Читать книгу Ich bin Anna - Caro Dabadt - Страница 3
Eine Freundin zum Anfassen
Оглавление„Ich brauche meine Grenzen nicht auszutesten, um zu wissen, dass sie existieren.“
„Sag Anna, kann ich dich mal was Persönliches fragen?“
Etwas unsicher sah ich Caro mir gegenüber an. Ich konnte mich nicht erinnern, dass wir jemals unpersönliche Informationen miteinander ausgetauscht hatten. Es war spät und ich war müde. Bevor ich ihr eine Antwort gab, sah ich verstohlen auf die Uhr. Es war bereits drei Minuten nach elf. In spätestens siebenundzwanzig Minuten würde ich einschlafen. Time-out. Mein Körper würde in sich zusammensacken und mein Kopf müsste ungebremst auf den Bartresen knallen, wenn Caro nicht Barmherzigkeit zeigte und mich in exakt fünfzehn Minuten entließ. In mein gemütliches, heimeliges Leben, das mich seit einiger Zeit teilweise selbst irrsinnig langweilte.
Meinem Körper und Gehirn waren zu diesem Zeitpunkt nämlich egal, dass wir an diesem Freitagabend in einer mittelmäßig gefüllten Bar abhingen, die sich durch einen DJ mit gewöhnungsbedürftigem Musikgeschmack kennzeichnete. Wir befanden uns in einer Après-Ski Bar – weitere Fragen?
Wir wussten, dass es Freitag in den Bars und Lokalen ruhig wäre, weil ja Urlauberwechsel war. Das heißt am nächsten Tag würden die Gäste, die seit einer oder zwei Wochen in Kleinberg oder Wagenham residiert hatten, nach Hause fahren. Und das war meist weit weg. In unserer Gegend urlauben nämlich viele Deutsche. Die aus dem Norden. Wo es selten Schnee und viel seltener – meist nie – Berge gibt. Außer Müllberge – die hat ja jeder, oder? Und für eine zehn- bis dreizehnstündige Autofahrt nach sieben oder vierzehn Tagen Skifahren und/oder Wet-T-Shirt Partys, mussten sogar die leistungsfähigsten Deutschen noch etwas Schlaf und Kraft tanken. Die Duracel-getunten Hochmotivierten allerdings, die waren wahrscheinlich um diese Zeit schon bei München vorbei und Richtung Heimat unterwegs.
Warum in Après-Ski Bars immer schlechte Musik gespielt wird? Ich denke, das liegt zuerst mal daran, dass die Besitzer von Skihütten und derartigen Vergnügungs-Musik-und-Getränke-Schenken aus dem Ort sind. Das heißt sie kommen aus dem Tal oder vom Berg – in jedem Fall vom Land und nicht weit her. Ich habe beobachtet, dass die meisten Landmenschen ihre nächste Umgebung und die Natur lieben. Was ja an sich in Ordnung ist. Deswegen – so vermute ich – zieht es sie nicht unbedingt in die große weite Welt. Was bedingt, dass sie aus ihrem Tal, von ihrem Berggipfel oder der ländlichen Gegend, in die sie hineingeboren wurden – wahrscheinlich mittels Hausgeburt, oh Schreck! - selten bis nie rauskommen.
Das heißt sie kennen nur ihr Umfeld und die Einflüsse, die es über den Berg oder eine natürliche Talsperre mit engen Kurven, unübersichtlichen Engpässen und einem unerwarteten Almabtrieb, der die gesamte Straße für mindestens zwanzig Minuten blockiert, geschafft haben. Und die Brieftaube bringt ja nicht das neueste Album von Mary J. Blidge. Ich weiß, das ist jetzt etwas übertrieben, denn selbst die Kleinberger kennen Internet und W-LAN und die Straßen sind gut geräumt und befahrbar. Auch, nein besonders im Winter. Aber trotzdem.
Aber trotzdem ist es wahr, dass die Gebirgs-und Talmenschen ihre eigene Musik haben. Wahrscheinlich durch die Natur inspiriert. Ihre Instrumente sind die Harfe, das Hackbrett, die Zitter und natürlich die Quetschen, wie man hierzulande sagt. Die Ziehharmonika also. Ein schwieriges Instrument! Von den unterschiedlichsten Musikkapelleparaden im Ort kenne ich also den Rhythmus. Hum-ta-ta nennen wir das. Und wenn man mal ganz genau hinhört, findet sich dieser simple, marschierende Rhythmus sehr oft in den österreichischen/deutschen Après-Ski-Party-Songs. Die kann man kaufen. In gewöhnlichen Geschäften, die bei Tageslicht geöffnet haben. Völlig legal. Ganze Alben voller Wahnsinn! Ob sie in den französischen Alpen genauso grässliche Hüttenschlager spielen? Ich weiß es nicht und will es nie erfahren.
Es gibt natürlich Ausnahmen. „Hey Baby“ vom österreichischen Star-Winterspass-DJ folgt da eher dem Bierzelt Groove, wo sich alle umarmen und miteinander schunkeln – sich wiegen -, damit sie nicht von den rutschigen, bierdurchnässten Tischen fallen, um schlussendlich doch kopfüber und alle zusammen in der feuchten Erde, dem sogenannten Gatsch zu landen, weil es wieder Mal tagelang geregnet hat und sich der hartgesottene Bierzelt-Fan dadurch sicher nicht vom Feiern abhalten lässt.
Ich denke, das alles ist ein Irrtum. Nicht alle Österreicher finden DJ Ötzi gut – so wie ich hoffe, dass auch nicht alle Deutschen Helene Fischer lieben. Ja, Helene Fischer ist wirklich hübsch und echt heiß. Scharfe Braut – keine Frage. Und sie hat eine schöne Stimme! Warum wurde sie nicht Kindergartentante? Die singen auch den halben Tag und haben jobmäßig gute Laune. Kinder würden Helene Fischer mit ihrem wunderschönen Lächeln und den herrlichen blonden Haaren lieben. Sie ist die perfekte Prinzessin! Aber als Kinderfachkraft verdient man natürlich so gut wie gar nichts. Anders Helene Fischer und DJ Ötzi. Die füllen Hallen. Da rollt der Rubel. Davon lässt sich’s natürlich gut leben. Verstehe ich eh. Aber ehrlich: die Musik, die Melodie, die Texte…. Brrh! Komm, das kann nicht euer Ernst sein!
Und was dann noch dazu kommt: die DJs in solchen Kneipen verdienen sicher nicht bombig. Sprich: wie in allen wirtschaftlichen Bereichen, findet man für Hungerlöhne nicht die Begabtesten und die Motiviertesten. Und wenn der Boss des besagten Lokals schon keinen besonders guten Musikgeschmack hat, weil ihm schlichtweg die Kenntnis guter Housemusik fehlt, wie soll er dann einen guten von einem schlechten Song-Zusammen-Steller unterscheiden? Das ist die Lösung.
Denn ich denke, es war genauso: irgendwann als die ersten deutschen Winterurlauber zu uns nach Österreich kamen, war da mal ein DJ, ganz tief drinnen im Wald hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Er spielte die Musik, die ihm gefiel. Sie war grässlich, aber ländlich und das war ihm vertraut und deswegen sehr angenehm. Die Urlauber aber, die wollten ihren Spaß haben. Sie arbeiteten das ganze Jahr hart für diese eine oder gar zwei Entspannungs- und Erlebniswochen. Sollten sie sich also von diesem Musikgestalter die Laune verderben lassen? Natürlich nicht. Und mit der Zeit passierte es so, wie alle NLP Spezialisten prophezeien. Der Anker war gesetzt. Das wohlige, entspannte Gefühl, verursacht durch die frische Luft und die Bewegung, deftiges Essen wie z.B. warmer Leberkäse mit Pommes und Germknödel (lecker!), heiße Urlaubsflirts, lange Nächte voller Alkohol und Sex waren untrennbar mit dieser Musik verbunden.
Wenn sich der Deutsche nun an den – ach so herrlichen – Winterurlaub in Österreich erinnern möchte, tut er was? Er hört Skihütten-Songs! Wie sonst ist zu erklären, dass es diese primitiven Lieder bis in die Clubs in Hamburg geschafft haben. Es kann keine andere Erklärung geben.
In dem Moment, als ich über Caros nahende Frage sinnierte, spielte der Musikexperte hinter seinem Pult, welches ihm mitunter als Schutz dienen könnte, eine Nummer von Udo Jürgens. Wieder so ein Irrsinn! An Tanzen war bei diesen Klängen ernsthaft nicht zu denken! Und dabei hätte ich meinen Körper gerne mal wieder zu mich ergreifender Musik gewiegt. Vor Jahren noch – zehn um genauer zu sein – konnte ich „abshaken“ (früher nannte man das so) solange ich wollte. Stimmte die Mucke, war ich nicht zu bremsen. Wollte ich tanzen, tanzte ich ohne Ende. Stundenlang. Bis ins Morgenrot.
