Читать книгу Die neue Praxis Dr. Norden Box 4 – Arztserie - Carmen von Lindenau - Страница 6
Оглавление»Bis später, mein Schatz, ich wünsche dir einen wundervollen Tag«, sagte Olivia, als sie sich nach dem Frühstück von Daniel verabschiedete, um zum Yoga zu gehen.
»Den wünsche ich dir auch. Passt auf euch auf«, entgegnete er, legte seine Hand auf ihren Babybauch und betrachtete sie mit einem liebevollen Blick. »Nur noch zwei Monate«, raunte er Olivia zu, so als wollte er die Zwillinge noch nicht an ihre Geburt erinnern. Schließlich sollten sie sich noch ein wenig Zeit lassen.
»Ehrlich gesagt, so richtig kann ich mir unser zukünftiges Familienleben noch nicht vorstellen«, gab Olivia zu.
»Das kann ich auch nicht. Eines ist aber sicher, langweilig wird es nicht werden«, versicherte ihr Daniel und nahm sie noch einmal zärtlich in seine Arme, bevor er ihr die Terrassentür aufhielt. Ich freue mich auf jeden weiteren gemeinsamen Tag mit dir, dachte er, als er Olivia nachschaute, wie sie durch den verschneiten Garten zum Haus von Ottilie hinüberging. Er war froh, dass seine Schwiegermutter sich genauso wie Olivia für Yoga begeisterte und mit ihr gemeinsam an den Kursen in der Yogaschule teilnahm. Auch wenn es Olivia gutging und eine Schwangerschaft keine Krankheit war, war er trotzdem immer unruhig, wenn sie allein unterwegs war.
»Alles ist gut, Herr Doktor, Sie müssen sich keine Sorgen machen«, sagte Valentina, die zu ihm ans Fenster kam.
»Mein Verstand weiß das, aber das hilft nicht immer«, gestand er der freundlichen älteren Frau, die ihnen an den Wochentagen im Haushalt half.
»Ja, mei, Herr Doktor, wenn es um die Liebe geht, ist der Verstand halt machtlos«, entgegnete Valentina lächelnd. Sie stand neben Daniel, trug ihre Lesebrille wie einen Haarreif in den kurzen grauen Locken und hatte ihre Hände in die Taschen ihrer rotweiß gestreiften Schürze gesteckt, während sie seinem Blick folgte.
»Meinen Patienten rate ich immer, sich möglichst keine Sorgen zu machen, weil das ihrer Gesundheit schadet.«
»Wie gesagt, wenn es um die Gefühle geht, fällt es schwer, auf die eigenen Ratschläge zu hören.«
»Damit werde ich mich wohl abfinden müssen«, stimmte Daniel ihr mit einem tiefen Seufzer zu.
»Das heißt aber nicht, dass ich denke, Sie sollten keine guten Ratschläge mehr geben. Sie sind für Ihre Patienten schon recht nützlich.«
»Das hoffe ich«, entgegnete er schmunzelnd. »Ich gehe dann auch mal. Es wird Zeit für die Sprechstunde«, sagte Daniel, nachdem er auf das Display seines Handys geschaut hatte.
»Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag, Herr Doktor.«
»Danke, den wünsche ich Ihnen auch, Valentina«, verabschiedete sich Daniel von ihr.
»Wenn jeder Mann seine Frau so sehr lieben würde, wie er es tut, dann wäre diese Welt ein Paradies«, murmelte Valentina, als Daniel gegangen war und sie das Frühstücksgeschirr in die Geschirrspülmaschine räumte. Oder wie mein Korbinian mich liebt, dachte sie, und in diesem Moment war sie von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt.
Sie wusste, dass auch sie zu den Glücklichen gehörte, die von ganzem Herzen geliebt wurden.
*
Das Wartezimmer war wie an jedem Morgen schon gut besetzt. Das konnte Daniel durch die Glaswand sehen, die das Wartezimmer mit seinen gelben Sesseln von der Empfangsdiele trennte. Lydia und Sophia standen in ihren weißen Jeans und türkisfarbenen T-Shirts hinter dem weißen Tresen mit den eingebauten LED-Leuchten, die den Parkettboden in ein sanftes Licht tauchten.
»Gut geschlafen?«, fragte Lydia.
»Ja, schon. Mache ich etwa einen anderen Eindruck?«, fragte er, weil Lydia ihn mit ihren wachen hellbraunen Augen skeptisch betrachtete.
»Ehrlich gesagt, wirkst du ein bisschen abwesend.«
»Das liegt möglicherweise daran, dass ich mir im Moment ständig Sorgen um Olivia mache, obwohl ich weiß, dass sie sehr gut auf sich selbst aufpassen kann«, gestand er seinen beiden Mitarbeiterinnen ein.
»Das liegt an den Hormonen«, sagte Sophia, die sich mit den Ellbogen auf dem Tresen abstützte und Daniel mit ihren großen blauen Augen anschaute. »Du kennst doch sicher diese Studien, die festgestellt haben, dass sich auch der Hormonhaushalt der werdenden Väter während der Schwangerschaft verändert.«
»Ich habe davon gehört. Es waren zwar recht kleine Studien, aber sie haben gezeigt, dass im Gegensatz zu der werdenden Mutter, deren Hormonspiegel steigt, der Hormonspiegel des werdenden Vaters sinkt, wobei der Testosteronwert besonders auffällig war.«
»Das bedeutet, der Aggressionslevel des Mannes fällt. Er wird ruhiger und fürsorglicher, auch er bereitet sich auf das Behüten und Versorgen des Babys vor«, sagte Lydia.
»So erklärt sich die Wissenschaft dieses Phänomen«, stimmte Daniel ihr zu.
»Möglicherweise trifft es nicht auf alle Männer zu, aber auf die, die ohnehin liebevoll und fürsorglich sind, ganz bestimmt. Und du gehörst zu dieser Kategorie, Daniel«, sagte sie und spielte mit den Spitzen des dicken Zopfes, zu dem sie ihr blondes Haar geflochten hatte und der ihr über die Schulter nach vorn fiel.
»Das sehe ich genauso«, pflichtete Lydia ihrer Freundin und Kollegin bei.
»Ich danke euch für diese Einschätzung. Olivia wird sie sicher gefallen.«
»Bitte nicht schon wieder Lorena Zachner«, flüsterte Lydia, als in diesem Moment eine junge Frau die Praxis betrat.
»Das ist mit Sicherheit schon ihr zehnter Besuch allein in diesem Monat«, entgegnete Sophia leise, als die zierliche Frau in dem dunkelblauen Wollmantel sich näherte.
»Ich bin dann gleich soweit«, sagte Daniel und nickte Lorena Zachner freundlich zu, bevor er den Gang zu seinem Sprechzimmer hinunterlief. Auch er hatte keine wirkliche Erklärung für die häufigen Besuche dieser Patientin in seiner Praxis. Ihre diversen Beschwerden hatten sich bisher als harmlos herausgestellt. Möglicherweise neigte sie zur Hypochondrie und befürchtete, an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden. Wenn das so weiterging, musste er sie irgendwann darauf ansprechen.
»Guten Morgen, Frau Zachner. Was können wir für Sie tun?«, fragte Lydia, als Lorena zum Tresen kam, die weiße Wollmütze abnahm und sich mit der Hand durch ihr kurzes braunes Haar fuhr.
»Ich möchte zum Herrn Doktor. Mir geht es nicht gut«, antwortete Lorena. »Ich konnte heute nicht einmal zum Yoga gehen, meine Kopfschmerzen sind einfach zu heftig«, fügte sie mit gequälter Miene hinzu und kniff ihre Augen zusammen, so als würde sie sich von dem Licht in der Praxis geblendet fühlen.
»Dann nehmen Sie bitte im Wartezimmer Platz«, bat Lydia, nachdem sie Lorena in die Patientenliste für diesen Vormittag eingetragen hatte.
»Hoffentlich dauert es nicht so lange, mir geht es wirklich sehr schlecht«, betonte Lorena erneut, bevor sie mit hängenden Schultern ins Wartezimmer ging.
»Sie war doch erst vor zwei Wochen zu einem kompletten Check-up im Krankenhaus, der ergeben hat, dass sie vollkommen gesund ist«, raunte Lydia Sophia zu.
»Falls sie wirklich an Migräne leidet, lässt sich das ja nicht einfach so feststellen«, entgegnete Sophia.
»Stimmt, und umgekehrt lässt sich auch nicht beweisen, dass sie keine Kopfschmerzen hat«, sagte Lydia und schaute ins Wartezimmer.
Lorena hatte sich auf den Sessel in der hintersten Ecke des Raumes gesetzt. Er war von der hochgewachsenen Grünpflanze, die dort stand, zum Teil verdeckt. Dieser Sessel war inzwischen Lorenas Stammplatz. Im Gegensatz zu den anderen Patienten, die im Wartezimmer gern Neuigkeiten austauschten, zog sich Lorena stets zurück und hörte über ihr Handy mit Kopfhörern Musik.
»Ihre Schwester haben wir im letzten halben Jahr gerade einmal hier gesehen, und das war, weil sie ihre Tetanusimpfung auffrischen ließ«, stellte Sophia nach einem Blick in Mathilda Zachners Patientenblatt fest. »Ich dachte immer, eineiige Zwillinge hätten die gleichen Gene, auch was ihre Empfänglichkeit für Krankheiten betrifft.«
»Inzwischen zweifelt die Wissenschaft an der Macht der Gene. Es heißt, dass sie nur zu einem geringen Teil unser Leben bestimmen.«
»Im Moment ist das wohl die Richtlinie. In ein paar Jahren, wenn weitere Ergebnisse vorliegen, könnte diese Erkenntnis wieder verworfen oder angepasst werden.«
»Wir entwickeln uns eben weiter, da muss Raum für Irrtümer sein«, stellte Lydia fest.
»Ich würde sagen, solange die Wissenschaft das Ergebnis einer Blutuntersuchung nicht als Kaffeesatzleserei verwirft, werden wir uns auch weiterhin auf die Blutanalysen aus dem Labor stützen«, entgegnete Sophia schmunzelnd und rief Frau Maurer auf, die sich Sorgen um ihren Cholesterinspiegel machte und Daniel gebeten hatte, den Wert zu überprüfen.
»In Ordnung, gehen wir wieder an die Arbeit«, sagte Lydia und griff nach dem Telefon, das vor ihr auf dem Tresen lag und läutete.
»Ihr Cholesterin war doch bisher immer in Ordnung«, sagte Sophia, nachdem Evelyn Maurer, die Besitzerin des Modegeschäftes in der Fußgängerzone, ihr in den Laborraum gefolgt war und auf dem Stuhl mit der breiten Armlehne Platz genommen hatte.
»In den letzten Wochen habe ich es mir ein bissel zu gut schmecken lassen«, entgegnete Evelyn schmunzelnd.
Die rundliche Endfünfzigerin mit dem kurzen blonden Haar und den freundlichen dunklen Augen platzierte ihren Unterarm auf der Stuhllehne, damit Sophia ihr das Band, das das Blut in den Venen kurz stauen sollte, um den Oberarm binden konnte.
»So schnell wirkt sich das nicht aus, Frau Maurer. Und überhaupt, das Cholesterin lässt sich über das Essen nur schwer steuern«, erklärte ihr Sophia.
»Die sogenannten Normwerte wurden auch im Laufe der Jahre immer weiter abgesenkt, das weiß ich.«
»Was dazu geführt hat, dass bei jeder erneuten Senkung des Wertes viele Millionen Menschen auf diesem Planeten praktisch über Nacht zu Kranken erklärt wurden«, sagte Sophia, nachdem sie Evelyn mit einer Spritze das Blut abgenommen hatte, das im Labor untersucht werden sollte.
»Mit den Blutdruckwerten ist es doch auch so. Und überhaupt kann es gar nicht sein, dass ein einziger Wert für alle Menschen passen muss. Wir sind doch alle unterschiedlich.«
»So ist es, Frau Maurer«, gab Sophia Evelyn recht, während sie das Band um ihren Oberarm löste.
»Ich sage ja immer zu allen, die unseren Doktor Norden kennen, dass wir großes Glück haben, dass er sich ausgerechnet hier bei uns niedergelassen hat, weil er diese Unterschiede berücksichtigt. Außerdem kann er so wunderbar zuhören, und das reicht oft schon aus, um sich besser zu fühlen, wenn man die Praxis wieder verlässt. Grüßen Sie ihn von mir.«
»Das mache ich gern, Frau Maurer. Aber sagen Sie, wie war denn Ihr Urlaub?«, zeigte sich Sophia an Evelyns kürzlicher Reise in die Karibik interessiert.
»Ich hatte eine großartige Zeit. Ich denke, dieses Mal habe ich die richtige Wahl getroffen.«
»Das gönne ich Ihnen von ganzem Herzen, Frau Maurer«, sagte Sophia. Frau Maurer hatte nach vielen Jahren der Einsamkeit und Enttäuschungen endlich wieder einen Mann getroffen, der sie aufrichtig liebte.
»Ich bin der beste Beweis dafür, dass wir nie aufgeben sollten, solange auch nur die kleinste Chance besteht, dass wir glücklich werden könnten.«
»So sehe ich das auch, Frau Maurer«, pflichtete Sophia ihr bei und hielt ihr die Tür des Labors auf.
»Ab wann darf ich denn morgen anrufen, um nach dem Ergebnis der Untersuchung zu fragen?«, wollte Evelyn wissen.
»Ab zehn Uhr liegen uns die Ergebnisse vor«, sagte Sophia, bevor sie sich von Frau Maurer verabschiedete. »Sie ist doch noch gar nicht an der Reihe«, wunderte sie sich, als sie zu Lydia an den Empfangstresen zurückging und ihr Lorena auf dem Weg zu Daniels Sprechzimmer begegnete.
»Sie hat mir erklärt, dass sie das Gefühl hätte, dass ihr Kopf gleich platzen würde«, erklärte ihr Lydia, warum sie Lorena den anderen Patienten vorgezogen hatte.
»Alles klar, das klingt nach einem Notfall.«
»Was nicht heißt, dass es einer ist.«
»Nein, das heißt es bei ihr nicht. Hoffen wir, dass Daniel herausfindet, was mit ihr los ist«, sagte Sophia, als sie sah, wie Lorena in Daniels Sprechzimmer ging.
*
»Mir geht es so schlecht, Herr Doktor. Die Kopfschmerzen sind schier unerträglich«, sagte Lorena, nachdem sie auf einem der beiden Stühle vor Daniels Schreibtisch Platz genommen hatte. Sie rieb mit den Händen über ihre Schläfen, während sie den jungen Arzt anschaute.
»Wie lange haben Sie diese Kopfschmerzen denn schon?«, fragte Daniel und schob den Schirm der weißen Lampe, die mit einem Stahlarm an dem weißen Schreibtisch befestigt war, ein wenig zur Seite, um einen freien Blick auf seine Patientin zu haben.
»Sie fingen bereits heute Nacht an. Morgens wurden sie dann unerträglich.«
»Wo genau spüren Sie die Schmerzen?«, fragte Daniel, der mit dem Blutdruckgerät zu ihr ging, sich auf die Schreibtischkante neben sie setzte und ihren Blutdruck überprüfte.
»Am Blutdruck liegt es sicher nicht, den habe ich heute schon fünfmal überprüft. Er war immer normal«, sagte sie.
»Das ist er jetzt auch«, stellte Daniel fest und ließ den Rest der Luft aus dem Messgerät entweichen. »Setzen Sie sich bitte mal auf die Liege, Frau Zachner.«
»Haben Sie eine Idee, woher die Kopfschmerzen kommen könnten?«, fragte Lorena, nachdem sie sich seitlich auf die Untersuchungsliege gesetzt hatte.
»Möglicherweise vom Nacken. Vielleicht brauchen Sie ein anderes Kissen.«
»Sie wissen, dass ich Medizin studiere. Verspannungen kann ich als Ursache für meine Kopfschmerzen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen.«
»Gerade weil Sie Medizin studieren, sollten Sie erst einmal gar nichts ausschließen, aber gut, sehen wir mal weiter«, sagte Daniel. Er konnte Lorenas Aussage nicht einfach unwidersprochen hinnehmen. Er wollte seinen Patienten helfen, dazu gehörte allerdings nicht, ihnen zuzustimmen, wenn er anderer Meinung war.
Er hörte zunächst Lorenas Herz und Lunge mit dem Stethoskop ab, überprüfte danach an verschiedenen Druckpunkten ihre Durchblutung und suchte im Rachen- und Nasenbereich nach einer Entzündung, alles ohne Befund.
»Ich muss unbedingt schnell fit werden, wir schreiben in der nächsten Woche eine Klausur«, sagte Lorena.
»Dann haben Sie vermutlich in den letzten Tagen viel am Computer gesessen und Fachbücher gelesen.«
»Ja, habe ich. Sie denken an einen Bandscheibenvorfall wegen des langen Sitzens?«, fragte sie erschrocken.
»Nein, das eher nicht, ich wollte eigentlich sagen, dass Sie eine Muskelverspannung nicht ausschließen sollten. Aber wissen Sie was, das Beste ist, Sie lassen das von einem Orthopäden klären«, sagte Daniel.
»Dann mache ich das«, erklärte sich Lorena sofort einverstanden und zog ihren Pullover wieder an, den sie für die Untersuchung ausgezogen hatte.
»Ich schreibe Ihnen eine Überweisung.«
»Vielen Dank, Herr Doktor. Ich bin nur froh, dass meine Schwester und ich uns eine Wohnung teilen, so muss ich mir nicht zu viele Sorgen machen, falls sich mein Zustand plötzlich verschlechtert. Sie wird dann schon das Richtige tun.«
»Da bin ich sicher«, stimmte Daniel ihr zu. Auch Mathilda Zachner, Lorenas Zwillingsschwester, studierte Medizin, sie würde sich in einem Notfall zu helfen wissen. Aber eigentlich ging er nicht davon aus, dass es zu einem Notfall kommen würde. Auch wenn Lorena über starke Schmerzen klagte, hatte er nicht den Eindruck, dass sie tatsächlich so sehr litt, wie sie vorgab.
Da er aber nicht wirklich wissen konnte, wie stark ihre Schmerzen letztlich waren, durfte er eine ernsthafte Krankheit nicht ausschließen. Das war der Grund, warum er sie wegen ihrer Magen- und Bauchschmerzen, ihrer Glieder- und Gelenkschmerzen und den Ohren- und Halsschmerzen, über die sie in den letzten Wochen geklagt hatte, zu einem Check-up ins Krankenhaus geschickt hatte. So wie er es erwartet hatte, war nichts dabei herausgekommen.
»Ich brauche noch etwas gegen die Kopfschmerzen«, sagte Lorena, als Daniel ihr die Überweisung zum Orthopäden reichte.
»Sie haben doch sicher die üblichen Schmerzmittel zu Hause.«
»Ich denke, ich brauche dieses Mal etwas stärkeres.«
»Hier, die reichen für einen Tag. Sollten die Kopfschmerzen nicht aufhören oder schlimmer werden, gehen Sie bitte sofort in die Klinik«, riet ihr Daniel, als er ihr drei Tabletten eines starken Schmerzmittels gab.
»Danke, Doktor Norden.«
»Gute Besserung, Frau Zachner, grüßen Sie Ihre Schwester von mir«, sagte Daniel und brachte Lorena zur Tür.
»Das werde ich ausrichten«, antwortete sie mit einem gequälten Lächeln.
*
Doreen Arning hatte ihre Yogaschule in der kürzlich renovierten Villa, nur fünf Minuten von Olivias Zuhause entfernt, eröffnet. Das Haus mit der sandfarbenen Fassade war Anfang des letzten Jahrhunderts erbaut worden. Eine weite Steintreppe mit fünf Stufen führte zu der von Säulen flankierten Eingangstür aus schwerem Mahagoniholz. Der Schnee, der in der Nacht gefallen war, verlieh dem Garten mit dem alten Baumbestand etwas Geheimnisvolles. Doreens Yogaschule war im Erdgeschoss untergebracht. Der erste Stock war ihrem Bruder Patrick vorbehalten, einem Kinderarzt, der dort demnächst seine Praxis eröffnen würde.
»Kommen wir nun zum angenehmsten Teil der Stunde«, sagte Doreen. Sie stand in dem großen hellen Raum mit den weißen stuckverzierten Wänden und dem Parkettboden umgeben von den Kursteilnehmerinnen, die in Leggins und bequemen T-Shirts auf ihren bunten Gymnastikmatten im Schneidersitz auf dem Boden saßen und sie anschauten.
Die ausgebildete Gymnastiklehrerin hatte zwei Jahre in Indien gelebt und sich zur Yogalehrerin weitergebildet. Doreen, eine schlanke großgewachsene Frau mit kurzen blonden Haaren, hatte es verstanden, auch die Kursteilnehmerinnen, die sich am Anfang des Kurses aufgrund ihres eher rundlichen Körperbaus schwertaten, für diese Art der Bewegung zu begeistern. Sie nahm auf die individuellen Fähigkeiten der Teilnehmerinnen Rücksicht, selbstverständlich auch auf Olivias Schwangerschaft, und so hatten schließlich alle gemeinsam Spaß an diesem Kurs.
»Ich liebe diesen Teil der Stunde«, stimmte Ottilie Doreen zu. Sie wartete, bis ihre Tochter sich vorsichtig aus dem Schneidersitz löste und über die Seitenlage auf den Rücken legte. Erst danach legte auch sie sich hin. So wie Daniel war auch sie in letzter Zeit immer ein wenig besorgt um Olivia.
Nachdem sich auch die anderen acht Teilnehmerinnen des Kurses auf ihren Matten ausgestreckt hatten, bat Doreen sie, ihre Augen zu schließen und nur auf ihre Stimme zu hören. Was allen leicht fiel, da Doreen eine sanfte angenehme Stimme hatte. Während der nächsten zehn Minuten beschrieb sie wundervolle Landschaften voller Frieden und Harmonie, die sich ihre Kursteilnehmerinnen vor ihrem inneren Auge vorstellten. Am Ende dieses autogenen Trainings fühlten sich alle völlig entspannt.
»Ich könnte jetzt hier so liegen bleiben. Ich fühle mich wie auf Wolken«, sagte Mathilda, die neben Olivia und Ottilie auf einer pinkfarbenen Matte lag, genau wie die beiden auf das große Fenster zum Garten blickte und den eisblauen Himmel sehen konnte.
»Dass du dich wie auf Wolken fühlst, liegt vermutlich nicht allein an Doreen«, entgegnete Olivia schmunzelnd, als sie sich alle langsam wieder aufrichteten.
»Sondern?«, fragte Mathilda, die ihr Haar ebenso kurz geschnitten trug wie ihre Schwester, was den beiden mit ihren feingeschnittenen Gesichtszügen und den großen dunklen Augen ein fast kindliches Aussehen verlieh.
»Ich denke, dass auch Hanno dazu beiträgt«, raunte Olivia ihr zu, bevor sie von ihrer Matte aufstand und sie zusammenrollte.
»Das könnte schon etwas damit zu tun haben«, gab Mathilda mit einem verträumten Lächeln zu.
»Ich bin sicher, dass es so ist.« Es war kein Geheimnis, dass Mathilda und Hanno Tannwald seit einem halben Jahr ein Paar waren. Die meisten Bewohner dieses Stadtteiles kannten den jungen Apotheker, der bald die Apotheke seiner Eltern in der Fußgängerzone übernehmen würde.
»Ich wünsche euch einen schönen Tag. Wir sehen uns am Donnerstag wieder«, verabschiedete Doreen ihre Kursteilnehmerinnen gleich darauf und hielt ihnen die Tür zur Diele auf. Dort standen zwei gepolsterte Bänke, auf die sich die Kursteilnehmerinnen setzen konnten, um die Yogasocken gegen ihre Straßenschuhe zu tauschen.
