam Danny Lydia mit der Antwort zuvor und nannte Sophia die entsprechenden Zahlen. »Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, eine Klinik aufzusuchen. Leider vergeblich. Er will bis Montag warten.«

»Das sieht ihm ähnlich. Immer den Starken spielen. Aber bei diesen Werten ist das absolut nicht angebracht«, sagte Lydia.

»Er hat vorhin am Telefon erwähnt, dass seine Frau Krankenschwester war. Ich habe ihn gebeten, das Laborergebnis mit ihr zu besprechen.«

»Ich denke, das wird er nicht tun. Wenn er einmal einen Entschluss gefasst hat, dann lässt er sich nicht reinreden«, erklärte ihm Lydia.

»Offensichtlich versteht er aber nicht genug von Medizin, um seine Lage richtig einschätzen zu können, sonst würde er die Untersuchung nicht hinauszögern«, stellte Sophia fest.

»Wie auch immer, wir können unsere Patienten nur informieren und Ihnen eine Behandlung vorschlagen. Wir können ihnen nicht vorschreiben, wie sie damit umzugehen haben. Was Herrn Eberholz betrifft, da hoffen wir einfach, dass es gutgeht. Und jetzt genug für diese Woche, genießen Sie Ihr Wochenende«, sagte Danny. Das, was sie in der Woche in der Praxis erlebten, sollten die beiden nicht mit ins Wochenende nehmen.

Ein paar Minuten später verabschiedeten sie sich voneinander, und er ging hinüber in seine Wohnung. Da er in der Nacht nicht besonders gut geschlafen hatte, aß er nur eine Kleinigkeit, schaltete das Radio im Wohnzimmer an und legte sich auf das Sofa. Es dauerte nicht einmal fünf Minuten, bis er tief und fest schlief.

*

Als er aufwachte, war es bereits nach sechs. In genau einer Stunde musste er zum Training in der Halle der Bogenschützen sein. Er aß zwei von den Buletten, die Valentina für ihn zubereitet hatte und die im Kühlschrank lagen, zog danach Jeans und Poloshirt an und machte sich auf den Weg zur Halle. Schon beim Hineingehen hörte er das leise Zischen der Pfeile, die auf die Ziele zuschossen, gefolgt von dem Plopp, sobald sie in das Holz der Zielaufsteller eindrangen.

Er war nicht überrascht, Reinhold zu sehen, da Lydia ihn bereits darauf vorbereitet hatte. Er stand in der Tür zu seinem Büro und nickte ihm freundlich zu.

»Mir geht es gut«, sagte er.

»Haben Sie mit Ihrer Frau gesprochen?«, wollte Danny wissen.

»Nein, ich wollte Sie nicht beunruhigen. Ich werde am Sonntag mit ihr reden.«

»Sollte es Ihnen schlechter gehen, warten Sie bitte nicht bis Montag«, bat Danny ihn.

»Sicher, versprochen.«

»Daniel, kommst du zu uns!«, rief Thomas, der schon mit Paul und Thorsten an der Linie stand, an der sich die Schützen aufstellten.

»Gehen Sie nur, ich komme schon zurecht«, sagte Reinhold.

»Dann bis später«, verabschiedete sich Danny von ihm und ging zu seinem Team.

Die ersten Pfeile, die er an diesem Abend abschoss, waren weit von der Mitte des Ziels entfernt, erst sein vierter Versuch kam dem Ziel näher, und von Pfeil zu Pfeil wurde er wieder besser.

»Du bist wirklich gut«, lobte ihn Thomas.

»Fehlschüsse darf ich mir am Tag des Wettbewerbs aber nicht leisten.«

»Um das zu vermeiden, trainieren wir ja«, sagte Paul. »Danke, übrigens. Seitdem meine Frau bei dir war, ist sie viel zugänglicher. Sie hat mir gesagt, dass sie wieder Hoffnung hat. Wir reden mehr, und wenn sie müde ist, dann bleibt sie trotzdem bei mir auf dem Sofa. Ich denke, ich habe mich geirrt, sie will sich doch nicht von mir trennen.«

»Vielleicht solltet ihr einfach öfter miteinander reden. Wir sollten wissen, wie sich die Menschen wirklich fühlen, die wir lieben.«

»Ich werde mir in Zukunft mehr Mühe geben. Wo ist eigentlich Korbinian?«, wollte Paul wissen.

»Valentina hat Theaterkarten geschenkt bekommen. Die Vorstellung ist heute. Korbinian hat sie ins Theater begleitet«, erzählte Danny ihm, was er am Morgen von Valentina gehört hatte.

»Diese Ehe sollten wir uns alle als Vorbild nehmen«, sagte Thorsten.

»Die beiden sind immer noch glücklich, das konnten wir alle sehen, als sie vor ein paar Wochen ihre Silberhochzeit feierten«, stimmte Paul ihm zu. »Ich denke, wenn Mia und ich uns ein bisschen anstrengen, dann könnten wir das auch hinbekommen.«

»Meine Lucie und ich strengen uns auch an«, sagte Thorsten.

»Um so weit wie Valentina und Korbinian zu kommen, muss man sich die richtige Partnerin aussuchen«, erklärte Thomas nachdenklich.

»Was ist mit Lydia?«, fragte Danny.

»Mit ihr könnte ich mir eine solche Beziehung vorstellen. Ich bin mir nur nicht sicher, ob sie sich das auch mit mir vorstellen kann.«

»Okay, Leute, wollen wir noch weiter trainieren oder gleich zum Reden ins Ritterstübel umziehen?«, fragte Thorsten.

»Reinhold ist gerade zusammengebrochen! Er braucht Hilfe!«, rief eine junge Frau, die zu einem gemischten Team gehörte, das sich in der Halle für den Wettbewerb vorbereitete. Sie kam aus Reinholds Büro gerannt und fuchtelte wild mit den Armen herum.

»Ich sehe nach ihm. Im Kofferraum steht meine Notfalltasche«, sagte Danny und drückte Thomas zuerst seinen Bogen und danach die Autoschlüssel in die Hand. Glücklicherweise war er heute mit dem Auto gekommen, und war auf einen Notfall vorbereitet. Vielleicht eine Eingebung seines Unterbewusstseins, weil er befürchtete, Reinhold könnte sich mit seinem Besuch in der Trainingshalle überschätzt haben.

Genauso war es wohl auch. Als er in das Büro des Vereinsvorsitzenden kam, lag Reinhold in gekrümmter Haltung und schweißüberströmt auf dem Boden. »Doktor Norden, Sie hatten wohl recht, ich hätte ins Krankenhaus gehen sollen«, flüsterte er mit schwacher Stimme.

»Leider führt jetzt kein Weg mehr daran vorbei.«

»Vielleicht ist es jetzt zu spät«, entgegnete Reinhold leise.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird alles gut, Herr Eberholz«, sprach Danny beruhigend auf Reinhold ein, nachdem er seinen Zeigefinger seitlich auf seinen Hals gelegt hatte, um den Puls zu fühlen. Mit Vorwürfen würde er jetzt nicht weiterkommen, das würde Reinholds Zustand nur verschlimmern. Zumal ihm inzwischen selbst klar war, dass er auf seinen Rat hätte hören sollen.

»Brauchen wir einen Krankenwagen?«, fragte Thomas, der mit Dannys Arzttasche zu ihnen kam.

»Ja, brauchen wir«, antwortete Danny.

»Ich kümmere mich darum.«

»Ruf bitte auch meine Frau an, Thomas«, bat Reinhold.

»Das habe ich schon getan«, sagte Thomas und verließ mit seinem Telefon in der Hand das Büro, um einen Krankenwagen anzufordern.

»Jetzt wird meine Marga wohl auf diese Weise erfahren, dass es mir schlechter geht, als ich ihr gegenüber zugegeben habe«, sagte Reinhold und stöhnte vor Schmerzen auf.

»Auch darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen. Wir sehen jetzt alle gemeinsam nach vorn.« Danny hatte ihm inzwischen den Blutdruck gemessen und ihn abgehört. Alle Werte deuteten darauf hin, dass sich Reinholds Zustand weiter verschlechtert hatte. Aber das würde er ihm nicht sagen. Um eine Krankheit zu bekämpfen, brauchte ein Patient Hoffnung.

Noch vor dem Krankenwagen traf Marga Eberholz, Reinholds Frau, an der Halle ein. Die kleine schmale Frau hatte die Nachricht vom Zusammenbruch ihres Mannes wohl unter der Dusche erreicht. Ihr schulterlanges weißblondes Haar war nass, und sie trug einen roten Jogginganzug und weiße Flip-Flops.

»Was ist mit dir?«, wollte sie von Reinhold wissen. Sie ging neben ihrem Mann in die Hocke und legte ihre Hand liebevoll auf seine Stirn.

»Es ist wohl die Leber«, antwortete er leise.

»Wie schlimm ist es?«, wandte sie sich an Danny und sah ihn mit ihren klaren blauen Augen an.

»Er muss in stationäre Behandlung. Der Krankenwagen ist bereits unterwegs«, klärte Danny sie auf und nannte ihr die Entzündungswerte, die das Labor festgestellt hatte. Als nächste Angehörige hatte sie in einem solchen Notfall das Recht, zu erfahren, wie es um ihren Mann stand.

»Reinhold, Liebling, wie konntest du mir das verschweigen?«, sagte sie fassungslos.

»Du solltest dir keine Sorgen machen.«

»Ich bin deine Frau, ich darf mir Sorgen um dich machen. Ich werde ihn in die Uniklinik bringen lassen. Das ist doch in Ordnung für Sie?«, wandte sie sich an Danny.

»Kein Problem«, entgegnete Danny. Reinhold hatte ihm am Tag zuvor ja bereits angekündigt, dass er die Uniklinik bevorzugte.

Kurz darauf traf der Krankenwagen ein.

Danny informierte die beiden Sanitäter über Reinholds Zustand und überließ ihnen seinen Patienten. »Ich wünsche Ihnen alles Gute, Herr Eberholz«, verabschiedete er sich von ihm und versprach ihm, sich am nächsten Tag nach ihm zu erkundigen.

»Diesen Vorfall wird er nur schwer vergessen können. Reinhold zeigt nur ungern Schwäche. Wenn etwas nicht so läuft, wie er sich das vorstellt, kann er sogar richtig unausstehlich werden«, verriet Thomas Danny, nachdem die Sanitäter die Trage, auf der Reinhold lag, aus der Halle getragen hatten und Marga ihnen gefolgt war.

»Gilt das auch für den Erfolg und Misserfolg der Bogenschützen in einem Wettbewerb?«, fragte Danny.

»Es bezieht sich eher auf die Baubranche und sein Privatleben. Im Verein wurde das bisher noch nicht so deutlich. Was möglicherweise auch daran liegt, dass wir meistens erfolgreich abschneiden, wenn wir uns mit anderen messen«, fügte Thomas schmunzelnd hinzu. »Allerdings ist er in den letzten Jahren etwas ruhiger geworden. Schade nur, dass er in der Sache mit Severin weiterhin unversöhnlich bleibt.«

»Severin?«, fragte Danny.

»Severin ist sein Sohn. Reinhold hat vor einigen Jahren den Kontakt zu ihm abgebrochen.«

»Wir sollten das Training fortsetzen, Leute. Das erhöht die Chance, Reinhold am Tag des Wettbewerbes eine Freude zu machen. Das wird ihn aufbauen«, sagte Thorsten. Er und Paul hatten wie alle anderen Bogenschützen, die in der Halle waren, ihr Training unterbrochen, nachdem Danny Reinhold zur Hilfe geeilt war.

»Was ist mit dir? Bist du dabei?«, wollte Thomas von Danny wissen.