Heute ist mein Körper da etwas unbarmherziger. Jetzt macht er mit mir, was er will und nicht umgekehrt. Wille hin oder her. Ab dreiundzwanzig Uhr fahren bei mir sämtliche Wachzustand-erhaltenden Körperfunktionen runter und um 23.30 ist Sperrstunde. Mein Augenlieder klappen zu, der Kopf fällt in den Nacken oder nach vorne, je nachdem welche Neigung er im Moment vor dem Sekundenschlaf hatte, mein Mund öffnet sich und ich beginne zu schnarchen. Sagt zumindest meine bessere Hälfte. Ob ich ihm glauben soll?
Das ist der Grund, warum ich Silvester seit mehr als vier Jahren verpasse. Nicht mal die Knallerei um Mitternacht weckt mich mehr auf. Ich schlafe wie eine Tote, sagt Alexander. Wahrscheinlich hat er Recht. Aber darüber bin ich froh. Gibt ja auch nichts zu verpassen in der Nacht. Außer der Dunkelheit und meinen Kindern, die entweder schlecht träumten oder einfach nur zum zehnten Mal aufs Klo müssen. Beides keine Highlights in meinem Leben.
Außerdem muss man bei uns vor 23.30 Uhr im Bett sein, denn um diese Zeit setzt meist die große Nachtwanderung ein. Zwei kleine Trippel-Trappel-Füße marschieren in unser Schlafzimmer und Schwupp – ins Bett. Wenige Minuten später wieder Trippel-Trappel. Nochmal ein Paar kleine Kinderfüße und Hopp – auch im Bett. Wenn dann Nummer drei im Anflug ist, muss einer von uns raus. So viel Gekuschel wird mir echt zu viel und mehr als vier Menschen haben in einem gewöhnlich dimensionierten Ehebett, das ja grundsätzlich nur für zwei normal beleibte Erwachsene gemacht ist, einfach nicht Platz. Auch wenn zwei davon gerade mal über und unter einem Meter hoch sind.
Früher machte ich hin und wieder den Fehler bis spätabends zu bügeln – bin ich irre? – und siehe da – das Bett war voll. Käse!
Den Letzten beißen die Hunde – oder besser gesagt: der Letzte schläft auf der Couch.
Mit den Jahren wurde ich klüger und habe das Bügeln, soweit es mir irgend möglich ist, eingestellt.
Caro und ich hatten uns an diesem Abend entschlossen wieder mal „rauszukommen“. Der Ausdruck „rauskommen“ war aber wirklich hoch gegriffen, hatten wir uns doch nur für zehn Minuten in mein Auto gesetzt und waren geradewegs in die nächste Ortschaft gefahren. Die Richtung war klar, denn es gibt nur eine. Kleinberg liegt am Ende des Kleinbergtales und hinter der Ortschaft befindet sich nur mehr ein kleiner, hübscher See und viele steile Wände, die zu ziemlich hohen Bergen gehören.
Einstweilen bin ich sicher, dass man als Bewohner von Kleinberg tatsächlich hier geboren sein muss, um das alles zu lieben. In den ersten Wochen nach meiner Ankunft konnte ich meine Gefühle nicht ganz eindeutig benennen, doch mit der Zeit wurde mir immer klarer, was mich emotional einengte. Egal wohin man sieht, nach spätestens einigen Hundert Metern ist Schluss mit freier Sicht und man muss den Kopf weit in den Nacken legen, um zu sehen, wo die Luft zum Atmen bleibt. Da ich niemals zuvor in einem so kleinen Nest gelebt hatte, konnte ich natürlich nicht ahnen, dass mir so ein liebliches, idyllisches Örtchen ziemlich bald auf den Wecker fallen würde.
Ich tappe in meinem Leben ja regelmäßig im Dunkeln, doch seit gut fünfzehn Jahren ist mir klar: worauf ich mich immer wieder verlassen kann, ist meine Naivität. Als Alexander mir sagte, wir würden nach Kleinberg ziehen, war ich nicht aus dem Häuschen, aber niemals ahnte ich, dass ich geradewegs in mein Unglück ritt.
Alexander ist mein Mann und der größte Goldschatz aller Zeiten. Er ist ein positiver Mensch und schafft es immer mich mit seiner Begeisterung anzustecken. Da uns außerdem gar nichts anderes übrig blieb, als nach Kleinberg zu ziehen, gab er sich die größte Mühe mir seine „alte“ Heimat schmackhaft zu machen. Er erzählte mir immer wieder lustige Geschichten aus seiner Kindheit und wie toll es für die Kinder werden würde, hier aufzuwachsen. Die Natur, die Berge. Ja, die Berge! Oftmals habe ich das Gefühl, irgendwer steht hinter mir und rückt mir unangenehm auf die Pelle, doch wenn ich mich umdrehe, um ihm zu sagen, er soll gefälligst die Fliege machen, ist es wieder nur so ein Berg, der seit Ewigkeiten dasteht und mir die Sonne nimmt, genau wenn ich mich in den Liegestuhl lege um mir eine großzügige und ungesunde Portion UV-Strahlen zu gönnen.
Nein. Heute nach zwei Jahren bin ich schlauer. Ich bin kein Gebirgsmensch und kein Kleinberger. Zumindest etwas, das ich weiß. Und was mir, wie so manche Weisheit, die ich schon besitze, wenig bringt. Denn wir müssen bleiben. Alexanders Vater ist nämlich krank. Er hat seit gut zwei Jahren Alzheimer. Und weil Alexanders Eltern hier im Dorf eine Ferienappartementvermietung und den örtlichen Supermarkt besitzen, ereilte meinen Mann vor exakt siebenundzwanzig Monaten die Bitte seiner Mutter, sie doch „wenn du so lieb wärst“ zu unterstützen. Und Alexander wäre nicht mein Alexander, wenn er nicht völlig selbstverständlich mit mir, seiner Frau und unseren drei etwas zu lebendig geratenen Kindern mit Sack und Pack zum ehestmöglichen Zeitpunkt übersiedelt wäre.
Und welche Ansprüche hätte ich stellen können? Ihm verbieten seiner Familie zu helfen? So irre bin ja nicht einmal ich. Ich verdanke Alexander viel und da ich mich zum damaligen Zeitpunkt wieder oder besser gesagt noch immer in Karenz befand, gab es keinen plausiblen, von erwachsenen Menschen als akzeptabel anzusehenden Grund Wien nicht verlassen zu können. Natürlich waren da meine Freunde und ja, es ist die Großstadt, wo ich bis jetzt am liebsten zu Hause war, aber Alexander ist mein Leben und meine Liebe. Er ist derjenige, der mir eine Familie bot, als ich sie am dringendsten benötigte. Wie hätte ich jemals auch nur einen Zweifel daran äußern dürfen der Familie – dem obersten Gut überhaupt – eine Bitte abzuschlagen?
Auch Alexanders Vater kann man keinen Vorwurf machen – er selbst hasst seine Krankheit am allermeisten. Er tut mir leid und trotzdem kann niemand etwas für ihn tun. Verglichen mit ihm, habe ich es natürlich gut erwischt. Auf der anderen Seite: ich bin ja auch erst dreiunddreißig. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, wie es um mich steht, wenn ich mal so alt bin wie er.
Genau betrachtet ist er sogar der Kleinberger, der mir am sympathischsten ist – nach meinem Mann natürlich. Erstens ist er mein Schwiegervater und ein wirklich netter Mensch. Und zweitens ist er der Einzige, der auch mal schräge und einmalige Aktionen liefert, wie zum Beispiel erst vor wenigen Wochen, als er mitten im Januar begann den Swimming Pool mit Wasser zu füllen. Leider aber darf ich mich öffentlich nicht über ihn amüsieren; nicht erst einmal hat mich meine Schwiegermutter mit ihrem eisigen Blick gestraft, als ich lauthals lachte, weil er zum wiederholten Mal ohne Hose auf die Straße ging.
Ganz ehrlich: ich verstehe das wirklich nicht ganz. Wir alle wissen, dass seine Krankheit sich ab jetzt nur mehr verschlechtert und es keine Heilung gibt. Das ist an sich ja wirklich traurig und bedrückend. Aber warum darf man dann nicht mal lachen, wenn es was zu lachen gibt? Ich kenne die Antwort: meine Schwiegermutter denkt, dass wenn ich lache, ich seine Krankheit nicht ernst nehme. Aber das stimmt nicht. Ich nehme sie ernst, immerhin bin ich ja mit drei kleinen Kindern und all unseren Habseligkeiten in dieses Megakaff gezogen, damit mein Mann sie alle unterstützen kann. Und beschwere ich mich? Zumindest nicht öffentlich. Nur bei Caro. Meiner neuen Verbündeten.