»Hanno hat mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, mit ihm zusammenzuziehen«, verriet Mathilda Olivia und Ottilie, als sie wenig später die Villa verließen. Sie wohnte nicht weit von den beiden entfernt, und wie immer nach dem Kurs begleitete sie sie noch ein Stück.
»Was hast du geantwortet?«, fragte Ottilie und sah die junge Frau abwartend an.
»Dass ich es mir schon vorstellen könnte.«
»Aber?«, hakte Olivia nach, als Mathilda nachdenklich innehielt.
»Ich glaube, Lorena würde das nicht gefallen.«
»Hat sie das gesagt?«, wollte Olivia wissen.
»Nicht direkt, aber ich spüre, dass es ihr nicht gefällt.«
»Willst du noch auf einen Kaffee hereinkommen?«, fragte Ottilie, als sie gleich darauf ihr Grundstück erreichten, weil sie spürte, dass Mathilda jemanden zum Reden brauchte.
»Das würde ich gern tun, aber Lorena ging es heute Morgen nicht gut. Ich sollte sie nicht so lange allein lassen. Wir sehen uns am Donnerstag, bis dann«, verabschiedete sich Mathilda und ging eilig weiter.
»Ich denke, es wäre gut, wenn sie zu Hanno ziehen würde. Auch für Lorena, sie macht sich zu abhängig von Mathilda«, sagte Ottilie, nachdem Mathilda außer Hörweite war.
»So sehe ich das auch. Es ist beinahe so, als befürchtete sie, dass sie ohne Mathilda nicht überleben könnte«, stimmte Olivia ihrer Mutter zu. »Wollen wir noch einen Tee bei dir trinken? Meine erste Patientin kommt erst in einer Stunde.«
»Gern, mein Schatz«, sagte Ottilie und hakte sich bei Olivia unter.
*
Nach der Vormittagssprechstunde standen zwei Hausbesuche auf Daniels Programm. Er fuhr zuerst zu einem jungen Mann, der noch bei seinen Eltern wohnte und mit einer schweren Grippe im Bett lag. Glücklicherweise war sein Fieber inzwischen gefallen, und er musste ihn nicht ins Krankenhaus einweisen. In ein paar Tagen würde es ihm wieder gut gehen. Der zweite Patient war ein älterer Mann, der eine Magenoperation überstanden hatte, doch noch ziemlich schwach war. Aber auch ihm ging es schon besser, worüber Daniel sich sehr freute.
»Hallo, Doc, alles klar?«, fragte Ophelia, als er nach Hause kam, sie in der Diele vor dem Spiegel stand und ihr hellrotes Haar zu einem Pferdeschwanz band.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete Daniel lächelnd und stellte seinen Arztkoffer auf den Boden neben der Kommode. »Hast du eine Verabredung?«, fragte er, als sie in ihre weiße Steppjacke mit der gefütterten Kapuze schlüpfte.
»Ich bin mit Freunden zum Schlittschuhlaufen verabredet.«
»Und die Hausaufgaben?«
»Habe ich schon erledigt. Wir hatten heute eine Freistunde. Unser Biolehrer war krank. Bis heute Abend«, sagte sie, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange und verließ mit ihrem Rucksack, in den sie ihre Schlittschuhe gepackt hatte, das Haus.
»Hallo, mein Schatz«, begrüßte Olivia ihn mit einer liebevollen Umarmung, als er gleich darauf in die Küche kam.
»Hast du noch nicht gegessen?«, wunderte er sich, als er auf den Tisch schaute und dort noch zwei unbenutzte Teller standen.
»Ich habe auf dich gewartet. Ophelia war heute bei Ottilie und Hannes zum Essen. Es gab gegrillten Lachs, eines ihrer Lieblingsessen. Wie du weißt, habe ich es im Moment nicht so mit Fisch.«
»Ja, das weiß ich, du hast es im Moment mehr mit den süßen Dingen des Lebens«, entgegnete er lächelnd.
»Ja, leider«, seufzte Olivia. Sie achtete zwar darauf, dass sie sich gesund ernährte und nicht allzu viele Süßigkeiten aß, aber zumindest einen Schokopudding gönnte sie sich inzwischen jeden Tag. Der Gemüseauflauf, den Valentina an diesem Vormittag für sie vorbereitet hatte und den sie nun in den Backofen stellte, war ein Ausgleich für die kleinen Sünden.
Als sie und Daniel sich eine Viertelstunde später in der schönen Wohnküche, einem lichtdurchfluteten Raum mit zwei großen Fenstern, einem blauen Kachelofen und den Möbeln aus weißem Holz zum Essen an den Tisch setzten, wollte Daniel von ihr wissen, wie gut sie die Zachner-Zwillinge kannte.
»Mathilda kenne ich besser als Lorena. Lorena ist eher verschlossen und hält sich immer ein bisschen im Hintergrund. Warum fragst du?«
»Lorena war heute Morgen mal wieder in der Praxis. Sie kommt in letzter Zeit alle paar Tage zu mir.«
»Ist sie ernsthaft krank?«, fragte Olivia erschrocken.
»Ich denke nicht, zumindest konnte ich bisher nichts entdecken, was auf eine schwere Krankheit hinweist. Um nichts zu übersehen, habe ich sie vor zwei Wochen ins Krankenhaus zu einem Check-up geschickt.«
»Haben sie etwas gefunden?«
»Nein, absolut nichts.«
»Welche Beschwerden hat sie denn?«
»Das wechselt. Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Rückenschmerzen, eben das ganze Programm.«
»Hast du den Eindruck, dass sie psychische Probleme hat?«
»Möglicherweise, deshalb wollte ich wissen, ob du sie näher kennst. Denkst du denn, dass sie psychische Probleme hat?«
»Das kann ich so nicht sagen. Dazu müsste ich mich länger mit ihr unterhalten.«
»Hat ihre Schwester ihre Krankheiten schon einmal erwähnt?«
»Heute das erste Mal. Meine Mutter wollte sie nach dem Yogakurs zu einem Kaffee einladen, aber sie wollte lieber nach Hause, weil es Lorena am Morgen nicht gutging. Wie gesagt, ob Lorena psychisch labil ist, weiß ich nicht, aber ich bin ziemlich sicher, dass die beiden Schwestern gerade Probleme haben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Mathilda würde gern mit ihrem Freund zusammenziehen, aber sie denkt, dass Lorena damit nicht einverstanden sein wird.«
»Hat Lorena auch jemanden?«
»Bisher hat sie niemanden erwähnt. Soll ich ein bisschen für dich spionieren?«, fragte Olivia lächelnd.
»Würdest du das denn tun?«
»Wenn es dir hilft, die richtige Diagnose zu stellen. Du weißt doch, für dich würde ich alles tun«, sagte Olivia und streichelte Daniel über die Schulter, als sie aufstand, um die Teller abzuräumen, weil sie inzwischen mit dem Essen fertig waren.
»Ich mache das, du solltest dich ein bisschen hinlegen«, sagte Daniel und nahm ihr die Teller aus der Hand, die sie gerade zum Geschirrspüler tragen wollte.
»Du solltest dir auch ein paar Minuten Ruhe gönnen.«
»Das werde ich auch tun. Ich komme gleich zu dir.«
»Ich warte auf dich«, antwortete Olivia und hielt seinen Blick einen Moment lang fest.
Während Daniel das Geschirr in die Spülmaschine räumte, machte sie es sich auf dem großen Sofa im Wohnzimmer gemütlich. Ein paar Minuten später kam Daniel zu ihr und legte sich neben sie.
»So liebe ich die Mittagspause«, sagte sie und schmiegte sich in seine Arme.
*
Die Nachmittagssprechstunde dauerte an diesem Tag mal wieder länger, wie so oft um diese Jahreszeit. Kurz vor dem offiziellen Ende der Sprechstunde kamen einige Patienten mit Grippesymptomen, die am Morgen noch zur Arbeit gegangen waren. Sophia und Daniel mussten den letzten Ansturm allein bewältigen, da Lydia kurz vor fünf zu einem Feuerwehreinsatz gerufen wurde. Um kurz nach halb sieben war der letzte Patient gegangen, und Sophia und Daniel konnten die Praxis schließen.
»Es gibt Neuigkeiten, Daniel!«, rief Ophelia, die mit Olivia am Esstisch in der Küche saß, als Daniel in die Wohnung kam. Sie hielt ihr Telefon in der Hand, auf das sie und Olivia mit einem verträumten Lächeln schauten.
»Verrätst du sie mir?«, fragte er und setzte sich zu den beiden an den Tisch.
»Emilia hat vor einer Stunde ein Brüderchen bekommen«, verkündete ihm Ophelia und reichte ihm das Telefon, auf dem Fotos eines Neugeborenen zu sehen waren.
»Geht es Anna und dem Baby gut?«, wollte Daniel wissen, während er sich die Fotos anschaute, die Emilia geschickt hatte.
»Es geht allen gut. Ich habe gerade mit Anna gesprochen. Die Geburt verlief ohne Probleme«, erzählte ihm Olivia.
»Es war eine Hausgeburt, so wie sie es geplant hatten. Annas Freundin Sina, die als Hebamme in der Klinik in Kempten arbeitet, war bei ihr«, erzählte Ophelia, die mit Emilia telefoniert hatte. »Schade, dass wir für die Zwillinge keine Hausgeburt planen können«, fügte sie mit einem bedauernden Achselzucken hinzu.
»Hätte Anna Zwillinge erwartet, wäre sie auch nicht zu Hause geblieben, Schätzchen«, sagte Olivia und streichelte ihrer Tochter tröstend über die Hand.
»Das weiß ich. Ich sage ja nur, dass es schade ist. Zuhause könnte ich auch bei der Geburt dabei sein, so wie Emilia. In einem Krankenhaus erlauben sie das doch nur dem Vater.«
»Es kommt darauf an«, sagte Olivia und nickte Daniel zu.
»Richtig, es kommt darauf an, wie die Klinik dazu steht. Eine persönliche Verbindung zur Klinikleitung kann in diesem Fall hilfreich sein.«
»Willst du damit andeuten, dass wir die Verwandtschaftskarte ausspielen sollten?«
»Deine Mutter und ich haben schon mit meinen Eltern gesprochen. Sie sind genau wie wir der Meinung, dass du stark genug bist, während der Geburt deiner Geschwister dabei zu sein.«
»Ich danke euch!«, jubelte Ophelia. Sie sprang auf und umarmte zuerst Daniel und danach ihre Mutter. »Sollte ich in der Schule sein, wenn es soweit ist, dann vergesst bitte nicht, mich abholen zu lassen.«
»Wir werden dich ganz sicher nicht vergessen«, versprach Olivia ihrer Tochter. Daniel und sie hatten allerdings verabredet, dass sie Ophelia aus dem Zimmer schicken würden, sollte es Komplikationen geben oder die Geburt zu schmerzhaft verlaufen. Auch wenn sich Ophelia stark fühlte, wollten sie ihr nicht zumuten, ihre Mutter leiden zu sehen.
Daniels Mutter dagegen war eher besorgt, dass sie Daniel aus dem Zimmer schicken müssten, sollte es zu Komplikationen kommen. Auch Ärzte konnten es nur schwer verkraften, die Menschen, die sie liebten, leiden zu sehen. Sie neigten dann zu Überreaktionen, die nicht gerade hilfreich waren.
»Ich werde mich jetzt um das Abendessen kümmern«, sagte Olivia.
»Wir könnten auch zu Adriano gehen«, schlug Ophelia vor. »Ich hätte mal wieder Lust auf Pizza.«
»Mal wieder? Ich habe eher den Eindruck, du hast eigentlich immer Lust auf Pizza«, entgegnete Olivia lachend.
»Ja, vielleicht, könnte sein, aber ich gebe diesem Verlangen nicht ständig nach, weil Pizza nicht als gesundes Essen gilt. Obwohl ich denke, dass die Gemüsevariante schon ganz okay ist.«
»Vor allen Dingen kommt es auf die Größe an. Ein Stück schadet sicher niemandem. Jeden Tag ein kleines Wagenrad allerdings schon.«
»Ich weiß, Mama, es kommt immer auf die Menge an. Aber zurück zum Ausgangspunkt. Gehen wir zu Adriano?«, fragte Ophelia und sah Daniel an, weil sie wusste, dass er ihr nur schwer etwas abschlagen konnte.
»Für mich spricht nichts dagegen, aber wir sollten die Entscheidung deiner Mutter überlassen«, sagte er und sah Olivia an.
»In Ordnung, gehen wir zu Adriano«, stimmte Olivia den beiden zu und erlöste Daniel, der Ophelia diesen Wunsch gern erfüllen würde, aber auch nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden wollte. »Gehen meine ich aber wörtlich.«
»Ein kleiner Abendspaziergang ist für mich okay. Den schaffe ich sicher noch, auch nach drei Stunden auf der Eisbahn«, erklärte Ophelia.
»Davon gehe ich aus, mein Schatz«, entgegnete Olivia lächelnd.
Eine halbe Stunde später betraten sie das italienische Restaurant in der Fußgängerzone.
Es war ein gemütliches Restaurant mit dunklen Holztischen, grünen Polsterstühlen und Ölgemälden an den Wänden, die alle farbenprächtige Dörfer an der Mittelmeerküste darstellten.
Adriano, der Besitzer des Restaurants, ein freundlicher junger Mann mit dunklem Haar und dunklen Augen, begrüßte sie freundlich und führte sie zu einem Tisch am Fenster.
»Pizza mit Auberginen und Paprika?«, fragte er Ophelia, nachdem sie Platz genommen hatten.
»Ja, bitte«, antwortete sie.
»Und für euch die Karte.« Adriano reichte Daniel eine der in grünes Leder eingebundenen Speisekarten.
»Heute brauchen wir keine Karte. Wir nehmen auch die Pizza mit Auberginen und Paprika«, sagte Daniel, weil er und Olivia das bereits auf dem Weg zu Adriano so beschlossen hatten.
»In Ordnung, dreimal Pizza Aubergine. Was darf es zu trinken sein?«
»Drei Zitronenlimonaden, bitte.«
»Familienessen, verstehe«, entgegnete Adriano lächelnd, weil Daniel für sie alle die Limonade bestellte, die Ophelia immer bevorzugte.
»Ihr bestellt jetzt aber nicht immer das Gleiche wie ich, oder?«, fragte Ophelia, nachdem Adriano gegangen war.
»Es kommt darauf an, für was du dich entscheidest.«
»Ist das so ein Psychologending, Mama? Wir überlassen ihr die Wahl, dann wird sie sich für das gesündere Essen entscheiden?«
»Würdest du das denn tun?«
»Wenn wir diesen Test verschieben, bis die Zwillinge hier mit uns am Tisch sitzen, dann könnte ich mir das durchaus vorstellen. Aber bis dahin…«
»Entscheidet auch weiterhin jeder für sich selbst. Wir wollten heute die Auberginenpizza nur mal probieren«, sagte Olivia.
»Da bin ich aber erleichtert. Ich hatte schon befürchtet, dass mit euch essen zu gehen in Zukunft stressig wird«, entgegnete Ophelia. »Wow, ein Heiratsantrag«, flüsterte sie, als sie gleich darauf aus dem Fenster schaute.
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Olivia leise.
»Weil er ihr gerade einen Ring an den Finger steckt.«
»Wer wem?«
»Hanno Tannwald Mathilda Zachner. Am Brunnen«, sagte Ophelia, als Olivia aus dem Fenster schaute.
»Stimmt, es sieht nach einer Verlobung aus«, gab Olivia ihrer Tochter recht.
Mathilda und Hanno saßen auf dem Rand des Steinbrunnens, der nur ein paar Meter vom Eingang des italienischen Restaurants entfernt war. Das Licht der historischen Straßenlaternen, die die Fußgängerzone beleuchteten, schien direkt auf den Rand des Brunnens. Hanno, ein sportlicher junger Mann mit blondem welligem Haar, hatte seinen Arm um Mathilda gelegt, die ihre linke Hand ausstreckte und den Ring an ihrem Ringfinger betrachtete.
»Vielleicht erfahren wir gleich mehr«, sagte Ophelia, als die beiden vom Brunnenrand aufstanden und Hand in Hand auf das Restaurant zukamen.
»Jetzt erfahren wir erst einmal, wie deine Lieblingspizza schmeckt«, entgegnete Olivia, als Adriano mit drei großen Tellern an ihren Tisch kam.
»Lecker, wie immer«, stellte Ophelia fest, als sie das erste Stück der Pizza mit dem krossen Rand gekostet hatte.
»Gute Wahl«, sagte Olivia, nachdem auch sie von der Pizza versucht hatte.
»Vielleicht werde ich in Zukunft hin und wieder dasselbe bestellen wie du. Die Pizza schmeckt wirklich gut«, schloss sich Daniel Olivia an.
»Ich habe eben einen hervorragenden Geschmack«, entgegnete Ophelia lächelnd.
Als Mathilda und Hanno gleich darauf das Restaurant betraten und Daniel und seine Familie entdeckten, kamen sie zu ihnen an den Tisch, um sie zu begrüßen.
»Ihr könnt euch gern zu uns setzen«, ließ Olivia die beiden wissen, als sie sich im Restaurant umsahen, aber keinen freien Tisch mehr ausmachen konnten.
»Wir wollen euch aber nicht stören«, sagte Mathilda.
»Sie stören nicht, setzen Sie sich nur«, schloss sich Daniel Olivias Einladung an.
»Nur zu«, sagte Ophelia, als Mathilda auch sie anschaute.
»Gut, da ihr alle einverstanden seid, nehmen wir das Angebot gern an«, entgegnete Mathilda.
»Ich habe euch am Brunnen gesehen«, raunte Ophelia Mathilda zu, die sich auf den freien Stuhl neben sie setzte, während Hanno auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz nahm. »Dürfen wir es offiziell wissen?«, fragte Ophelia leise und blickte auf Mathildas linke Hand.
»Klar, ich kann es ohnehin nicht länger für mich behalten. Hanno und ich haben uns gerade verlobt«, sagte sie und zeigte Ophelia den schmalen goldenen Ring mit dem glitzernden Diamanten.
»Der ist wunderschön«, flüsterte Ophelia.
»Ja, das ist er«, schloss sich Olivia an, als Mathilda auch ihr den Ring zeigte.
»Meinen Glückwunsch«, sagte Daniel und klopfte Hanno auf die Schulter. Er kannte den jungen Mann inzwischen recht gut. Er hatte schon einige Male spezielle Medikamente für ihn angerührt, die er seinen Patienten verschrieben hatte und die die großen Pharmaunternehmen in dieser Form nicht anboten.
»Es war ein spontaner Einfall. Ich wollte einfach nicht mehr länger warten«, gestand Hanno Daniel und legte seine Hand auf die von Mathilda. »Ich hatte ganz schön Herzklopfen, weil ich nicht wusste, ob sie ›Ja‹ sagen würde.«
»Du hast nicht wirklich daran gezweifelt oder etwa doch?«, wollte Mathilda von Hanno wissen.
»Ein wenig unsicher war ich schon«, gab er zu.
»So geht es jedem, der diese Frage stellt«, sagte Daniel.
»Du warst also auch unsicher, wie meine Antwort lauten wird«, wunderte sich Olivia.
»Mein Herzschlag hatte sich schon beschleunigt, als ich damals vor dir stand«, gestand ihr Daniel.
»Ich habe dich aber schnell erlöst.«
»Ja, das hast du«, sagte er und küsste sie zärtlich auf die Wange.
»Die Antwort auf diese Frage entscheidet über das zukünftige Leben zweier Menschen. Ich denke, einigen wird das erst richtig bewusst, wenn sie auf diese Frage antworten sollen«, sagte Hanno.
»Wer um die Antwort ringen muss, sollte es besser ganz sein lassen. Dieses ›Ja‹ muss aus dem Herzen kommen, du solltest schier überquellen vor Glück, wenn du diese Frage hörst. Und wenn du so empfindest, dann musst du nicht lange überlegen, wie deine Antwort lauten wird«, sagte Mathilda und betrachtete Hanno mit einem glücklichen Lächeln.
»Danke«, sagte Hanno, zog Mathildas Hand an seine Lippen und küsste sie.
»Danke für was?«
»Für die romantische Schilderung dieses Augenblickes.«
»Was ist das?«, fragte Hanno, als Adriano mit einem Tablett an den Tisch kam, auf dem fünf schmale Sektgläser standen.
»Mir ist nicht entgangen, dass es hier etwas zu feiern gibt. Eine Aufmerksamkeit des Hauses. Fünfmal Prosecco zum Anstoßen, drei Gläser mit Alkohol und zwei ohne«, sagte er und reichte zuerst Olivia und danach Ophelia eines der beiden Gläser, die auf einem grünen Untersetzer standen, bevor er die drei anderen Gläser auf den Tisch stellte. »Meine Glückwünsche zur Verlobung«, raunte er Hanno und Mathilda zu, strich ihnen freundschaftlich über die Schultern und ließ sie wieder allein.
»Auf eure gemeinsame Zukunft«, sagte Daniel, und dann stießen sie mit dem Prosecco auf die Verlobung der beiden an.
»Morgen Abend werden wir Hannos Eltern zum Essen einladen und ihnen die Neuigkeit verkünden«, erzählte Mathilda, nachdem sie miteinander angestoßen hatten.
»Wann wirst du es deiner Schwester sagen?«, fragte Olivia.
»Da ich heute bei Hanno übernachte, erst morgen. Ich will ihr diese Nachricht persönlich überbringen, nicht über das Telefon.«
»Das halte ich auch für besser«, stimmte Olivia ihr zu. »Wie geht es Lorena überhaupt?«
»Wieder ganz gut. Sie wollte sich aber noch ausruhen, den Abend auf dem Sofa verbringen und sich einen Film ansehen.«
»Hat sie noch Kopfschmerzen?«, fragte Daniel.
»Sie hat zwei von den Tabletten genommen, die Sie ihr verschrieben haben, danach waren sie so gut wie weg.«
»Das freut mich zu hören«, sagte Daniel.
»Sie wird aber trotzdem den Termin beim Orthopäden wahrnehmen, wie Sie es ihr geraten haben.«
»Das sollte sie unbedingt tun.«
»Der Meinung bin ich auch. Vielleicht liegt es an einem unerkannten Haltungsschaden.«
»Das wäre eine Möglichkeit«, stimmte Daniel ihr zu.
»Habt ihr schon einen Hochzeitstermin?«, fragte Ophelia und lenkte das Gespräch wieder auf das aktuelle Ereignis.
»Ich denke, damit warten wir, bis ich mein Studium abgeschlossen habe.«
»Das dauert aber noch.«
»Etwa zwei Jahre, aber vielleicht halte ich es auch nicht ganz so lange aus.«
»Manchmal braucht es keine lange Vorbereitungszeit. Da geht es mit der Hochzeit ganz schnell«, sagte Hanno und sah Daniel und Olivia an, die binnen weniger Tage einen Termin beim Standesamt bekommen hatten.
»Dann müssten wir aber auch Gusti Meiers Beziehungen nutzen«, erinnerte Mathilda ihn daran, dass Gustis Bekanntschaft mit einer Standesbeamtin Daniel und Olivia zu diesem Termin verholfen hatte.
»Ich würde diese Beziehung nutzen«, sagte Hanno.
»Gut zu wissen, nur so für alle Fälle«, entgegnete Mathilda schmunzelnd und lehnte ihren Kopf an Hannos Schulter. »Damit ich weitere Entscheidungen treffen kann, müsste ich aber erst einmal etwas essen«, sagte sie, weil sie den ganzen Tag für eine Klausur gelernt hatte und bis auf einen Apfel nichts zu sich genommen hatte.
»Dann werden wir uns schnell darum kümmern, dass du etwas bekommst«, antwortete Hanno und bedeutete Adriano, dass er etwas bestellen wolle.
*
Eine Stunde später machten sich Daniel, Olivia und Ophelia wieder auf den Heimweg. Es war eine sternklare Nacht, und der Schnee knirschte unter ihren Füßen, als sie durch die verschneiten Straßen liefen. Ophelia und Daniel nahmen Olivia in ihre Mitte und hakten sich bei ihr unter.