»Machen wir weiter«, sagte Danny. Er hatte zugesagt, sie zu unterstützen, und er würde sich deshalb so gut wie möglich auf diesen Wettbewerb vorbereiten. Da er an diesem Freitagabend nichts vorhatte und es gut für den Teamzusammenhalt war, ging er nach dem Training auch wieder mit ins Ritterstübel.

Dieses Mal gestattete er sich nur alkoholfreies Bier, weil er mit dem Auto unterwegs war. An diesem Abend war Reinholds Gesundheitszustand das große Thema. Allen war aufgefallen, dass es ihm in den letzten Wochen nicht gut ging, aber da er stets betonte, dass mit ihm alles in Ordnung sei, nahmen sie es alle irgendwann einfach so hin.

»Wie ernst ist es?«, wollte Paul von Danny wissen.

»Frage mich, er muss sich an die Schweigepflicht halten, wenn es um den Gesundheitszustand seiner Patienten geht«, mischte sich Thomas ein.

»Gut, dann frage ich dich«, sagte Paul.

»Ich denke, sein Zustand ist sehr ernst«, antwortete Thomas mit besorgter Miene.

»So ernst, dass Severin es wissen sollte?«, fragte Thorsten.

»Egal, wie es um ihn steht, ich befürchte, dass das nichts ändern wird. In dieser Sache wird Reinhold vermutlich stur bleiben«, entgegnete Thomas nachdenklich.

»Was ist denn zwischen den beiden vorgefallen?«, wollte Danny wissen.

»Severin hat die Rolle des Kronprinzen verweigert. Für Reinhold stand schon bei der Geburt seines Sohnes fest, dass er einmal das Baugeschäft übernehmen wird. Aber Severin hat eine andere Richtung eingeschlagen. Er hat Musik studiert und ist inzwischen Konzertpianist«, erzählte ihm Thomas.

»Künstlerische Berufe gelten bei Reinhold nicht viel. Die haben nichts mit richtiger Arbeit zu tun. Für ihn sind das nur bezahlte Hobbies«, sagte Paul.

»Was ist mit Frau Eberholz? Hat sie Kontakt mit Ihrem Sohn?«, fragte Danny.

»Seitdem er wieder in München ist, trifft sie sich regelmäßig mit ihm. Aber das erzählt sie Reinhold nicht. Vermutlich weiß er nicht einmal, dass Severin wieder hier ist«, sagte Thomas.

»Woher weißt du es?«, hakte Danny nach.

»Severin und ich sind zusammen zur Schule gegangen. Wir sind nach wie vor befreundet. Wir haben immer Kontakt gehalten, obwohl er einige Jahre im Ausland verbracht hat. Inzwischen haben er und seine Frau ein festes Engagement an der Oper hier in der Stadt.«

»Ist sie auch Musikerin?«

»Nein, Balletttänzerin. Die beiden haben eine kleine Tochter. Nina hat vor Kurzem ihren dritten Geburtstag gefeiert, und ihre Oma Marga war auch eingeladen. Reinhold weiß gar nicht, was ihm alles entgeht.«

»Vielleicht verändert ihn diese Krankheit ja doch, und er begreift, was er aufgegeben hat«, spekulierte Thorsten.

»Ich denke, so weit kommt es erst, wenn er weiß, dass sein letztes Stündlein geschlagen hat«, mutmaßte Paul.

»Sein Ende könnte ihn überraschen, und dann bleibt keine Zeit mehr, um etwas gutzumachen. Sollte ich irgendwann einmal Kinder haben, dann werde ich sie so nehmen, wie sie sind. Ich werde ihnen ganz sicher nicht vorschreiben, welchen Beruf sie einmal ergreifen sollen«, sagte Thomas.

»Aber du hättest schon ganz gern, dass auch sie eine Leidenschaft für die Feuerwehr entwickelten, habe ich recht?«, fragte Thorsten augenzwinkernd.

»Klar, wäre das schön, aber ich würde sie garantiert nicht weniger lieben, wenn es nicht so wäre.«

Zu diesem Thema hatte jeder etwas beizutragen. Thorsten erzählte von seinen beiden Töchtern im Teenageralter, die noch zur Schule gingen, und sich noch nicht auf einen Beruf festlegen wollten. Paul gestand ihnen, dass er und Mia noch immer auf Nachwuchs hofften, und Danny gab zu, dass er keine Probleme damit gehabt hatte, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Als er sich gegen elf von seinen Mitstreitern im Bogenschützenwettbewerb trennte, war es ihm, als hätte er den Abend mit guten Freunden verbracht. Er fand es angenehm, dass sich ihre Unterhaltungen nicht nur um den Sport drehten, und dass sie gerade, was das Thema Familie betraf, auch offen über ihre Gefühle sprachen.

Als er eine Viertelstunde später zu Hause war, dachte er kurz daran in der Uniklinik anzurufen, um sich nach Reinhold zu erkundigen. Er beschloss dann aber, es auf den nächsten Tag zu verschieben, weil er wusste, dass das Krankenhauspersonal der Nachtschicht schon genug zu tun hatte und jeder Anruf eine Mehrbelastung war.

*

Am Samstagmorgen, bevor er sich auf den Weg zu seinen Eltern zum Familienfrühstück machte, rief er in der Uniklinik an. Es hieß, dass Reinhold einigermaßen stabil sei. Sollte sich sein Zustand allerdings erneut verschlechtern, wäre eine Organspende unumgänglich. Die Klinik versicherte ihm, dass sie Reinhold bereits auf die Warteliste für eine Leberspende gesetzt hatten, um auf den Fall der Fälle vorbereitet zu sein.

Das war keine wirklich gute Nachricht. Danny fragte sich, ob er noch mehr Druck gegenüber Reinhold hätte aufbauen müssen, um ihn am Tag zuvor dazu zu bringen, sich in der Klinik vorzustellen. Er verwarf diese Frage aber schnell wieder, weil Reinhold sich erstens gegen seinen Rat gesperrt hatte, und weil er zweitens nicht wusste, ob das etwas an seinem momentanen Zustand geändert hätte. In diesem Fall half erst einmal nur abwarten, ob Reinholds Immunsystem in der Lage war, die Entzündung in den Griff zu bekommen.

Das Familienfrühstück bei seinen Eltern war wie fast immer, wenn seine Eltern ihn und seine Geschwister einluden, nur der Anfang eines kompletten Familientages. Nach dem ausgiebigen Frühstück gab es am frühen Nachmittag Kaffee und Kuchen, und weil es gerade so gemütlich war und alle mal wieder zusammen saßen wurde abends gemeinsam gekocht. Danny genoss diese Familientage, und er war seiner Familie dankbar, dass sie mit ihm über seine Zukunftspläne sprachen, statt ihn auf die Dinge anzusprechen, die in seiner Vergangenheit nicht gut für ihn gelaufen waren.

Seine Mutter war wie immer die erste, die ihn auf Olivia ansprach. Sie wollte wissen, ob sie sich nach wie vor gegenseitig Patienten überwiesen, weil Olivia den Verdacht auf ein körperliches Leiden hatte und er einem Patienten zu einer Therapie riet, die ihm helfen könnte, sich besser zu fühlen. Sobald der Name Olivia fiel, wurde es ganz still am Tisch, und alle schauten Danny gespannt an. Ihm war natürlich klar, dass seine Eltern und seine Geschwister nicht wirklich an seinem fachlichen Austausch mit Olivia interessiert waren, sondern daran, ob sich privat etwas bei ihnen tat. Aber wie immer hüllte er sich, was diesen Punkt betraf, in Schweigen.

Seine Familie deutete das allerdings so, dass zwischen ihm und Olivia bereits etwas lief, er nur noch nicht darüber sprechen wollte. Und vielleicht war das ja auch genau die richtige Einschätzung der Lage, in der er sich augenblicklich befand. Zwischen ihm und Olivia war etwas, und es fehlte nur noch der richtige Zeitpunkt, um dieses Etwas Wirklichkeit werden zu lassen.

Da er erst nach Mitternacht von seinen Eltern zurückkam, schlief er am Sonntag länger. Gegen elf stand er auf, gönnte sich eine lange Dusche, frühstückte danach auf der Terrasse und las die Sonntagszeitung, die er sich nach Hause liefern ließ. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herab, der leise Wind, der durch die Äste der Bäume blies, trug den Duft der Rosenblüten, die an den gepflegten Büschen in seinem Garten und in dem der Mais wuchsen. Sonntags fuhren kaum Autos durch die Straßen des Wohngebietes mit seinen Ein- und Zweifamilienhäusern, alles, was er hörte, war das Gezwitscher der Vögel, die in den Gärten auf Futtersuche unterwegs waren.

Er war gerade mit dem Frühstück fertig, als Olivia und Ophelia nebenan aus dem Haus kamen. Ophelia in Jeans und weißer taillenkurzer Bluse mit halblangen Ärmeln, Olivia in einem türkisfarbenen Kleid, knielang, schmalgeschnitten und ärmellos. Ophelia hatte ihr langes rotes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, Olivia trug es offen. Er winkte den beiden zu und schaute wieder in die Zeitung, während sie zur Garage neben dem Haus gingen. Sie sollten sich nicht von ihm beobachtet fühlen.

Erst als er hörte, wie Olivia einige Male hintereinander vergeblich versuchte, den Motor ihres Wagens zu starten, legte er die Zeitung beiseite und ging hinüber zu den Mais. Olivia saß am Steuer der silberfarbenen Limousine und versuchte sie erneut zu starten. Ophelia, die vor der Garage stand, trampelte ungeduldig von einem Bein auf das andere.

»Mama, wenn du noch lange rummachst, kommen wir zu spät! Wenn ich schon dahin muss, will ich auch das ganze Spiel sehen!«, rief das Mädchen.

»Braucht ihr Hilfe?«, fragte Danny, als sich Ophelia umdrehte, weil sie ihn aus dem Augenwinkel heraus wahrgenommen hatte.

»Ja, schon, könnten Sie einen Automechaniker herbeizaubern, Doc?«, fragte Ophelia.

»Tut mir leid, ich verfüge leider über keinerlei Zauberkräfte, aber ich könnte mal nachsehen, ob ich die Ursache für den Motorstreik finde«, schlug er vor.

»Danke, Daniel, das wäre wirklich ganz lieb«, sagte Olivia, die den Startversuch aufgegeben hatte und aus dem heruntergelassenen Fenster auf der Fahrerseite schaute.

»Okay, dann öffne bitte die Motorhaube«, bat er Olivia. Gleich darauf klappte die Haube mit einem leisen Surren nach oben.

»Ich hole Ihnen Handschuhe.« Ophelia ging in die Garage und kam mit einem Paar Arbeitshandschuhen aus dickem Leder zurück, die er anzog, bevor er sich über den Motorraum beugte. Ein paar Minuten später war er sicher, dass einige Zündkerzen ausgetauscht oder zumindest gereinigt werden mussten.

»Zum Reinigen fehlt uns jetzt leider die Zeit. Das erledige ich morgen. Wir werden ein Taxi zum Fußballplatz nehmen müssen«, sagte Olivia und stieg aus dem Auto aus.

»Ich kann euch auch fahren«, schlug Danny vor.

»Du hast doch sicher Besseres vor«, entgegnete Olivia.

»Nein, ich habe heute gar nichts vor«, sagte Danny.

»Wir nehmen an, Mama«, kam Ophelia ihrer Mutter mit der nächsten Antwort zuvor.

»Du hast also wirklich nichts vor, Daniel«, vergewisserte sich Olivia erneut.

»Ich hole den Wagen, ich bin gleich zurück«, sagte er und machte sich auf den Weg zu seiner Garage. Vielleicht kam ihm jetzt der Zufall zur Hilfe, und er würde sehen, mit wem Olivia sich heute verabredet hatte.