Uns verbindet ein großer Makel: sie ist Deutsche und ich höre mich wie eine an. Wir sind Außenseiter und das hat sie mir auf Anhieb irrsinnig sympathisch gemacht. Sie war die Erste, die mich nicht nach meinen ersten zwei Sätzen fragte: „Du kommst aus Deutschland?“
Man muss wissen: das ist kein Kompliment in Österreich. Natürlich ist es auch keine Beleidigung. Wir Österreicher wissen alle über die wirtschaftliche und auch sprachliche Überlegenheit unserer Lieblingsnachbarn und unsere eigene Abhängigkeit von ihnen. Wir brauchen sie und unser Überleben hängt von ihnen ab. Ganz besonders bei denen, die im Tourismus arbeiten. Denn: die Deutschen sind unsere wichtigsten Gäste. Seit Jahren sind sie uns treu und kommen vollzählig und ganz sicher pünktlich, wenn sich der erste Schnee ankündigt oder die Bergrosen blühen.
Außerdem: Man kann sich echt nicht beschweren über sie. Sie sind nicht so verklemmt wie die Amerikaner, rülpsen nicht wie die Asiaten und fluchen nicht wie die Russen. Sie sind halt gescheit – und das mag nicht jeder. Aber: wenn du sie gut behandelst und freundlich zu ihnen bist, kommen sie garantiert im nächsten Jahr wieder – und das wünscht sich jeder Kleinberger. Eingeschlossen mir. Denn sie behandeln mich auch gut. Für sie bin ich die Frau vom Chef – sowas wie die Hausherrin. Das ist immer nett. Und: sie halten mich für keine Deutsche. Da ich keine bin, möchte ich auch für keine gehalten werden. Einem solchen Irrtum unterliegen auch nur Österreicher!
Wir Alpenrepublikaner haben natürlich große Komplexe. Wir fühlen uns etwas minderwertig (weil wir so wenige sind?) vor allem gegenüber den Deutschen (weil sie so viele sind?). Sie sind unsere Nachbarn, sprechen dieselbe Sprache, ähneln uns also in einiger Hinsicht und trotzdem wirken sie bei den meisten Dinge, die sie tun, professioneller. Außer beim Skifahren vielleicht – weswegen wir uns in diesem Bereich wahrscheinlich auch so viel Mühe geben.
Aus diesem Grund schätze ich sind wir gerne ihre Gastgeber, denn da sind mal ausnahmsweise wir der Boss und lassen uns von ihnen danken. Wie befriedigend!
Da ich mich für die Kleinberger wie eine Deutsche anhöre, kann ich keine von ihnen sein. Zu Beginn fragte mich die Eine oder Andere im Gespräch: „Vastesst du mi e?“ Was für eine Frage? Ich spreche Hochdeutsch, bin aber nicht taub. Nur weil jemand ein „ch“, ein „e“, ein „en“ oder überhaupt die letzten vier Buchstaben eines Wortes weglässt, heißt das noch nicht, dass ich nicht kapiere, was er mir sagen will.
Ich bin oft erstaunt über die Distanz, die dieser kleine sprachliche Unterschied mit sich bringt. Dabei bin ich gerade mal sechzig Kilometer entfernt aufgewachsen. Sechzig Kilometer! Ein Katzensprung so zusagen. In der wunderschönen Mozartstadt Salzburg. Da spricht man schön. Dort ist es auch wirklich schön und vornehm. Da lernst du feine Manieren und einen guten Umgangston (wenn du auf die richtige Schule gehst). Und die Rest-Österreicher halten dich für überheblich. Na Dankeschön!
Mit der Zeit fand ich außerdem heraus, dass mein Hochdeutsch und ihr Dialekt mich weniger störte, als die Kleinberger. Manche denken wohl, ich rede absichtlich so hochgestochen, weil ich besser sein will. Wieder so ein Irrtum über meine Person. Aber es ist nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich missverstanden werde. Über die Jahre habe ich mich daran gewöhnt. Genauso wenig die Kleinberger Hochdeutsch sprechen können, kann ich einfach so in ihrem heimischen Dialekt losböllern. Es klänge dämlich und würde vor allem nicht stimmen. So habe ich mich nach einer gewissen Zeit damit abgefunden, dass ich hier im Ort keine wirklich gute Freundin finden würde.
Die Touristenfrauen, die Deutschen, die mag ich meistens sehr gerne, aber die sind ja nach spätestens zwei Wochen wieder dahin und wo schon meine Long-Distance Beziehung zu Charles keine vier Wochen gehalten hat – was allerdings weniger an mir als an ihm und seiner „Neuen“ lag - kann ich mir eine Long-Distance Freundschaft erst recht schenken. Charles hätte das zwar lockerer gesehen, aber Exklusivität ist dann doch etwas, das ich mir in einer Beziehung erwarte; Long-Distance hin oder her. Da bin selbst ich mal intolerant!
Blieb also wieder nur – Alexander. Der Arme – wie Caro manchmal sagt. Sie meint er ist bemitleidenswert, weil ich so auf ihm drauf hänge. Obwohl so arm finde ich ihn auch wieder nicht. Erstens klebe ich nicht an ihm; das sieht nur Caro so – meine Ansicht. Das Wort Beziehung leitet sich ja von „beziehen“ ab. Und ich beziehe mich auf Alexander. Mich und alles, was mich beschäftigt. Er ist mein Mittelpunkt. Für mich völlig normal.
Caro ist da ein anderer Typ, würde ich sagen. Sie bezieht sich mal grundsätzlich auf sich selbst – was die Allgemeinheit gerne auch als Egoist bezeichnet. Da ihr Freund Ralf aber genauso tickt, ist das natürlich die perfekte Lebensform für die beiden. Zweisamkeit? Gemütlichkeit? Werte, die mir extrem wichtig sind. Für Caro und Ralf schätze ich rangieren die wahrscheinlich irgendwo auf Platz 10 oder 11 nach Perfektion, Erfolg, Gesundheit, Fitness, Selbstvertrauen, Power und weiteren „persönlichen Stärken“, die ich mehr vom Hörensagen kenne.
Wie gesagt: ich denke Alexander ist nicht arm oder gar bemitleidenswert.
Alexander fühlt sich grundsätzlich wohl in Kleinberg – im Gegensatz zu mir. Er kommt aus diesem Kaff und hat hier eine Menge Freunde - im Gegensatz zu mir. Alexander meint noch immer, ich solle mir einfach mehr Mühe geben. Er sagt, die Kleinberger sind eher wie eine harte Nuss oder eine Zwiebel. Man muss erst mal die Schale knacken und sich dann Schicht für Schicht vorarbeiten, um sie richtig kennen zu lernen. Aber ganz ehrlich: das ist mir zu mühsam. Freundschaft als einen Lebensprozess zu sehen, scheint mir absurd. Damit du am Sterbebett stehst und sagst: weißt du, jetzt habe ich endlich begriffen, wer du bist. Nein Danke! Das dauert mir zu lange. Entweder du findest gleich einen Draht zueinander oder eben nicht.
Ich bin da eher der Landminen-Typ. Trittst du auf mich drauf, gehe ich hoch. Sprichst du mich an, rede ich – meist Klartext. Vielleicht ist das etwas Städtisches. Ich vermute es zumindest. In der Stadt hast du nicht die Zeit dich allzu lange mit einem Einzelnen zu befassen. Du kommst schneller auf den Punkt. Denn du läufst dir ja nicht weiterhin zwanzig Mal täglich für die restlichen vierzig Jahre über den Weg. Vielleicht ist es also auch nicht unbedingt mein nicht vorhandener Berg-Dialekt, sondern mehr meine gesamte Art, die mich den Kleinbergern unsympathisch macht. Ich weiß, dass ich ziemlich schnell spreche. Was bei meiner einwandfreien Aussprache des Deutschen ja nicht unbedingt ein Problem sein sollte – es leider aber ist. Hin und wieder beobachtete ich Kleinberger, die während eines Gesprächs mit mir etwas gequält lächelten – so als hätten sie sich beim RTL (das ist nicht der Fernsehsender – das bedeutet Riesen-Tor-Lauf! – habe ich auch erst kürzlich erfahren) den sportlichen Kleinberger Skiknöchel verstaucht - und sich dann freundlich verabschiedeten. Dabei hatte ich doch eine Frage gestellt! Zu Beginn dachte ich, die sind unhöflich, aber Alexander gibt mir öfter den Rat hin und wieder zwischen den Wörtern zu atmen, damit den Zuhörern Zeit zum Denken bleibt. Ein interessanter Ansatz finde ich!
Doch so viel Zeit habe ich einfach nicht.