»So können wir dich auffangen, falls du auf eine glatte Stelle gerätst«, sagte Ophelia.
»Hoffentlich geraten wir nicht alle gleichzeitig auf eine glatte Stelle«, entgegnete Olivia.
»Keine Sorge, Mama, Daniel und ich fangen uns schon ab, aber du hast im Moment eine kleine Ausbuchtung nach vorn, die dich daran hindern würde, das Gleichgewicht zu halten.«
»Stimmt, die habe ich«, pflichtete Olivia ihrer Tochter lachend bei und nahm das Angebot der beiden, sie vor einem Sturz zu schützen, gern an.
Zehn Minuten danach waren sie zu Hause. Ophelia zog sich gleich auf ihr Zimmer zurück, um noch mit einer Freundin zu telefonieren, Olivia nahm eine warme Dusche, und Daniel rief die Seefelds an, um ihnen zu ihrem Nachwuchs zu gratulieren. Es war Sebastian, der das Telefongespräch entgegennahm.
»Wie ist die Geburt verlaufen?«, fragte er ihn, nachdem er ihm zur Geburt seines Sohnes gratuliert hatte.
»Es ging ziemlich schnell, was gut für Anna und unseren Sohn war. Beide sind gesund, mehr konnten wir uns nicht wünschen.«
»Das heißt, eure Entscheidung für die Hausgeburt hat sich als richtig erwiesen.«
»Es gab keine Komplikationen, deshalb war es richtig. Anna meinte, mit einer Hebamme und zwei Landärzten im Haus, die bereits einige Babys auf die Welt geholt haben, könne ohnehin nichts schiefgehen.«
»Damit hat sie sicher recht. Dein Vater hat in seinem Leben mehr Geburten begleitet als die meisten niedergelassenen Gynäkologen. Nicht zu vergessen, dass du und Anna inzwischen das »Dreamteam der Geburtshelfer« in und um Bergmoosbach seid, wie Emilia uns neulich verraten hat.«
»Möglicherweise sehen uns die Leute so, was wohl der Grund dafür ist, dass die Hausgeburten bei uns inzwischen einen neuen Höchststand erreicht haben«, gab Sebastian zu.
»Ophelia würde eine Hausgeburt für ihre Geschwister auch vorziehen. Wir könnten darüber nachdenken, wenn es keine Zwillinge wären.«
»Ophelia möchte gern dabei sein, nehme ich an.«
»Ja, das will sie unbedingt, und wir werden es ihr auch ermöglichen. Ich habe das bereits mit meinen Eltern geklärt.«
»Das ist doch die perfekte Lösung. Die Geburt im Kreis der Familie und das Krankenhaus als Back-up.«
»Olivia und ich sind mit dieser Lösung auch sehr zufrieden. Wie hat Emilia es verkraftet, die Geburt mitzuerleben?«
»Ehrlich gesagt, war sie ruhiger als ich. Obwohl ich schon bei so vielen Geburten dabei war, selbst Vater zu werden, lässt sich nicht damit vergleichen. Bei einer Komplikation hätten sie mich vermutlich aus dem Zimmer schicken müssen, weil ich nicht mehr in der Lage gewesen wäre, klar zu denken.«
»Das würde mir sicher nicht anders ergehen. Egal, da wir in der Klinik sein werden, muss ich mir darüber auch keine Gedanken machen.«
»Nein, das musst du nicht. Und überhaupt, die meisten Geburten verlaufen ohne Komplikationen, auch bei euch wird alles gutgehen. Willst du Anna kurz sprechen? Ich höre gerade, dass sie wach ist.«
»Ja, ich würde gern mit ihr sprechen«, sagte Daniel.
Als er gleich darauf mit Anna sprach und sie zu ihrem Sohn beglückwünschte, schaltete Anna auf Videoübertragung des Telefons, und er konnte sie und das Baby sehen.
Anna schien schon wieder ganz munter zu sein. Sie trug ein leuchtend blaues Nachthemd, hatte ihr dunkles Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und saß mit dem Baby im Arm aufrecht im Bett. Nur in ihren grünen Augen konnte Daniel noch die Anstrengung erkennen, die die Geburt sie gekostet hatte.
Olivia kam aus der Dusche, als er noch mit Anna sprach und klinkte sich genau wie Sebastian in das Gespräch ein. Erst als das Neugeborene Hunger hatte und sich lautstark bemerkbar machte, beendeten sie das Telefonat.
»Ihr seid uns jederzeit willkommen, solltet ihr Lust haben, uns zu besuchen«, hatte Anna aber noch gesagt, bevor sie sich voneinander verabschiedeten.
»Wann könnten wir denn zu ihnen fahren?«, wollte Olivia von Daniel wissen.
»Am kommenden Wochenende habe ich Notdienst, aber am übernächsten Wochenende könnten wir nach Bergmoosbach fahren«, sagte Daniel.
»Wir besuchen die Seefelds?«, fragte Ophelia, die sich noch eine Flasche Wasser aus der Küche holte.
»Am übernächsten Wochenende«, sagte Olivia.
»Super, dann rufe ich gleich Leander an, dass wir uns nächste Woche sehen.«
»Aber nur kurz, es ist schon nach halb zehn.« Olivia wusste, dass die Gespräche mit Ophelias Freund immer stundenlang dauerten, und sie wollte nicht, dass ihre Tochter am nächsten Morgen übermüdet in der Schule sitzen würde.
»Ich fasse mich kurz, so gut es eben geht«, fügte Ophelia lächelnd hinzu und huschte wieder aus der Küche.
»Weißt du was, Daniel«, sagte Olivia, »ich würde mich auch gern hinlegen. Wir könnten im Bett noch lesen oder den Fernseher anmachen oder…«
»Oder klingt fantastisch«, sagte er und nahm Olivia in seine Arme.
*
»Erfahre ich jetzt, was du den ganzen Morgen vor mir verheimlicht hast?«, fragte Lorena, als sie und Mathilda am frühen Nachmittag aus der Uni kamen und Mathilda sie gebeten hatte, einen Spaziergang mit ihr am Isarufer zu machen.
»Wie kommst du darauf, dass ich etwas vor dir verheimliche?«, wunderte sich Mathilda.
»Wir sind Zwillinge. Du kannst deine Empfindungen nicht vor mir verbergen«, entgegnete Lorena.
»Nein, vermutlich nicht«, stimmte Mathilda ihr zu. Offensichtlich hatte sie sich getäuscht, als sie glaubte, dass sie ihre Gefühle wenigstens für ein paar Stunden so ihm Griff hatte, dass Lorena sie nicht durchschaute. Seit gestern Abend hatte sich ihr Leben verändert. Ihre Zukunft lag jetzt klar vor ihr, ihre gemeinsame Zukunft mit Hanno.
Nachdenklich schaute sie auf das türkisfarbene Wasser des Flusses, das die Sandbänke umspülte. In den wärmeren Monaten des Jahres war hier stets viel Betrieb. Die Leute kamen zum Schwimmen an die Isar, Boote und Flöße waren in beiden Richtungen unterwegs. Um diese Jahreszeit ließen sich nur ein paar Enten auf den Wellen treiben, tauchten von Zeit zu Zeit die Köpfe unter Wasser, um nach Nahrung zu suchen.
Mathilda betrachtete die Brücke, die vor ihnen lag. Sie war aus einem mächtigen Holzgeflecht errichtet, ruhte auf mehreren Betonfundamenten und verband zwei Stadtteile miteinander.
Auch zwischen ihr und Lorena gab es eine feste Brücke, die niemals einstürzen würde, es sei denn, eine von ihnen würde sie mutwillig zerstören. Sie hoffte, dass ihre Liebe zu Hanno nicht der Auslöser für Lorena sein würde, diese Brücke abzureißen.
»Also, um was geht es? Sag schon«, forderte Lorena sie auf.
»Okay, ich mache es kurz. Hanno und ich haben uns gestern verlobt«, sagte Mathilda.
»Du hast was?«, fragte Lorena. Sie blieb stehen und starrte Mathilda fassungslos an.
»Hanno hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will, und ich habe ja gesagt.«
»Aber wieso denn? Das geht doch nicht«, entgegnete Lorena.
»Jetzt tu doch nicht so überrascht, Lorena. Du weißt doch, dass ich mit Hanno zusammen bin.«
»Ich dachte, es geht vorbei.«
»Ich habe dir bereits gesagt, dass ich ihn liebe.«
»Auch Liebe geht vorbei.«
»Nicht immer, manchmal hält sie ein Leben lang.«
»Hanno ist aber nicht der richtige für dich.«
»Doch, das ist er.«
»Nein, das ist er nicht, und das weißt du auch«, erklärte Lorena. Sie kickte einen Stein über die Uferböschung, sah zu, wie er in den Fluss klatschte und sich kreisförmige kleine Wellen ausbreiteten.
»Lorena, bitte, verstehe mich doch. Ich bin glücklich mit Hanno, und ich bin sicher, dass dir auch bald jemand begegnen wird, für den du ebenso empfindest wie ich für Hanno«, versuchte Mathilda ihre Schwester zu beruhigen.
»Ich werde mich nicht auf den erstbesten Mann einlassen. Wir hatten Pläne für die Zukunft. Hast du die etwa vergessen?«
»Du sprichst doch nicht von diesen Jungmädchenträumen, die wir einmal hatten?«, fragte Mathilda verblüfft.
»Das waren keine Jungmädchenträume, das war unser Plan für die Zukunft. Wir studieren Medizin, wir heiraten zwei Ärzte, möglichst auch Zwillinge, und wir eröffnen alle gemeinsam eine Praxis. Wir wohnen zusammen, wir arbeiten zusammen, das war es, was wir immer wollten.«
»Das war nur ein Traum, Lorena, ein Fantasiegebilde, das sich verträumte Teenager ausdenken. Du kannst doch nicht ernsthaft davon ausgehen, dass aus diesem Traum Wirklichkeit werden könnte. Allein die Zwillinge, diese Ärzte, in die wir uns verlieben sollten, woher mögen die kommen?«
»Irgendwo warten sie auf uns«, sagte Lorena und zog ihre weiße Strickmütze tiefer ins Gesicht, als ein kühler Wind über den Fluss hinwegblies.
»Hör auf, Lorena, du musst diese Träume vergessen.«
»Du sagst, ich soll diese Träume vergessen, aber eigentlich willst du mir nur sagen, dass du mich allein lassen willst, dass du diesen Hanno mir vorziehst.«
»Dass ich Hanno liebe, bedeutet doch nicht, dass ich dich nicht mehr liebe. Du bist meine Schwester, wir werden immer miteinander verbunden sein. Egal, mit wem und wo wir wohnen.«
»Du machst dir etwas vor.«
»Lorena, bitte, mach es uns doch nicht so schwer.«
»Du machst es uns gerade schwer, nicht ich.«
»Es tut mir leid, dass du das so siehst. Ich hatte nicht vor, dich zu verletzen, Lorena. Ich dachte, du freust dich für mich.«
»Du hast unsere Träume verraten, Mathilda«, entgegnete Lorena trotzig und starrte auf den sandigen Uferweg.
»Wir haben jetzt andere Träume.«
»Du hast andere, ich nicht. Aber gut, es ist, wie es ist. Ich werde mich schon damit abfinden«, seufzte Lorena. »Gehen wir weiter«, sagte sie leise und ließ die Schultern hängen.
»Wir bekommen das hin, Lorena. Du gehörst zu meinem Leben, ich werde dich niemals allein lassen. Was hältst du davon, wenn du Hanno und mich heute Abend zum Essen mit seinen Eltern begleitest? Wir wollten zu Adriano gehen, um ihnen ganz offiziell von unserer Verlobung zu erzählen.«
»Dann bin ich also die erste, die von eurer Verlobung erfährt?«
»Eigentlich solltest du es als erste erfahren, aber unsere Verlobung wurde beobachtet.«
»Beobachtet? Wieso das? Habt ihr euch auf der Rolltreppe im Kaufhaus verlobt?«
»Nein, gestern Abend in der Fußgängerzone«, sagte Mathilda und erzählte ihrer Schwester von ihrer Verlobung am Brunnen und ihrem anschließenden Besuch bei Adriano.
»Ihr habt also bei Adriano auf eure Verlobung angestoßen, dann weiß es inzwischen sicher schon die ganze Gegend. Folglich bin ich eine der letzten, die davon erfährt.«
»So war das nicht geplant, das musst du mir glauben.«
»Egal, jetzt weiß ich es ja. Und nein, ich komme heute Abend nicht mit euch. Das wäre unpassend.«
»Wieso unpassend?«
»Du triffst dich mit deinen zukünftigen Schwiegereltern. Ich meine, falls sie es noch nicht von irgendjemand gehört haben, werden sie erst heute Abend erfahren, dass sie deine Schwiegereltern werden. Ich denke, das ist eine private Angelegenheit, zu der ich nichts beitragen kann.«
»Ich hätte dich wirklich gern dabei.«
»Danke, das ist lieb gemeint, aber ich würde mich dabei nicht wohlfühlen.«
»In Ordnung, wenn du das nicht möchtest. Was hältst du denn davon, wenn du ein paar Tage zu den Eltern fährst. Hanno und ich kommen am Wochenende nach. Dann können wir dort zusammen meine Verlobung feiern«, schlug Mathilda ihrer Schwester vor.
»Du willst mich aus der Stadt verbannen?«, fragte Lorena und kämpfte mit den Tränen.
»Ich will dich nicht verbannen. Ich dachte nur, es würde dir guttun, dich mal ein paar Tage zu erholen. Dir ging es doch in letzter Zeit nicht so gut.«
»Nein, es ging mir nicht gut«, stimmte Lorena Mathilda zu.
»Komm, gehen wir noch ein Stück«, sagte Mathilda. Sie hoffte, dass Lorena sich bald wieder beruhigte und einsah, dass sie keine Teenager mehr waren, die von einer Fantasiewelt träumten.
»Tut mir leid, ich habe keine Zeit mehr. Ich muss zur U-Bahn. Ich habe in einer Dreiviertelstunde einen Termin beim Orthopäden. Da du heute Abend nicht da bist, werde ich danach auch nicht gleich zurückkommen. Ich denke, ich schaue mal bei Senta in der WG vorbei. Dort ist immer etwas los.«
»Klingt gut, mach das«, pflichtete Mathilda ihrer Schwester bei. Dass Lorena ihre Studienkolleginnen in der WG besuchen wollte, überraschte sie zwar, weil Lorena sonst nicht zu spontanen Unternehmungen neigte, aber sie versuchte, es als ein gutes Zeichen zu sehen. »Ich begleite dich noch zur U-Bahn«, sagte sie.
»Klar, warum nicht«, entgegnete Lorena und bemühte sich zu lächeln. Dass sie ihre Hände hinter dem Rücken zu Fäusten ballte, um ihre Wut in den Griff zu bekommen, sah Mathilda nicht.
*
Olivia stand gerade vor dem Haus ihrer Mutter und verabschiedete Pascal Westmann, ihren letzten Patienten an diesem Tag, als sie Mathilda sah. Sie bedeutete ihr, kurz zu warten.
»Wir sehen uns dann nächste Woche wieder, Herr Westmann«, sagte sie und nickte dem jungen Mann, der an einem chronischen Erschöpfungssyndrom litt, noch einmal freundlich zu. Daniel hatte die Krankheit diagnostiziert und ihm geraten mit Hilfe einer Gesprächstherapie, die Depression zu überwinden, die seine Krankheit begleitete. Das gelang ihm glücklicherweise erstaunlich gut.
Nachdem der junge Mann mit dem weißblonden Haar das Grundstück verlassen hatte, bog Mathilda in die Einfahrt zu Ottilies Garage ein. Sie hoffte, dass Olivia ein paar Minuten Zeit für sie haben würde. Lorenas Verhalten machte ihr Sorgen. Auch wenn sie sich an der U-Bahn-Station freundlich von ihr verabschiedet und ihr einen schönen Abend gewünscht hatte, glaubte sie nicht daran, dass ihre Schwester ihre Verlobung bereits akzeptiert hatte.
»Hallo, Mathilda, wo ist dein Lächeln von gestern Abend«, wunderte sich Olivia, als die junge Frau in dem hellblauen Mantel und der weißen Strickmütze näher kam. Sie hatte erwartet, dass Mathilda nach ihrer überraschenden Verlobung noch immer auf »Wolke sieben« schweben würde.
»Ich hatte gerade eine Unterhaltung mit meiner Schwester.«
»Du hast ihr von der Verlobung erzählt, nehme ich an«, entgegnete Olivia und strich ihr Haar aus der Stirn, als ein Windstoß über den Garten hinwegfegte.
»Ja, habe ich.«
»Wie hat sie es aufgenommen?«
»Sie war zunächst nicht begeistert.«
»Was heißt zunächst?«
»Möglicherweise hat sie sich dann doch damit abgefunden. Ich bin mir aber nicht sicher.«
»Wir könnten eine Tasse Tee bei mir drüben trinken«, schlug Olivia ihr vor.
»Die Einladung nehme ich gern an«, erklärte sich Mathilda sofort einverstanden.
Als sie gleich darauf das Haus der Nordens betraten, bat Olivia Mathilda, am Esszimmertisch Platz zu nehmen, nachdem sie ihren Mantel an die Garderobe gehängt hatte. Sie wollte sich noch schnell etwas Bequemeres anziehen und ging hinauf in ihr Schlafzimmer, um das helle Leinenkleid gegen Leggins und ein weites T-Shirt zu tauschen.
»Hallo, Ortrud«, begrüßte Mathilda die rotgetigerte Katze, die auf dem Stuhl neben dem blauen Kachelofen geschlafen hatte, von dort heruntersprang und zu ihr kam. Als sie schnurrend mit aufgestelltem Schwanz um ihre Beine herumstrich, hob sie sie auf ihren Schoß, um sie zu streicheln. Ortrud schien das zu gefallen. Nach einer Weile rollte sie sich auf Lorenas Schoß zusammen und gähnte genussvoll. Als Olivia schließlich in die Küche kam, war Ortrud schon wieder eingeschlafen.
»Du hast eine neue Freundin gefunden, wie ich sehe«, stellte Olivia fest.
»Ich mag Katzen, das spürt sie vermutlich«, sagte Mathilda.
»Das spürt sie auf jeden Fall. Ortrud geht Menschen, von denen sie nichts Gutes zu erwarten hat, aus dem Weg. Wenn sie jemanden nicht mag, würde ich mir überlegen, ob ich mit demjenigen privaten Kontakt haben möchte. Glücklicherweise mag sie unsere Freunde und Bekannten«, sagte Olivia lächelnd. »Ich trinke im Moment am liebsten Hibiskustee. Ich habe aber auch noch andere Sorten. Auch schwarzen oder grünen Tee. Ich kann dir aber auch gern einen Kaffee machen.«
»Ich nehme auch Hibiskustee«, sagte Mathilda.
»Ein Stück Marmorkuchen dazu? Meine Mutter hat ihn gebacken.«
»Leider kann ich bei Kuchen nie nein sagen«, seufzte Mathilda.
»Was für dich kein Problem sein dürfte«, entgegnete Olivia und streifte sie mit einem kurzen Blick, bevor sie das Wasser für den Tee aufsetzte. Mathilda und ihre Schwester waren beide sehr schlank, sie durften sich ruhig hin und wieder ein Stück Kuchen gönnen. »Du wolltest mir von deinem Gespräch mit Lorena erzählen«, sagte sie, als sie mit dem Tablett, auf dem zwei Tassen mit duftendem Hibiskustee und zwei Teller mit Marmorkuchen standen, an den Tisch kam. Sie nahm auf dem Stuhl gegenüber von Mathilda Platz und reichte ihr eine Tasse Tee und einen Teller mit Kuchen.
»Wie gesagt, zuerst hat sie mir deutlich gemacht, dass sie von meiner Verlobung überhaupt nicht begeistert ist, aber dann hat sie sich überraschend schnell beruhigt«, sagte Mathilda und erzählte Olivia von ihrem Gespräch mit Lorena.
»Ich befürchte, es wird noch eine Weile dauern, bis sie sich wirklich von diesen Träumen eurer Kindheit gelöst hat. Aber ich denke, sobald sie deine Verlobung akzeptiert, ist das für sie der erste Schritt, um sich von diesen Träumen zu lösen«, erklärte ihr Olivia, nachdem sie Mathilda aufmerksam zugehört hatte.
»Das hoffe ich, sonst wird es schwer für uns alle.«
»Hatte Lorena schon einmal eine richtige Beziehung?«
»Nein, eigentlich nicht, mehr als ein paar Wochen war sie nie mit jemandem zusammen. Ihre letzte Beziehung ist auch schon ein paar Jahre her. Seitdem wir auf der Uni sind, hat sie sich auf niemanden eingelassen. An jedem Mann, der sich ihr nähert, hat sie etwas auszusetzen.«
»Sie wartet auf die Zwillinge, die ihr einmal heiraten werdet.«
»Das befürchte ich«, seufzte Mathilda. »Könnte es sein, dass sie professionelle Hilfe braucht, um sich von dieser Fantasie zu lösen?«
»Das lässt sich so nicht sagen. Die meisten Menschen tragen ihre unerfüllten Träume ein Leben lang mit sich herum.«
»Ich habe im Moment das Gefühl, als würden all meine Träume wahr. Hast du unerfüllte Träume?«, wollte Mathilda von Olivia wissen.
»Nein, eher nicht. Ich habe die Liebe meines Lebens gefunden, und meine Liebe wird erwidert. Ich habe eine wundervolle Tochter, und ich erwarte Daniels und meine Kinder. Uns allen geht es gut. Ich wünsche mir einfach nur, dass es uns allen auch weiterhin gut geht«, sagte Olivia. Sie umfasste ihre Teetasse mit beiden Händen und hielt sie einen Augenblick lang fest, um sich daran zu wärmen, bevor sie einen Schluck von dem Tee trank.
»Hast du einen Rat für mich, wie ich mich gegenüber Lorena in nächster Zeit verhalten sollte?«, fragte Mathilda.
»Bleibe bei der Wahrheit, mach ihr nichts vor. Euer Verhältnis wird in Zukunft nicht mehr so eng sein. Du wirst mit Hanno zusammenziehen, und sie wird allein wohnen. Damit muss sie sich auseinandersetzen.«
»Vielleicht würde es ihr helfen, wenn wir für sie eine Mitbewohnerin suchen. Was aber nicht sein müsste, da meine Eltern die Miete für die Wohnung bestimmt weiterhin bezahlen, bis wir mit dem Studium fertig sind.«
»Lorena wird sich vermutlich nicht so schnell einen Mitbewohner suchen. Sie wird noch eine Weile darauf hoffen, dass sich deine Verlobung als Irrtum herausstellt und du zurückkommst.«
»Darauf sollte sie nicht hoffen.«
»Das musst du ihr klar machen.«
»Ich werde mir Mühe geben«, sagte Mathilda.
Als Ophelia kurz darauf vom Schlittschuhlaufen mit ihren Freunden nach Hause kam, setzte sie sich zu ihrer Mutter und Mathilda an den Tisch und zeigte den beiden die neuen Fotos des Neugeborenen, die Emilia ihr geschickt hatte. Die Fotos des Babys lenkten Mathilda von ihren Problemen mit ihrer Schwester ab, und das empfand sie als wohltuend. Bald darauf verabschiedete sie sich von Olivia und Ophelia. Jetzt freute sie sich erst einmal auf den Abend mit Hanno und seinen Eltern.
»Was hat sie? Sie wirkt ein bisschen bedrückt?«, fragte Ophelia, die von ihrer Mutter und ihrer Großmutter gelernt hatte, Menschen richtig einzuschätzen.
»Mathilda hat sich verlobt, und ihre Schwester findet das nicht wirklich gut.« Olivia wusste, dass Ophelia inzwischen alt genug war, um solche zwischenmenschlichen Dinge zu verstehen. Sie musste ihr nichts vormachen.