Will ich das denn überhaupt wissen?, fragte er sich, als er seine Garage öffnete und in die blaue luxuriöse Limousine stieg, die er sich erst vor ein paar Monaten gekauft hatte. Ja, ich glaube schon, dass ich es wissen will, dachte er, als er sein Grundstück verließ und gleich darauf vor dem Haus der Mais wieder anhielt. Sollte Olivia inzwischen eine neue Beziehung haben, würde das in seiner eigenen Gefühlswelt einiges verändern.

*

Der Sportplatz, zu dem Olivia wollte, lag in einem Wohngebiet am Rande von Schwabing. Er war von hohen Laubbäumen umgeben und nur durch das offenstehende Tor neben dem Vereinshaus einsehbar.

»Falls du heute wirklich nichts vorhast, wie wäre es denn, wenn du mit uns das Spiel ansiehst«, schlug Olivia Danny vor, als er vor dem Eingang zum Sportplatz anhielt, um sie und Ophelia aussteigen zu lassen.

»Super Idee, Mama«, sagte Ophelia, die auf dem Rücksitz saß und ihren Gurt bereits gelöst hatte.

»Sagtest du nicht, du seist verabredet?«, wunderte sich Danny.

»Das bin ich auch«, sagte sie lächelnd.

»Bitte, Doc, kommen Sie mit«, bat Ophelia und sah Danny flehentlich an.

»Ich möchte aber nicht stören.«

»Du störst ganz bestimmt nicht. Im Gegenteil, ich freue mich, wenn du hierbleibst«, versicherte ihm Olivia.

»Also gut, ich bleibe.« Was auch immer ihn auf diesem Sportgelände erwartete, er würde es mit Fassung ertragen. Schließlich hatte er bisher nichts getan, dass aus Olivia und ihm mehr wurde. Sollte sie sich für einen anderen entschieden haben, dann hatte er das wohl auch seiner Verzögerungstaktik zu verdanken.

»Dann lass uns nach einem Parkplatz Ausschau halten«, entgegnete Olivia.

»Versuchen wir es da vorn«, sagte er, als er am Ende der Straße das Hinweisschild auf einen öffentlichen Parkplatz entdeckte.

Eine Viertelstunde später betraten sie den Fußballplatz, auf dem sich die Mädchen beider Mannschaften gerade warmliefen. Offensichtlich hatte die Schwabinger Mädchenfußballmannschaft viele Anhänger. Die Zuschauertribüne an der einen Längsseite des Platzes schien bereits besetzt, und auf den Stehplätzen an den drei anderen Seiten des Spielfeldes standen die Zuschauer eng beieinander.

»Du denkst, dass wir dort noch Plätze bekommen?«, wunderte sich Danny, als Olivia in Richtung der vollbesetzten Tribüne ging.

»Für uns wurden zwei Plätze auf der vorderen Bankreihe reserviert. Ich denke, dass der Platz auch für uns drei reicht«, entgegnete sie lächelnd.

»Passt doch«, stellte Ophelia fest, als sie die freien Plätze am äußeren Ende der ersten Bankreihe sah. Sie wartete, bis Danny und ihre Mutter sich gesetzt hatten und quetschte sich dann zwischen sie. »Von uns dreien nehme ich die wenigste Fläche ein, deshalb ist die Mitte für mich richtig«, erklärte sie und schaute mit einem zufriedenen Lächeln auf das Fußballfeld. »Wo ist denn dieses Bergmoosbach?«, fragte sie, als sie auf der Anzeigetafel den Heimatort der Gastmannschaft gelesen hatte.

»Im Allgäu, zwischen Garmisch und Kempten«, klärte ihre Mutter sie auf.

»Dann werden sie wohl kaum eine Chance gegen die Schwabinger haben.«

»Es ist wohl eher umgekehrt. Die Bergmoosbacher führen die Tabelle an«, klärte Olivia ihre Tochter auf.

»Und für wen sind wir? Wegen welcher Mannschaft sind wir hier, und wer ist derjenige, um den es geht?«, fragte Ophelia.

»Wir sind wegen der Bergmoosbacher hier und derjenige, um den es geht, ist er. Entschuldigt mich kurz«, bat Olivia. Sie verließ die Tribüne und ging dem großen schlanken Mann in der hellen Jeans und dem weißen Poloshirt entgegen, der auf die Tribüne zukam. Er hatte dichtes dunkles Haar, ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und unglaublich helle graue Augen.

»Wer ist das?«, flüsterte Ophelia.

»Der Mannschaftsarzt der Gastmannschaft«, raunte ihr die junge Frau zu, die hinter ihr saß und ihrem Blick gefolgt war.

»Danke.« Ophelia hatte sich zu ihr umgedreht, wandte ihren Kopf aber schnell wieder nach vorn, als ihr klar wurde, dass fast alle Frauen, die auf der Tribüne saßen, ihrer Mutter nachschauten, wobei ihr klar war, dass diese Blicke nicht ihrer Mutter galten.

»Sebastian, ich freue mich«, hörte sie ihre Mutter sagen und ihr strahlendes Lächeln verriet, dass sie diesen Mann wirklich mochte.

»Hallo, Olivia«, sagte er, betrachtete sie einen Moment lang und nahm sie dann liebevoll in die Arme. »Schön, dass du hier bist. Es bleibt doch bei unserer Verabredung nach dem Spiel?«, fragte er mit einer sanften Stimme.

»Auf jeden Fall, komm, ich stelle dir kurz meine Tochter vor«, sagte sie, hakte sich bei ihm unter und kam mit ihm zur Tribüne. »Ophelia, das ist Sebastian Seefeld, ein guter Freund aus meiner Zeit in Toronto«, sagte sie, als sie beide vor der Brüstung der Tribüne stehen blieben.

»Hallo«, antwortete Ophelia mit einem verhaltenen Lächeln.

»Und das ist Daniel Norden«, sagte Olivia.

»Auch ein guter Freund«, fügte Ophelia mit einem aufmüpfigen Blick hinzu.

»Alles klar«, antwortete Sebastian schmunzelnd. »Ich muss jetzt zu meiner Mannschaft, wir sehen uns dann nachher«, sagte er, nickte Danny freundlich zu und verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von Olivia.

Manche Dinge ändern sich nie, dachte Olivia, als sie zurück auf die Tribüne ging und die sehnsuchtsvollen Blicke wahrnahm, die Sebastian folgten.

»Keine Sorge, junger Mann, Sie können durchaus mit ihm mithalten«, raunte Danny die ältere Frau zu, die hinter ihm auf der Bank saß.

»Das wissen wir, aber trotzdem vielen Dank«, antwortete ihr Ophelia, die gehört hatte, was sie gesagt hatte.

»Ja, vielen Dank«, schloss sich Danny Ophelia an und hatte Mühe, sich das Lachen zu verkneifen, als er und Ophelia sich ansahen und Ophelia zu glucksen anfing.

»Machen Sie was aus dieser Erkenntnis, Doc«, flüsterte sie ihm zu, nachdem sie sich wieder beruhigt hatte. »Ich hätte gern mehr Informationen über ihn«, wandte sie sich an ihre Mutter, die die Tribüne betreten hatte und sich wieder neben sie setzte.

»An diesen Informationen bin ich auch interessiert«, schloss sich Danny an.

»Gut, eine kurze Zusammenfassung. Vor zwei Jahren hat Ophelia das Winterhalbjahr bei ihrem Vater in Norwegen verbracht, und ich habe in dieser Zeit an einer sechsmonatigen Studie an einer Klinik in Toronto teilgenommen. Sebastian war dort Chirurg in der Unfallstation. Im letzten Jahr ist er wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und hat dort die Landarztpraxis seines Vaters übernommen. Sebastian war mir damals in Toronto ein guter Freund, und ich weiß, dass ich dir von ihm erzählt habe, Ophelia.«

»Ja, kann sein, aber ich hatte damals so viele eigene neue Eindrücke«, entgegnete Ophelia mit einem bedauernden Achselzucken. »War er nur ein Freund oder ein Freund plus plus?«, fragte Ophelia.

»Einfach nur ein guter Freund«, versicherte Olivia ihrer Tochter. »Er und die Trainerin der Bergmoosbacher sind übrigens schon länger ein Paar. Sie werden demnächst heiraten«, sagte sie und sah dabei Danny an.

»Nach dieser Information muss ich zugeben, dass ich mich freue, Sebastian kennenzulernen«, sagte Ophelia. »So sehen Sie das doch auch, Doc?«, wandte sie sich Danny zu.

»Ja, so sehe ich das auch«, antwortete er schmunzelnd, während er Olivias Blick festhielt. Er fragte sich, ob sie ihn bewusst im Unklaren über ihre Verabredung mit Sebastian Seefeld gelassen hatte, um ihn dazu zu bringen, über die Art ihrer Beziehung nachzudenken. Wie auch immer, sie hatte Erfolg, dachte er. Es war Zeit, die Initiative zu ergreifen. Er musste ihr sagen, was er wirklich für sie empfand.

Gleich darauf wurde das Spiel angepfiffen.

Ophelia hielt zu den Schwabinger Mädchen, was ihr als Neumünchnerin als die richtige Entscheidung erschien. »Das gibt’s doch nicht, schon wieder sie!«, rief sie, als die Mittelstürmerin der Bergmoosbacherinnen kurz vor der Halbzeit zum zweiten Mal ins Tor traf und die Schwabinger noch immer ohne Tor dastanden.

»Emilia gehört zu den besten Stürmerinnen ihrer Altersklasse«, klärte Olivia ihre Tochter auf.

»Das weißt du woher?«, fragte Ophelia.

»Ich habe sie vor zwei Jahren schon in Toronto spielen sehen. Sie ist Sebastians Tochter.«

»Aha, ich gehe mir dann mal etwas zu trinken holen. Wollt ihr auch etwas?«, fragte sie ihre Mutter und Danny.

»Ich nehme eine Zitronenlimonade«, sagte Olivia.

»Für mich auch«, schloss sich Danny an.

»Tut mir leid«, sagte Olivia, nachdem Ophelia außer Hörweite war.

»Was tut dir leid?«, fragte Danny.

»Das weißt du«, entgegnete sie und sah ihn an.

»Könnte sein.«

»Dann brauchst du auch keine Erklärung, warum ich ein bisschen mit dir gespielt habe.«

»Du hast recht, die brauche ich nicht«, sagte er und betrachtete sie mit einem zärtlichen Lächeln.

»Vielleicht halte ich in der zweiten Halbzeit zu den Bergmoosbacherinnen, das erscheint mir weniger stressig«, sagte Ophelia, die mit drei Pappbechern Limonade zurückkam.

»Damit könntest du recht haben«, stimmte Olivia ihr zu.

»Was ist eigentlich nach dem Spiel geplant?«, fragte Ophelia.

»Fünf Minuten von hier ist ein Biergarten. Ich habe dort einen Tisch für uns reserviert«, sagte Olivia.

»Wer kommt mit?«

»Sebastian, Anna, seine zukünftige Frau, wir und ich hoffe, dass auch Emilia mitkommt.«

»Wer ist wir?«

»Du, Daniel und ich.«

»Falls er das überhaupt will. Erst schleppen wir ihn in dieses Stadion, und jetzt soll er sich mit Leuten treffen, zu denen er keinen Bezug hat.«

»Ich habe nichts dagegen die Freunde deiner Mutter kennenzulernen«, kam Danny Olivia zur Hilfe.

»Dann ist es ja gut«, sagte Ophelia und wandte sich mit einem ­zufriedenen Grinsen dem Geschehen auf dem Spielfeld zu, als in diesem Moment die zweite Halbzeit angepfiffen wurde.