Bei Caro brauche ich all das nicht beherzigen. Sie versteht was ich sage. Immer. Manchmal sage ich auch nichts und sie versteht trotzdem, was ich sage! Endlich! So wie meine beste Freundin Biene, die ich sehr vermisse. Biene lebt in Wien und ist natürlich keine fliegende Biene, die summt. Obwohl es solche in Wien auch gibt. Manchmal summt sie, aber nur wenn sie Kartoffeln schält oder bügelt. Sie ist ein Mensch, eine Frau, um ganz genau zu sein, heißt Sabine Oberlerchner und war meine Obermieterin, bei der ich zur Untermiete eingezogen bin, nachdem ich die Wiener Fachhochschule für Tourismusmanagement mit einem Mag. (FH) abgeschlossen habe. Zur großen Erleichterung meiner Eltern. Besser gesagt meiner Mutter und ihres Mannes, der nicht mein Vater ist. Den ich allerdings selbst sechzehn Jahre für meinen Vater gehalten habe. Bis ich aufgrund einer blöden Spielerei im Biologie Unterricht in der Oberstufe errechnete, dass sich das mit den Blutgruppen in unserer Familie nicht ausgeht. Ich bin generell kein besonders wissbegieriger Mensch, zumindest was die Naturwissenschaften angeht. Beziehungsweise die Natur im Allgemeinen und Tiere im Speziellen – auch Bienen interessieren mich nicht, ausgenommen meine Biene. Doch Dinge, die mit Logik zu lösen sind, finde ich spannend. Genauso Mathematik und Rechnungswesen. Da gibt es klare Regeln, die funktionieren, wenn du sie alle beherzigst. Das tut gut. Ich denke für naive Menschen, wie mich, sind das wichtige Anhaltspunkte. Da kannst du nicht ständig daneben liegen.
So habe ich damals für dieses Rechenbeispiel einfach die Blutspende-Ausweise meiner Eltern in den Biologie-Unterricht mitgenommen. Ich weiß, dass meine Mutter sie nicht, wie die meisten Menschen im Geldtascherl herumträgt, sondern im Wohnzimmer bei den Dokumenten aufbewahrt. Gefragt habe ich sie damals nicht. Ich dachte ja nicht, dass es irgendwie von Bedeutung wäre.
Ich erinnere mich heute noch an den verwirrten Blick meines Lehrers, als ich ihn fragte, warum sich das bei uns mit den Blutgruppen nicht „ausgeht“. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich wieder mal etwas falsch gemacht hatte – keine Besonderheit bei mir. Doch mein Biologie-Lehrer wurde immer ruhiger, sah sich die Blutspendeausweise meiner Eltern genau an, kontrollierte die Namen, drehte sie hin und her und nahm dann wieder meinen Impfpass in die Hand. Er schüttelte ein paar Mal den Kopf und wechselte das Thema. Nach dem Unterricht rief er mich dann zu sich, als er sah, dass die Anderen schon die Klasse verließen.
Etwas dümmlich stand ich vor ihm und hatte keinen blassen Schimmer was los war. Er fragte mich noch einmal ganz ruhig, ob ich denn sicher sei, dass ich die richtigen Blutspendeausweise und meinen eigenen Impfpass mitgenommen hatte. Ich nickte. Konnte ich doch schon meinen eigenen Namen lesen. Was für eine dumme Frage! Und dann sagte er: „Vielleicht redest du mal in Ruhe mit deiner Mutter?“ Ich nickte. Ja, und? Er fuhr fort: „Es kann ja sein, dass hier irgendwas falsch vermerkt wurde. So was kann durchaus passieren.“ Er sah mich mitfühlend an. Und dann sagte er den Satz, den ich selten aus dem Munde einer meiner Lehrer hörte: „Du hast alles richtig gemacht. Die Rechnung ist korrekt. Wenn beide deine Eltern die Blutgruppe A haben, kannst du unmöglich AB haben.“ Stille. Und ich kapierte noch immer nichts.
Er gab mir den Rat, mit meiner Mama alleine zu reden. Was ich tat. Denn ich vertraue oft darauf, dass es die Anderen besser wissen als ich. Schon als ich die Blutspendeausweise auf den Tisch legte, wurde meine Mutter nervös. Als ich dann noch meinen Impfausweis dazulegte, wurde sie still und schloss die Küchentüre. Was danach passierte, ist heute noch eine für mich sehr unangenehme Erinnerung, die ganz eigenartige Gefühle in mir weckt und ich aus diesem Grunde lieber verdränge. Meine Mutter offenbarte mir, dass ich ein Kuckuckskind bin.
Natürlich verwendete sie diesen Ausdruck nicht. Den habe ich erst später im Internet gefunden. Ich bin ein Kuckucksei und wurde in ein fremdes Nest gelegt. Kein netter Gedanke. Ich bin das Ergebnis eines Seitensprungs und mein Papa ist nicht mein Vater. Zu Beginn begriff ich überhaupt nicht, was meine Mutter da schwafelte. Ich dachte einfach sie spinnt. Das konnte doch gar nicht wahr sein. Und das Schlimmste war: sie bat mich mit ihr zu lügen. Ich musste lügen über – mich! Mein Papa wusste damals nicht, dass ich ihm untergeschoben wurde. Und damit unsere Familie nicht zerbrechen würde, flehte meine Mutter mich an, nichts zu sagen. Wie ungeheuerlich! Sie versicherte mir, dass sie mich genauso liebte, wie meine Geschwister, obwohl ich daran nicht wirklich gezweifelt hatte. Ich war mehr darüber schockiert, dass ich mein bisheriges Leben lang angelogen wurde und mein Papa, der es plötzlich nicht mehr war, ebenso. Um sechzehn Uhr hatte ich noch einen Vater und fünf Minuten später war er weg! Wie konnte das nur sein?
Seitdem weiß ich, dass es manchmal sehr schön sein kann, sich in Unwissenheit zu wiegen. Denn die Wahrheit kann unheimlich wehtun. Und deswegen schürfe ich manchmal auch nicht zu tief. Ich fiel in ein tiefes Loch. Ich war total verstört und musste so tun, als wäre alles in Ordnung. So gerne hätte ich darüber geredet und durfte es nicht. Meine Mutter steckte mir Geld zu und vereinbarte einen Termin bei einer Psychologin. Was auch nicht viel brachte. Denn diese bestätigte mir, dass dieses versteckte Geheimnis mich immer belasten würde. Dankeschön! Das hätte ich auch selbst herausgefunden. Die Psychologin rief nach der ersten Sitzung meine Mutter an, die meine nächste Sitzung stornierte, die eigentlich ihre eigene hätte sein sollen.
So blieb mir nur das Internet zum Reden. Da war ich anonym und fand viele Leidensgenossen. Es gibt einige Homepages über Kuckuckskinder und es tat gut sich so Einiges von der Seele zu schreiben. Viel besser wurde es nicht, aber es brachte mir zumindest eine gewisse Erleichterung. Auch das Verhältnis zu meinen Geschwistern verschlechterte sich. War ich doch keine mehr von ihnen. Sie wussten davon auch nichts und verstanden mein eigenartiges Verhalten nicht. Doch ihr Unverständnis war mein geringstes Problem. Meine Schulnoten litten mehr als sie es vorher taten und einzig der gequälte Blick meiner Mutter hielt mich zurück etwas zu sagen.
War jetzt schon mein Leben zerstört, musste ich ja nicht ihres auch noch absichtlich kaputt machen. Oder? Alexander nimmt es meiner Mutter bis heute übel, dass sie mich da mit reingezogen hat. Als ich ihm meine Geschichte erzählte, war er einzig über die Entscheidung meiner Mutter entsetzt. Doch damals waren schon viele Jahre vergangen und zum damaligen Zeitpunkt wusste es sogar mein Vater schon. Wie er es herausgefunden hat, weiß ich bis heute nicht. Ich will es ehrlich gesagt auch nicht wissen.
Den Zeitpunkt, die Bombe platzen zu lassen, hatte mein Papa etwas eigenartig gewählt. Ich nenne ihn lieber Papa, denn das war er ja immer für mich. Vater klingt eher biologisch und stimmt deswegen ja nicht mehr. Nachdem ich am Vormittag die offizielle Sponsion an meiner Fachhochschule hatte, zu der auch meine Eltern und meine jüngere Schwester mit ihrem Freund gekommen waren, aßen wir mit meinen Lieblingsverwandten, dem Cousin meines Papas und seiner Familie in einem schönen Restaurant zu Mittag. Es war herrliches Wetter und ich war richtig glücklich. Endlich hatte ich irgendwas geschafft und die Wünsche meiner Eltern, vor allem die meines unechten Vaters, erfüllt. Er ist Anwalt und träumte immer davon, dass wir alle Akademiker sein würden. Ein Mag. (FH) war immerhin ein guter Anfang. Von meiner Berufswahl war er zwar nie begeistert, aber zumindest war es eine Fachhochschule und damit noch eine höhere Bildung, die ich an das Gymnasium, das ich mit allergrößten Mühen beendet hatte, angeschlossen hatte.