*
Als Daniel am Abend aus der Praxis kam, deckte Ophelia den Tisch für das Abendessen. Olivia stand am Herd und überwachte die Pfanne mit den Bratkartoffeln, dem Gemüse und dem Schafskäse, die sie vorbereitet hatte, nachdem Mathilda gegangen war.
»Hallo, Doc, hattest du einen schönen Tag?«, fragte Ophelia, nachdem Daniel Olivia mit einem zärtlichen Kuss begrüßt hatte.
»Ich musste niemandem eine schlechte Botschaft verkünden. Also ja, ich hatte einen schönen Tag«, sagte Daniel und streichelte Ophelia über das Haar. »Wie war dein Tag?«
»Ich war Schlittschuhlaufen mit meinen Freunden. Wir hatten viel Spaß. Nur für Marius war es kein perfekter Tag. Er ist auf der Eisbahn umgeknickt. Seine Oma hat ihn abgeholt. Sie wollten eigentlich zu dir. Waren sie da?«
»Ja, waren sie.«
»Ist es schlimm?«
»Nein, ist es nicht.«
»Zum Glück. Ihm standen nämlich die Tränen in den Augen, als Gusti ihn abgeholt hat.«
»Alles klar, nur eine Verstauchung«, sagte Ophelia, als Marius in diesem Moment die Nachricht über Whatsapp verbreitete, dass er sich nur eine leichte Verstauchung zugezogen hatte.
»Gut, dann weißt du ja Bescheid. Gebt mir noch ein paar Minuten, ich bin gleich bei euch«, sagte Daniel. Wenn er abends aus der Praxis kam, nahm er gern eine Dusche, weil ihm das half abzuschalten. Auch wenn es ihm nicht immer gelang, eine klare Grenze zwischen seinem Berufs- und seinem Privatleben zu ziehen, war es für ihn ein notwendiges Ritual, um neue Energie zu tanken.
Nach dem Abendessen zog sich Ophelia in ihr Zimmer zurück, um mit ihren Freunden zu chatten.
Olivia und Daniel saßen noch eine ganze Weile im Wohnzimmer, und Olivia erzählte Daniel von Mathildas Besuch.
»Ich befürchte, vor Mathilda liegen noch einige anstrengende Wochen«, sagte Olivia, als sie sich auf dem Sofa ausstreckte und ihren Kopf auf Daniels Schoß legte.
»Ich kann mir vorstellen, dass es für Lorena nicht leicht sein wird, sich von ihrer Schwester zu lösen. Zwillinge haben schließlich eine ganz besondere Verbindung. Vermutlich wird das bei unseren Kindern auch so sein«, entgegnete Daniel und legte seine Hand auf Olivias Bauch.
»Sie werden eine besondere Verbindung haben, davon gehe ich aus. Aber sie werden trotzdem ihre eigenen Wege gehen. Jungen und Mädchen entwickeln sich naturgemäß ein wenig anders. Dieses Problem, mit dem Mathilda sich gerade herumschlagen muss, werden sie vermutlich nicht haben.«
»Das ist richtig, und darüber bin ich auch sehr froh. Die beiden sollen füreinander da sein, aber sie müssen nicht dieselben Träume verfolgen.«
»Nein, das müssen sie nicht. Es genügt, wenn ihre Eltern dieselben Träume haben.«
»Welche wären das?«, fragte Daniel und sah Olivia abwartend an.
»Das sind der Traum von einer großen immerwährenden Liebe und der Traum von einer glücklichen Familie«, sagte sie und richtete sich auf.
»Mehr wollte ich nicht hören«, antwortete Daniel, nahm sie in seine Arme und küsste sie.
*
»Vielleicht sollte ich auch mal mit zum Yoga gehen«, sagte Valentina, als Olivia sich nach dem Frühstück am nächsten Morgen wieder auf den Weg zur Yogaschule machte. Daniel war schon in der Praxis, und Ophelia hatte auch vor einigen Minuten das Haus verlassen.
»Kommen Sie doch das nächste Mal einfach mit«, schlug Olivia ihr vor.
»Wäre denn noch ein Platz in Ihrer Gruppe frei?«, fragte Valentina, die ihre rotweiß gestreifte Schürze wieder anzog, nachdem sie sie auf der Terrasse ausgeschüttelt hatte, weil sie ein paar Brotkrümel darauf entdeckt hatte.
»Ich denke schon, dass noch ein Platz frei ist. Aber ich werde Doreen vorsichtshalber fragen, ob sie noch jemanden in die Gruppe aufnimmt.«
»Danke, Frau Doktor«, sagte Valentina und hielt Olivia die Tür auf.
»Bis später, Valentina«, verabschiedete sich Olivia von ihr, als sie ihre Mutter auf dem Nachbargrundstück aus dem Haus kommen sah.
»Mei, so ein Figürchen wie die Frau Doktor Mai werd ich nicht mehr bekommen, egal, wie viel Yoga oder Sport ich mach«, murmelte Valentina, als sie Ottilie nachschaute, die in ihrer Jeans und dem schmal geschnittenen hellen Mantel noch richtig jugendlich wirkte. Mit einem tiefen Seufzer schloss sie die Haustür. »Gräm dich nicht, Valentina, dein Korbinian mag dich so, wie du bist«, versicherte sie ihrem Spiegelbild, als sie in der Diele vor dem Spiegel stehen blieb und sich anschaute. Als sie an ihren Mann dachte, mit dem sie schon so viele Jahre glücklich war, wandte sie sich mit einem zufriedenen Lächeln von dem Spiegel ab und ging in die Küche, um den Geschirrspüler anzuschalten.
*
Auf dem Weg zur Yogaschule trafen Olivia und Ottilie auf Lorena und Mathilda. Auf den ersten Blick sahen die beiden in ihren hellen Mänteln und den weißen Strickmützen exakt gleich aus, nur wer die beiden länger kannte, konnte sie unterscheiden. Mathilda hatte ein offenes Lächeln und sah die Menschen, mit denen sie sprach, direkt an.
Lorena dagegen hatte meistens einen fahrigen Blick und konnte ihr Gegenüber nie länger als ein paar Sekunden anschauen.
An diesem Morgen aber erschien Lorena wie ausgewechselt, sie war offensichtlich bestens gelaunt. Worüber sich auch Ottilie wunderte, die von Olivia gehört hatte, welche Sorgen Mathilda sich um ihre Schwester machte.
»Guten Morgen«, begrüßte Lorena Olivia und Ottilie mit einem freundlichen Lächeln. »Mathilda und ich haben heute Morgen schon ein bisschen gefeiert, mit einem Gläschen Prosecco zum Frühstück«, erzählte sie.
»Wir haben ja heute keine Vorlesungen«, fügte Mathilda als Erklärung für den Alkohol am Morgen hinzu.
»Du hast dich verlobt, das ist auf jeden Fall ein Grund zum Feiern, auch weil es ein seltenes Ereignis ist. Oder hast du vor, dich häufiger zu verloben?«, fragte Lorena schmunzelnd und hakte sich bei ihrer Schwester unter.
»Du hast recht, eine Verlobung ist etwas Besonderes«, stimmte Mathilda ihrer Schwester zu.
»Ich muss zugeben, ich habe mich gestern danebenbenommen. Das war gar nicht gut. Im ersten Moment konnte ich nur daran denken, dass ich bald allein sein werde«, gestand ihnen Lorena, während sie in Doreens Grundstück einbogen.
»Und jetzt fürchtest du dich nicht mehr davor?«, fragte Olivia.
»Ich habe gestern den Abend in der WG in der Stadt verbracht, und ich habe mir überlegt, dass ich mir einfach ein oder zwei neue Mitbewohner suche. Ich werde neue Menschen kennenlernen, und ich bin dann nicht mehr allein.«
»Das klingt nach einem guten Entschluss«, sagte Olivia und hielt Lorenas Blick einen Moment lang fest. So ganz nahm sie ihr nicht ab, dass sie sich bereits mit Mathildas Verlobung arrangiert hatte, hoffte aber für Mathilda, dass sie sich irrte.
»Wir haben heute Morgen nicht nur mit Prosecco gefeiert, Lorena hat mir auch etwas geschenkt, ein wunderschönes Besteck für mein zukünftiges neues Zuhause«, erzählte Mathilda. »Ich denke, alles wird gut«, raunte sie Olivia zu, als Lorena sich von ihr löste und wie ein übermütiges Kind über eine vereiste Stelle in Doreens Garten schlitterte, die sie neben dem mit Kies bestreuten Weg zum Eingang der Villa entdeckt hatte.
»So gut gelaunt, habe ich sie noch nie erlebt. Könnte es sein, dass sie verliebt ist?«, fragte Olivia leise. Die Liebe war durchaus in der Lage, einen Menschen über Nacht zu verändern.
»Sie hat gestern Abend in der WG viele Leute getroffen. Vielleicht war da etwas, was sie mir bisher noch nicht erzählt hat. Aber wie auch immer, ich bin einfach nur froh, dass sie sich besser fühlt und mir kein schlechtes Gewissen mehr einreden will.«
»Wie wäre es, wenn wir nach der Yogastunde noch einen Kaffee trinken gehen?«, fragte Lorena, als sie gleich darauf wieder zu ihnen kam und sie gemeinsam die Stufen zum Eingang der Villa hinaufgingen.
»Mein erster Patient kommt heute erst um halb zwölf. Ich hätte also noch ein bisschen Zeit nach der Yogastunde«, sagte Olivia.
»Ich habe auch Zeit«, schloss sich Ottilie an, als Lorena sie anschaute.
»Super, dann machen wir das«, entgegnete Lorena mit einem zufriedenen Lächeln.
»Wenn mir Mathilda und Lorena heute das erste Mal begegnet wären, würde ich annehmen, dass Lorena die aufgeschlossenere von den beiden ist«, sagte Ottilie leise, als sie in der Diele der Villa ihre Straßenschuhe gegen ihre Yogasocken tauschten und Lorena auch den anderen Kursteilnehmerinnen von Mathildas Verlobung erzählte, über die sie sich sehr freue, wie sie einige Male erstaunlich überzeugend betonte.
»Wieder gesund?«, fragte Doreen, als sie die Tür zu dem großen hellen Raum aufhielt und alle Kursteilnehmerinnen mit ihren bunten Yogamatten unter dem Arm an ihr vorbeigingen.
»Mir geht es wieder gut, danke. Ich hoffe, dass ich in Zukunft von solchen Kopfschmerzen verschont bleibe. Sie waren wirklich ganz furchtbar«, seufzte Lorena, folgte Mathilda und rollte ihre Matte neben ihr aus.
Bevor Doreen mit den Übungen anfing, wollte Olivia noch von ihr wissen, ob sie das nächste Mal Valentina in den Kurs mitbringen könnte.
»Kein Problem, für zwei oder drei weitere Matten haben wir noch Platz«, versicherte ihr Doreen, begrüßte die Damen noch einmal ganz herzlich und begann mit den Atemübungen, die am Anfang jeder Stunde erfolgten.
Eine Viertelstunde später waren sie bei einer Übung angelangt, die das Gleichgewicht trainierte und die Olivia zunehmend schwerer fiel, weil sie dabei auf einem Bein standen, das andere anwinkelten und die Arme über den Kopf nach oben streckten. Jede Kursteilnehmerin verharrte so lange in dieser Stellung, bis sie das Gleichgewicht nicht mehr halten konnte. Meistens war es Mathilda, die am längsten durchhielt. An diesem Vormittag aber war es Lorena, die noch auf einem Bein stand, als die anderen diese Übung bereits beendet hatten. Lorena strengte sich auch bei den nächsten Übungen mehr als sonst an. Aber dann auf einmal machte sie nicht mehr mit. Sie blieb auf ihrer Matte liegen und starrte an die Decke.
»Was ist mit dir?«, fragte Mathilda, als sie genau wie die anderen im Schneidersitz auf der Matte saß und sich sanft zur Seite beugte, immer abwechselnd nach rechts und links.
»Ich weiß nicht, mir ist auf einmal so merkwürdig«, antwortete sie leise, ohne Mathilda anzusehen.
»Was heißt merkwürdig?«
»Mir ist schwindlig, ich habe Kopfschmerzen. Ich glaube, mir wird schlecht.«
Im nächsten Moment sprang Lorena auf und rannte aus dem Zimmer.
»Was ist mit ihr?«, fragte Doreen erschrocken, während alle Kursteilnehmerinnen Lorena nachschauten.
»Ihr ist schlecht geworden. Ich sehe mal nach ihr«, sagte Mathilda und folgte ihrer Schwester.
Lorena stand vor dem Waschbecken im Gästebad, als Mathilda zu ihr kam. Sie wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und versuchte ruhig zu atmen. Wie es aussah, ging es ihr wirklich nicht gut.
»Kann ich etwas für dich tun?«, fragte Mathilda und legte ihre Hand auf Lorenas Schulter.
»Ich glaube, ich muss zum Arzt«, flüsterte Lorena.
»Ich komme mit dir«, sagte Mathilda. Sie legte ihren Arm um Lorenas Taille und stützte sie, während sie in die Diele gingen, um ihre Schuhe anzuziehen.
»Braucht ihr Hilfe?«, fragte Doreen, die zu ihnen kam.
»Vielen Dank, aber ich bringe Lorena lieber gleich zum Arzt. Ich hole unsere Yogamatten später ab, das ist doch in Ordnung?«
»Ja, natürlich. Gute Besserung, Lorena, wir sehen uns hoffentlich nächste Woche«, sagte Doreen.
»Auf jeden Fall. Ich habe nicht vor, länger krank zu sein, dazu macht das Leben zu viel Spaß«, antwortete Lorena mit einem gequälten Lächeln.
»Ich glaube, sie spielt mal wieder nur die Kranke, damit wir sie mehr beachten«, hörte Lorena eine Frau sagen, was sie richtig wütend machte, wozu das zustimmende Gemurmel einiger anderer Kursteilnehmerinnen noch beitrug.
Ihr habt absolut keine Ahnung, was in mir vorgeht, ihr dummen Weiber, dachte sie, und am liebsten hätte sie ihnen das auch ins Gesicht geschrien. Diese Genugtuung, dass sie derart unbeherrscht auf ihre Anschuldigungen reagierte, wollte sie ihnen aber nicht gönnen. Sie würde sich etwas anderes einfallen lassen, um ihnen diese freche Unterstellung heimzuzahlen.
»Passt auf euch auf«, sagte Doreen und ging wieder zurück zu den anderen Kursteilnehmerinnen. »Mathilda bringt Lorena zum Arzt«, klärte sie die anderen über den Grund auf, warum die beiden gegangen waren.
»Jetzt muss Mathilda sich schon wieder Sorgen um Lorena machen«, sagte Ottilie.
»Es ist wohl doch noch nicht vorbei«, stellte Olivia mit einem bedauernden Kopfschütteln fest.
*
»Das glaube ich jetzt nicht«, stöhnte Lydia, als Mathilda und Lorena die Praxis betraten.
»Vielleicht will Mathilda ausnahmsweise zu uns«, sagte Sophia, die neben Lydia am Empfangstresen in der Praxis Norden stand und dem Blick ihrer Freundin und Kollegin gefolgt war.
»Wohl eher nicht. Lorena stützt sich auf Mathilda«, entgegnete Lydia, als die Schwestern die Praxistür hinter sich zufallen ließen und näher kamen.
»Könnten wir bitte gleich zum Herrn Doktor? Meiner Schwester geht es gar nicht gut«, sagte Mathilda, als sie den Tresen erreichten.
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, und mir ist schlecht«, jammerte Lorena mit weinerlicher Stimme.
»Das klingt nach Migräne«, sagte Lydia.
»Mag sein, aber vielleicht ist es auch etwas anderes. Ich möchte bitte mit Doktor Norden sprechen«, bat Lorena und sah in das Wartezimmer mit dem dunklen Holzboden und den hochgewachsenen Grünpflanzen, in dem nur noch einer der gelben Sessel frei war. »Ich kann ohnehin nicht lange im Wartezimmer bleiben. Ich reagiere allergisch auf die Schimmelpilze in den Blumentöpfen.
»Kann nicht sein, Frau Zachner. Unsere Pflanzen wachsen in einer Hydrokultur. Wir lassen regelmäßig einen Gärtner kommen, der nachsieht, ob das Substrat noch in Ordnung ist. Wir haben keine Schimmelpilze im Wartezimmer«, versicherte ihr Sophia.
»So ist es, und deshalb wird Ihnen dort auch nichts passieren. Ich bitte Sie, sich noch eine Weile zu gedulden und im Wartezimmer Platz zu nehmen. Wir haben heute mehrere Patienten, die unter starken Schmerzen leiden«, erklärte Lydia Lorena. Bisher war es Lorena immer gelungen, sich vorzudrängeln, dieses Mal würde Lydia es nicht zulassen. Einige ihrer älteren Patienten, die heute zu ihnen gekommen waren, litten unter starken Erkältungssymptomen, Bauch- und Magenschmerzen. Sie mussten auch warten, bis sie an der Reihe waren.
»Aber ich bin ein Notfall. Mir geht es so schlecht«, stöhnte Lorena und fasste sich mit beiden Händen an den Magen. »Doktor Norden, bitte, ich brauche dringend Hilfe!«, rief sie, als Daniel in diesem Moment die Tür seines Sprechzimmers öffnete. Ehe Lydia oder Sophia sie zurückhalten konnten, lief sie eilig zu ihm.
»Gute Besserung, Frau Leinberger«, verabschiedete sich Daniel von der älteren Frau in dem hellgrauen Kostüm, die er zur Tür begleitet hatte.
»Vielen Dank, Herr Doktor. Wie immer, wenn ich bei Ihnen war, geht es mir schon gleich viel besser«, versicherte ihm Frau Leinberger, nickte ihm freundlich zu und machte sich auf den Weg zum Empfang. »Vorsicht, junge Dame«, beschwerte sie sich, als Lorena ihr entgegenkam und sie unsanft anrempelte.
»Ist ja gut, es ist doch nichts passiert«, entgegnete Lorena genervt.
»Unfreundliches Madl«, murmelte Frau Leinberger.
»Ich darf doch reinkommen, oder?«, fragte Lorena und sah Daniel an, der in der Tür stehen geblieben war.
»Bitte«, sagte er und trat zur Seite, um ihr Platz zu machen. Ein Blick zum Tresen zeigte ihm, dass Lydia und Sophia diesen Auftritt nicht hatten verhindern können. Sie zuckten beide bedauernd die Schultern.
»Tut mir leid, dass sie einfach so davonstürmt, aber ihr geht es wirklich schlecht«, entschuldigte sich Mathilda, die noch am Empfangstresen stand, für das Verhalten ihrer Schwester.
»Schon gut, Sie sind nicht für sie verantwortlich«, sagte Sophia. Ihr tat die junge Frau leid, die ständig Rücksicht auf ihre Schwester nehmen musste.
»Ich bekomm dann noch ein Rezept für die Krankengymnastik«, bat Frau Leinberger Lydia, die auf den Computermonitor schaute, der auf dem Tresen stand.
»Ich setze mich ins Wartezimmer«, sagte Mathilda. Wenigstens sie wollte den Ablauf in der Praxis nicht weiter stören und sich im Hintergrund halten.
*
»Was ist mit mir los, Doktor Norden?«, fragte Lorena, nachdem Daniel ihr den Blutdruck gemessen und sie gründlich abgehört hatte.
»Die Symptome deuten auf eine starke Migräne hin.«
»Das hat Frau Seeger auch gesagt.«
»Und ich stimme ihr zu. Trotzdem, bei der Häufigkeit dieser Anfälle sollten Sie unbedingt einen Neurologen aufsuchen.«
»Als ich vor ein paar Wochen im Krankenhaus zur Untersuchung war, hatte ich auch einen Termin beim Neurologen. Er konnte aber nichts feststellen«, erinnerte sie Daniel an den großen Check-up, den er aufgrund ihrer Beschwerden veranlasst hatte.
»Da die Kopfschmerzen nicht auf Dauer nachlassen, müssen wir weiter nach der Ursache suchen.«
»Vermuten Sie einen Tumor?«, fragte Lorena.
»Nein, eigentlich nicht. Wie gesagt, es gibt keinen Hinweis auf eine ernsthafte Erkrankung. Aber ich möchte einfach sichergehen«, sagte Daniel und stellte die Überweisung zum Neurologen aus.
»Möglicherweise gibt es eine Ursache, an die Sie noch nicht gedacht haben«, sagte Lorena, nachdem sie ihren Pullover wieder angezogen hatte und von der Untersuchungsliege auf den Stuhl vor Daniels Schreibtisch wechselte.
»Und die wäre?«, fragte Daniel.
»Eine Vergiftung.«
»Wie kommen Sie auf Vergiftung?«, wunderte sich Daniel.
»Wenn ich es genau bedenke, dann fingen diese Kopfschmerzen während meiner ersten Yogastunde in der Villa an. Eigentlich hatte ich dort bisher immer Kopfschmerzen, und mir war auch übel. Es wurde von Mal zu Mal schlimmer, und heute war es ganz extrem. Möglicherweise dünsten die Wände eine giftige Chemikalie aus. Die Villa wurde doch erst kürzlich renoviert.«
»Soweit mir bekannt ist, hat der neue Hauseigentümer Wert auf natürliche Baustoffe gelegt.«
»Die Leute erzählen gern gut klingende Geschichten. Sie müssen aber nicht wahr sein. Ich hatte schon die ganze Zeit den Eindruck, dass es in der Villa merkwürdig riecht. Es ist ein eigenartiger penetranter Geruch, der an Desinfektionsmittel erinnert.«
»Es riecht nach Desinfektionsmitteln?«, fragte Daniel noch einmal nach, weil er sich das gar nicht vorstellen konnte. Denn sollte es so sein, dann hätten auch Olivia und Ottilie das sicher längst erwähnt und Doreen gebeten, die Geruchsquelle herauszufinden.
»Ich besitze ein besonders sensibles Geruchsempfinden«, sagte Lorena, die offensichtlich ahnte, was ihrem Arzt gerade durch den Kopf ging.
»Ja, möglicherweise«, stimmte Daniel ihr zu, weil er ihr das Gegenteil nicht beweisen konnte.
»Was tun wir jetzt, um herauszufinden, ob ich mich vielleicht vergiftet habe?«
»Eine Untersuchung von Blut und Urin könnte uns erste Aufschlüsse geben.«
»Gut, dann komme ich morgen früh zur Blutentnahme vorbei.«
»Ich denke, das erledigen wir gleich«, erklärte ihr Daniel und rief Lydia über das Haustelefon an. »Frau Zachner kommt jetzt zu dir. Wir brauchen eine Blut- und eine Urinprobe«, kündigte er die Laboruntersuchung für seine Patientin an.
»Heute gehen die Proben aber leider nicht mehr zum Labor. Der Bote vom Labor kommt doch immer morgens vor zehn«, sagte Lorena, nachdem Daniel das Gespräch mit Lydia beendet hatte.
»Ich bestelle einen Boten, der die Proben ins Labor bringt. Sie wollen doch sicher möglichst schnell Gewissheit, ob es Anzeichen für eine Vergiftung gibt.«
»Ja, auf jeden Fall«, antwortete Lorena.
Für Daniel klang es nicht wirklich überzeugend. Er glaubte nicht, dass Lorena sich vergiftet hatte, aber er durfte diese Möglichkeit auch nicht einfach ausschließen. Sein persönliches Empfinden durfte ihn nicht beeinflussen.
Solange er nicht ganz genau wusste, was Lorenas Beschwerden verursachte, musste er jede Möglichkeit in Betracht ziehen.
»Würden Sie mir bitte etwas gegen die Migräne verschreiben?«, bat Lorena, während sie ihre Schläfen mit den Zeigefingern massierte.