*

Das Spiel endete 3 zu 1 für die Bergmoosbacherinnen, was die Zuschauer offensichtlich nicht sonderlich überraschte, da niemand sich wirklich darüber aufregte. Danny, Olivia und Ophelia verließen das Stadion mit den anderen Zuschauern und gingen zu Fuß zum Biergarten, der an einem idyllisch gelegenen kleinen See mit altem Baumbestand lag. Der Tisch, der für Olivia reserviert war, stand direkt am Wasser.

»Ich verschaffe mir mal ein wenig Abkühlung«, erklärte Ophelia. Sie setzte sich statt an den Tisch an den Rand des Sees, zog die weißen Turnschuhe aus und krempelte ihre Jeans hoch. Während sie ihre Beine im Wasser baumeln ließ, schaute sie den Tretbooten nach, die auf dem See unterwegs waren.

Trotz der zahlreichen Gäste, die den Biergarten mit seinen langen Tischen und Bänken bevölkerten, dauerte es nicht lange, bis eine freundliche Kellnerin im gelben Dirndl an ihren Tisch kam und sie nach ihren Wünschen fragte. Olivia bestellte ein Malzbier, Danny ein Wasser und einen Kaffee und Ophelia entschied sich für ein Schokoeis mit einer extra Portion Sahne.

»Kann ich mir bei meiner Figur leisten«, erklärte sie der Kellnerin, die sich noch einmal vergewisserte, dass sie das mit der Sahne richtig verstanden hatte.

»Freilich, kannst du dir das leisten, Herzl«, antwortete sie lachend und ging zum Nachbartisch, um dort weitere Bestellungen aufzunehmen.

»Warum wolltest du eigentlich, dass ich Sebastian kennenlerne?«, fragte Ophelia ihre Mutter.

»Weil er mir etwas bedeutet, und ich hoffe, dass wir ihn in Zukunft öfter sehen.«

»Warum ist er wieder in Deutschland?«

»Später«, sagte Olivia, als Sebastian in diesem Moment in Begleitung von Emilia und einer schönen jungen Frau mit langem dunklem Haar auf ihren Tisch zukam. Die Frau trug ein Sommerkleid in dem Grün zarter Birkenblätter, und als sie näherkam, sahen sie, dass ihre Augen von dem gleichen faszinierenden Grün waren.

»Hallo, ich bin Anna«, stellte sie sich mit einem herzlichen Lächeln vor, das sie Olivia, Ophelia und Danny gleich sympathisch machte.

Olivia und Daniel stellten sich ebenfalls mit ihren Vornamen vor und reichten ihr die Hand. Auch Ophelia war aufgestanden, um Anna und Emilia zu begrüßen.

Verwundert sah sie zu, wie herzlich sich ihre Mutter und Emilia umarmten. Die beiden schienen sich offensichtlich gut zu kennen.

»Was dagegen, wenn ich zu dir komme?«, fragte Emilia, als Ophelia sich wieder ans Wasser setzte.

»Kein Problem«, antwortete Ophelia.

»Kein Interesse an diesem Treffen?«, fragte Emilia, die erst die Beine ihrer roten Jeans bis zu den Knien hochgekrempelt hatte, bevor sie sich neben Ophelia setzte.

»Ich nehme es hin«, antwortete Ophelia.

»Wir sind aber echt super nett«, sagte Emilia.

»Okay«, entgegnete Ophelia und wandte sich Emilia zu. Ihr fiel sofort auf, dass das Mädchen die gleichen hellen grauen Augen wie ihr Vater hatte.

»Das nehme ich auch«, bat Emilia die Kellnerin, die Ophelia das Eis brachte.

»Kommt sofort«, entgegnete die Kellnerin freundlich.

»Dein Vater und deine Trainerin werden heiraten, hat meine Mutter erzählt. Was ist mit deiner Mutter?«, fragte Ophelia.

»Dort.« Emilia deutete an den Himmel.

»Tut mir leid, das wusste ich nicht. War sie krank?«

»Nein, sie hatte einen Autounfall. Das ist jetzt fast drei Jahre her, aber es tut immer noch weh«, gestand Emilia ihr.

»Mein Vater ist nur mit einer anderen Frau verheiratet.«

»Ich weiß, deine Mutter hat es mir erzählt, als sie bei uns war. Meinem Vater ging es damals nicht gut, deine Mutter hat ihm sehr geholfen, und auch mir haben die Gespräche mit ihr echt gutgetan. Sie ist nicht nur eine gute Psychologin, sie war uns auch eine gute Freundin. Sei glücklich, dass du sie hast.«

»Das bin ich. Wie fühlt es sich an, dass dein Vater jetzt eine andere Frau hat?«

»Es ist gut so, wie es ist. Ich mag Anna. Sie versucht nicht, mir die Mutter zu ersetzen, aber sie ist für mich da, wann immer ich sie brauche. Sie macht meinen Vater glücklich, und das ist gut für uns alle.«

»Wie kommst du damit klar, dass deine Eltern nicht zusammen sind?«

»Ich habe mich daran gewöhnt, und ich kann auch nichts gegen die Frau meines Vaters sagen. Wir verstehen uns ziemlich gut.«

»Und was ist mit Daniel?«

»Das ist noch in der Schwebe.«

»Hältst du ihn für den richtigen für deine Mutter?«

»Ja, unbedingt.«

»Weil du ihn gut leiden kannst.«

»Richtig.«

»Wenn du ihn magst, stehen die Chancen gut, dass aus ihnen etwas wird.«

»Es wäre schön. Spielst du schon lange Fußball?«, wollte Ophelia wissen, nachdem die Kellnerin das Eis für Emilia und den Kaffee für Anna und Sebastian gebracht hatte.

»Schon seit meinem sechsten Lebensjahr«, sagte Emilia und erzählte ihr von ihrem Verein in Toronto und ihren Freundinnen dort, die sie vermisste.

Die Erwachsenen hinter ihnen am Tisch hatten inzwischen beschlossen, sich zu duzen. Nachdem sie ein paar Minuten über Olivias Zeit in Toronto gesprochen hatten, erhielt Danny einen Anruf von der Uniklinik, dass sich Reinholds Zustand verschlechtert hatte und eine Leberspende unumgänglich war. Sie hatten bereits mit Marga gesprochen und sie nach nahen Verwandten gefragt, die für eine Teilspende infrage kamen.

»Gibt es denn jemanden?«, wollte Danny von dem Arzt wissen, der ihn angerufen hatte.

»Es gibt einen Bruder und eine Schwester. Sie wird sie bitten, sich testen zu lassen.«

»Halten Sie mich auf dem Laufenden, Herr Kollege.«

»Selbstverständlich«, versicherte ihm der Klinikarzt.

»Manchmal müssen wir einfach akzeptieren, dass wir selbst für unsere Patienten nichts mehr tun können«, sagte Sebastian, nachdem Danny das Gespräch beendet hatte und nachdenklich einen Schluck von seinem Kaffee trank.

»Ja, leider ist das so. Aber was ist, wenn wir noch etwas tun könnten, uns aber die Hände gebunden sind, weil wir uns nicht über die Wünsche unserer Patienten hinwegsetzen können?«

»Wenn der Druck stark genug ist, springen Menschen auch gern mal über ihren Schatten«, sagte Sebastian.

»Es ist aber nicht leicht, Druck aufzubauen, ohne das Vertrauen der Patienten zu verlieren.«

»Ich weiß. Bei uns in Bergmoosbach funktioniert das allerdings recht gut. Die Einheimischen sind wie eine große Familie, lieben und streiten sich, gehen sich aus dem Weg und lästern übereinander. Sobald es aber jemandem schlecht geht, körperlich oder psychisch, sind sie füreinander da.«

»Als ich vor einigen Jahren von München nach Bergmoosbach zog, um dort die Hebammenpraxis zu übernehmen, hatte ich allerdings zunächst Schwierigkeiten mit diesem sozialen Gefüge zurechtzukommen. Ich fühlte mich ständig beobachtet, es war beinahe so, als wüssten die anderen schon vor mir, was ich als nächstes tun würde«, erzählte Anna.

»Keine angenehme Vorstellung«, stellte Olivia fest.

»Nein, das war nicht angenehm. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, weil die Vorteile einer solchen Gemeinschaft überwiegen. Die Leute passen aufeinander auf, niemand ist allein.«

»In unserem Stadtteil geht es auch noch ein bisschen dörflich zu. Zumindest, was den Tratsch betrifft«, erzählte Olivia. »Und Tratsch ist wichtig, der stärkt den Zusammenhalt einer Gemeinschaft, was inzwischen durch Studien bewiesen wurde.«

»Dann sind wir in Bergmoosbach ganz vorn dabei«, stellte Anna amüsiert fest.

»Mein Problem würde sich auf diese Weise vermutlich nicht lösen. Es geht in diesem Fall um einen Vater, der seit Jahren den Kontakt mit seinem Sohn meidet, weil er beruflich nicht in seine Fußstapfen getreten ist«, sagte Danny.

»Der Sohn verweigert die Spende?«, fragte Sebastian.

»Ich denke, er weiß gar nicht, dass sein Vater krank ist. Die Mutter, die noch Kontakt mit ihm hat, hat in der Klinik nur von einem Bruder und einer Schwester ihres Mannes gesprochen. Ich habe keine Ahnung, was sie tun wird, sollten die beiden nicht als Spender infrage kommen.«

»Wie gut kennst du die Familie?«, fragte Sebastian.

»Eigentlich gar nicht. Der Patient, der die Leberspende benötigt, war erst einmal in meiner Praxis. Ich bin ihm vor Kurzem zufällig begegnet.«

»Weil er einem anderen Patienten einen Wunsch erfüllt hat«, sagte Olivia und erzählte Anna und Sebastian von Dannys Einsatz für den Schützenverein.

»Das klingt nach einer Nachbarschaft, die zusammenhält, ganz wie bei uns«, stellte Anna lächelnd fest.

»Ich würde noch einmal mit seiner Frau sprechen, sollte das mit den Geschwistern nicht funktionieren«, schlug Sebastian vor.

»Das werde ich auch tun. Aber ich kann sie nicht drängen, ihren Sohn zu fragen. Niemand sollte zu einer Organspende gedrängt werden. Schon allein wegen des Operationsrisikos für den Spender.«

»Ich würde sie auch nicht drängen. Das Ganze ist ein Drahtseilakt. Wir müssen den Betroffenen klar machen, dass sie ihren Angehörigen verlieren, sollte er keine Spende bekommen, und die einzige mögliche Rettung, falls es keinen anderen Spender gibt, läuft auf die Gefährdung eines weiteren Angehörigen hinaus. So eine Entscheidung will man eigentlich niemandem zumuten.«

»Wir tun es aber.«

»Ich weiß«, sagte Sebastian nachdenklich.

»Könntet ihr euch mal für eine Weile von der Medizin lossagen und euch den Schönheiten der Natur oder der der Frauen widmen?«, mischte sich Olivia in das Gespräch der beiden ein.

»Eine wundervolle Idee«, stimmte ihr Anna sofort zu.

»Wir könnten zum Beispiel Tretboote mieten und ein bisschen auf dem See herumfahren«, schlug Ophelia vor, die sich umgedreht hatte, als sie den Vorschlag ihrer Mutter hörte.

»Das klingt gut«, sagte Anna.

»Es gibt aber nur Boote für höchstens vier Personen«, stellte Olivia fest, als sie zum Bootsverleih hinüberschaute, der nur ein paar Meter vom Biergarten entfernt war.

»Kein Problem, Emilia und ich nehmen sowieso ein Boot für uns allein.«

»Auf jeden Fall«, bekräftigte Emilia Ophelias Entschluss.

»Ja, in Ordnung, gehen wir«, sagte Sebastian, als Anna ihn auffordernd ansah. »Ihr übernehmt die Pedale? Du und Olivia?«, fragte er.