Es hätte ein wirklich schöner Tag sein sollen. Meine Mama hatte mir für dieses Datum eine ordentliche Stange Geld überwiesen und ich mir ein umwerfendes Kleid in einer exklusiven Boutique in Wien gekauft. Am Tag zuvor war ich beim Friseur gewesen und wenige Tage vorher frische Gelnägel machen lassen. Ich fühlte mich schön und ansatzweise klug – obwohl das nie mein höchster Anspruch an mich selbst gewesen war. Meine Schwester war da und freute sich mit mir. Sie kannte das Geheimnis um mich nicht, aber sie war erleichtert, dass das schwarze Schaf in der Familie – ich – es auch endlich zu etwas gebracht hatte. Nicht erst einmal war ich das Streitthema zwischen meinen Eltern gewesen.
„Du verwöhnst sie zu sehr!“ hatte mein Papa oft wütend gerufen, wenn meine Mama zum wiederholten Male mein Scheitern auf verschiedenen Ebenen verteidigte. „Sie kann genauso viel leisten, wie die anderen!“ „Sie muss lernen, dass man sich eben mehr anstrengen muss.“ Ich wusste warum meine Mutter mich mit aller Kraft verteidigte und auch, warum mein Papa davon ausging, dass ich genauso viel Ehrgeiz besitzen musste, wie er. War ich doch sein Kind! Für ihn. Leider nicht mehr für mich.
Ich bemerkte nicht, dass er sich seit der Ankunft in Wien eigenartig benahm und meine Mutter wirkte wie ein geprügelter Hund. Zu sehr war ich damit beschäftigt mich an den Gedanken zu gewöhnen, etwas Tolles geschafft und vier Jahre „Uni“ hinter mich gebracht zu haben. Alle meine Kollegen und ich genossen das Gefühl die ewige Lernerei endlich an den Haken zu hängen und Pläne für die Zukunft schmieden zu können. Meine Vision war klar. Ich wollte weg. Ab ins Ausland. Die Welt erobern! In Gedanken formulierte ich Lebensläufe und ging Bewerbungsgespräche in meinem Kopf durch. Ich dachte über mögliche Outfits nach und womit ich meine zukünftigen Arbeitgeber beeindrucken konnte. Paris oder New York! Das war mein Traum! Großstadt, ich komme!
Niemals hätte ich geahnt, dass sich noch am selben Abend eine kleine, übereifrige Sperma-Kaulquappe in meinen viel zu fruchtbaren Uterus einnisten würde. Das eine Disaster führte zum nächsten doch das darf ich laut Alexander nicht so sagen, denn an diesem Tag entstand meine Tochter Leandra.
Meine Tochter, nicht Alexanders Tochter. Und trotzdem liebt er sie wie sein eigenes Kind und dafür liebe ich ihn. Eine einfache Logik, die vom ersten Moment an funktionierte.
„Schläfst du etwa schon?“ Caro sah mich ungläubig an.
„Wie? Nein!“ Ich schüttelte den Kopf. Caro wartete noch immer darauf, mir ihre Fragen stellen zu können. Seitdem ich Mutter bin und das bin ich immerhin seit fast neun Jahren, bin ich öfter etwas zerstreut. Früher wunderte ich mich immer darüber, warum meine Mutter die Hälfte vergaß und immer die letzte war, die ins Auto stieg und dann noch mal raus musste, um ihre Schlüssel zu holen und heute bin ich genauso. Hm, gewisse Dinge kann man wohl nicht vermeiden.
„Frag schon!“ Ich setzte mich gerade auf, um ihr zu signalisieren, dass ich mit meiner Aufmerksamkeit ganz bei ihr war. Caro schüttelte den Kopf und sprach:
„Wie läuft es bei euch im Bett?“
„Wie?“ Dümmlich sah ich sie an.
„Naja, ich meine, was läuft bei euch sexuell?“
„Wie kommst du denn jetzt da drauf?“ Die Direktheit ihrer Frage wunderte mich nicht, war ich es gewohnt Klartext mit ihr zu sprechen. Aber bis vor wenigen Sekunden war das Sportprogramm von Alexander unser Gesprächsthema gewesen.
„Naja, du hast mir doch letztens erzählt, dass ihr abends meist fernseht und eure Kinder bei euch im Bett schlafen und da habe ich mich gefragt, wann ihr dann eigentlich Sex habt. Und wo?“
„Darüber denkst du nach?“
„Ja“
„Wozu?“ Caros Logik leuchtete nicht mal mir ein und dabei war ich der Spezialist für verworrene Gedankengänge.
„Weil es oftmals sexuell unausgelastete Männer zum Sport zieht. Kraftsport zum Beispiel baut viele Aggressionen ab, eine Wirkung, die auch Sex hat.“
„Aggressionen abbauen? Welche Art von Sex meinst denn du bitte? Schlägst du Ralf?“ In meinem Geiste tauchte unweigerlich ein Bild meiner neuen und überaus muskulösen Freundin auf, wie sie ihren Freund auf ihrem Bett gefesselt auspeitschte.
„Natürlich nicht. Es geht mir nur darum herauszufinden, ob es nicht noch andere Motive für Alexander gibt sich körperlich so auszupowern. Manchmal ist es eine gewisse Unzufriedenheit oder auch das Verlangen nach den durch die physische Belastung produzierten Glücksgefühle, die den Mensch dazu treibt Sport zu machen.“ Etwas verständnislos sah ich sie an.
„Das heißt, du meinst, ich mache Alexander nicht glücklich, weil er jetzt fünf Mal die Woche Gewichte stemmt und stundenlang auf seinem Rennrad sitzt?“ Caro wusste, dass ich nicht beleidigt und meine Frage aufrichtig war.
„Nein. Das glaube ich nicht. Er liebt dich abgöttisch. Hat er nicht erst einmal gesagt.“ Gespielt verdrehte sie die Augen.
„Und du liebst ihn auch. Hast du mir ja auch schon tausend Mal gesagt. Aber ich frage mich, ob in eurer Beziehung wirklich alles in Ordnung ist.“
„Warum?“
„Weil du unzufrieden bist. Und unzufriedene Menschen können andere Menschen nicht glücklich machen.“ Hm. Ich dachte über das Gesagte nach. Das klang logisch.
„Aber Alexander kennt mich so. Ich war immer schon so.“
„Wie?“
„Naja, so eine Jammersuse. Ich beschwere mich immer über irgendetwas.“
„Und? Bringt dir das was?“
„Ich weiß nicht. Was meinst du?“
„Weißt du, Anna. Du bist ein eigenartiger Mensch. Irgendwie bist du klug und dann wieder gar nicht. Oft bist du so lustig, positiv und fröhlich, aber wenn du mal richtig ins Reden kommst, erkennt man erst, wie negativ du bist. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass das für Alexander so leicht ist, das auszuhalten.“ Ich nickte. Caro nickte. Irgendwie hatte sie Recht.
„Aber Alexander ist doch fröhlich für uns beide. War schon immer so. Ich habe die Vermutung, dass die hier in Kleinberg den kleinen Babys direkt nach der Geburt was in die Muttermilch mischen, irgendein Glücksgift, eine Art Impfung aufs Fröhlichsein.“ Caro nickte und weitete ihre Augen.
„Interessante Theorie.“
„Nicht wahr?“ Ich war stolz, dass ich Caro immer wieder Insider-Wissen über meine unfreiwillige Wahl-Heimat mitgeben konnte.
„Und was haben sie dir in die Muttermilch gemischt?“
„Hm. Nichts schätze ich. Ich komme aus der Stadt. Da wird kein großes Aufheben darum gemacht, wenn ein Baby geboren wird. Niemand stellt in Salzburg Stadt einen Storch vor die Türe, damit die halbe Stadt gratulieren kommt.“ Caro war meiner Meinung.
„Aber Anna. Jetzt mal im Ernst. Ist dir klar, dass man Menschen mit diesem Gejammer auch runterziehen kann?“
„Ja, schon.“
„Dann hör auf damit!“
„Wozu?“
„Weil ich nicht glaube, dass es Alexander egal ist. Nur weil er dich nicht anders kennt, heißt das noch lange nicht, dass er dich nicht lieber positiver erleben würde. Wenn ich mir das manchmal so anhöre, wie ihr lebt, finde ich das schon ziemlich – verzeih den Ausdruck – öde.“
„Naja. Wir haben drei Kinder.“
„Nimm deine Kinder nicht immer als Ausrede.“
„Ich verwende sie nicht als Ausrede. Sie sind der Grund.“
„Wofür?“
„Dass ich jammere.“
„Pfff.“ Caro blies hörbar durch ihre Zähne. „Das ist echter Blödsinn. Wenn du dich mal selbst reden hören könntest. Ich hoffe du sagst das nicht deinen Kindern.“
„Selten aber doch.“ Caro schüttelte resignierend ihren Kopf.