»Haben Sie die Tabletten, die ich Ihnen vor zwei Tagen verschrieben habe, alle genommen?«
»Eine habe ich noch.«
»Dann nehmen Sie die. Ich verschreibe Ihnen zusätzlich noch Tropfen, die sind nicht ganz so belastend. Sie haben in letzter Zeit recht häufig Tabletten genommen.«
»Ja, ich weiß, aber die Schmerzen habe ich mir ja nicht eingebildet.«
»Das wollte ich damit auch nicht sagen. Morgen werden wir hoffentlich mehr wissen.«
»Das hoffe ich auch«, erwiderte Lorena und nahm das Rezept und die Überweisung zum Neurologen entgegen, die Daniel ihr reichte. »Ich melde mich dann morgen Vormittag.«
»Also bis morgen. Gute Besserung, Frau Zachner«, sagte Daniel und begleitete Lorena zur Tür des Sprechzimmers.
»Auf Wiedersehen, Doktor Norden«, verabschiedete sie sich und ging zum Labor, vor dessen Tür Lydia auf sie wartete, so als befürchtete sie, dass sie vorbeigehen könnte.
»Kommen Sie, Frau Zachner, es geht auch ganz schnell«, sagte Lydia und hielt Lorena die Tür zum Labor auf. Bevor sie ihr folgte, schaute sie noch einmal zu Daniel.
Dieses Mal zuckte er mit den Schultern und gab ihr damit zu verstehen, dass er keine Ahnung hatte, was mit Lorena los war.
Nachdem Lydia Lorena drei Ampullen Blut für ein großes Blutbild abgenommen hatte, schickte sie sie mit einem Becher zur Toilette. »So, das wäre es«, sagte sie, nachdem Lorena den Becher mit der Urinprobe ins Labor zurückgebracht hatte. »Legen Sie sich zu Hause am besten in ein abgedunkeltes Zimmer, das hilft bei Migräne«, riet Lydia Lorena.
»Eigentlich leide ich gar nicht an Migräne. Meine Kopfschmerzen und mein Unwohlsein sind die Folgen meiner Vergiftung«, ließ Lorena Lydia wissen.
»Welcher Vergiftung?«, fragte Lydia verwundert nach.
»Die Luft in den Räumen der Yogaschule in der alten Villa dünsten Gift aus. Hat sich das noch nicht herumgesprochen?«
»Bisher noch nicht«, sagte Lydia.
»Was sagen Sie da? In der Villa gibt es Gift?«, fragte eine rundliche ältere Frau, die einen blauen Trachtenmantel trug und vor der Labortür stehen blieb.
»Frau Meier, was kann ich für Sie tun?«, wollte Lydia von Gusti Meier wissen, die Lorena gespannt anschaute.
»Marius war doch gestern hier. Er hat einen gelben Schal vergessen. Frau von Arnsberg meinte, du würdest ihn mir geben.«
»Das mache ich gleich, warten Sie einen Augenblick«, bat Lydia Frau Meier.
»Der Adel flößt Ihnen wohl großen Respekt ein, Frau Meier«, wandte Lorena sich Gusti mit einem herablassenden Grinsen zu.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Lydia, weil Gusti, die sonst nie um eine Antwort verlegen war, erst einmal kein Wort herausbrachte.
»Das ist nicht zu überhören. Sie werden von ihr geduzt, und Ihre Kollegin nennt sie Frau von Arnsberg.«
»Die Lydia habe ich schon als Kind gekannt und die Sophia von Arnsberg eben nicht«, erklärte Gusti, die ihre Stimme jetzt wiedergefunden hatte.
»Tut mir leid, ich wollte niemanden beleidigen. Ich hatte nur vergessen, dass dieser Teil der Stadt eher ein Dorf ist, in dem jeder jeden kennt. War mein Fehler.«
»Sie wohnen ja noch nicht so lange hier«, sagte Gusti.
»Stimmt, ich gehe dann mal. Aber sollten Sie beide irgendjemanden kennen, der in die Villa zum Yoga geht, dann klären Sie denjenigen bitte über die Gefahr auf, die den Besuchern dort droht. Nicht jeder hat so einen feinen Geruchssinn wie ich, das meint Doktor Norden auch. Die meisten Menschen bemerken erst, dass sie vergiftet sind, wenn sie ernstlich erkranken.«
»Von welchem Gift sprechen wir denn?«, fragte Gusti.
»Genau wissen wir es noch nicht, aber es handelt sich wohl um eine gefährliche Chemikalie, sonst würde ich nicht mit diesen heftigen Symptomen darauf reagieren.«
»Welche Symptome haben Sie denn?«, wollte Gusti wissen.
»Kopfschmerzen, Übelkeit, Schwindel.«
»Du liebe Güte, darüber hat meine Schwiegertochter neulich ebenfalls geklagt. Sie geht auch zum Yoga in die Villa.«
»Sie sollten Sie erst einmal davon abhalten. Ich denke, ich werde mit einem Anwalt sprechen, um rechtliche Schritte gegen die Yogaschule einzuleiten. Schließlich gefährden sie dort das Leben ihrer Kursteilnehmer.«
»Bitte, Frau Zachner, noch steht doch gar nichts fest«, versuchte Lydia Lorena zu bremsen.
»Ich weiß, was ich weiß, aber gut, entscheiden Sie selbst. Einen schönen Tag noch«, verabschiedete sich Lorena und machte sich auf den Weg zum Wartezimmer, um Mathilda abzuholen. Gusti Meier gehörte zu den Alteingesessenen in diesem Teil der Stadt, sie kannte fast jeden, der hier wohnte. Sie würde dafür sorgen, dass der Verdacht, den sie gerade geäußert hatte, sich schnell verbreitete. Die Damen, die vorhin über sie hergezogen hatten, würden sicher einen gehörigen Schreck bekommen, sobald sie von ihrem Verdacht erfuhren.
»Gehst du auch in die Yogaschule?«, fragte Gusti, nachdem Lydia ihr Marius‘ Schal aus dem Schrank geholt hatte, in dem sie die Sachen aufbewahrten, die Patienten hin und wieder bei ihnen vergaßen. »Ich mache schon viel Sport bei der Feuerwehr. Yoga gehört auch dazu, weil das gut für die Konzentration ist.«
»Kümmert sich die Feuerwehr nicht auch um Gift in Innenräumen?«, fragte Gusti.
»Nur im Notfall, Frau Meier, wenn plötzlich irgendwo Gift austritt, ansonsten ist das Umweltamt zuständig. Aber noch steht gar nicht fest, ob das mit dem Gift überhaupt stimmt«, versuchte Lydia ihr klar zu machen.
»Mei, das Madl ist krank, und sie hat gesagt, dass sie das Gift in den Räumen riechen kann«, entgegnete Gusti mit ernster Miene. »Vielleicht war sie gerade eben auch ein bissel unhöflich zu mir, weil ihr das Gift bereits die Sinne verwirrt.«
»Dass irgendein Gift daran schuld sein sollte, glaube ich eher nicht. Wir sollten erst einmal abwarten, was bei dieser Sache herauskommt. Schöne Grüße an Marius«, verabschiedete sich Lydia von Gusti, als ein junger Mann, der nach Lorena zu Daniel gegangen war, wieder aus dem Sprechzimmer kam. »Warte, Daniel, ich muss dich kurz sprechen«, sagte sie.
»Ist etwas passiert?«, fragte er, als Lydia zu ihm ins Zimmer trat, die Tür schloss und ihn besorgt anschaute.
»Lorena hat Gusti Meier erzählt, dass aus den Wänden in der Yogaschule Gift austritt. Sie meinte, du hättest ihren feinen Geruchssinn bestätigt, mit dem sie das Gift wahrnehmen kann, während die anderen nichts davon merken. Soweit ich weiß, wurde bei der Renovierung doch darauf geachtet, keine giftigen Substanzen zu verwenden.«
»Ich weiß, und ich gehe auch nicht von einer Vergiftung aus.«
»Das dachte ich mir schon, sonst hättest du sie sicher gleich in eine Klinik überwiesen.«
»Sollte die Laboranalyse nur den kleinsten Hinweis auf eine Vergiftung ergeben, dann werde ich das auch tun.«
»Ich hoffe, dass die Yogaschule diesen Verdacht mit dem Gift in ihren Räumen entkräften kann. Wir sollten Doreen wissen lassen, was da auf sie zukommt. Das Beste wäre, sie beugt weiteren Spekulationen vor und lässt einen Sachverständigen kommen, der die Räume der Villa überprüft. Ich könnte ihr die Telefonnummer der zuständigen Abteilung geben.«
»Schreibe mir die Nummer auf, ich spreche in der Mittagspause mit Olivia.«
»Das mache ich«, sagte Lydia und verließ das Sprechzimmer. »Was ist los?«, fragte sie besorgt, als sie zum Empfangstresen zurückkam und Sophia mit einem tiefen Seufzer zur Eingangstür schaute.
»Gut, dass sie fort ist«, sagte Sophia und wandte sich Lydia zu.
»Du sprichst von Lorena, nehme ich an.«
»Allerdings. Sie hat im Wartezimmer für Unruhe gesorgt. Sie hat sich dort hingestellt und alle davor gewarnt, in die Yogaschule zu gehen, weil sie dort ein Problem mit Umweltgiften hätten. Ich denke, Daniel wird heute noch einige Fragen zu möglichen Krankheitssymptomen beantworten müssen.«
»Sie hat auch schon Gusti Meier diese Geschichte erzählt.«
»Denkst du, es ist wirklich etwas dran?«
»Eigentlich nicht, aber letztendlich können wir es nicht ganz ausschließen. Wir warten erst einmal auf das Ergebnis aus dem Labor.«
»Deshalb also die Eile. Daniel hat mich angerufen und mich gebeten, einen Boten zu bestellen, als du mit Lorena im Labor warst. Jetzt weiß ich auch warum. An seiner Stelle würde ich die Sache auch so schnell wie möglich klären. Auch wegen Olivia.«
»Bei euch gibt es doch keine Umweltgifte, oder?«, fragte eine ältere Frau im eleganten dunklen Hosenanzug, die auf dem Weg zum Sprechzimmer war und kurz am Tresen stehen blieb.
»Nein, Frau Ostheimer, die gibt es nicht, und es steht auch keinesfalls fest, dass es die in der Yogaschule gibt«, sagte Lydia.
»Lorena Zachner ist Medizinerin, die weiß sicher schon, wovon sie spricht«, entgegnete Frau Ostheimer, die in der Nachbarschaft wohnte. Sie hatte viele Jahre in einer Bank als Kundenberaterin gearbeitet und war seit kurzem im Ruhestand.
»Lorena studiert Medizin, sie ist keine Expertin für Umweltgifte«, widersprach ihr Sophia.
»Wir werden ja sehen, was bei der Sache herauskommt. Ich bin gleich bei Ihnen, Herr Doktor«, sagte sie und lief eilig weiter, als sie Daniel in der Tür seines Sprechzimmers stehen sah.
»Ich befürchte, da kommt einiges auf uns zu«, seufzte Sophia.
*
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Bisher hat niemand sonst über irgendwelche Beschwerden geklagt. Auch meine Mutter und ich haben uns noch nie auf irgendeine Weise während der Yogastunde unwohl gefühlt«, versicherte Olivia Daniel, als er ihr und Ophelia beim Mittagessen von Lorenas Verdacht erzählte. »Trotzdem halte ich Lydias Vorschlag, einen Sachverständigen die Räume überprüfen zu lassen, für richtig. Sollte Doreen das nicht tun, wird vermutlich erst einmal niemand mehr zu ihr kommen.«
»Ich weiß, mein Wartezimmer ist eine Nachrichtenzentrale für unsere Gegend, erst recht, wenn Gusti Meier da ist.«
»Stimmt, aber was auch immer in deinem Wartezimmer besprochen wird, es liegt nicht in deiner Verantwortung«, versicherte ihm Olivia. »Ich werde Doreen nachher anrufen. Falls sie das Gerücht noch nicht erreicht hat, werde ich sie darüber aufklären, was sich da gerade zusammenbraut.«
»Sollte Doreen sich für den Sachverständigen entscheiden, kann sie sich auf Lydia berufen. Sie kennt ihn persönlich. Er ist auch bei der Freiwilligen Feuerwehr.«
»Das werde ich Doreen sagen. Wie schmeckt euch eigentlich der Gemüseeintopf? Valentina hat mich gebeten, euch das zu fragen. Sie meinte, sie hätte ihn einmal ganz anders zubereitet«, wechselte Olivia das Thema.
»Dachte ich mir schon, das Gemüse sieht zwar aus wie sonst, schmeckt aber anders«, sagte Daniel.
»Aromatischer«, stellte Ophelia fest.
»Aromatischer oder auch intensiver«, schloss sich Daniel Ophelias Einschätzung an.
»Das trifft es ganz gut. Valentina war gestern auf dem Markt und hat dort einen Stand entdeckt, der sich auf alte Sorten im Obst- und Gemüseanbau spezialisiert hat. Es ist schade, dass diese alten Sorten nur noch selten angebaut werden«, klärte Olivia die beiden auf.
»Dann sollten wir den Landwirt, der diese Waren anbietet, unterstützen und jede Woche dort einkaufen«, schlug Ophelia vor.
»Valentina und ich haben schon darüber gesprochen«, sagte Olivia.
»Gute Entscheidung, Mama. Wow, das ging schnell«, murmelte Ophelia, als sie auf ihr Handy schaute, das auf dem Stuhl neben ihr lag und surrte, weil ihr jemand eine Nachricht geschickt hatte.
»Was ist los, Schatz?«, fragte Olivia.
»Marius schreibt auf Whatsapp, dass wir unsere Mütter davor warnen sollen, in die Yogaschule zu gehen, weil die Wände Nervengift ausdünsten.«
»Selbst wenn sich Gift dort nachweisen ließe, dann wäre es sicher kein Nervengift.«
»Gerüchte eben, jeder, der davon hört, macht es noch ein bisschen schlimmer. Am Ende landen wir bei einer atomaren Verseuchung der Yogaschule«, sagte Ophelia. »Du solltest Doreen am besten gleich anrufen.«
»Ich räume den Tisch ab, dann rufe ich sie an.«
»Lass nur, ich mache das.«
»Danke, Schatz.«
»Kein Problem, und du ruhst dich ein bisschen aus, Doc. Ich befürchte, du wirst in den nächsten Tagen einige Patienten mit angeblichen Vergiftungssymptomen davon überzeugen müssen, dass sie sich gar nicht vergiftet haben.«
»Das befürchte ich auch«, stimmte Olivia ihr zu. »Sollte Panik ausbrechen, rufe mich, ich werde dir dann beistehen.«
»Das hoffe ich doch, mein Schatz«, sagte Daniel. Als er gleich darauf ins Wohnzimmer ging, um sich ein paar Minuten aufs Sofa zu legen, beugte er sich noch einmal zu Olivia hinunter, die noch am Esstisch saß, und nahm sie zärtlich in seine Arme.
»Wie lange hält diese Art Liebe eigentlich an?«, fragte Ophelia, die den Tisch abräumte und die beiden beobachtete.
»Im besten Fall für das ganze Leben«, antwortete Daniel und richtete sich wieder auf.
»Aber das ist nur eine Hoffnung, wissen können wir es nicht, richtig?«
»Doch, manchmal wissen wir es ganz genau«, sagte Olivia und umfasste Daniels Hand.
Ein paar Minuten später hatte Ophelia die Küche aufgeräumt und ging hinauf in ihr Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Daniel hatte es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und las die Tageszeitung, die er am Morgen nur kurz angesehen hatte. Olivia telefonierte mit Doreen, die noch nichts von dem angeblichen Gift in ihrer Villa gehört hatte.
»Wir haben bei der Renovierung darauf geachtet, dass wir nur umweltverträgliche Baustoffe verwandten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir Gift in den Räumen haben«, zeigte sie sich vollkommen überrascht von Lorenas Anschuldigungen.
»Meine Mutter übernimmt heute Nachmittag meine Patienten. Falls du Zeit hast, könntest du auf einen Kaffee zu mir kommen.« Doreen brauchte jetzt jemanden zum Reden, und das funktionierte besser von Angesicht zu Angesicht.
»Ich könnte in einer Stunde bei dir sein.«
»Dann bis später«, sagte Olivia und beendete das Gespräch. Sie ging zu Daniel ins Wohnzimmer und setzte sich zu ihm aufs Sofa.
»Alles gut?«, fragte er leise und legte den Arm um sie.
»Aber ja, mir geht es gut. Ich tanke nur ein bisschen Kraft«, sagte sie und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.
»Nimm dir, was du brauchst«, entgegnete er lächelnd und zog sie liebevoll an sich.
*
Olivia hatte einen Apfelkuchen im Backofen aufgetaut und Kaffee und Tee gekocht, als Doreen um drei Uhr zu ihr kam.
Inzwischen hatten Doreen so gut wie alle Kursteilnehmerinnen angerufen, um ihr mitzuteilen, dass sie erst einmal nicht mehr in die Villa kommen würden. Nicht, solange die Sache mit dem Gift in ihren Räumen nicht geklärt war.
»Heute Morgen war doch noch alles in Ordnung. Ich verstehe das nicht«, sagte Doreen, als sie und Olivia am Esstisch saßen und sie keinen Bissen von dem köstlich duftenden Apfelkuchen herunterbekam, weil sie nicht wusste, was in den nächsten Tagen auf sie zukommen würde. »Nicht einmal Mathilda hat eine Erklärung für Lorenas übereilte Anschuldigung. Sie war vorhin bei mir und hat ihre Yogamatten abgeholt. Sie hat sich bei mir entschuldigt und mir versichert, dass sie alles tun werde, um Lorena vor weiteren übereilten Schritten abzuhalten. Sie hat es zwar nicht ausgesprochen, aber vermutlich wollte sie mir damit zu verstehen geben, dass ihre Schwester an eine Anzeige denkt.«
»Lorena hat sich offensichtlich in den Kopf gesetzt, dass sie die Ursache für ihre Beschwerden endlich gefunden hat.«
»Aber sie liegt falsch.«
»Ich befürchte, du wirst es ihr beweisen müssen.«
»Dann gehst du wohl nicht davon aus, dass Mathilda sie bremsen kann.«
»Ich würde nicht darauf bauen.«
»Warum tut Lorena das? Sie hätte erst mit mir sprechen sollen, wenn sie diesen Verdacht hat.«
»Ich bin fast sicher, dass es eigentlich gar nicht um dich geht.«
»Sondern um was?«, fragte Doreen und sah Olivia mit ihren großen blauen Augen abwartend an.
»Das weiß ich noch nicht, aber Lorena hat mit Sicherheit Probleme, die ihr das Leben schwer machen.«
»Im Moment macht sie aber eher mir das Leben schwer.«
»Ich weiß, und das tut mir wirklich sehr leid«, sagte Olivia.
»Wenn sie die Leute gegen mich aufhetzt, kann ich meine Yogaschule wieder schließen.«
»Lass die Räume von einem Experten überprüfen, dann ist die Sache schnell beendet.«
»Vielleicht, aber sicher ist das ganz und gar nicht. Die meisten Leute gehen davon aus, dass an einem Gerücht immer etwas dran ist. Und mich kennen die Leute hier noch nicht wirklich. Sie werden den Menschen glauben, die sie schon länger kennen.«
»Stimmt, das könnte passieren, aber die Menschen hier in der Gegend haben einen ganz besonderen Arzt, einen, der nicht nur ihre körperlichen Beschwerden behandelt. Er hört ihnen auch zu, wenn sie Kummer haben. Er ist für sie da, und dafür lieben sie ihn. Wenn er auf deiner Seite ist, dann werden sie es auch sein.«
»Danke, das lässt mich hoffen, dass es gut ausgehen wird.«
»Es wird gut ausgehen«, versicherte ihr Olivia.
»Ich werde gleich morgen früh den Sachverständigen anrufen und ihn bitten, in die Villa zu kommen.«
»Ja, bitte, mach das, und berufe dich auf Lydia, dann geht es mit dem Termin schneller.«
»Danke, Olivia, für alles. Ich werde nachher die wenigen, die ihren Kurs nicht abgesagt haben, darüber informieren, dass wir in den nächsten Tagen geschlossen haben. Sonst kommt die nächste, die von Kopfschmerzen geplagt wird, auch auf die Idee, es auf die Raumluft in der Villa zu schieben.«
»Ich denke, das ist eine kluge Entscheidung. Und jetzt probiere den Kuchen. Er ist wirklich köstlich«, sagte Olivia.
»Ja, das ist er«, stimmte Doreen ihr zu, nachdem sie das erste Stück versucht hatte. Mit Olivia zu reden, hatte ihr gutgetan. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass die Zukunft, die sie sich mit ihrer eigenen Yogaschule erträumt hatte, durch ein Gerücht zerstört werden konnte.
Als Daniel nach der Sprechstunde nach Hause kam, tranken sie wie immer erst einmal eine Tasse des duftenden Jasmintees, den Olivia in letzter Zeit jeden Abend für sie zubereitete. Sie tranken ihn auf dem Sofa im Wohnzimmer, und jeder erzählte dem anderen, wie sein Tag verlaufen war. Meistens gelang es ihnen in dieser halben Stunde für eine Weile Abstand zu den Sorgen ihrer Patienten zu gewinnen, was ihnen die Kraft gab, am nächsten Tag wieder ganz für ihre Patienten da zu sein. Die Sache mit Lorena aber würde sie nicht so schnell loslassen, das war Olivia klar, als sie Daniel von Doreens Befürchtungen erzählte, nämlich dass niemand mehr zu ihr kommen würde.
»Ich hatte heute schon einige Patientinnen, die in Sorge waren, sie hätten sich in der Yogaschule vergiftet. Ich denke, ich konnte es ihnen ausreden. Und das werde ich auch in Zukunft tun.«
»Das wird Doreen auf jeden Fall helfen. Vielleicht solltest du Lorena zu einem Psychologen schicken. Ich bin inzwischen so gut wie sicher, dass sie professionelle Hilfe braucht.«
»Ich könnte sie zu dir schicken.«
»Keine Ahnung, ob sie das will. Sollte sie davon ausgehen, dass ich Mathildas Verlobung gutheiße, wird sie sich mir nicht anvertrauen. Ich denke, diese Verlobung ist das eigentliche Problem. Sie will Mathilda nicht loslassen.«
»Das würde zu meiner Vermutung passen, dass sie nicht so krank ist, wie sie vorgibt.«
»Wie willst du feststellen, ob jemand wirklich Schmerzen hat oder nicht?«
»Letztendlich gar nicht. Die Menschen empfinden Schmerzen auf unterschiedliche Weise. Was der eine kaum wahrnimmt, kann einen anderen in Panik versetzen.«
»Und dann gibt es noch die unentdeckten Krankheiten. Menschen, die wirklich krank sind und oft jahrelang von Arzt zu Arzt laufen, bis endlich jemand die Ursache ihrer Beschwerden findet.«
»Der zweite Punkt, der sich nicht ignorieren lässt«, stimmte Daniel ihr zu.
»Es gäbe da noch einen Punkt, der nicht ignoriert werden sollte«, meldete sich Ophelia zu Wort, die zu ihnen ins Wohnzimmer gekommen war.
»Und dieser Punkt wäre?«, fragte Olivia.
»Mein knurrender Magen«, antwortete Ophelia mit einem verschmitzten Lächeln und rieb mit beiden Händen über ihren Bauch, so als müsste sie ihn beruhigen.
»Dann nimm schon mal den Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank und schalte den Backofen ein«, bat Olivia ihre Tochter.
»Was kommt in den Backofen?«
»Die Buletten, die ich vorhin gebraten habe.«
»Lecker, Buletten mit Kartoffelsalat, mein Magen und ich werden uns gleich besser fühlen«, sagte Ophelia und ging in die Küche.
Olivia und Daniel beschlossen, Lorena und das, was sie gerade anrichtete, für ein paar Stunden beiseite zu schieben, als sie Ophelia in die Küche folgten. Sie hofften, dass es ihnen gelingen würde.