»Für dich, mein Schatz, mache ich alles, das weißt du«, erklärte Anna lächelnd und küsste Sebastian liebevoll auf die Wange.

Das ist nicht nur ein Spruch, dachte Olivia. So wie Anna und Sebastian sich ansahen, zweifelte sie nicht daran, dass sie sich aufrichtig liebten. Nachdem, was er durchgemacht hatte, hatte sie nicht erwartet, ihn jemals wieder so glücklich zu sehen. Als sie zu Danny schaute, der neben ihr saß, und sich ihre Blicke trafen, konnte sie erkennen, dass auch er sah, wie sehr die beiden sich liebten.

»Auch du kannst wieder glücklich werden«, raunte sie ihm zu.

»Das weiß ich«, sagte er und hielt ihren Blick fest.

*

Eine Viertelstunde später waren sie in ihren Tretbooten auf dem See unterwegs. Anna und Olivia saßen vorn in ihrem Boot, traten gleichmäßig die Pedale, während Sebastian und Danny sich auf den Sitzen hinter ihnen gemütlich zurücklehnten.

»Wir überlassen unseren Frauen gern das Steuer!«, rief Sebastian den beiden älteren Frauen zu, die ihr Tretboot von zwei Männern steuern ließen und ihn und Danny vorwurfsvoll ansahen.

»Oder die Arbeit«, antworteten die beiden Frauen gleichzeitig. Sie hielten die beigen Hütchen mit einer Hand fest, die sie beide zu ihren hellen Kostümen trugen und schüttelten missbilligend die Köpfe.

»Die Arbeit überlassen sie eigentlich sonst uns«, sagte Ophelia, die mit Emilia in dem Boot saß, das dem Boot mit ihren Eltern folgte.

»Wir sind diejenigen, die bedauert werden müssen«, seufzte Emilia und machte ein trauriges Gesicht.

»Ihr müsst…«

»Es ist gut, Marietta, die jungen Leute machen sich doch nur einen Spaß mit euch«, mischte sich der weißhaarige Mann mit der dicken Hornbrille ein, der vor Marietta saß.

»Aber die Mädchen, sie…«

»Machen einen ganz wunderbar selbstbewussten Eindruck«, unterbrach er Marietta erneut und winkte Emilia und Ophelia lachend zu.

»Wenn du meinst, Alois«, murrte Marietta.

»Ich meine das auch«, stimmte ihm der korpulente Mann in der knielangen Lederhose zu, der neben ihm saß.

»Wollen wir mal ausprobieren, wie schnell diese Boote sein können?«, wandte sich Ophelia Emilia zu.

»Ich bin dabei«, erklärte sich Emilia einverstanden.

»Das nennt man wohl abgehängt«, stellte Olivia fest, als die beiden Mädchen in ihrem Boot an ihnen vorbeifuhren und sich schnell entfernten.

»Es sind unsere Töchter, ihnen gönnen wir doch jeden Vorsprung.

»Damit hast du absolut recht«, stimmte Olivia Sebastian zu. »Was ist da los?«, fragte sie, als sie in diesem Moment einen Mann um Hilfe rufen hörten.

»Ich glaube, da ist jemand über Bord gegangen«, stellte Danny fest, als sie sich alle vier umdrehten.

Es war das Boot mit den beiden älteren Paaren, deren Frauen sich über Danny und Sebastian gewundert hatten. Der Platz, auf dem Marietta gesessen hatte, war leer. Ihre Begleiter schienen völlig verzweifelt, sahen sich in alle Richtungen hin um und riefen nach Marietta.

Danny und Sebastian sahen sich nur kurz an, zogen ihre Schuhe aus und sprangen, ohne zu zögern, ins Wasser. Die anderen Tretboote fuhren erst einmal weiter, so als ginge sie das alles nichts an. Sie blieben erst stehen, als Olivia und Anna sich in ihrem Boot aufrichteten und den anderen auf dem See zuriefen, die Rettungsaktion nicht zu gefährden.

Da die Frau nirgendwo zu sehen war, nur ihr Hut in der Nähe des Bootes auf dem Wasser herumtrieb, beschlossen Sebastian und Danny, unter Wasser nach ihr zu suchen. Der See mit dem türkisblauen klaren Wasser war nicht sehr tief, und sie hatten Marietta schnell gefunden. Sie steckte mit einem Fuß am Grunde des Sees zwischen zwei großen Steinen fest. Sie hatte bereits die Kontrolle über sich verloren, schlug verzweifelt um sich und schluckte Wasser.

Danny übernahm es, die Frau zu beruhigen, während Sebastian sie aus der Falle befreite. Er zog ihren Fuß aus dem klobigen Schuh und gab Danny das Zeichen, mit ihr aufzutauchen. Um sie besser versorgen zu können, brachten sie sie nicht zu einem Boot, sondern gleich an den kleinen Sandstrand, der nur einige Meter entfernt war. Dort wurden sie bereits von neugierigen Zuschauern erwartet, die einfach nur dastanden und abwarteten, was als nächstes passieren würde.

»Krankenwagen ist unterwegs!«, rief Olivia, die gemeinsam mit Anna ihr Boot auf das Ufer zubewegte.

Während Sebastian und Danny sich um Marietta bemühten, die, nachdem sie wieder zu sich kam, das Wasser aushustete, das sie geschluckt hatte, erreichte das Boot mit Emilia und Ophelia das Ufer.

»Soll ich Ihre Tasche aus dem Auto holen, Doc?«, fragte Ophelia.

»Ja, bitte«, antwortete Danny und warf ihr den Autoschlüssel zu.

»Ich komme mit«, sagte Emilia.

Nach den beiden Mädchen kam das Boot mit Olivia und Anna am Ufer an, und nach ihnen das mit Mariettas Begleitern. »Wie geht es meiner Frau?!«, rief Alois, der Mann mit der dicken Hornbrille.

»Sie kommt wieder in Ordnung«, versicherte ihm Danny.

»Danke«, flüsterte Marietta, die sich von ihrem heftigen Hustenanfall erholt hatte.

»Wie du siehst, hast du die beiden ganz falsch eingeschätzt, mein Schatz«, sagte Alois, der sich neben seine Frau in den Sand kniete und ihre Hand umfasste.

»Ja, habe ich. Ich entschuldige mich dafür«, sagte sie und sah zuerst Danny und danach Sebastian an.

»Du hast doppeltes Glück, der junge Mann ist auch noch Arzt«, stellte Alois fest, als Ophelia und Emilia mit Dannys Arzttasche zurückkamen.

»Sie haben sogar außergewöhnlich viel Glück. Wir sind beide Ärzte«, sagte Danny, der Mariettas Blutdruck überprüfte.

»Kein Scherz?«, fragte Alois.

»Nein, kein Scherz«, antwortete ihm Sebastian.

Als der Krankenwagen gleich darauf eintraf, ging es Marietta bereits wieder so gut, dass sie gar nicht mehr ins Krankenhaus wollte. Aber Danny und auch Sebastian bestanden darauf, dass sie sich in der Klinik untersuchen ließ.

»Wir kommen alle mit«, versicherte die andere Frau Marietta.

»Auf jeden Fall«, stimmte der Mann in der Lederhose ihr zu und trat zur Seite, um den Sanitätern, die mit einer Trage zum Ufer kamen, Platz zu machen.

Danny informierte die beiden Sanitäter kurz darüber, was passiert war, und gab ihnen seinen Handynummer, falls es noch Fragen geben sollte. Bevor Alois seiner Frau folgte, bedankte er sich noch einmal bei den beiden Rettern.

»Wie ist das eigentlich passiert?«, fragte Sebastian.

»Mariettas Hut war ihr davongeflogen. Sie ist aufgestanden, um nach ihm zu sehen, und hat das Gleichgewicht verloren. In Zukunft wird sie nur noch ohne Hut in ein Boot steigen«, sagte er lachend und verabschiedete sich.

»Ihr braucht etwas Trocknes zum Anziehen«, sagte Olivia, nachdem der Krankenwagen fort war und die Neugierigen wieder gegangen waren.

»Ich hätte da etwas!«, rief die nette Kellnerin aus dem Biergarten, die in ihrem leuchtendgelben Dirndl auf sie zukam. »Ich hoffe, die passen.« Sie reichte zuerst Danny und danach Sebastian ein in Folie eingepacktes gelbes T-Shirt mit dem Namenszug des Biergartens. »Sie haben ein größeres Unglück verhindert, wir hier am See haben Ihnen zu danken«, sagte sie, nachdem Danny und Sebastian sich bei ihr für die nette Geste bedankt hatten.

»Wir machen das.« Olivia nahm den beiden die T-Shirts aus der Hand, nachdem die Kellnerin wieder gegangen war, und gab eines davon Anna.

Während Danny sein nasses Hemd und Sebastian sein nasses Poloshirt auszogen, packten Olivia und Anna die T-Shirts aus und gaben sie den beiden. Wobei Olivia sich ein wenig mehr Zeit mit der Übergabe ließ als Anna, weil sie sich noch einen längeren Blick auf Dannys nackten Oberkörper erlaubte.

»Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Was meinst du?«, fragte Emilia und sah Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln an. Die beiden lehnte nebeneinander an dem dicken Stamm einer mächtigen Eiche und sahen den Erwachsenen zu.

»Falls das so ist, werden wir uns in Zukunft wohl auch häufiger sehen.«

»Wäre möglich.«

»Ich hätte nichts dagegen.«

»Ich auch nicht«, versicherte ihr Ophelia.

»Wir müssen zurück zum Sportplatz. Unser Bus fährt in einer halben Stunde ab«, sagte Anna, nachdem sie auf ihre Armbanduhr geschaut hatte.

»Hast du etwas zum Wechseln dabei?«, fragte Danny und sah auf Sebastians durchweichte Stoffhose. »Ich kann es zeitlich noch schaffen, dir etwas von mir zu holen.«

»Danke, für das Angebot, aber seitdem ich bei einem unserer Spiele einige Mädchen auf einem vom Regen durchweichten Gelände behandeln musste, bin ich vorbereitet.«

»Team-Look«, stellte Emilia fest, als sie auf die beiden Ärzte in den gelben T-Shirts schaute.

»Das passt doch, sie haben sich gerade als perfektes Team gezeigt«, sagte Ophelia.

»Das sehe ich auch so«, gab Emilia ihr recht. »Mein Vater und Anna sind bei der Bergwacht, dein Doc würde gut in dieses Team passen.«

»Ich nehme das mal als Kompliment«, sagte Danny, der gehört hatte, was Emilia gesagt hatte.

»Es war ein Kompliment, und du solltest wissen, dass meine Tochter mit Komplimenten nicht gerade um sich wirft«, erklärte ihm Sebastian.

»Ich stehe eben nicht auf Lobhudeleien, es muss schon echt sein, wenn man so etwas von sich gibt.«

»Womit du uneingeschränkt recht hast«, sagte Sebastian mit einem liebevollen Lächeln.

»Ich will wirklich nicht drängeln, aber es wird Zeit«, erinnerte Anna sie daran, dass sie zum Bus mussten.

Da Dannys Auto in der Nähe des Sportplatzes stand, machten sie sich alle gemeinsam auf den Weg. Emilia und Ophelia nutzten die Zeit, um ihre Telefon- und Internetdaten auszutauschen. Als sie sich dann vor dem Sportplatz voneinander verabschiedeten, versprachen sie sich, in Kontakt zu bleiben. Ein Versprechen, das sich auch die Erwachsenen gaben, worüber sich besonders Olivia freute.

Dass sie und Anna sich auf Anhieb sympathisch waren, und auch Daniel offensichtlich gleich einen Draht zu ihr und Sebastian hatte, eröffnete ihr die Möglichkeit, die beiden hin und wieder zu treffen und Daniel miteinzubeziehen. Auch wenn sie bisher nur so etwas wie Freunde waren, sie war sicher, dass irgendwann mehr aus ihr und Daniel werden würde.