„Weißt du Anna, ich finde die Kleinberger gar nicht so verkehrt. In Wahrheit sind die total nett und bemüht. Die Portion Fröhlichkeit, die sie alle versprühen, da könntest echt du dir mal ein Stück davon abschneiden.“ Sie machte eine kurze Pause. „Ich liebe deine Ehrlichkeit, das weißt du. Ich finde auch deine direkte Art super. Aber manchmal verstehe ich schon, dass nicht jeder so viel Wahrheit verträgt. Deine zumindest.“ Sie dachte kurz nach und während ich noch grübelte, welche passende Antwort sie jetzt von mir erwartete, sprach sie schon: „Du könntest dir doch einfach mal überlegen, nur mehr deine Meinung kund zu tun, wenn sie nett ist.“
„Na, da habe ich dann aber vielleicht nichts mehr zu sagen.“
Caro warf ihre Hände in die Höhe. „Das ist genau das, was ich meine! Du musst echt deine Einstellung ändern!“ Insgeheim wusste ich, dass Caro damit Recht hatte. Den Tipp habe ich auch von Alexander schon regelmäßig erhalten. Und mir war selbst klar, dass ich mit meiner kritischen Art hier in Kleinberg keine Sympathiepunkte sammeln konnte. Regelmäßig beschwerte ich mich bei Alexander über seine Mutter – toller Schachzug – die Kindergärtnerinnen, die immer lächeln, als wären sie auf Drogen – ich habe schon ein paar Mal überlegt sie zu fragen, wo man hier in Kleinberg was zu kiffen kaufen kann -, die doofe Postangestellte, die mir absichtlich die falschen Briefmarken verkauft, weil sie mich nicht mag und die anderen Mütter, die unsere Söhne für zu wild und unangepasst halten und die sich ausschließlich über pädagogisch korrektes Zeug unterhalten. Hier konnte ich es einfach niemandem Recht machen. Meine Ideen waren immer schräg und unangepasst. Meine Gedanken zu absurd. Caro ist die erste, mit der ich seit Biene – ich vermisse sie täglich – eine Stunde durchquatschen kann und ich mich aufrichtig amüsiere.
Dabei ist mir Spaß im Leben immer so wichtig gewesen. Nachdem ich die letzten zwei Gymnasiumjahre eher schlecht als recht über die Bühne brachte, aber zumindest die Matura bestand, war meine Mutter heilfroh, dass ich erst Mal ein Jahr ins Ausland gehen wollte. Ich beschloss als Au-Pair Mädchen nach Amerika zu gehen. Meine Agentur schickte mich nach Philadelphia, zu einer wirklich netten, wirklich wohlhabenden Familie mit zwei entzückenden Kindern. Wenn ich jetzt so über diese beiden süße Knirpse – Billy und Joe – nachdenke, erkenne ich, dass meine Söhne im Gegensatz zu ihnen wirklich schlecht geraten sind. Was höchstwahrscheinlich an mir liegt. Suzie allerdings – die Mutter der beiden Kinder – fand immer, dass ich alles ganz toll machte mit ihnen. Sie gab mir damals ein eigenes Auto – ob ihr bewusst war, dass ich meinen Führerschein erst ein Monat in der Tasche hatte? – und ich düste den halben Tag mit den Kids durch die Gegend. Wir gingen Eis essen und auf den Spielplatz. Ich sah mir gemeinsam mit den beiden Rackern die Stadt an und wir verbrachten Stunde um Stunde im Park. Suzie war froh ihre heilige Ruhe zu haben und als ich dann, so wie ich es von zu Hause gewohnt war, auch noch Reisauflauf machte und einen Kuchen fürs Wochenende zauberte, war sie total aus dem Häuschen. Für mich völlig selbstverständlich putzte ich auch die Küche, saugte alle paar Tage durch die Zimmer und schüttelte die Betten der Kinder aus – obwohl Suzie eine Haushälterin hatte. „Ann, you really don’t have to do that!“ hatte sie fest entschlossen gesagt. Aber ich war es gewohnt mich auch zu Hause um meine eigenen Dinge zu kümmern und es hätte sich komisch angefühlt, das alles immer einer „Hausangestellten“ zu überlassen.
Billy und Joe hatten großen Spaß mit mir und ich mit ihnen. In dieser Zeit konnte ich die zwei schweren Jahre, die hinter mir lagen vergessen und genoss die große Distanz zu meiner Familie. Ich rief absichtlich selten an und war schwer erreichbar. Ich wusste, dass meine Mutter insgeheim froh war, mich aus der Schusslinie zu haben.
Und weil es mir so irrsinnig gut gefiel in Amerika, hing ich gleich noch ein Jahr dran bei einer anderen Familie in Florida. Da erwischte ich es nicht ganz so gut wie vorher, dafür aber lebten wir in der Nähe des Strandes und ich hatte einige Freizeit, die ich als ausgewachsener Teenager genießen konnte. Ich fand dort einen echten schwarzen „boy-friend“ und genoss das Gefühl mein eigenes Leben führen zu können. Meine Eltern hatten keinen blassen Schimmer, was ich so trieb und Angela, meine Au-pair Mutter war mit Job und mit ihren drei Kindern so eingedeckt, dass sie auch nicht darüber nachdachte, wo ich steckte, wenn ich frei hatte.
Erst als ich zurück nach Österreich musste, stellte mir mein Papa ein Ultimatum. Entweder ordentlich arbeiten oder studieren. Da ich aber relativ wenig praktisches Wissen im Gymnasium vermittelt bekommen hatte, erschien mir Studieren naheliegender. Meinem Papa schwebten natürlich Jura und Medizin vor – ein absolutes Gräuel für mich. Da ich zum damaligen Zeitpunkt schon über den Sommer in einem Café in Salzburg kellnerte, um nicht nur zu Hause abzuhängen, ich sehr gut Englisch sprach und mir Sprachen im Allgemeinen lagen, suchte ich nach Ausbildungen im Tourismus. Ich wusste, dass ich bald wieder weg musste von zu Hause und wollte mir eine Basis dafür schaffen. Schnell stieß ich auf eine Fachhochschule in Wien und war froh, dass mein Papa das für eine akzeptable Variante für mich hielt.
Ich war keine Vorzeige-Studentin, aber meine Noten waren so passabel, dass sich meine Eltern nicht darüber beschweren konnten. Die Fächer lagen mir allesamt gut und um nicht zu viel Zeit mit dem Lernen zu verplempern, suchte ich mir einen Nebenjob in einer Bar. Diesmal in einer echten Cocktail Bar. Ich entdeckte meine Lust am Kellnern. Manch einer mag das ja nicht unbedingt für einen Traumjob halten, aber ich liebe die Energie und die Geschwindigkeit dieser Tätigkeit. Du schwirrst von Tisch zu Tisch, bist irgendwie auch der Boss im Laden und hörst nebenbei super Musik, wenn du im richtigen Etablissement arbeitest. Die Kellnerinnen und die Kellner sind hübsch, die Gespräche oberflächlich aber unterhaltsam. Man ist nie alleine, arbeitet im Team und kann beim Arbeiten viel Spaß haben. Das passte mir richtig gut in den Kram. Meine Eltern wussten davon nicht allzu viel und ich hatte die Möglichkeit mir einiges an Geld dazuzuverdienen, was ich natürlich für andere Unsinnigkeiten wie coole Klamotten, Fortgehen, Konzerte und kleinere Reisen verplemperte. Am Ende des Studiums war ich vielleicht etwas klüger, aber genauso abgebrannt wie vorher. Und da mein Papa beim familiären Sponsionsessen die Bombe platzen ließ und mich als Kuckuckskind entlarvte, stand ich danach absolut blamiert da. Meine Träume zerplatzen, als ich mich noch am selben Abend in die Arme meines – zugegebenermaßen ziemlich oberflächlichen – On-und-off-Boy-friends Michael warf. Ich fühlte mich einsam und verraten. Zuerst verließ meine Mutter geschockt und wortlos das Lokal und wenig später folgte ich. Ich war heilfroh in Wien zu sein. Selbst wenn du tränenüberströmt durch die Straßen läufst, nehmen die Leute wenig Anteil an dir. Und es war gut so. In meiner Wohnung angekommen warf ich mich aufs Bett und gab mich meiner Trauer hin. Erst Stunden später entdeckte mich meine WG-Kollegin Petra und redete mir gut zu, trotzdem auf die Sponsions-Party meines Jahrganges zu gehen und mir durch die Offenbarung meines Papas nicht alles kaputt machen zu lassen.
Ich erinnere mich heute noch haarscharf an das Bild meines Papas, als er aufstand, tief einatmete, sein Glas Champagner hob und sagte: „Auf deine Tochter, Sybille!“ Meine Mutter erstarrte zur Salzsäule und auch mir rutschte das Herz in die Hose. Selten hatte er schon „deine Tochter“ gesagt, meist, wenn sie wegen mir stritten. Aber dieses Mal war der Tonfall anders. Er sah meine Mutter durchdringend an und ich wusste, er hatte sie enttarnt. Und damit auch mich.