»Ich hatte eigentlich vor, in den Osterferien nach Norwegen zu fahren. Aber zu der Zeit werden die Zwillinge schon geboren sein. Ich will euch dann nicht allein lassen«, sagte Ophelia, als sie ein paar Minuten später mit Olivia und Daniel am Esstisch saß.
»Wir schaffen das, Schatz, fahr du zu deinem Vater und deinen Brüdern. Sie vermissen dich.«
»Ich vermisse sie auch, und solltet ihr wirklich nicht allein zurechtkommen, Oma und Hannes und Daniels Eltern werden euch vermutlich liebend gern unterstützen.«
»Auf jeden Fall«, stimmte Olivia ihr zu. Die Großeltern der Zwillinge hatten ihnen schon mehrfach versichert, dass sie auf ihre Hilfe zählen durften. Daniel und sie wussten, dass sie es ernst meinten und sie sich auf sie verlassen konnten.
*
Daniel hatte gehofft, dass Lorena sich inzwischen beruhigt hatte und nicht mehr mit absoluter Gewissheit davon ausging, dass ihre Beschwerden von einer Vergiftung herrührten, als sie am nächsten Morgen zu ihm in die Praxis kam. Aber er hatte sich geirrt. Schon am Empfangstresen wiederholte sie ihren Verdacht, dass sie sich in der Yogaschule vergiftet hatte und dass Doreen das wissentlich in Kauf nahm.
Als Lydia sie bat, sich mit diesen Äußerungen zurückzuhalten, zog sie ihren Mantel aus, schob den linken Ärmel ihres Pullovers hoch und deutete auf ihre Armbeuge. Um die Stelle herum, an der Lydia ihr am Vortag in die Vene gestochen hatte, hatte sich ein großflächiger Bluterguss gebildet.
»Das soll ich gewesen sein?«, wunderte sich Lydia. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so etwas angerichtet zu haben.
»Wer denn sonst? Das waren doch Sie, die mir gestern Blut abgenommen hat.«
»Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die ungewöhnlich empfindsam auf eine Blutentnahme reagieren«, versuchte Sophia Lorena zu beruhigen.
»Oder sie kann es einfach nicht«, griff Lorena Lydia erneut an.
»Daniel, du solltest herkommen«, bat Sophia den jungen Arzt, nachdem sie ihn über das Haustelefon im Sprechzimmer angerufen hatte.
Die Patienten im Wartezimmer waren inzwischen auf die Auseinandersetzung am Tresen aufmerksam geworden. Die Tür stand offen, und sie hatten ihre Unterhaltung eingestellt, um zu hören, was am Empfangstresen vor sich ging.
Sophia musste nicht lange warten, bis Daniel zu ihnen kam. Er wusste, dass sie und Lydia ihn nur um Hilfe bitten würden, wenn es wirklich notwendig war.
»Sehen Sie sich das an, Herr Doktor, was sie mir angetan hat.« Lorena zeigte Daniel ihre Armbeuge und presste die Lippen zusammen, so als hätte sie schreckliche Schmerzen.
»Kommen Sie bitte mit mir«, forderte Daniel Lorena auf, ihm zu folgen.
»Sie sollte mich zuerst um Entschuldigung bitten für das, was sie mir angetan hat.«
»Ich werde mir das ansehen, kommen Sie bitte mit mir, Frau Zachner«, forderte er sie erneut auf. Sophia und Lydia, die Daniel inzwischen bereits sehr gut kannten, wussten, dass er sich bemühen musste, gegenüber Lorena ruhig zu bleiben.
»Aber sie hat mich verletzt.«
»Manche Menschen reagieren mehr als andere auf eine Blutabnahme.«
»Natürlich, das hätte ich mir ja denken können, dass hier alle zusammenhalten.«
»Wir sollten reden, Frau Zachner, bitte.« Daniel deutete auf die Tür seines Sprechzimmers.
»In Ordnung, reden wir über das, was mir hier passiert ist«, sagte Lorena und folgte Daniel in sein Sprechzimmer.
»Die Show ist vorbei!«, rief Lydia in Richtung Wartezimmer.
Kurz darauf setzte die Unterhaltung im Wartezimmer wieder ein, und Lydia und Sophia waren sicher, dass es dabei um Lorena und ihre Ausbrüche ging.
»Wie geht es jetzt weiter?«, fragte Lorena, als sie auf der Untersuchungsliege in Daniels Sprechzimmer Platz genommen hatte und er eine Salbe auf den Bluterguss in ihrer Armbeuge auftrug.
»Was meinen Sie mit ›weitergehen‹?«, fragte Daniel.
»Ich wurde in Ihrer Praxis verletzt.«
»Nein, ich denke nicht.«
»Das können Sie doch gar nicht wissen.«
»Sie studieren Medizin, und Sie haben bereits praktische Erfahrung im Krankenhaus gesammelt. Müssen wir uns wirklich noch länger darüber unterhalten?« Der Bluterguss war untypisch für eine Verletzung während der Blutabnahme. Es sah eher so aus, als hätte sie sich an etwas gestoßen. Wobei es äußerst selten vorkam, dass sich jemand auf diese Weise in der Armbeuge verletzte. Es sei denn mit Absicht.
»Sie nehmen etwas an, was ich wohl nicht entkräften kann«, gab sich Lorena mit einem resignierenden Achselzucken geschlagen.
»Wollen wir jetzt über Ihren Befund aus dem Labor sprechen?«, fragte Daniel.
»Ja, natürlich«, sagte Lorena.
»Bitte.« Daniel zeigte auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch.
»Wie schwer ist die Vergiftung?«, fragte Lorena, nachdem sie auf dem Stuhl Platz genommen und Daniel sich auf den weißen Bürosessel hinter seinem Schreibtisch gesetzt hatte.
»Es konnten keine Vergiftungsspuren nachgewiesen werden.«
»Wie bitte? Das kann nicht sein. Diese Lydia hat sicher die Proben verwechselt. Meine Blutprobe liegt nun irgendwo unbrauchbar herum.«
»Nein, das tut sie nicht. Unsere Laborproben wurden gestern vor zehn Uhr abgeholt. Danach waren Sie die einzige Patientin an diesem Vormittag, der wir Blut abgenommen haben.«
»Aber mir geht es noch immer schlecht. Mir ist weiterhin übel, und ich habe Kopfschmerzen«, versicherte Lorena Daniel.
»Wenn das so ist, werde ich Sie jetzt ins Krankenhaus überweisen.«
»Bitte tun Sie das. Sollte es mir morgen noch nicht besser gehen, werde ich mich dort untersuchen lassen«, sagte sie, während sie auf die alte Standuhr in dem Ahorngehäuse schaute, die in Daniels Sprechzimmer stand. Ich muss mir mehr Mühe geben, dachte Lorena. Offensichtlich war dieser Arzt, von dem alle so schwärmten, nicht so leicht zu täuschen, wie die anderen Ärzte, die sie bisher aufgesucht hatte.
»Wie geht es Ihrer Schwester? Kümmert sie sich um Sie?«, fragte Daniel und sah Lorena direkt an.
»Ja, das tut sie. Sie würde mich niemals allein lassen, wenn es mir schlecht geht. Zwillingsschwestern sind immer füreinander da.«
»Das ist richtig«, sagte Daniel. Er hatte das Leuchten in Lorenas Augen wahrgenommen, als sie von Mathilda sprach. Kein Zweifel, sie hing an ihrer Schwester, vermutlich mehr, als es den beiden guttat. Olivias Verdacht, dass sie Mathilda nicht loslassen wollte, traf höchstwahrscheinlich zu.
»Gut, dann gehe ich nach Hause und hoffe, dass es mir morgen besser geht. Falls nicht, habe ich ja die Überweisung.«
»Sie bekommen sie am Tresen«, sagte Daniel.
»Mit Lydia spreche ich aber nicht mehr.«
»Die Überweisung liegt sicher bereits auf dem Tresen. Gute Besserung, Frau Zachner«, verabschiedete sich Daniel von Lorena und hielt ihr die Tür des Sprechzimmers auf.
»Auf Wiedersehen, Doktor Norden«, sagte Lorena und machte sich auf den Weg zum Empfangstresen.
Daniel blieb noch einen Augenblick in der Tür des Sprechzimmers stehen und sah zu, wie Lydia Lorena im Vorbeigehen die Überweisung in die Hand drückte, die er an seinem Computer ausgefüllt und die Lydia ausgedruckt hatte. Erst nachdem Lorena gegangen war, schloss er die Tür seines Sprechzimmers und öffnete das Fenster, um ein paar Mal tief durchzuatmen, bevor er den nächsten Patienten aufrief.
*
»Wartest du schon lange?«, fragte Mathilda, die Lorena zur Praxis begleitet hatte und zum Bäcker gegangen war, während Lorena bei Daniel Norden gewesen war.
»Ich bin gerade erst aus dem Haus gekommen. Hast du auch Butterhörnchen gekauft?«, wollte Lorena wissen und schaute in die grüne Stofftasche, die Mathilda über die Schulter gehängt hatte.
»Ich habe Butterhörnchen.«
»Super, dann lass uns nach Hause gehen und frühstücken«, sagte Lorena und hakte sich bei ihrer Schwester unter.
»Was hat dein Blutbild ergeben?«, wollte Mathilda wissen.
»Das Labor konnte angeblich kein Gift nachweisen.«
»Aber das ist doch eine gute Nachricht«, freute sich Mathilda.
»Ich sagte, angeblich. Vielleicht ist dieses Labor einfach nur unfähig. Dass sie dort nichts gefunden haben, bedeutet nicht, dass da nichts ist. Schließlich geht es mir noch immer nicht gut.«
»Aber du siehst gar nicht so krank aus.«
»Denkst du, ich lüge?«, fuhr Lorena Mathilda unwirsch an.
»Ich habe nicht gesagt, dass du lügst. Aber vielleicht steigerst du dich zu sehr in deine Beschwerden hinein. Warum fährst du nicht doch ein paar Tage zu den Eltern? Vielleicht würde dir ein wenig Ruhe schon helfen.«
»Wir fahren doch am Wochenende sowieso zu ihnen, um deine Verlobung zu feiern.«
»Den Besuch bei den Eltern müssen wir um eine Woche verschieben. Ich habe es auch gerade erst erfahren. Hanno hat mich angerufen, dass seine Großtante ihren 80. Geburtstag feiert. Zuerst sollte die Feier nur im kleinen Kreis stattfinden, weil die Tante lange krank war, aber nun will sie doch die ganze Familie um sich haben.«
»Deshalb können wir beide doch zu den Eltern fahren. Wir könnten die Uni eine Woche schwänzen, in unserem alten Zimmer wohnen, lange Spaziergänge machen und uns an unsere Kindheit erinnern.«
»So gern ich das tun würde, aber es geht nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich auch zu diesem Geburtstag eingeladen bin. Ich soll die Familie kennenlernen.«
»Ich bin dir wohl nicht mehr wichtig, sonst würdest du mich in meiner Lage nicht allein lassen. Ich bin krank, Mathilda. Vielleicht sogar schwer krank.«
»Hör zu, Lorena, ich glaube nicht, dass du schwer krank bist, du brauchst nur ein bisschen Ruhe. Ich bin sicher, dir geht es bald wieder gut.«
»Ich denke, du irrst dich«, antwortete Lorena und schaute trotzig zur Seite.
»Beruhige dich, Reni, ich bin für dich da, in guten und in schlechten Zeiten«, versicherte Mathilda ihrer Schwester und legte den Arm um ihre Schultern.
»Es gefällt mir, wenn du mich Reni nennst, das erinnert mich an unsere Kindheit, und das war eine schöne Zeit. Wir waren immer zusammen«, sagte Lorena und wandte sich Mathilda wieder zu.
»Ja, es war eine schöne Zeit, aber jetzt sind wir erwachsen, und wir müssen nicht mehr alles gemeinsam machen. Was aber nicht heißt, dass wir nicht mehr füreinander da sind.«
»In Zukunft wirst du aber zuerst für Hanno da sein.«
»Dass ich mit Hanno zusammen bin, das ändert doch nichts an meiner Liebe zu dir.«
»Wir werden sehen«, entgegnete Lorena leise.
»Es wird alles gut«, versicherte Mathilda ihr. Aber offensichtlich hatte sie Lorena nicht überzeugt. Sie sprach kaum noch ein Wort, bis sie zu Hause waren.
Mathilda und Lorena wohnten in einem Appartement in einem fünfstöckigen Haus am Waldrand. In jeder Etage gab es zwei Wohnungen mit drei Zimmern und einer großen Küche. Die Wohnung der Zwillinge war im fünften Stock, und von ihrem Balkon aus konnten sie die Berge sehen. Mathilda liebte diese Wohnung, die sie und Lorena mit Möbeln im schwedischen Stil eingerichtet hatten.
»Ich lege mich noch mal hin«, sagte Lorena, nachdem sie ihren Mantel an die weiße Garderobe in der Diele gehängt hatte.
»Wolltest du nicht frühstücken?«, wunderte sich Mathilda über den Entschluss ihrer Schwester.
»Ich habe gerade keinen Hunger mehr, ich muss mich erst ein bisschen ausruhen.«
»Du solltest Doreen anrufen und ihr sagen, dass es bei dir keine Hinweise auf eine Vergiftung gibt.«
»Nein, das werde ich nicht tun. Noch steht gar nichts fest. Sie wird nicht darum herumkommen, ihre Räume auf Schadstoffe hin überprüfen zu lassen«, erklärte Lorena und verschwand in ihrem Zimmer.
»Du musst damit aufhören«, flüsterte Mathilda und sah ihrer Schwester besorgt nach. Sie war inzwischen davon überzeugt, dass es Lorena nicht so schlecht ging, wie sie vorgab. Sie befürchtete vielmehr, dass Lorena Krankheiten benutzte, um ihren Willen durchzusetzen. Sie musste ihr klar machen, dass das nicht funktionierte. Ich brauche jetzt erst einmal einen Kaffee, dachte sie und ging in die Küche.
Sie strich über die Arbeitsplatte aus hellem Buchenholz, die sie und Lorena zu den weißen Küchenmöbeln ausgesucht hatten. Was die Wohnungseinrichtung betraf, waren sie und Lorena sich immer einig gewesen. Sie hatten in vielem den gleichen Geschmack, sie waren Zwillinge.
»Hallo, mein Schatz«, meldete sie sich, als ihr Handy läutete und Hannos Foto auf dem Display erschien.
»Hallo, Liebling. Meine Eltern haben uns für morgen Abend zum Käsefondue eingeladen. Ich hoffe, du kannst es einrichten. Du hast sie gestern Abend ganz offensichtlich beeindruckt. Du bist die erste Frau, mit der ich zusammen bin, die sie zu sich einladen.«
»Unser erstes gemeinsames Abendessen war dann wohl ein Erfolg«, stellte Mathilda lächelnd fest. Als sie sich am Abend zuvor mit Hannos Eltern bei Adriano getroffen hatten, war sie zunächst ein wenig befangen gewesen. Hannos Eltern hatten es verstanden, ihr diese Befangenheit schnell zu nehmen. »Ich würde gern kommen«, sagte sie.
»Okay, aber warum habe ich das Gefühl, dass gleich ein ›Aber‹ folgt?«
»Es ist wegen Lorena«, sagte sie mit gedämpfter Stimme. Dass Lorena die Tür ihres Zimmers leise geöffnet hatte, als sie das Telefon läuten hörte, bemerkte sie nicht.
»Hat sich die Vergiftung bestätigt?«
»Nein, glücklicherweise nicht.«
»Das heißt, es geht Lorena besser.«
»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt krank war. Ich denke, sie sollte für eine Weile zu unseren Eltern fahren. Sie braucht ein bisschen Abstand zu mir«, erzählte sie Hanno, worüber sie gerade nachdachte.
»Verzeih, dass ich das sage, aber ich befürchte, das allein wird ihr nicht helfen. Sie sollte sich unbedingt einem Psychologen anvertrauen.«
»Du musst dich nicht für diesen Rat entschuldigen. Ich denke auch, dass es gut für sie wäre, mit einem Psychologen zu sprechen. Ich werde Olivia fragen, wie sie Lorenas Zustand einschätzt.«
»Gute Idee«, stimmte Hanno ihr zu. »Gibst du mir noch Bescheid, ob du heute Abend kommst?«
»Ich habe mich schon entschieden. Um wie viel Uhr soll ich da sein?«
»Um halb acht. Aber was ist mit Lorena?«
»Sie wird schon klarkommen. Sie kann mich ja jederzeit anrufen, falls doch etwas sein sollte. Also dann, bis morgen.«
»Ich sollte dir noch sagen, dass auch noch Freunde meiner Eltern kommen werden. Wir werden dann acht Personen sein. Ich hoffe, das schreckt dich nicht ab.«
»Nein, tut es nicht. Wir sehen uns morgen, Hanno«, sagte Mathilda und beendete das Gespräch.
»Ich brauche also eine Gesprächstherapie, das ist interessant«, flüsterte Lorena und schloss leise die Tür. »Offensichtlich bin ich noch nicht krank genug, um ein wenig Mitgefühl zu bekommen, aber das lässt sich ändern.« Sie warf sich rücklings auf das blaue Polsterbett und starrte auf den weißen Kleiderschrank mit den Glastüren. Irgendetwas wird mir schon einfallen, Mathilda darf mich nicht allein lassen, dachte sie.
*
Durch Lydias Vermittlung kam bereits am Freitag, zwei Tage nach Lorenas Anschuldigungen, ein Sachverständiger zu Doreen und inspizierte die Räume der Villa. So wie Doreen es gesagt hatte, waren bei der Renovierung des Gebäudes nur umweltfreundliche Baustoffe verwandt worden. Es gab keinen Hinweis auf gesundheitsgefährdende Schadstoffe in den Räumen der Villa.
Doreen hatte zuerst Olivia angerufen, damit sie Daniel über das Ergebnis informierte und er seine Patientinnen beruhigen konnte, die glaubten, sich vergiftet zu haben. Danach fuhr sie zu Mathilda und Lorena, um ihnen die Nachricht zu überbringen. Mathilda bat Doreen auf einen Kaffee herein und entschuldigte sich noch einmal für die Unannehmlichkeiten, die Lorena verursacht hatte.
»Schon gut, sie hat unüberlegt gehandelt, weil es ihr nicht gut ging«, nahm Doreen die Entschuldigung an. »Ich hätte ihr gern persönlich gesagt, dass sie sich keine Sorgen wegen einer Vergiftung machen muss.«
»Lorena hat sich hingelegt«, sagte Mathilda. Dass Lorena in diesem Moment in einem weißen langen Nachthemd auf Zehenspitzen durch den Flur ins Bad schlich, behielt Mathildas Zwillingsschwester für sich. Doreen saß mit dem Rücken zur Tür und konnte sie nicht sehen. Lorena wollte das auch auf jeden Fall verhindern. Doreen sollte sie in diesem Moment nicht sehen.
»Dann geht es ihr immer noch nicht besser?«, fragte Doreen.
»Ich denke, sie ist nur ein wenig erschöpft. Sie macht sich zu viele Gedanken. Ich bin sicher, wenn sie mal ein paar Tage die Stadt verlässt und auf unserem Hof im Bayerischen Wald eine Weile entspannt, wird sich das schnell ändern.«
»Ein Kurzurlaub ist Balsam für die Seele«, stimmte Doreen ihr zu.
»Was ist los?«, fragte Mathilda, als Doreen sich plötzlich umdrehte und in den Flur schaute.
»Ich dachte, ich hätte gerade etwas gehört. Ist Lorena vielleicht doch wach?«
»Nein, ich denke, sie schläft noch«, sagte Mathilda. Tatsächlich war Lorena aus dem Bad wieder in ihr Zimmer gehuscht und hatte die Tür nicht leise genug geschlossen. Aber Doreen hatte sie offenbar nicht bemerkt.
»Ich muss dann auch wieder los. Ich werde einige Kursteilnehmerinnen anrufen, um ihnen persönlich mitzuteilen, dass ihnen in der Villa keine Gefahr droht«, sagte Doreen. Sie fuhr mit der Hand durch ihr kurzes blondes Haar, um es ein wenig aufzulockern, bevor sie die rote Mütze aufsetzte, die sie auf den Küchenstuhl neben sich gelegt hatte. »Deines?«, fragte sie, als sie beim Hinausgehen das weinrote schmalgeschnittene Kleid mit den langen Ärmeln an der Garderobe hängen sah.
»Hannos Eltern haben mich zum Käsefondue eingeladen. Es werden auch noch andere Leute da sein. Ich denke, mit diesem Kleid kann ich nichts falsch machen.«
»Auf gar keinen Fall«, pflichtete ihr Doreen lächelnd bei. »Grüße Lorena von mir. Richte ihr aus, dass ich ihr nicht böse bin. Schmerzen bringen uns einfach aus der Fassung«, sagte sie, schlüpfte in ihren schwarzen Wollmantel und verabschiedete sich von Mathilda.
»Was wollte sie?«, fragte Lorena, die aus ihrem Zimmer kam, nachdem sie die Haustür gehört hatte.
»Sie hat die Raumluft in der Villa von einem Sachverständigen überprüfen lassen. Dort gibt es kein Gift. Du kannst dich also nicht vergiftet haben.«
»Sie finden nur die Gifte, nach denen sie suchen. Ein Gift, das sie nicht kennen, werden sie auch nicht finden, weil ihre Geräte nicht darauf ausgerichtet sind. Sie schlagen nur bei den bekannten Giften an. Das ist doch auch der Grund, warum viele Giftmorde als natürlicher Tod durchgehen. Auch in der Rechtsmedizin finden sie nur das Gift, nach dem sie suchen.«
»In der Villa gibt es ganz sicher keine unbekannten Gifte.«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil außer dir niemand unter Symptomen leidet.«
»Du klingst genervt, ich werde dich nicht länger mit meinen Problemen belästigen«, sagte Lorena, setzte eine beleidigte Miene auf und ging in ihr Zimmer zurück.
Mathilda wollte das Gespräch nicht so enden lassen. Wenn Lorena erst einmal die Beleidigte spielte, dann konnte sie das tagelang durchhalten. Für Mathilda aber war dieser Zustand schier unerträglich. Lorenas düstere Stimmung verbreitete sich dann wie eine dunkle Wolke in der ganzen Wohnung, und sie hatte das Gefühl, nirgendwo mehr richtig durchatmen zu können. »Lorena!«, rief sie und klopfte an die Tür. Als keine Antwort kam, schob sie die Tür vorsichtig auf.
»Was ist?«, fuhr Lorena sie missmutig an. Sie lag seitlich auf ihrem Bett und hielt ihr Kissen umfasst.
»Ich fühle mich nicht von dir belästigt. Es ging doch gerade nicht darum, dass ich bezweifle, dass es dir schlecht geht, sondern nur darum, dass die Raumluft in der Villa nicht dafür verantwortlich ist. Sollte das nicht so bei dir angekommen sein, dann tut es mir leid«, entschuldigte sich Mathilda bei ihrer Schwester.
»Ist gut, danke, dass du noch mal nach mir geschaut hast. Ich denke, ich werde noch ein bisschen schlafen. Wann gehst du heute zu Hanno?«
»Ich will so um sieben los.«
»Sollte ich bis dahin noch schlafen, wünsche ich dir schon mal viel Spaß. Grüße Hanno von mir.«
»Danke, das werde ich ausrichten. Es ist also für dich in Ordnung, wenn ich zu diesem Essen gehe?«
»Aber ja, geh nur«, sagte Lorena. »Lass mich nur allein«, murmelte sie, nachdem Mathilda das Zimmer verlassen hatte. Auf einmal erinnerte sie sich wieder daran, dass Mathilda sie auch hin und wieder allein gelassen hatte, als sie noch Kinder waren.