*

Auf dem Weg nach Hause lud Olivia Daniel zum Abendessen ein, und er nahm die Einladung an. Nachdem er bei sich zu Hause geduscht und sich umgezogen hatte, kam er mit einer Flasche Rotwein als Gastgeschenk zu ihr, und sie bereiteten gemeinsam das Essen zu, während Ophelia in ihrem Zimmer mit ihren Freunden chattete.

»Ich denke, wir hatten einen ereignisreichen Nachmittag«, stellte Olivia fest, als sie und Danny in der Küche standen, einem gemütlichen Raum mit in U-Form angeordneten Möbeln aus hellem Holz.

Danny schnitt die Kartoffeln, die sie vorgekocht hatte, in feine Scheiben, und sie bereitete die Soße für den Kartoffelsalat zu, den es zu den Gemüsebuletten, die im Backofen lagen, geben sollte.

»Es war ein ausgesprochen sportlicher Nachmittag, erst Fußball, dann Schwimmen und Tauchen.«

»Mit letzterem habt ihr euch zu den Helden des heutigen Tages gemacht, Sebastian und du«, antwortete sie lächelnd.

»Ich habe vorhin gehört, dass Ophelia Emilia nach ihrer Mutter gefragt hat und Emilia daraufhin an den Himmel deutete. Was ist mit ihr passiert?«, fragte Danny.

»Kurz bevor ich Sebastian kennenlernte, kam sie bei einem Autounfall ums Leben. Er hat versucht, sich zusammenzunehmen, schon wegen Emilia, aber er hat elendig gelitten. Wir in der psychologischen Abteilung konnten damals kaum zu ihm durchdringen. In der Nacht, als es passierte, kam sie von einer Ausstellung, sie war Malerin, musst du wissen. Er hätte sie eigentlich vom Flughafen abholen sollen, aber er hatte Dienst und parkte ihr Auto auf dem Parkplatz, damit sie allein nach Hause fahren konnte.«

»Und das verzeiht er sich nicht.«

»Nein, das wird er sich nie verzeihen, aber er hat inzwischen gelernt, zu akzeptieren, dass solche Dinge geschehen.«

»Ganz offensichtlich ist es ihm auch gelungen, sich neu zu verlieben.«

»Ja, richtig, es ist ihm gelungen, und das bedeutet wohl, dass wir durchaus die Chance auf eine zweite große Liebe bekommen. Vorausgesetzt, wir nehmen diese Chance auch wahr«, sagte Olivia und sah Danny an.

»Wann gibt es etwas zu essen?«, fragte Ophelia, die in diesem Moment mit Ortrud auf dem Arm in die Küche kam.

»In fünf Minuten«, sagte Olivia und gab Danny die Tasse mit der Salatsoße, damit er den Kartoffelsalat anmachen konnte.

»Okay, ich decke den Tisch.« Ophelia ging in das angrenzende Esszimmer mit seinen duftigen Vorhängen und dem hellgrünen Sofa, nahm Teller und Besteck aus dem schönen alten Büffet, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, und deckte den Tisch. »Emilia hat mir ein paar Fotos geschickt«, erzählte sie während des Essens und zeigte Olivia und Danny die Aufnahmen aus dem Mannschaftsbus der Bergmoosbacher, zu denen auch ein Foto mit Emilia, Anna und Sebastian gehörte.

Nach dem Essen zog sich Ophelia wieder in ihr Zimmer zurück. Ortrud machte es sich auf dem grünen Sofa gemütlich, und Danny und Olivia tranken noch ein Glas Wein.

»Du kannst ihnen nur raten, entscheiden müssen sie selbst. Das solltest du dabei nie vergessen. In diesem Fall mag es eine Entscheidung über Leben und Tod sein, aber es ist nicht deine Entscheidung«, sagte Olivia, als sie wieder auf Reinhold Eberholz zu sprechen kamen.

»Das weiß ich«, antwortete Daniel.

»Ich weiß, dass du es weißt, aber es laut auszusprechen, hilft, die Zweifel, die sich möglicherweise aufdrängen, zu vertreiben.«

»Danke.«

»Für was?«

»Dass du dich um meine Psyche sorgst.«

»Ich helfe gern«, sagte Olivia lächelnd.

»Das weiß ich auch zu schätzen.«

Gegen zehn verabschiedete sich Danny von Olivia. Sie hatte ihm erzählt, dass sie am nächsten Morgen schon um sieben mit ihrer Sprechstunde begann, weil sie einer ihrer Patienten, der am Vormittag ein wichtiges Meeting psychisch gefestigt durchstehen wollte, um diesen Termin gebeten hatte. Und irgendwie war er selbst auch müde.

Als er eine halbe Stunde später im Bett lag, dachte er wieder daran, was Olivia ihm von Sebastians Trauer um seine Frau erzählt hatte. In diesem Moment wurde ihm klar, wie viel Zeit er inzwischen in Sachen Liebe vergeudet hatte. Nur der Tod war mächtig genug, um diesen Schmerz hervorzurufen. Was er empfand war Enttäuschung und verletzter Stolz, aber damit war es jetzt vorbei.

*

Als Danny am nächsten Morgen in die Praxis kam, teilte ihm Lydia mit, dass Marga Eberholz schon zweimal angerufen hatte. Er wusste gleich, dass das nichts Gutes bedeutete. Er ging in sein Sprechzimmer und rief Marga an.

»Doktor Norden, danke, dass Sie zurückrufen«, sagte sie.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Eberholz?«, fragte er.

»Reinholds Geschwister kommen als Spender nicht infrage, Doktor Norden. Die Ärzte in der Klinik haben mir nicht viel Hoffnung gemacht, dass sich noch ein Spender finden wird. Falls kein Wunder passiert, wird mein Reinhold sterben«, seufzte sie und er hörte, wie sie weinte.

»Weiß Ihr Sohn, wie krank sein Vater ist?«

»Mein Sohn?«, stammelte sie.

»Frau Eberholz, ich weiß das von Ihrem Mann und Ihrem Sohn«, gab Danny zu. Er wollte sie zumindest darauf hinweisen, dass ihr Mann möglicherweise doch noch gerettet werden konnte.

»Ich wage es nicht, meinen Sohn um Hilfe zu bitten. Mein Mann hat sich ihm gegenüber mehr als ungerecht verhalten, und ich war nahe daran, ihn auch zu verlassen, aber ich habe es dann doch nicht fertiggebracht. Ich liebe meinen Mann, und ich liebe meinen Sohn. Er hat jetzt seine eigene Familie, und er ist glücklich. Er ist uns nicht schuldig.«

»Das ist richtig, Frau Eberholz. Aber vielleicht sollten Sie Ihren Sohn selbst entscheiden lassen, ob er seinem Vater helfen will. Was wollen Sie ihm sagen, wenn er vom Tod seines Vaters erfährt?«

»Sie sind also auch der Meinung, dass mein Reinhold sterben wird?«

»Frau Eberholz, ich werde jetzt erst einmal mit der Klinik telefonieren. Ich rufe Sie dann wieder an«, sagte er. Er musste wissen, wie groß Reinholds Chance auf Rettung wirklich war. Zehn Minuten später wusste er, dass Reinhold nur noch ein paar Tage blieben, bis seine Leber endgültig versagte. Er rief Marga wieder an und musste ihr zustimmen. Reinhold würde wohl nicht überleben.

»Doktor Norden, ich habe gerade mit meinem Sohn telefoniert. Wir würden gern erst einmal mit Ihnen sprechen. Geht das?«, fragte sie.

»Natürlich geht das, kommen Sie einfach vorbei. Ich sage Bescheid, dass Sie nicht warten müssen.«

»Vielen Dank, Herr Doktor«, sagte Marga und beendete das Gespräch.

Bevor Danny mit der Sprechstunde begann, gab er Lydia und Sophia Bescheid, dass sie Marga und ihren Sohn gleich zu ihm schicken sollten, sobald sie kamen. Kurz vor Ende der Sprechstunde betraten sie die Praxis.

Severin war ein zarter junger Mann, feingliedrig mit schulterlangen blonden Locken und sanften dunklen Augen. Er und seine Mutter nahmen auf den beiden Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz, und Severin ließ sich von ihm über die Risiken einer Leberspende aufklären.

»Die Risiken für mich wären also überschaubar, und meine Leber wächst wieder nach?«

»Die Leber wächst nach, das ist richtig, aber die Risiken einer Operation sind nicht wegzudiskutieren. Das muss Ihnen bewusst sein, bevor Sie eine Entscheidung treffen.«

»Ich werde mit meiner Frau darüber sprechen.«

»Das sollten Sie auch unbedingt tun.«

»Schatz, ich will dich aber zu nichts drängen«, wandte sich Marga ihrem Sohn zu.

»Du kannst mich nicht drängen, niemand wird mich drängen. Es ist mein Körper, und ich entscheide. Du musst kein schlechtes Gewissen haben«, beruhigte Severin sie. »Wie viel Zeit bleibt mir für meine Entscheidung?«, wandte er sich an Danny.

»Eigentlich geht es um Stunden«, antwortete Danny ehrlich.

»Gut, dann fahre ich jetzt nach Hause, und melde mich dann in der Klinik, sollte ich mich für meinen Vater entscheiden. Ich will aber auf keinen Fall, dass er erfährt, dass ich der Spender bin. Können Sie mir versprechen, dass die Klinik ihn nicht darüber informiert?«, wollte er von Danny wissen.

»Unter Verwandten ist das eher ungewöhnlich, aber ich spreche mit der Klinik.«

»Ich werde mich nicht zur Verfügung stellen, sollte er davon erfahren.«

»Warum soll er es nicht wissen?«, fragte Marga.

»Weil ich nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Er hat mir vor Jahren erklärt, dass ich nicht mehr sein Sohn bin, sollte ich mich für die Musik entscheiden. Demzufolge hat er keinen Sohn mehr. Falls ich ihm helfe, wird es ein Fremder sein, dem er sein Leben verdankt.«

»Severin, es tut mir so leid«, ­sagte Marga mit Tränen in den Augen.

»Lass es gut sein, Mutter. Und ehe du noch auf die Idee kommst, dass es falsch war, mir von Vaters Zustand zu erzählen, versichere ich dir, dass es absolut richtig war.«

»Ich gebe zu, ich war zunächst nicht sicher, ob ich dir etwas sagen sollte«, entgegnete Marga und sah kurz zu Danny, der sich aber nichts anmerken ließ, dass er ihr zur Wahrheit geraten hatte.

»Gut, dass du es getan hast. Auch wenn wir inzwischen wie Fremde sind, es gab auch andere Zeiten, und an die erinnere ich mich gern. Es ist gut, dass du mir die Möglichkeit eröffnet hast, darüber nachzudenken, ob ich ihm helfen will. Und Ihnen auch vielen Dank, Doktor Norden, dass Sie meine Fragen beantwortet haben.«

»Lassen Sie mich wissen, wie Sie sich entscheiden?«

»Das mache ich«, sagte Severin.

»Ich bedanke mich auch recht herzlich, Doktor Norden«, bedankte sich auch Marga bei ihm.

Danach verabschiedeten sich die beiden.

Danny war froh, dass er Severin gerade als selbstbewussten jungen Mann kennengelernt hatte, der sich nicht so einfach beeinflussen ließ. Er konnte beruhigt davon ausgehen, dass er seine Entscheidung für oder gegen seinen Vater mit sich selbst ausmachte.

Nach der Mittagspause war Mia, Pauls Frau, seine erste Patientin. Wie er schon vermutet hatte, litt sie zusätzlich zu ihrer Schilddrüsenunterfunktion an einer Schwächung der Nebennieren.