Alle anderen kapierten nichts – bis meine Mutter aus dem Restaurant stürmte und wenige Sekunden später auch ich. Aber ich lief ihr nicht hinterher. Ich wollte nur weg von diesem Haufen, der meine Familie war. Jahrelang hatte ich gebraucht mich wieder in meinem normalen Leben einfinden zu können und mit gutem Gewissen und erhobenen Hauptes durchs Leben zu gehen. Endlich hatte ich mein Studium beendet und blickte voller Zuversicht in die Zukunft. Und dann das! Ich war blamiert und bloß gestellt. Vor meiner Schwester, ihrem Freund und meinem Lieblingscousin, seiner Frau und deren Söhnen. Sosehr hatte ich mich auf diesen Tag gefreut und dann entwickelte er sich so unerwartet zur größten Katastrophe.
Ich hatte gelernt zu wissen, dass es nicht meine Schuld war. Ich war kein Fehler, kein Fehltritt. Es war die Schuld meiner Mutter – und ihre Lüge. Aber ich war wieder Streitthema zwischen meinen Eltern, einfach nur weil ich ich war.
An diesem Tag beschloss ich kein Teil dieses Problems mehr sein zu wollen. Ich fand, dass ich jedes Recht hatte so leben und sein zu können, wie ich wollte. Die Anrufe meiner Mutter drückte ich weg. Als meine Schwester zu meiner Wohnung kam, öffnete ich nicht. Petra checkte später die Lage, bevor ich das Haus verließ, um zur Sponsionsparty zu gehen. Sie fuhr sogar mit mir hin, was ich ihr heute noch hoch anrechne, da sie später an diesem Abend ihren Nachtdienst an der Tankstelle antreten musste und eigentlich gerne vorgeschlafen hätte.
Zu meinen Studienkollegen sagte ich kein Wort, nur meine beiden besten Freundinnen Jana und Stefanie wussten Bescheid, dass ich ein Kuckuckskind war. Was für ein schrecklicher Ausdruck! Immer wenn ich so von mir spreche, empfinde ich einen gewissen Ekel bei diesem Wort. Ich bin ein Kuckuckskind. Noch heute kann ich mich mit dieser Formulierung nicht anfreunden.
Und weil mir nichts Besseres einfiel an diesem Abend, versuchte ich einfach mitzumachen bei der Party meiner Studienkollegen und Freunde. Gegen meinen Kummer trank ich viel Alkohol und ab circa Mitternacht kann ich mich an die Geschehnisse dieser Nacht nur mehr schemenhaft erinnern. Alkohol ist natürlich nie ein verlässlicher Partner – vor allem dann nicht, wenn man stimmungsmäßig eh schon am Boden ist. Ich denke ich habe mich in dieser denkwürdigen Nacht irgendwann total durchhängen lassen und Michael mein Herz ausgeschüttet. Nüchtern betrachtet keine so gute Idee. Der war aber scheinbar auch dermaßen besoffen, dass er höchstwahrscheinlich gar nicht mehr mitbekam, was ich ihm über meinen Papa und meine Familie erzählte. Zumindest vermute ich das, weil er mich nie wieder darauf angesprochen hat. Und zum Trost hat er mir meine Tochter geschenkt. Völlig unbeabsichtigt möchte ich anmerken – für uns beide. Geschockt hockte ich vier Wochen später am Klo mit einem positiven Schwangerschaftstest.
Ich liebe meine Tochter und daran lässt sich nicht rütteln und niemals möchte ich sie missen, aber perfektes Time-Management sieht anders aus. Ich sah meine Pläne von Paris und New York, tollen Jobs und einer aufregenden Zukunft vor meinem geistigen Auge davon schweben. Manchmal bemühe ich mich wirklich aufrichtig, mich nicht als den geborenen Pechvogel zu sehen, der ich bin - aber bei einem groben Überblick über mein bisheriges Leben fällt es nicht schwer, eine etwas größere Portion Planlosigkeit und direkt anvisierter Fettnäpfchen zu erkennen.
Über meine erste Schwangerschaft war aber selbst ich wirklich geschockt. Dass mir das passieren würde, damit hätte ich nicht gerechnet. Verhütung war ein Thema, das ich im Normalfall echt gut beherrschte, hatte ich sie doch seit gut acht Jahren sehr erfolgreich betrieben. Was in jener Nacht passierte, weiß ich tatsächlich nicht. Ich nahm die Pille, doch aufgrund der Übelkeit des nächsten Tages musste ich mich übergeben. Wahrscheinlich war es genau diese eine Portion Hormone, die da zusammen mit einer Menge Restalkohol und halbverdautem Essen am nächsten Morgen direttissima in Michaels Klo wanderten und so in meiner Blutbahn fehlten und daher nicht verhindern konnten, dass sich Leandras Spermien-Kaulquappe in mein Ei hineinbohrte. Warum dieser Hornochse von Michael nicht auch noch zusätzlich ein Kondom verwendete, ist meiner Meinung nach sein Beitrag zum Ergebnis.
Ich möchte dies selbst wirklich nicht als größte Katastrophe meines Lebens betrachten, aber an manchen Tagen fällt es mir schwer mir nicht zu wünschen, ich wäre an diesem Abend einfach alleine in meinem Zimmer geblieben und hätte mich mit Yogi-Tee und Schokolade getröstet. Vielleicht hätte ich es dann tatsächlich nach New York geschafft, vielleicht hätte ich mir den Traum von der erfolgreichen Hotelmanagerin oder Barbesitzerin erfüllt. Vielleicht. Ich werde es nie wissen.
Alexander allerdings ist da in seiner Gedankenfolge viel konsequenter. Wenn ich ihm mit solchen Überlegungen komme, macht er kurzen Prozess mit mir. Er fragt mich dann: „Liebst du mich?“ und ich antworte „Ja“ weil das stimmt.
Und er fragt, ob ich mein Leben lieber an der Seite eines anderen Mannes verbracht hätte und ich antworte „Nein“ weil ich mir das gar nicht vorstellen kann. Noch nie habe ich mich so sicher, so beschützt, so gut aufgehoben und so ganzheitlich geliebt gefühlt. Und dann kommt sein logisches Finale, wenn er mich direkt ansieht und voller Überzeugung spricht: „Wenn du Leandra nicht bekommen hättest, wärst du nicht in die WG mit Biene gezogen und du hättest nicht im „Shrimps, Cocktails & more“ gearbeitet und wir wären uns nie begegnet.“
Diskussion beendet. Weitere Fragen?
Danach nimmt er mich immer in die Arme und streichelt mein Haar, wie man es bei einem kleinen Baby tut. Und dafür liebe ich Alexander. Weil er mir als Einziger immer wieder das Gefühl gibt, alles richtig gemacht zu haben. Mehr kann man für mich nicht tun.
Caro sah mich weiterhin an und schüttelte den Kopf.
„Warum probierst du’s nicht echt einmal?“
„Was?“
„Positiv denken!“
„Hm. Ich weiß nicht. Wahrscheinlich, weil ich dann am Ende enttäuscht bin. Wenn ich immer vom Schlimmsten ausgehe bin ich dann positiv überrascht, wenn doch mal etwas klappt. Ist sicherer für mich, verstehst du?“
Caro nickte. Sie verstand. Erstaunlich.
„Aber jetzt mal ehrlich? Ist bei euch in der Beziehung wirklich alles in Ordnung?“
Einen kurzen Moment dachte ich nach und sah Alexander und mich und die Kinder.
„Ja, im Großen und Ganzen schon.“
„Was ist das Große und Ganze?“
„Das Große ist das Leben im Allgemeinen, die Gesundheit, das Finanzielle und das Ganze ist die Familie, die Kinder.“
„Und ihr beide als Paar?“
„Das sind wir.“
„Nein. Ich meine all das an euch, wenn du die Kinder, den Alltagskram, den Job, das Finanzielle wegtust. Wer seid ihr? Was bleibt von euch übrig, wenn du die ganzen hard facts wegtust.“
Ich überlegte eine Weile hin und her. Nur mehr knappe zehn Minuten bis zu meiner Schlafens-Deadline. Wenn man alles, was unser Leben ausmachte, wegrechnete – was war da?
„Unsere gemeinsamen gemütlichen Abende. Unsere Gespräche. Und natürlich der Sex.“ Ich nickte. Caro nickte. Ich war zufrieden, denn ich hatte wohl begriffen, was sie wirklich wissen wollte.
„Gemeinsame Freunde?“ Ich schüttelte den Kopf.
„Gemeinsame Hobbies?“ Caro fing meinen fragenden Blick ein und fügte schnell hinzu „Kinder nicht eingerechnet“. Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Sex?“ Ich nickte.
„Wieviel?“
„Wieviel? Du meinst wie oft?“ Caro bejahte.
„Hm. Naja. Deinen Ansprüchen werden wir da nicht gerecht. Aber wir haben auch drei Kinder! Da läuft es anders als vorher. Glaube mir: Kinder saugen dich aus. Abends bist du total fertig und einfach nur froh, wenn du mit niemandem mehr reden musst oder einfach nur regungslos im Bett liegen darfst.“
Caro sah mich resignierend an.