Mathilda hatte schon damals mehr Freunde gehabt, als sie. Ständig war sie irgendwo eingeladen gewesen, und nicht immer galt die Einladung auch für sie. Manchmal blieb Mathilda dann auch zu Hause, meistens aber nicht. Als sie älter wurden und sich mit Jungs trafen, war es wieder Mathilda, die mehr Verabredungen hatte. Ihre Abmachung, gemeinsam mit Mathilda Medizin zu studieren und irgendwann zwei Ärzte zu heiraten, die möglichst auch Zwillinge waren, erschien ihr damals als die beste Versicherung, dass Mathilda und sie immer zusammen sein würden. Aber nun hatte Mathilda sich für diesen Apotheker entschieden, der es offensichtlich eilig hatte, sie ganz für sich allein zu gewinnen. »So leicht werde ich es dir nicht machen, Apotheker«, flüsterte Lorena ergrimmt, und in diesem Moment hatte sie auch schon eine Idee, wie sie Mathilda dazu bringen konnte, ihr wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.
Die Vergiftungssymptome hatten bisher nicht dazu beigetragen, dass Mathilda ihre Treffen mit Hanno einstellte, um sich mehr um sie zu kümmern. Das, was sie sich gerade ausgedacht hatte, barg zwar ein gewisses Risiko, weil sie sich dabei ernsthafte Verletzungen zuziehen könnte, andererseits wäre es aber auch äußerst spektakulär. Wenn sie diese Idee in die Tat umsetzte, würde Mathilda erst einmal nicht mehr von ihrer Seite weichen.
*
»Hallo, Mathilda, wie geht es dir?«, fragte Olivia, als sie Mathilda am Samstagmorgen in der Bäckerei Listner in der Fußgängerzone traf.
»Mir geht es gut. Ich war gestern bei Hannos Eltern zum Käsefondue. Wir hatten einen echt lustigen Abend. Hannos Eltern machen es mir ganz leicht, in ihrer Familie einen Platz zu finden«, vertraute sie Olivia im Flüsterton an. Sie wollte nicht noch mehr Aufmerksamkeit erregen, als es ohnehin schon der Fall war. Der Verkaufsraum der Bäckerei war nicht sehr groß, und die Kunden und Kundinnen standen wie an jedem Samstagmorgen eng beieinander.
Die Bäckerei mit ihren weißblauen Fliesen an den Wänden und auf dem Boden, den Regalen und dem Verkaufstresen aus dunklem Holz war ein Treffpunkt für die Nachbarschaft. Sie war schon seit über 100 Jahren im Besitz der Familie, und noch immer war das Flair der längst vergangenen Zeit zu spüren. Der Duft nach frisch gebackenem Brot, Apfelstückchen und Zimtschnecken ließ so manchen mehr einkaufen, als er ursprünglich geplant hatte. Eleonore Listner, die Frau des Bäckers, eine rundliche Mittfünfzigerin, stand wie immer gut gelaunt hinter dem Tresen und hatte für jeden Kunden ein paar freundliche Worte übrig.
»Wie geht es Lorena?«, fragte Olivia leise, als die anderen Kunden auf Eleonore schauten.
Sie hatte ein Blech mit noch warmem Himbeerkuchen aus der Backstube geholt. Der Duft nach Hefe und süßen Früchten, der den Raum erfüllte, ließ die Kunden unwillkürlich ein Stück näher an den Tresen heranrücken.
»Lorena schmollt noch ein bisschen, aber ich denke, es geht ihr schon besser. Doreen war gestern bei uns, um uns zu sagen, dass kein Gift in der Villa gefunden wurde. Ich bin sicher, dass Lorena diese Nachricht beruhigt hat, auch wenn sie erst einmal so getan hat, als sei sie von dem Ergebnis der Raummessung nicht ganz überzeugt.«
»Geht es ihr denn heute besser?«
»Davon gehe ich aus. Sie will nachher in den Supermarkt einkaufen gehen. Ich habe ihr gesagt, dass ich mitkomme, aber sie meinte, sie hätte mich in der letzten Zeit ziemlich viel gefordert, da könnte sie mir wenigstens das Einkaufen abnehmen. Ich würde sagen, das klingt sehr danach, dass es ihr wieder gut geht.«
»Ja, das denke ich auch«, stimmte Olivia ihr zu, obwohl sie an diesen plötzlichen Sinneswandel von Lorena noch nicht wirklich glaubte. Aber das behielt sie für sich. Möglicherweise irrte sie sich, und ihre Einschätzung hätte Mathilda unnötig verunsichert.
»Geh, die Mathilda Zachner, wie geht es denn der Schwester?«, fragte Gusti Meier, die in einem hellgrauen Lodenmantel mit einem grünen Hütchen auf dem Kopf in die Bäckerei kam.
»Danke, Frau Meier, es geht ihr besser«, antwortete Mathilda höflich.
»Das mit der Vergiftung hat sich ja glücklicherweise als Irrtum herausgestellt. Ihr Unwohlsein muss wohl eine andere Ursache gehabt haben.«
»Vielleicht war es nur ein grippaler Infekt«, sagte Frau Ludgenbauer, die die Stoffabteilung im Kaufhaus leitete. So wie fast alle Kundinnen, die gerade in der Bäckerei waren, ging auch Frau Ludgenbauer in einen der Yogakurse in der Villa.
»Ja, das wäre schon möglich«, stimmte Mathilda ihr zu.
»Auf jeden Fall können wir jetzt wieder zum Yoga«, sagte Gusti, was die anderen, die auch zum Yoga gingen, mit zustimmendem Gemurmel zur Kenntnis nahmen.
»Guten Morgen, Frau Doktor Norden-Mai. Ein Roggenbrot, sechs Kürbiskernsemmeln und drei Brezen?«, fragte Eleonore, als Olivia gleich darauf an der Reihe war.
»Und drei Zimtschnecken«, sagte Olivia. Sie wunderte sich inzwischen nicht mehr darüber, dass Eleonore von all ihren Stammkunden wusste, was sie üblicherweise am Samstagmorgen bei ihr einkauften. Die Listners hatten eben noch eine persönliche Beziehung zu ihren Kunden, so wie es sonst nur in einer kleinen Stadt oder einem Dorf üblich war. »Grüße Lorena von mir«, sagte Olivia, als sie gleich darauf die Bäckerei verließ und Mathilda an der Reihe war.
»Mei, Ludgenbauerin, jetzt schau dir das an«, schimpfte Gusti, als Frau Ludgenbauer sich von Eleonore ein Stück von dem neuen Himbeerkuchen reichen ließ und aus Versehen Gustis Mantel damit streifte.
Gustis Lieblingsmantel, das wird Frau Ludgenbauer eine Spezialreinigung kosten, dachte Olivia schmunzelnd, die sich noch einmal umdrehte, bevor die Tür hinter ihr zufiel.
Als sie ein paar Minuten später nach Hause kam, hatten Daniel und Ophelia schon den Tisch gedeckt, Kaffee und Tee gekocht. Für das Frühstück am Samstagmorgen nahm sich die Familie immer viel Zeit. Manchmal saßen sie bis zum späten Vormittag zusammen und sprachen über alles, was ihnen gerade durch den Kopf ging. Ortrud schien dieses Ritual ebenso zu mögen, sie hockte sich auch an diesem Morgen auf den Stuhl neben Ophelia, hob ab und zu ihren Kopf und richtete ihn schnuppernd in Richtung Wurstplatte. Wie an jedem Samstag fiel auch dieses Mal ein Stück Wurst für sie ab, was sie genüsslich auf ihrem Stuhl verspeiste.
»Lorena scheint es wieder gut zu gehen«, erzählte Olivia Daniel und Ophelia von ihrem Gespräch mit Mathilda in der Bäckerei.
»Lorena sollte in Zukunft besser zweimal nachdenken, bevor sie einen Verdacht ausspricht, den sie nicht beweisen kann. Es sei denn, sie hat irgendein psychisches Problem, dann wird sie es wohl bei nächster Gelegenheit wieder tun«, sagte Ophelia.
»Ich hoffe, dass es ausgestanden ist.«
»Hoffen bedeutet, dass du einen weiteren Vorfall nicht ausschließt, richtig, Mama?«
»Dass sie plötzlich so einsichtig ist, wundert mich schon ein bisschen«, gab Olivia zu. »Was ist?«, fragte sie, als Ophelia auf ihr Handy schaute, das auf dem Tisch lag.
»Eine Nachricht von Marius. Er fragt, ob ich mit ihm zum Tennis gehen will. Seine Mutter würde uns hinfahren. Wäre es in Ordnung für euch, wenn ich heute mal nicht so lange mit euch frühstücke?«
»Aber ja, geh nur zum Tennis«, sagte Olivia.
»Natürlich ist das in Ordnung«, schloss sich Daniel ihr an.
Eine Viertelstunde später hielt der weiße Kleinwagen mit Cordula Meier, Gusti Meiers Schwiegertochter, vor dem Haus der Nordens an. Ophelia hatte inzwischen ihre Tennistasche gepackt, verabschiedete sich mit einem Kuss auf die Wange von ihrer Mutter und Daniel und eilte davon.
»Nicht traurig sein, Ortrud, sie kommt ja wieder«, sagte Olivia und kraulte den Kopf der rotgetigerten Katze, die Ophelia nachschaute.
»Sofort ist es um einiges stiller«, stellte Daniel fest, nachdem Ophelia gegangen war.
»Sehnst du dich nach mehr Ruhe, mein Schatz?«, fragte Olivia besorgt.
»Nein, ganz und gar nicht. Ich bin froh, dass es bei uns so lebhaft zugeht. Ich möchte es gar nicht anders haben«, sagte er und betrachtete Olivia mit einem zärtlichen Blick.
*
Bevor Cordula Meier die Kinder zur Tennishalle fuhr, hielt sie auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt an, um den grünen Lodenmantel ihrer Schwiegermutter in der Reinigung abzugeben. Sie hatte am Morgen beim Bäcker einen kleinen Zusammenstoß mit einem Himbeerkuchen gehabt, hatte Gusti ihr erzählt. Da der Lodenmantel ihr Lieblingsmantel war, sollte er sofort in die Reinigung, damit sie ihn bald wieder tragen könnte. Marius und Ophelia blieben im Auto, während Cordula zur Reinigung ging, die zum Supermarkt gehörte.
Marius, der auf dem Beifahrersitz saß, hatte sich zu Ophelia umgedreht, die auf der Rückbank Platz genommen hatte. »Sieh mal, das ist doch diese Gift-Lorena«, machte er Ophelia auf die Frau in der schwarzen Winterjacke und der schwarzen Jeans aufmerksam, die mit zwei Einkaufstüten aus dem Supermarkt kam.
»Ja, das ist sie«, stimmte Ophelia ihm zu, als auch sie aus dem Rückfenster auf den Parkplatz schaute.
»Oops, sie hat uns gesehen«, flüsterte Marius, als Lorena in ihre Richtung blickte und winkte.
»Ist doch egal, es ist nicht verboten, sich auf dem Supermarktplatz umzuschauen«, sagte Ophelia und winkte freundlich zurück.
»Was ist nicht verboten?«, fragte Cordula, eine kleine schlanke Frau mit kurzen hellen Locken, die in diesem Moment wieder ins Auto stieg und sich hinter das Steuer setzte.
»Aus dem Fenster zu schauen, ist nicht verboten«, antwortete Marius seiner Mutter.
»Ich weiß ja nicht, wen ihr beobachtet habt, aber ich stimme euch zu, aus dem Fenster zu schauen, ist nicht verboten«, entgegnete Cordula lachend, während die beiden Kinder und sie sich anschnallten.
Nachdem sie in den Rückspiegel geblickt hatte, rollte sie aus der Parklücke. Als sie noch ein Stück zurücksetzen wollte, um den Wagen in Fahrtrichtung zu wenden, schlug plötzlich etwas gegen ihren Kofferraum. Sofort trat sie auf die Bremse und schaute in den Rückspiegel, konnte aber nicht erkennen, was diesen Schlag ausgelöst hatte.
»Ich sehe nach«, sagte Ophelia. Sie schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Das gibt es doch nicht, dachte sie erschrocken, als sie um den Wagen herumging und Lorena zwischen dem Obst und Gemüse, das aus ihren Einkaufstaschen gefallen war, hinter dem Auto liegen sah. »Was ist mit Ihnen?«, fragte sie besorgt und ging neben Lorena in die Hocke.
»Ihr habt mich gerade angefahren, das siehst du doch. Ich glaube, ich kann nicht mehr aufstehen«, stöhnte Lorena.
»Wo genau haben Sie Schmerzen?«, fragte Ophelia.
»Überall.«
»Können Sie sich bewegen?«
»Keine Ahnung, und ich werde es auch nicht ausprobieren. Damit könnte ich eine dauerhafte Lähmung riskieren. Das müsstest du eigentlich wissen, deine Mutter ist mit einem Arzt verheiratet«, fuhr sie Ophelia an.
»Das Mädchen kann nichts dafür. Es war meine Schuld«, sagte Cordula. Sie und Marius waren inzwischen auch aus dem Auto gestiegen.
»Nicht aufregen, Mama, du konntest nichts dafür«, versuchte Marius seine Mutter zu beruhigen, die plötzlich zu zittern begann.
»Ich denke schon, dass sie etwas dafür kann«, widersprach ihm Lorena.
»Ich habe den Notruf gewählt. Polizei und Krankenwagen werden gleich da sein«, sagte ein kleiner hagerer Mann im grauen Mantel, der in der einen Hand sein Telefon hielt, während er mit der anderen die Leine fest umklammerte, an der ein kläffender weißer Zwergspitz zerrte.
»Danke, Herr Brettschneider«, bedankte sich Cordula bei dem pensionierten Steuerbeamten, der in ihrer Nachbarschaft wohnte.
»Vielleicht vorher besser aufpassen, dann müssen Sie sich für so etwas nicht bedanken«, entgegnete Herr Brettschneider in zurechtweisendem Ton, während er Cordula über den goldfarbenen Rand seiner Brille musterte.
Aus der Menschentraube, die sich inzwischen um den Unfallort gruppiert hatte, war zustimmendes Gemurmel zu hören.
»Sie hat in den Rückspiegel geschaut, aber da war niemand«, verteidigte Marius seine Mutter.
»Du bist ein Kind, du weißt gar nichts«, fuhr Herr Brettschneider den großen schlaksigen Jungen an.
»Nun mal ganz ruhig, Erich, hoffen wir, dass es gut ausgegangen ist und Frau Zachner keine schwerwiegenden Verletzungen davonträgt«, versuchte ihn eine ältere Frau im hellen Trachtenkostüm zu beschwichtigen.
»Man wird sich doch mal fragen dürfen, ob wirklich jeder einen Führerschein haben sollte«, murrte Herr Brettschneider.
»Was ist?«, fragte Ophelia, als Lorena plötzlich laut aufstöhnte und die Augen verdrehte, gerade in dem Moment, als die Sirene des herannahenden Rettungswagens zu hören war.
»Ich weiß es nicht, Kind«, entgegnete sie mit schwacher Stimme und schloss die Augen.
»Das sieht nicht gut aus«, flüsterte Cordula, die sich an ihr Auto gelehnt hatte, weil sie das Zittern ihrer Knie nicht mehr kontrollieren konnte.
Gleich darauf bog ein Auto der Verkehrspolizei, gefolgt von dem Rettungswagen, auf den Parkplatz ein. Während sich die beiden Sanitäter um Lorena kümmerten und sie behutsam auf eine Trage hoben, befragte eine der beiden Polizeibeamtinnen, die den Unfall aufnehmen wollten, Cordula.
Die zweite Beamtin hörte sich nach Zeugen um, die den Unfall beobachtet hatten.
»Ich kann nur immer wieder sagen, ich habe mich im Rückspiegel vergewissert, dass der Weg frei war. Ich weiß auch nicht, warum ich Frau Zachner nicht gesehen habe. Ich wäre doch nicht losgefahren, wenn ich sie gesehen hätte«, versicherte Cordula der jungen Polizistin.
»Vielleicht ist sie plötzlich zwischen zwei parkenden Autos hervorgekommen, und meine Mutter konnte sie deshalb nicht sehen«, versuchte Marius seiner Mutter zu helfen.
»Wer am Steuer eines Autos sitzt, muss den Überblick behalten, auch auf einem Parkplatz wie diesem. Wir wollen uns alle nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn es ein Kind gewesen wäre, das deine Mutter übersehen und vielleicht überrollt hätte«, entgegnete die Polizistin und wandte sich wieder Cordula zu. »Haben Sie etwas getrunken?«, fragte sie.
»Nein, natürlich nicht«, wies Cordula diesen Verdacht sofort zurück.
»Gut, überprüfen muss ich es aber trotzdem«, erklärte ihr die Polizistin.
Marius und Ophelia beschlossen, sich erst einmal zurückzuhalten und einfach nur zuzuhören, was die umstehenden Zeugen der zweiten Polizistin erzählten.
»Ich habe nur einen Schatten gesehen.«
»Sie stand schon da, als das Auto aus der Parklücke kam.«
»Sie wurde von dem Auto umgefahren.«
»Sie lag schon auf dem Boden.«
»Jemand hat sie wohl auf den Boden gestoßen und ist dann weggelaufen.«
Die Aussagen klangen so unterschiedlich, dass die beiden sich fragten, ob sie nicht irgendwelchen Fantasiegebilden entsprungen waren.
»Vielleicht hat sie nur ein paar blaue Flecke«, tröstete Ophelia Marius, als der Rettungswagen den Parkplatz verließ.
»Falls es so wäre, würden sie doch nicht die Sirene und das Blaulicht einschalten«, sagte er leise, als sie das Martinshorn hörten, nachdem der Rettungswagen auf die Straße eingebogen war.
»Vielleicht sind sie einfach nur vorsichtig. Lorena studiert Medizin. Sie weiß vermutlich, worüber sie klagen muss, um ihren Transport ins Krankenhaus zu beschleunigen.«
»Du solltest auch Psychologin werden«, sagte Marius.
»Wie kommst du jetzt darauf?«, fragte Ophelia und strich sich eine Strähne ihres langen roten Haares aus der Stirn.
»Weil du den Überblick behältst und die richtigen Worte findest, mich zu beruhigen.«
»Meine Mutter hat mir beigebracht, dass Ruhe zu bewahren das Wichtigste in einer ungewöhnlichen Situation ist.«
»Wer durchdreht, trifft falsche Entscheidungen.«
»Richtig, und ich denke, hier besteht absolut kein Grund, um durchzudrehen«, sagte Ophelia und klopfte dem Jungen aufmunternd auf die Schulter.
Kurz darauf kam Cordula wieder zu ihnen. Der Alkoholtest war natürlich negativ, wie sie ihnen erzählte, und ihre Befragung war erst einmal abgeschlossen. Sie würde dann wieder von der Polizei hören, sobald man dort Lorenas Aussage und die der Zeugen ausgewertet hatte.
»Ich bin gleich wieder da«, sagte Marius und lief zu dem Polizeiauto, das gerade losfahren wollte.
»Was hast du ihnen gesagt?«, fragte Cordula, als er zu ihr und Ophelia zurückkam, nachdem er kurz mit den beiden Polizistinnen gesprochen hatte.
»Ich habe sie gefragt, ob sie sich auch die Aufzeichnungen der Überwachungskameras ansehen werden. Ich bin sicher, der Supermarkt lässt den Parkplatz überwachen.«
»Gut gemacht«, sagte Ophelia mit sichtlichem Stolz auf ihren Schulfreund.
»Danke, mein Schatz«, bedankte sich auch Cordula bei ihrem Sohn. »Ich fahre euch jetzt zum Tennis«, sagte sie.
»Eigentlich habe ich keine Lust mehr auf Tennis«, erklärte Marius.
»Ich möchte auch nicht mehr zum Tennis«, schloss sich Ophelia ihm an.
»Gut, dann fahre ich dich wieder nach Hause«, sagte Cordula und bemühte sich, sich nicht anmerken zu lassen, wie aufgeregt sie noch immer war.
»Kommen Sie doch mit rein, Frau Meier. Ich sehe, dass es Ihnen nicht gut geht. Sie sollten sich von Daniel untersuchen lassen«, schlug Ophelia vor, weil sie sah, dass Cordula noch immer zitterte.
»Ich halte das für eine gute Idee, Mama«, stimmte Marius ihr zu.
»Aber heute ist doch keine Sprechstunde. Ich möchte ungern stören«, sagte Cordula.
»Sie stören nicht«, versicherte ihr Ophelia, und schließlich willigte Cordula ein, mit ihr und Marius ins Haus zu gehen.
*
»Könntest du nicht im Krankenhaus anrufen, wie es Lorena geht?«, wollte Ophelia von Daniel wissen, nachdem er Cordula untersucht und sie ihm und Olivia erzählt hatte, was auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt passiert war.
»Dazu müsste ich erst herausfinden, in welches Krankenhaus sie gebracht wurde.«
»Ich versuche, Mathilda zu erreichen. Ich gehe davon aus, dass sie inzwischen über diesen Unfall informiert wurde«, sagte Olivia.
Sie ging ins Wohnzimmer, nahm das Telefon aus der Ladestation, die auf dem Fensterbrett stand, und rief Mathilda an.
»Ich könnte Ihnen einen Kaffee machen, Frau Meier«, schlug Ophelia Marius’ Mutter vor.
»Das ist lieb von dir. Das bringt meinen Kreislauf sicher wieder in Schwung«, erklärte sich Cordula sofort einverstanden. »Danke, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben«, wandte sie sich Daniel zu, der ihr den Blutdruck gemessen und sie abgehört hatte.
»Das habe ich gern getan, Frau Meier«, entgegnete er lächelnd. Frau Meier hatte mit Sicherheit einen kleinen Schock erlitten, und ihr Blutdruck war erst einmal in den Keller gesackt. Inzwischen schien sie sich aber beruhigt zu haben, und der Kaffee würde ihr bestimmt guttun.
»Ich habe Mathilda im Auto erwischt. Sie ist gerade auf dem Weg in die Uniklinik«, erfuhren sie gleich darauf von Olivia, die wieder in die Küche kam.
»Dann frage ich mich mal durch«, sagte Daniel und ging in sein Arbeitszimmer.
»Hoffentlich nimmt das kein böses Ende. Falls Frau Zachner einen bleibenden Schaden erlitten hat, werde ich mir das nie verzeihen«, gestand Cordula Olivia, als sie mit ihr und den Kindern am Esstisch in der Wohnküche der Nordens saß und von ihrem Kaffee nippte.
»Wenn überhaupt, kannst du ihr nur einen leichten Schubser verpasst haben. Sie kann sich gar nicht so schlimm verletzt haben«, erklärte Marius, und Ophelia stimmte ihm sofort zu.
»Davon gehe ich auch aus«, schloss sich Olivia den beiden an und legte ihre Hand auf Cordulas Arm, um sie zu beruhigen.
Als Daniel ein paar Minuten später wieder aus seinem Arbeitszimmer kam, hatte er gute Nachrichten. Lorena wurde zwar noch untersucht, aber bisher hatten sie abgesehen von ein paar Schrammen an ihren Händen keine Verletzungen feststellen können.
»Warum hat sie dann so gestöhnt?«, fragte Marius.
»Vielleicht übertreibt sie gern«, sagte Ophelia.
»Oder sie hat doch eine ernsthafte Verletzung«, gab Cordula zu bedenken.
»Danach sieht es aber gerade nicht aus«, versicherte ihr Daniel. »Sagt mal, was haltet ihr beide von einem Besuch auf der Gokart-Bahn als Ausgleich für euer Tennismatch?«, fragte er Ophelia und Marius. Auch wenn sie sich tapfer gaben, hatte sie dieser Vorfall mitgenommen, das sah er ihnen an.
»Super, ich bin dabei«, jubelte Ophelia.
»Ich auch, ist doch klar«, sagte Marius, und die Begeisterung über diesen Vorschlag stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Das ist doch in Ordnung für Sie, Frau Meier?«, wandte sich Daniel an Cordula.
»Aber ja, natürlich«, erklärte sie sich mit Daniels Vorschlag einverstanden.
Sie wusste ihren Sohn bei den Nordens immer gut aufgehoben.