»Das heißt, ich muss jetzt dieses Hydrocortisol nehmen?«, fragte Mia, die in ihrem hübschen Sommerkleid, das sie an diesem Nachmittag trug, nicht mehr ganz so traurig auf ihn wirkte, wie bei ihrem ersten Besuch bei ihm.

»Ich denke, es wird Ihnen helfen. Wir fangen mit einer kleinen Dosis an und überprüfen in drei Wochen, ob und was es gebracht hat. Das weitere Vorgehen richtet sich danach, wie es Ihnen dann geht.«

»Es wäre zu schön, wenn es mir endlich besser ging«, seufzte Mia.

»Das wird es. Wir werden Ihnen beim nächsten Mal noch einmal Blut abnehmen und im Labor einen Hormonstatus erstellen lassen. Sollten die Nebennieren sich erholt haben, werden sie ausreichend Hormone bilden, was sie bis dahin auch spüren werden. Falls nicht, erweitern wir die Therapie.«

»Haben diese Tabletten denn Nebenwirkungen?«

»Wer einen empfindlichen Magen hat, sollte sie nicht nüchtern einnehmen, ansonsten, wenn Sie bei der von mir empfohlenen Dosis bleiben, sind keine Nebenwirkungen zu erwarten. Sollte Ihnen aber irgendetwas merkwürdig vorkommen, melden Sie sich«, bat Danny sie. Menschen waren keine genormten Roboter, was der eine vertrug, konnte einem anderen durchaus Probleme bereiten.

Nachdem sich Mia verabschiedet hatte, kam Lydia zu ihm ins Sprechzimmer und erzählte ihm, dass sie gerade mit Thomas telefoniert hatte. Er hatte von Severin gehört, dass er darüber nachdachte, sich im Krankenhaus testen zu lassen, ob er als Spender für seinen Vater infrage kam.

Während der Sprechstunde schob Danny seine Sorgen um Reinhold Eberholz erst einmal beiseite, um ganz für die Patienten da zu sein, die an diesem Nachmittag zu ihm kamen. Am Ende der Sprechstunde, nachdem alle Patienten die Praxis verlassen hatten, rief Danny in der Klinik an, um sich nach Reinhold zu erkundigen. Von Reinholds behandelndem Arzt erfuhr er, dass Severin inzwischen in der Klinik war und als Spender infrage kam. Die Transplantation sollte schon am nächsten Tag stattfinden. Kaum hatte er aufgelegt, rief Marga an, um ihm die Neuigkeit mitzuteilen.

»Ich hoffe, dass alles gut geht«, sagte sie. Danny konnte an dem Vibrieren in ihrer Stimme hören, dass sie mit den Tränen kämpfte. Er konnte sich vorstellen, was gerade in ihr vor sich ging. Einerseits war sie glücklich darüber, dass es Hoffnung für Reinhold gab, andererseits machte ihr die Operation, die nun auch Severin bevorstand, große Sorgen.

»Für die Klinik ist das keine außergewöhnliche Operation. Die Ärzte sind mit diesen Eingriffen bestens vertraut, und Ihr Sohn ist jung und stark, es wird alles gut gehen«, machte er ihr Mut.

»Das will ich ja auch gern glauben, aber ich bin fürchterlich nervös«, gestand ihm Marga.

»Falls es zu schlimm wird, nehmen Sie ein pflanzliches Beruhigungsmittel. Sie müssen nach der Operation für Ihren Mann da sein, und Ihren Sohn wollen Sie sicher auch besuchen. Sie sollten Ruhe ausstrahlen.«

»Ich werde mir Mühe geben«, versprach sie ihm.

»Dann alles Gute für morgen, wir hören voneinander«, sagte Danny.

Als er sein Sprechzimmer kurz danach verließ, ging er in die Küche, um sich von Sophia und Lydia zu verabschieden, die nach Ende der Sprechstunde immer noch ein paar Minuten dort zusammen standen. Lydia beendete gerade das Telefongespräch, das sie mit Thomas geführt hatte.

»Jetzt wird es ernst für Severin«, sagte sie.

»Ich weiß, ich habe gerade mit der Klinik und Frau Eberholz telefoniert«, ließ Danny sie wissen, dass auch er inzwischen auf dem neuesten Stand war.

»Familie ist eben doch etwas ganz Besonderes. Obwohl sein Vater sich ihm gegenüber so mies benommen hat, will er ihm das Leben retten«, stellte Sophia nachdenklich fest.

»Und er soll es nicht einmal erfahren, das nenne ich Größe«, entgegnete Lydia.

»Hoffen wir, dass es gut geht.«

»Es spricht alles dafür«, beruhigte Danny Sophia. »Ich muss los. Ich bin heute wieder zum Training der Bogenschützen verabredet«, sagte er.

»Thomas meinte, dass Sie mit Ihnen sogar die Chance auf einen der ersten Plätze haben«, verriet Lydia ihm, die Einschätzung ihres Freundes.

»Wir werden sehen. Viel Zeit zum Üben bleibt nicht mehr. Bis morgen«, verabschiedete sich Danny und ließ die beiden allein.

»Der Mann hat viele Talente«, stellte Sophia fest, nachdem Danny gegangen war.

»Und viele Interessen, und das macht ihn erst zu einem wirklich guten Arzt.«

»Weil er sich auch in andere Menschen hineindenken kann, was ihm hilft, ihre Probleme zu verstehen.«

»Genau das meine ich«, sagte Lydia.

*

Die Neuigkeit, dass Severin sich entschlossen hatte, das Leben seines Vaters zu retten, hatte sich schon unter den Bogenschützen herumgesprochen, als Danny gegen sieben zum Training in die Sporthalle kam. Einige waren der Meinung, dass es das Gespräch mit ihm war, das Severin die Entscheidung leichter gemacht hatte. Auch Paul und Thorsten hatten sich dieser Meinung angeschlossen. Seinen Einwand, dass es ganz allein Severins Entschluss war, überhörten sie, und Danny diskutierte nicht weiter darüber. Er wusste, dass Severin sich nicht von ihm hatte beeinflussen lassen.

Nach dem Training gingen sie wieder alle auf ein Bier ins Ritterstübel und an diesem Abend gab es nur ein Thema: Reinholds Verhältnis zu seinem Sohn. Für die Männer, die zu seinem Team gehörten, bestand kein Zweifel daran, dass Reinhold im Unrecht war, und dass es an ihm wäre, sich bei seinem Sohn zu entschuldigen. Ob das Verhältnis zu Severin aber jemals wieder zu kitten wäre, daran zweifelten sie allerdings.

An diesem Abend war Danny wieder einmal zu Fuß unterwegs. Als er kurz nach zehn am Grundstück der Mais vorbeikam, saßen Olivia und Ottilie auf der Terrasse. Er winkte ihnen freundlich zu, und Olivia bat ihn, auf ein Glas Wein zu ihnen zu kommen, worauf er sich auch sofort einließ. Er hatte sie einen Tag lang nicht gesehen, und er hatte sie vermisst, das war eine Tatsache, der er nicht mehr ausweichen konnte.

Die überdachte Terrasse der Mais war ein romantischer Ort. Duftende Rosenbüsche grenzten an die halbhohe Mauer, die mit gelben Rosen in weißen bauchigen Blumenschalen dekoriert war. Die Tür aus massivem Holz, die direkt in die Küche führte, war genau wie die Fensterläden des Hauses in einem leuchtenden Türkis gestrichen. Olivia und ihre Mutter Ottilie, eine attraktive Frau mit ebenso hellrotem Haar wie ihre Tochter, saßen sich an dem Tisch aus heller Kiefer gegenüber. Der Tisch wurde von dem Schein einer Kerze beleuchtet, die in einem hohen Glas stand.

»Wie war das Training?«, fragte Olivia, nachdem er seine Sporttasche abgestellt und sie begrüßt hatte.

»Ich werde Korbinians Leistung sicher nicht erreichen, aber ich denke, ich kann das Team schon unterstützen.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Olivia.

»Ich auch«, stimmte Ottilie ihrer Tochter zu und reichte Danny ein Glas Rotwein.

»Danke, für Ihr Vertrauen.«

»Ich bin absolut sicher, dass Sie sich niemals auf diese Sache eingelassen hätten, wenn Sie nicht davon überzeugt wären, diesem Team helfen zu können.«

»Das wäre auch unfair gewesen.«

»Stimmt, das wäre unfair gewesen«, sagte Olivia lächelnd. »Aber leider ist das Leben nicht immer fair, was mich zu der Frage bringt, wie es Reinhold Eberholz geht.«

»Sein Sohn stellt sich als Spender zur Verfügung. Sie werden morgen operiert. Aber das muss unter uns bleiben. Severin will nicht, dass sein Vater erfährt, dass er der Spender ist.« Er wusste, dass er den beiden vertrauen konnte, zumal sie als Psychologinnen, genau wie er, an die Schweigepflicht gebunden waren.

»Nachdem, was ich gehört habe, ist das eine große Geste des jungen Mannes«, sagte Ottilie.

»Du kennst die Familienverhältnisse?«, wunderte sich Olivia.

»Marga Eberholz kommt hin und wieder zu mir. Diese kleine zierliche Frau, die du als die Frau mit den traurigen Augen bezeichnet hast.«

»Jetzt verstehe ich, warum sie traurige Augen hat.«

»Zumindest hat sie den Kontakt mit ihrem Sohn nicht aufgegeben. Sie geht auch davon aus, dass ihr Mann weiß, dass sie ihren Sohn trifft. Dass er es nie anspricht, interpretiert sie als stillschweigende Zustimmung.«

»Vielleicht ändert er seine Einstellung, was seinen Sohn betrifft, wenn er noch einmal mit dem Leben davonkommt. Manchmal verändert ein derart einschneidendes Erlebnis einen Menschen.«

»Es wäre der Familie zu wünschen«, sagte Danny.

»Dann hoffen wir mal das Beste. Aber nun etwas anderes, ich habe gehört, Sie haben sich am Sonntag tapfer ins Wasser gestürzt, um eine Frau zu retten«, sprach Ottilie ihn auf sein Erlebnis am See an.

»Die Rettung war nicht allein mein Verdienst.«

»Ich weiß, aber das macht es nicht weniger mutig«, sagte sie.

»Hatte ich dir schon gesagt, dass ich morgen für zwei Tage nach Heilbronn fahre?«, wandte sich Olivia an Danny.

»Nein, das hast du noch nicht erwähnt.«

»Ein Softwareunternehmen hat mich gebeten, einige Vorträge über Psychologie im Alltag zu halten. Am Samstag zum Wettbewerb der Bogenschützen werde ich aber wieder zurück sein.«

»Ich verlasse mich darauf«, antwortete Danny lächelnd.

»Ich werde da sein, versprochen.«

Ein paar Minuten später verabschiedete sich Danny von den beiden, wünschte Olivia eine schöne Zeit in ihrer Heimatstadt und ging durch die Lücke in der Hecke hinüber zu seinem Haus. Bevor er seine Tür aufschloss, schaute er noch einmal zum Garten der Mais. Er zuckte zusammen, als er Olivias Schatten wahrnahm, den die Kerze des Windlichtes an die Hauswand warf. Er spürte, wie ihm in diesem Moment ganz warm ums Herz wurde, und das war ein aufregendes Gefühl.

*

Am nächsten Tag hatten sie nachmittags keine Sprechstunde. Danny hatte im Laufe des Vormittages erfahren, dass die Transplantation gut verlaufen war. Um sich selbst davon zu überzeugen, dass es Vater und Sohn gut ging, fuhr er nach dem Mittagessen in die Klinik.

Im Gang vor Reinholds Zimmer traf er Marga, die ihn mit einem glücklichen Lächeln begrüßte und ihm erzählte, dass Severin und Reinhold die Operation gut überstanden hatten. »Wenigstens habe ich Severin dazu überreden können, das Privatzimmer anzunehmen, das ich für ihn reservieren konnte. Wollen Sie kurz zu ihm hineinsehen? Er würde sich bestimmt freuen.«

»Wo ist denn sein Zimmer?«, fragte er, weil er ihr diese Bitte nicht abschlagen wollte.

»Kommen Sie, ich begleite Sie«, sagte sie.

Severins Zimmer war am anderen Ende des Gangs, weit genug von Reinhold entfernt, um ihm nicht gleich über den Weg zu laufen, wenn er das Zimmer verließ. Severin lag in einem schönen Einzelzimmer mit Blick auf eine Grünanlage. Eine zierliche junge Frau mit langem schwarzem Haar und dunklen Augen saß neben seinem Bett. Das kleine Mädchen in dem roten Kleidchen, das auf ihrem Schoss saß, hatte das gleiche dunkle Haar wie sie und sah ihn mit seinen großen braunen Augen neugierig an.

»Papa, wer ist denn der Mann?«, fragte es.

»Das ist Doktor Norden«, sagte er. »Mir geht es gut, ich habe alles gut überstanden«, wandte er sich Danny lächelnd zu.

»Ja, das sehe ich. Sie müssen sich aber noch ein paar Tage schonen.«

»Das ist mir klar, aber ich werde hier gut versorgt. Meine Frau Felicitas, Nina, meine Tochter«, machte er Danny mit seiner Familie bekannt.

»Freut mich«, sagte Danny und nickte den beiden freundlich zu.

»Bist du auch ein Arzt?«, fragte Nina.

»Ja, bin ich«, antwortete Danny.

»Wo ist dein weißer Kittel?«

»Doktor Norden arbeitet nicht im Krankenhaus, Spatz. Er hat eine Arztpraxis. So wie Doktor Sonnig, dein Kinderarzt«, klärte Severin seine Tochter auf.

»Und warum besucht er dich? Ist er dein Erwachsenenarzt?«

»Er ist mein Arzt«, sagte Marga.

»Ist er auch Opas Arzt?«

»Ja, ist er.«

»Kann ich mal meinen Opa endlich kennenlernen?«

»Im Moment geht das nicht. Dein Opa ist krank«, sagte Felicitas.

»Immer geht es nicht«, murrte Nina.

»Irgendwann wissen wir nicht mehr, wie wir sie vertrösten sollen«, raunte Marga Danny zu.

»Das glaube ich gern«, antwortete er leise. »Es war wirklich großzügig, dass Sie das getan haben«, wandte sich Danny Severin zu.

»Eine gute Tat, für die ich keine Belohnung will.«

»Das weiß ich. Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Besserung«, sagte Danny, bevor er sich wieder verabschiedete.

»Ich komme kurz mit«, schloss sich Marga ihm an, als er das Zimmer verließ.

»Du solltest noch einmal darüber nachdenken, ob du es ihn nicht doch wissen lässt. Es könnte ein Neuanfang für euch sein.« Felicitas setzte sich vorsichtig auf Severins Bett, nachdem Nina von ihrem Schoss heruntergeklettert war. Sie legte ihre Hand auf seine und sah ihn an. »Du vermisst deinen Vater, trotz allem, was zwischen euch vorgefallen ist, das weiß ich.«

»Manche Dinge lassen sich nicht wieder gutmachen.«

»Das stimmt, aber in diesem Fall könnte es funktionieren. Nina, wohin willst du?!«, rief Felicitas, als das Mädchen in diesem Moment aus dem Zimmer rannte.

»Wenn mein Opa auch krank ist, dann ist er vielleicht auch hier im Krankenhaus!«, antwortete Nina.

*

Auch Reinhold lag in einem schönen Einzelzimmer mit Blick auf die Grünanlage. Bisher wusste er noch nicht, wem er seine Rettung zu verdanken hatte. Auch er hatte die Operation gut überstanden, war aber noch um einiges schwächer als sein Sohn.

»Schade, dass ich dem Spender nicht persönlich danken kann«, sagte er, als Marga auf dem Stuhl neben seinem Bett saß und Danny auf der anderen Seite des Bettes an der Fensterbank lehnte.

»Er hat beschlossen, anonym zu bleiben, das müssen wir akzeptieren«, sagte Marga.

»Vielleicht kann ich ihn ja doch noch ausfindig machen.«

»Lass es gut sein, Reinhold«, bat Marga ihn. »Vielen Dank«, wandte sie sich an die Pflegerin, die hereingekommen war, um neue Handtücher in das Bad zu legen, das zu Reinholds Zimmer gehörte. Sie hatte die Tür zum Gang offengelassen und hätte beinahe das kleine Mädchen übersehen, das dort stand und ins Zimmer hineinschaute.

»Oma, ist das mein Opa?«, fragte das Mädchen in dem roten Kleid.

»Marga?« Reinhold hatte zuerst das Kind verblüfft angesehen und schaute dann Marga mit einem fragenden Blick an.

»Das ist Nina, deine Enkelin. Komm her, mein Schatz, sag deinem Opa guten Tag«, bat Marga, Nina näherzukommen.

»Hallo, Opa, ich wollte dich schon so lange kennenlernen. Weißt du, Opa, mein Papa ist auch hier im Krankenhaus. Er ist auch krank«, sagte das Kind.

»Nina«, flüsterte Reinhold und seine Augen füllten sich mit Tränen, als er das Kind ansah. »Severin ist der Spender, richtig?«, fragte er, ohne den Blick von dem Kind abzuwenden.

»Ich lasse Sie dann mal allein, alles Gute, Herr Eberholz«, verabschiedete sich Danny, als auch Felicitas, die ihrer Tochter gefolgt war, in Reinholds Zimmer kam.

»Das ist Felicitas, deine Schwiegertochter«, stellte Marga ihrem Mann die junge Frau vor.

»Es tut mir alles so leid«, sagte Reinhold und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Offensichtlich brauchte ich erst diesen Dämpfer, um zu begreifen, wie schnell alles vorbei sein kann. Ich hoffe, ich kann noch etwas gutmachen.«

»Sie sollten es versuchen«, machte Felicitas ihm Mut.

Vielleicht war der Besuch des kleinen Mädchens bei seinem Großvater ein neuer Anfang für diese Familie, dachte Danny, als er das Zimmer verließ. Er hoffte es für sie.

*

Der Wettbewerb der Bogenschützen fand am Samstagnachmittag statt. Die Zuschauertribünen waren bis auf den letzten Platz besetzt. Auch Valentina und Korbinian waren gekommen. Sie saßen in der ersten Reihe der einen Tribüne neben Lydia, Mia und Thorstens Frau Lucie. Hinter ihnen in der Reihe sah Danny Olivia, Ottilie und Ophelia, die ihm aufmunternd zunickten.

»Mit dieser Unterstützung werden wir auf jeden Fall gut abschneiden«, raunte Thomas ihm zu, als sie sich an der Linie aufstellten, die den Platz der Bogenschützen markierte.

»Bevor wir mit dem Wettbewerb beginnen, habe ich die Ehre noch einen besonderen Zuschauer zu begrüßen, der uns über das Internet zugeschaltet ist«, verkündete der Hallensprecher, der den Wettbewerb für die Zuschauer kommentieren würde. »Bitte mal zur Tribüne 1 schauen«, forderte er die Bogenschützen auf.

Gleich darauf war Reinhold in seinem Krankenhauszimmer auf der Leinwand zu sehen, die an der Wand hinter der Tribüne angebracht war, auf der die Angehörigen von Dannys Team saßen. Er saß mit aufgerichteter Rückenlehne in seinem Bett und lächelte. Als er in die Kamera seines Computers winkte, hießen ihn Bogenschützen und Zuschauer mit einem großen Applaus willkommen.

»Wie geht es dir, Reinhold?«, fragte der Hallensprecher.

»Ich fühle mich wie neugeboren, und das verdanke ich allein meiner wundervollen Familie«, verkündete er, und danach drehte er seine Kamera zur Seite.

In dem Bett neben ihm saß Severin. An seinem Fußende hatte es sich Nina gemütlich gemacht und links an seinem Kopfende Felicitas. Auf einem Sessel zwischen den beiden Betten saß Marga.

»Mein Sohn hat mir das Leben gerettet, obwohl ich mir dieses Geschenk nicht verdient hatte. Ich war ein überheblicher Hornochse und unglaublich stur, aber dann kam dieses kleine wundervolle Wesen und hat mich daran erinnert, was es bedeutet, ein Kind zu haben«, hörten sie Reinhold sagen, während er die Kamera des Computers so ausrichtete, dass nur noch Nina zu sehen war.

Für einen Moment war es ganz still in der Halle, weil alle begriffen, dass Reinhold zutiefst bereute, was er Severin angetan hatte. Erst als Reinhold die Kamera wieder auf sich richtete, setzte erneut der Applaus ein.

Kurz darauf begann der Wettbewerb. Die Pfeile zischten durch die Halle, versanken mit dem typischen Plopp im Ziel, und die Punktrichter notierten die Ergebnisse.

Am Ende des Wettbewerbs hatten es Danny und sein Team als Dritte auf das Siegertreppchen geschafft. Das Team bedankte sich überschwänglich bei Danny für seinen Einsatz.

Auch Korbinian umarmte ihn mehrfach mit seinem gesunden Arm und war sichtlich glücklich darüber, dass er ihn ins Team geholt hatte. Die Siegerehrung verfolgten Reinhold und seine Familie noch, danach schalteten sie die Kamera aus.

»Dass Reinhold und Severin wieder zusammengefunden haben, das ist der weitaus größere Gewinn des Tages«, stellte Korbinian mit einem tiefen Seufzer fest und alle, die es hörten, stimmten ihm zu.

Nach der Siegerehrung ging es wieder ins Ritterstübel. Korbinian hatte einen großen Tisch reservieren lassen, damit auch die Damen mitfeiern konnten, wie er sagte. Für Danny war es keine Frage, Olivia zu bitten, an ihrer kleinen Feier teilzunehmen.

»Ich komme gern mit. Du hast heute viel erreicht, Daniel«, sagte sie.

»Du meinst, weil wir den dritten Platz belegt haben?«

»Auch das, aber du hast auch dazu beigetragen, dass eine Familie wieder zusammenfindet.«

»Ich glaube nicht, dass ich dazu etwas Entscheidendes beigetragen habe.«

»Doch, das hast du. Du hast Marga Eberholz dazu gebracht, die Wahrheit zu sagen, nur so konnte es funktionieren. Du hast viel erreicht. Du besitzt diese Gabe, Menschen das Gefühl zu geben, dass sie etwas schaffen können.«

»Du traust mir viel zu.«

»Ja, Daniel, das tue ich wirklich«, sagte sie und betrachtete ihn mit einem liebevollen Lächeln, bevor Korbinian sie alle aufforderte, ihm ins Ritterstübel zu folgen.

Ottilie und Ophelia nahmen an dem Treffen im Ritterstübel nicht teil. Ottilie hatte Theaterkarten und Ophelia vorgeschlagen, sie zu begleiten.

»Irgendwie gehören sie schon zusammen«, stellte Ophelia fest, als sie und Ottilie noch einmal zum Eingang des Ritterstübels schauten, bevor sie in den roten Sportwagen stiegen, der Ottilie gehörte. Danny hielt Olivia die Tür auf und legte seinen Arm behutsam um ihre Schultern, als sie das Ritterstübel betraten.

»Sie machen Fortschritte«, sagte Ottilie lächelnd und öffnete mit der­ Fernbedienung die Türen ihres ­Wagens.

Die neue Praxis Dr. Norden Box 2 – Arztserie

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