»Kommst du mit, Mama?«, fragte Ophelia ihre Mutter, nachdem Cordula gegangen war und sie und Marius schon ungeduldig darauf warteten, dass es endlich losging.
»Das hoffe ich doch, dass sie mitkommt«, sagte Daniel und betrachtete Olivia mit einem liebevollen Blick. »Mein Plan war es, dass deine Mutter und ich uns in das Café mit dem Fenster zur Bahn setzen und euch zusehen. Und wenn ihr Lust dazu habt, könnten wir danach noch ins Kino gehen.«
»Und als Abschluss des Tages probieren wir das neue thailändische Restaurant in der Stadt aus«, schlug Olivia vor, die sich auf diesen Nachmittag mit Daniel und den beiden Kindern freute.
»Dann rufe ich noch mal meine Mutter an, dass es später wird«, sagte Marius und zückte sein Handy.
»Danke, dass ihr uns auf andere Gedanken bringen wollt. Ihr seid einfach die besten«, sagte Ophelia und umarmte zuerst Olivia und danach Daniel.
*
Mathilda war erleichtert, als ihr die Ärzte im Krankenhaus, die Lorena untersucht hatten, versicherten, dass ihre Schwester bis auf leichte Schürfwunden an den Händen keinerlei Verletzungen hatte und auch ansonsten vollkommen gesund war. Lorena war zwar noch verunsichert und wäre gern zur Beobachtung im Krankenhaus geblieben, als sie ihr aber vorschlug, dass sie ihr in den nächsten Tagen nicht von der Seite weichen würde und auf ihre Teilnahme an der Geburtstagsfeier von Hannos Tante verzichtete, erklärte Lorena sich einverstanden, mit ihr nach Hause zu gehen.
Der Samstagabend verlief auch so, wie Lorena es sich vorgestellt hatte. Mathilda kochte für sie beide, danach machten sie es sich auf dem Sofa im Wohnzimmer gemütlich und sahen sich ihre Lieblingsfilme an. Als Hanno anrief und nach ihr fragte, weil er von dem Unfall vor dem Supermarkt gehört hatte, erklärte ihm Mathilda, dass ihre Schwester nicht ernsthaft verletzt war, dass sie sich aber jetzt um sie kümmern müsse und keine Zeit für ihn habe. Lorena lächelte zufrieden in sich hinein, als Mathilda das Gespräch schnell beendete. Das war genau das, was sie hatte erreichen wollen, dass ihre Schwester für sie da war und nicht für diesen Mann, der nicht zu ihnen passte.
Am Sonntag aber wurde Lorena klar, dass sie sich geirrt hatte. Es hatte sich gar nichts verändert. Mathilda hatte ganz und gar nicht die Absicht, sich von Hanno zu trennen. Er stand am Sonntagmorgen mit einer Tüte voller knuspriger Semmeln überraschend vor der Tür, um mit Mathilda und ihr zu frühstücken. Da sie bereits aufgestanden war und am Tisch in der Küche saß, konnte sie nicht gleich verschwinden, so wie sie es am liebsten getan hätte. Sie blieb also erst einmal da, aß ein Brötchen mit Käse, trank einen Kaffee und gab sich freundlich. Doch dann passierte etwas, was ihr den Schreck in die Glieder fahren ließ.
»Das ist unsere Wohnung«, sagte Hanno. Er zog einen Hochglanzprospekt aus seiner Jackettasche und drückte ihn Mathilda in die Hand.
»Die ist wundervoll. Wann kann ich sie besichtigen?«, fragte Mathilda, nachdem sie sich den Grundriss der Vierzimmerwohnung angesehen hatte, die im obersten Stockwerk eines Dreifamilienhauses mit Blick auf die Isar lag.
»Wann immer du willst. Ich kann den Makler jederzeit anrufen.«
»Wann wollt ihr denn dort einziehen?«, fragte Lorena.
»Im nächsten Monat ist das Haus bezugsfertig«, sagte Hanno.
»Dann könnt ihr schon mit dem Packen anfangen«, entgegnete Lorena lächelnd. Es kostete sie große Mühe, den beiden nicht zu zeigen, wie geschockt sie darüber war, dass Mathilda noch immer an ihrer Beziehung zu Hanno festhielt und es offensichtlich kaum abwarten konnte, das gemeinsame Leben mit ihrer Schwester aufzugeben.
»Zuerst suchen wir eine Mitbewohnerin oder einen Mitbewohner für dich. Das wolltest du doch tun, falls ich ausziehe«, sagte Mathilda.
»Vielleicht wohne ich auch erst einmal allein. Falls es mir zu einsam wird, mache ich einen Aushang in der Uni, da finden sich bestimmt einige Interessenten.«
»Du machst das, was du für richtig hältst«, sagte Mathilda und streichelte ihrer Schwester liebevoll über den Arm.
»Ich komme schon zurecht, keine Sorge«, antwortete Lorena lächelnd. »Seid mir nicht böse, ich will mich noch ein bisschen hinlegen. Ich habe den Schock von gestern noch nicht ganz überwunden. Ach ja, und wenn du willst, du kannst ruhig mit Hanno zu diesem Geburtstag gehen. Ich kann mich allein versorgen«, sagte sie.
»Bist du wirklich sicher, dass ich dich allein lassen kann?«
»Aber ja. Falls etwas sein sollte, melde ich mich.«
»Also gut, dann komme ich mit dir, Schatz«, sagte Mathilda und küsste Hanno liebevoll auf die Wange.
»Wir sehen uns«, verabschiedete sich Lorena von den beiden und zog sich in ihr Zimmer zurück. »Hanno, immer nur Hanno«, flüsterte sie, nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Dass sie sich hinter das Auto von Cordula Meier gelegt hatte, um einen Unfall mit einem schweren Trauma vorzutäuschen, hatte nicht funktioniert. Die Ärzte hatten sie einfach zu gründlich untersucht. Es war eine dumme Idee gewesen. Sie brauchte etwas Überzeugenderes, etwas, was die anderen nicht so schnell durchschauen konnten. Als ihr Blick auf den Arztkoffer fiel, den sie genau wie Mathilda zum Studienanfang von den Eltern geschenkt bekommen hatte, war ihr auf einmal klar, was sie tun musste, um Mathilda davon abzuhalten, sie allein zu lassen. In dem Koffer bewahrte sie neben Medikamenten auch Einmalspritzen auf. Alles, was sie zur Verwirklichung ihres Planes brauchte, war ein Band, um ihren Arm abzubinden, eine Spritze und diese großen Kapseln, die sie hin und wieder gegen Sodbrennen schluckte.
Dieses Mal würde ihr Plan gelingen, davon war sie überzeugt.
*
»So ein Wochenende können wir gern bald wiederholen«, sagte Ophelia, als sie am Montagmorgen mit ihrer Mutter und Daniel frühstückte. »Marius ist bestimmt wieder dabei. Ich meine, was das Samstagsprogramm betrifft. Gokart-Bahn, Kino und thailändisch essen gehen. Wir hatten echt viel Spaß«, schwärmte sie von ihren Unternehmungen am Samstag. »Der Sonntag mit Brettspielen bei Oma ist vermutlich eher nichts für ihn«, fügte sie hinzu.
»Marius? Ist Leander jetzt abgemeldet?«, wunderte sich Valentina, die sich wie jeden Morgen mit einer Tasse Kaffee zu ihnen an den Tisch setzte.
»Leander ist mein Freund, Marius ist ein Freund«, erklärte ihr Ophelia.
»Verstehe«, antwortete Valentina lächelnd.
»Aber ein Freund, mit dem ich schon einiges unternehmen kann, das gebe ich zu. Ich muss los. Wir schreiben in der ersten Stunde eine Mathearbeit«, sagte Ophelia und machte sich auf den Weg zur Schule.
Ein paar Minuten später verließ Olivia das Haus, um sich mit ihrem ersten Patienten an diesem Morgen zu treffen, kurz danach ging auch Daniel in seine Praxis. Offensichtlich gab es dort schon eine unangenehme Begegnung, dachte er, als er sich dem Tresen näherte. Sophia und Lydia wirkten sichtlich genervt. Als er ins Wartezimmer schaute, konnte er sich denken, warum das so war. Lorena war wieder da.
»Sie meinte, die Ärzte im Krankenhaus hätten sicher etwas übersehen, sonst würde sie sich nicht so elend fühlen«, raunte Lydia ihm zu, als er den Tresen erreichte.
»So schlecht scheint es ihr nicht zu gehen. Sie ist ziemlich gesprächig«, stellte er fest, als er sah, dass es Lorena offensichtlich nichts ausmachte, die Fragen der anderen Patienten zu beantworten, die sich um den Unfall vor dem Supermarkt drehten, wie er durch die geöffnete Tür hören konnte.
»Wahrscheinlich gefällt es ihr, im Mittelpunkt zu stehen«, sagte Sophia leise, die aus dem Labor kam, das sie für die erste Blutabnahme des Tages vorbereitet hatte.
»Wie viele sind vor ihr?«, fragte Daniel.
»Sie ist die erste.«
»Gut, dann fange ich gleich an«, sagte er und ging in sein Sprechzimmer.
»Irgendwann stößt auch der geduldigste Mensch an seine Grenze, und bei Daniel ist es bald soweit«, raunte Sophia Lydia zu.
»Lorena macht es ihm wirklich nicht leicht«, stimmte Lydia ihr zu.
Wenn sie wieder versucht, mir etwas vorzumachen, dann werde ich ihr raten, sich psychologische Hilfe zu suchen, dachte Daniel, nachdem er Lorena über die Sprechanlage gebeten hatte, zu ihm zu kommen. »Wie geht es Ihnen, Frau Zachner?«, fragte er freundlich, als er ihr die Tür aufhielt.
»Nicht gut, Herr Doktor. Ich habe schreckliche Magenschmerzen«, antwortete sie leise.
»Bitte«, sagte Daniel und deutete auf die Untersuchungsliege. »Seit wann haben Sie diese Schmerzen?«, fragte er, als Lorena sich hingelegt hatte, er ihren Magen und ihren Bauch abklopfte und auf Druckschmerzen hin untersuchte.
»Die Schmerzen fingen heute Morgen an«, sagte sie. »Mathilda meinte, dass ich zu Ihnen gehen soll. Ich wollte zuerst nicht, weil ich schon so oft hier war und Sie mir inzwischen sicher gar nicht mehr glauben, dass ich unter Schmerzen leide«, spielte sie die Unverstandene. So hatte sie auch Mathilda am Morgen davon überzeugt, dass sie wirklich krank sei.
Als sie sie im Badezimmer gehört hatte, war sie zu ihr gegangen, hatte sie gefragt, wie ihr Abend bei Hannos Tante gewesen war. Während Mathilda ihr erzählte, dass es ein fröhlicher Abend war und sie sich mit der Familie gut verstanden hatte, stöhnte sie immer mal wieder kurz auf, gab aber vor, das Stöhnen unterdrücken zu wollen, bis Mathilda sie darauf ansprach und ihr riet zum Arzt zu gehen.
»Haben Sie den Befund aus dem Krankenhaus dabei?«, fragte Daniel, nachdem er weder eine Verhärtung noch sonst eine Auffälligkeit während des Abtastens von Lorenas Magen und Bauch hatte feststellen können.
»Frau Seeger hat den Befund in meine Akte eingescannt.«
»Gut, dann sehe ich ihn mir kurz an.«
»Hoffentlich hilft er Ihnen weiter«, sagte Lorena. Sie richtete sich auf, zog den Pullover wieder herunter, den sie für die Untersuchung hochgeschoben hatte, und fasste in ihre Hosentasche. Während Daniel auf den Monitor seines Computers schaute und ihre Patientenakte aufrief, steckte sie die drei Tablettenkapseln, die sie zu Hause vorbereitet hatte, in den Mund und biss fest zu. »Doktor Norden, mir wird schlecht!«, rief sie und hielt sich den Ärmel ihres weißen Pullovers vor den Mund.
»Ganz ruhig sitzen bleiben«, bat Daniel sie, als er sich umdrehte und das Blut auf ihrem Pullover sah.
»Was ist das?«, stöhnte Lorena und wischte wie aus Versehen mit dem blutverschmierten Ärmel über die ganze Vorderseite ihres Pullovers.
»Wir machen einen Ultraschall«, sagte Daniel, reichte Lorena ein paar Papiertücher, die er aus dem Regal neben der Liege nahm, und lief zur Tür. »Ich brauche das Ultraschallgerät im Sprechzimmer!«, rief er in Richtung Empfangstresen, nachdem er die Tür geöffnet hatte.
Es war der Moment, den Lorena nutzte, um die zerbissenen Kapseln in eines der Papiertücher zu spucken, das ihr Daniel zum Abwischen des Blutes gereicht hatte.
»Kommt!«, antwortete Lydia, die hinter dem Tresen stand und sich sofort auf den Weg in das Zimmer machte, in dem das Ultraschallgerät stand.
»Ist Ihnen noch übel?«, fragte Daniel, als er sich Lorena wieder zuwandte.
»Im Moment nicht. Aber ich habe Angst, Doktor Norden. Ich möchte meine Schwester bei mir haben. Würden Sie sie bitte rufen?«, bat sie ihn mit leiser Stimme.
»Das mache ich, und Sie legen sich bitte vorsichtig auf die Seite.«
»Ja, Herr Doktor«, sagte Lorena und spielte die Leidende.
»Frau Zachner, kommen Sie bitte ins Sprechzimmer«, bat er Mathilda über die Sprechanlage, zu ihm zu kommen.
»Was ist denn passiert?«, fragte Lydia erschrocken, die gleich darauf mit dem Ultraschallgerät, das auf einem Tisch mit Rollen befestigt war, hereinkam.
»Magenbluten«, flüsterte Lorena, als Lydia das Gerät neben die Untersuchungsliege stellte und das Stromkabel in eine Steckdose steckte.
»Lorena, ich bin bei dir«, sagte Mathilda, die hinter Lydia ins Sprechzimmer kam. »Alles wird wieder gut«, versicherte sie ihr, ging zu ihr und umfasste ihre Hand. Sie versuchte, sich ihr Entsetzen über das viele Blut auf dem Pullover ihrer Schwester nicht anmerken zu lassen.
Jetzt stehe ich wieder an erster Stelle bei ihr, dachte Lorena und atmete innerlich auf, machte aber nach wie vor ein leidendes Gesicht. Es gelang ihr sogar, ein wirklich echt klingendes Stöhnen zu produzieren, als Daniel sie bat, sich auf den Rücken zu legen, damit er ihren Bauchraum mit dem Ultraschallgerät untersuchen konnte.
Lydia hatte inzwischen Eimalhandschuhe angezogen und den Abfalleimer, der am Fußende der Liege stand, geholt. »Hier hinein«, bat sie Mathilda, die Lorena die mit Blut verschmierten Papiertücher aus der Hand genommen hatte. »Ich entsorge das gleich«, sagte sie und trug den Eimer aus dem Sprechzimmer.
»Offensichtlich leide ich doch an einer unerkannten Krankheit. Hoffentlich ist es jetzt nicht zu spät«, jammerte Lorena und kämpfte mit den Tränen.
»Sobald wir wissen, woher das Blut kommt, können wir auch etwas dagegen unternehmen«, beruhigte Daniel seine Patientin.
»Du wirst wieder«, sagte Mathilda und nickte ihrer Schwester aufmunternd zu. In diesem Moment bereute sie zutiefst, dass sie ihre Schmerzen in den letzten Tagen nicht mehr so ganz ernst genommen hatte.
»Was ist da drin los?«, fragte Sophia, als Lydia mit dem Abfalleimer aus dem Sprechzimmer kam und sie gerade auf dem Weg zum Wartezimmer war, um ihre nächste Patientin zum Blutabnehmen abzuholen.
»Lorena scheint wohl doch ernsthafter krank zu sein, als wir alle angenommen haben«, sagte Lydia und erzählte ihr von Lorenas Magenbluten. »Obwohl Magenbluten …«, murmelte sie, als sie sich die Papiertücher noch einmal ansah, die Lorena benutzt hatte.
»Stimmt, du hast recht, das Blut sieht eher aus wie gerade entnommen, nicht schon geronnen und dunkel, wie es eigentlich bei diesen Beschwerden zu erwarten wäre«, zeigte sich auch Sophia skeptisch.
»Wir sollten uns das mal näher ansehen«, schlug Lydia vor. Sie ging mit dem Eimer ins Labor und stellte ihn auf das Fensterbrett. »Ich glaube es nicht«, sagte sie, als sie die Reste der Tablettenkapseln entdeckte.
»Sie sollte Schauspielerin werden. Sie kann nicht nur Krankheiten vortäuschen, sie beherrscht auch schon Spezialeffekte«, stellte Sophia kopfschüttelnd fest.
»Mach du hier weiter, ich sage Daniel Bescheid. Obwohl ich denke, dass er inzwischen auch schon Zweifel an Lorenas Auftritt hat«, mutmaßte Lydia.
»Arme Mathilda«, sagte Sophia und verließ das Labor.
Lydia packte das Papiertuch mit den Resten der Kapseln in eine Plastiktüte und verschloss sie mit dem Klettverschluss. Danach warf sie die Tüte aus dem Eimer und ihre Handschuhe in den großen Eimer im Labor, der mit einem Deckel geschlossen wurde, zog neue Handschuhe an und ging mit der Tüte, in der die Kapselreste steckten, zu Daniel ins Sprechzimmer. »Du wirst nichts finden«, raunte sie ihm zu, als sie sich neben ihn stellte, während er auf den Monitor des Ultraschallgerätes schaute und den Aufnahmekopf des Gerätes behutsam über Lorenas Magen gleiten ließ.
»Warum nicht?«, fragte er, ohne aufzuschauen.
»Deshalb«, sagte sie und zeigte ihm die Tüte, die sie mitgebracht hatte.
»Was ist?«, fragte Lorena, als Daniel die Untersuchung beendete, den Aufnahmekopf reinigte und ihn wieder in die Halterung zurückhängte.
»Ich denke, wir sind hier fertig«, sagte Daniel.
»Ich bin unheilbar krank, nicht wahr? Deshalb hören Sie auf, richtig?«, fragte Lorena und sah Daniel an.
»Sie sind nicht krank«, antwortete Daniel.
»Aber was ist mit dem Blut?«, wunderte sich Mathilda.
»Hier, bitte«, sagte Lydia und zeigte ihr die zerbissenen Tablettenkapseln.
»Lorena, geht es noch?«, fuhr Mathilda ihre Schwester fassungslos an.
»Was ist denn?«, stellte sich Lorena unwissend und richtete sich stöhnend auf.
»Es reicht, hör auf. Ich wette, dass ich bei uns zu Hause im Mülleimer eine benutzte Spritze finde«, sagte Mathilda.
»Ich hatte keine Wahl«, entgegnete Lorena und starrte ins Leere.
»Keine Wahl? Ich denke, du brauchst dringend Hilfe. Wir gehen.«
»Was hätte ich denn tun sollen? Du wolltest mich doch allein lassen«, erklärte Lorena mit weinerlicher Stimme.
»Lorena, komm«, forderte Mathilda sie auf. »Doktor Norden muss sich jetzt um die Patienten kümmern, die ihn wirklich brauchen«, sagte sie und packte Lorena am Arm.
»Ich brauche auch Hilfe«, beteuerte Lorena.
»Richtig, aber nicht seine, sondern die von Olivia. Denken Sie, sie wird in den nächsten Tagen Zeit für uns haben?«, wollte Mathilda von Daniel wissen.
»Rufen Sie sie an, Frau Zachner. Ich bin sicher, sie wird sich Zeit für Sie nehmen«, versicherte ihr Daniel.
»Danke, Doktor Norden. Tut mir leid, für die Umstände«, entschuldigte sich Mathilda.
»Ich wünsche Ihnen alles Gute«, verabschiedete sich Daniel von den Schwestern und hielt ihnen die Tür auf.
»Hoffentlich zerstört Lorena nicht Mathildas Verhältnis zu Hanno. Das würde mir echt leidtun«, sagte Lydia.
»Mir auch, aber das wird nicht passieren. Ich habe die beiden gesehen, als sie sich verlobt haben. Sie lieben sich«, versicherte ihr Daniel.
»Dann vertrauen wir auf die Liebe. Und jetzt mache ich erst einmal die Liege sauber, damit wir weitermachen können.«
»Danke, dass du die Sache aufgeklärt hast.«
»Bei der Feuerwehr habe ich gelernt, auf alles zu achten, was irgendwo herumliegt, das kann Leben retten.«
»Vielleicht hast du sogar Lorenas Leben gerettet. Wer weiß, was sie sich noch ausgedacht hätte, um eine schwere Krankheit vorzutäuschen, hättest du sie nicht entlarvt.«
»Dann habe ich für heute bereits meine gute Tat erfüllt.«
»Ja, das hast du«, antwortete Daniel lächelnd.
*
In der Mittagspause besuchte Daniel drei Patienten, die sich eine Grippe eingefangen hatten und im Bett lagen.
Als er nach Hause kam, war Olivia schon wieder in ihrer Praxis, und Ophelia war gleich nach der Schule zu einer Freundin gegangen. Er traf die beiden erst am Abend wieder. Olivia hatte eine Patientin im Seniorenheim besucht und auf dem Rückweg Lasagne bei Adriano geholt.
»Sie kann mit deiner Lasagne zwar nicht ganz mithalten, Mama, aber sie schmeckt schon ziemlich gut«, sagte Ophelia, als sie mit Olivia und Daniel am Abend am Esstisch in der Küche saß.
Damit Ortrud nicht enttäuscht war, weil sie von der Lasagne, die so köstlich duftete, nichts abbekam, hatte Ophelia ihr ihren Napf in der Küche mit ihrem Lieblingsfutter gefüllt.
»Lorena wird ab sofort dreimal in der Woche zur Gesprächstherapie zu mir kommen. Mathilda und sie waren heute kurz bei mir, nachdem sie bei dir in der Praxis waren«, erzählte Olivia.
»Dreimal? Das klingt nach einem schwierigen Fall. Was hat sie angerichtet?«, fragte Ophelia.
»Du weißt, dass wir nicht über unsere Patienten sprechen dürfen«, sagte Olivia.
»Ja, das weiß ich. Aber es gibt bereits ein Gerücht. Ich habe Marius vorhin auf dem Heimweg getroffen. Seine Oma hat etwas aufgeschnappt, als sie heute Nachmittag einkaufen war. Lorena soll in Daniels Praxis Blut gespuckt haben, so viel, dass das ganze Sprechzimmer verunreinigt war.«
»So schlimm war es nicht«, sagte Daniel.
»Wie schlimm war es denn? Ich halte mich auch an die Schweigepflicht«, versicherte Ophelia ihm.
Daniel vertraute ihr und erzählte ihr, was wirklich passiert war, ehe sie sich noch weiter ausmalte, wie es in seinem Sprechzimmer am Vormittag wohl ausgesehen hatte.
»Lorena muss lernen, dass sie auch allein stark sein kann, dass diese Kinderträume sie nur behindern, weil sie nicht mehr frei für andere Möglichkeiten ist«, sagte Ophelia, nachdem sie Daniel zugehört hatte.
»Wie viele von meinen Fachbüchern hast du eigentlich schon gelesen?«, fragte Olivia schmunzelnd.
»Einige«, antwortete Ophelia mit einem spitzbübischen Lächeln. »Übrigens Marius hat mir noch etwas erzählt. Die Polizei hat die Aufzeichnungen der Überwachungskameras vor dem Supermarkt gesichtet. Seine Mutter ist entlastet. Die Aufnahmen zeigen, dass Lorena zwischen zwei parkenden Autos herauskam, auf das Auto von Frau Meier geschlagen hat und sich erst auf den Boden warf, nachdem das Auto bereits stand.«
»Das ist eine gute Nachricht«, sagte Olivia.
»Ich verbreite gern gute Nachrichten.«
»Tue das bitte auch weiterhin. Wir hören sehr gern gute Nachrichten«, sagte Daniel und streichelte Ophelia liebevoll über das Haar.