„Weißt du Anna, ich habe noch bei niemandem so hautnah miterlebt, dass er unter seinen eigenen Kindern so leidet. Wenn ich mir deine Stories länger anhöre, dann werde ich garantiert nie Kinder wollen.“
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und setzte eine gespielt beleidigte Miene auf.
„Naja. Jetzt übertreibst du. Du weißt ich liebe meine Kinder, aber du kennst sie auch schon und jetzt sage mir Hand-aufs-Herz, dass die nicht echt auch manchmal echt, echt mühsam sind!“
Caro nickte. Ja, sie hatte schon ein paar von Valentins Wutkrämpfen, eine Handvoll nicht zu bremsende Redeschwalle von Benedikt und mindestens zwei gröbere Zickereien von Leandra hautnah miterlebt.
„Caro, eines kann ich dir garantieren: Mütter, die dir sagen, mit Kindern ist es immer das Schönste auf Erden, die sind A. erst seit zwei Stunden Mutter und vollgepumpt mit Glückshormonen oder B. Lügnerinnen. Was anderes gibt es nicht!“ Caro nickte wieder und nahm einen nachdenklichen Schluck von ihrem Mochito.
Obwohl Caro und ich uns erst seit drei Wochen kannten, waren wir uns irgendwie sehr nah. Ein Außenstehender hätte vielleicht nicht vermutet, dass wir es gut meinten miteinander, doch ich war mir sicher. Die Direktheit unserer Gespräche gab mir Sicherheit. Ich bin der Meinung, dass die Menschen, die dir ihre Meinung auch unverblümt ins Gesicht sagen, in Wahrheit die besseren Freunde sind. Sie haben offenbar weniger Angst. Dich zu verlieren. Dich zu enttäuschen. Dich zu verletzen.
Wo Alkohol ein schlechter Ratgeber ist, ist Angst der schlimmste Begleiter überhaupt. Ich muss es wissen. Hatte ich doch selbst jahrelang Angst aufzufliegen. Ich – die Lüge schlechthin.
Ich mag Menschen mit Abgründen und am liebsten ist es mir, wenn sie sie mir gleich anvertrauen. Da fühle ich mich wohl. Da kann ich auch so sein wie ich wirklich bin. Gut und schlecht. Nett und böse. Fehlerhaft. Imperfekt. Manchmal – wenn das Thema passt – mag ich es sogar die Menschen zu schocken, wenn ich ihnen relativ unerwartet berichte, dass ich ein „Kuckuckskind“ bin. Es ist immer sehr interessant zu sehen, wie die Leute reagieren. Die Palette der Reaktionen ist groß. Am Schlimmsten sind die, die kurz entsetzt dreinschauen und dann das Thema wechseln. So, als hätte ich nichts gesagt. Das ist doch das Ärgste! Meist blinzeln sie dabei, um das Gesagte schnell wegzuradieren. Mit solchen Leuten reichen meine Konversationen nur mehr zum Erfragen der Information, wo sich denn die Toilette befindet.
Andere wiederrum versuchen es auf die ganz höfliche Art. Sie schauen einen mitfühlend an und sagen dann Dinge wie „Das tut mir leid.“ und warten dann unsicher, ob du noch was dazu sagst. Einmal fragte ich nach: „Was tut ihnen leid?“ Mein armes Gegenüber hat sich dann extrem unbeholfen in eine totale Sackgasse geredet mit „Naja. Dass sie ein Kuckuckskind sind.“
„Aber warum tut das ihnen leid?“ habe ich nachgefragt.
„Naja. Weil das wahrscheinlich ein schweres Schicksal ist, nehme ich an.“
„Warum nehmen sie das an?“
Wenn Alexander mitbekommt, dass ich die Nummer abziehe, boxt er mir in die Rippen und zerrt mich weg. Er findet das total unfair. Ist es ja auch. Aber warum darf ich da drüber nicht auch mal lachen dürfen? Konnte ich jahrelang nicht und ich bin der Meinung, dass es mir zusteht, das nachzuholen.
Caro bestand den Test sofort. Sie sah mich interessiert an, zog die Augenbrauen hoch, nickte anerkennend und sagte: „Cool.“
Das ist doch mal eine gute Reaktion. Ich bin ein Kuckuckskind. Nicht krank.
Vor Frauen, die immer nur lächeln und ihr Sonntagsgesicht zeigen, habe ich Angst. Menschen, die alles überspielen. Die mit dem perfekt antrainierten „Alles wird gut“ Gesicht. Die sich immer sicher sind, dass alles gut gehen wird, dass sie alles schaffen können. Das ist mir wirklich unheimlich. So war mein Papa. Gut, er ist ein Mann und hat wohl gelernt so zu sein. Doch damals, Jahre nachdem unsere Familienlüge aufgeflogen ist, hat er einmal geweint. Vor mir. Ich habe es genau gesehen. Als er Leandra in seinem Arm hielt und uns am Spielplatz in Wien besucht hat. Ich sah die Tränen über sein Gesicht laufen und er sah mich an und flüsterte ein leises „Entschuldigung!“
Da habe ich ihn wieder in mein Herz geschlossen, weil auch er endlich mal schwach war. Weil er einen Fehler zugegeben hat. Denn er hat mich gestraft für die Lüge meiner Mutter und sich monatelang nicht bei mir gemeldet. Ich kann verstehen, dass es hart gewesen sein musste für ihn, aber ich bin verdammt noch mal trotzdem seine Tochter. So will ich das heute sehen. Ich bin das Kind meines Papas, auch wenn ich es biologisch nicht bin. Im Herzen bin ich es. Ich habe alles von ihm gelernt. Er hat mir Radfahren beigebracht und mir die Hand gehalten, wenn ich Angst hatte. Er hat mich bis kurz nach meinem vierundzwanzigsten Geburtstag wie sein eigenes Fleisch und Blut behandelt, weil er dachte, dass ich das bin. Er hat seine Vaterliebe zu mir vierundzwanzig Jahre lang gepflegt und zum Glück erkannt, dass die Tatsache, dass wir uns alle getäuscht haben, nichts mehr daran ändern kann.
Dass Vaterliebe nicht nur über die Biologie funktioniert, sehe ich an Alexander und Leandra. Leandra weiß, dass Alexander nicht ihr „Bauch-Papa“ ist. Der, der sie also in den Bauch der Mama eingepflanzt hat. Sie weiß, dass sie noch einen anderen Papa hat; einen, den sie nicht kennt. Ein paar Mal war ich bei einer Psychologin und habe anschließend beschlossen, die Version des zu beschäftigten Papas zu wählen. „Dein Papa lebt ganz woanders und hat einfach viel zu viel zu tun. Wir haben uns total aus den Augen verloren, weil wir leider keine Freunde mehr sind.“ Das ist die Begründung, die meine Tochter kennt. Und sie stimmt teilweise.
Ich weiß nicht, wo Michael steckt. Heute will ich es auch gar nicht mehr wissen. Dass er lebt, weiß ich, denn er überweist monatlich Geld für Leandra. Nach ihrer Geburt wollte er sie jahrelang nicht sehen. Irgendwann – Leandra war damals schon über drei Jahre alt - wollte er sie dann kennenlernen, doch als ich klarstellte, dass er sich der Konsequenzen bewusst sein musste und dann nicht einfach wieder klanglos im Untergrund verschwinden könne, sondern zumindest einen losen Kontakt halten müsse, zog er schnell wieder den Schwanz ein.
Alexander auf der anderen Seite, hat meine Tochter sofort in sein Herz geschlossen. Zu Beginn – wir waren noch nicht mal ein Paar – wollte er am Sonntag mit uns auf den Spielplatz gehen. Er hatte frei und ich auch. Wir hatten uns über einen meiner Aushilfsjobs kennen gelernt und nach kurzem schon bemerkte ich, dass es zwischen uns gewaltig knisterte. Meine Freundin Biene, mit der ich mir eine Wohnung in der Zirkusstraße teilte, vermittelte mir einen Job im „Shrimps, Cocktails & more“. Biene, mein Glücksbringer, ist fünf Jahre älter als ich und Mutter von zwei Kindern. Sie wurde kurz vor mir von ihrem Mann sitzen gelassen. Obwohl – ich wurde ja nicht wirklich sitzen gelassen. Ich saß ja von der ersten Sekunde an komplett alleine im Boot.
Verängstigt und planlos saß ich damals in meiner alten Wohnung, die ich in wenigen Tagen räumen musste. Ich hatte Petra zugesagt Mitte August aus unserer WG auszuziehen und sie hatte bereits jemand anderem zugesagt, der ihr auch schon eine Kaution bezahlt hatte. Es tat ihr leid mich raushauen zu müssen und deswegen bot sie mir an, dass wenn alle Stricke reißen würden, ich noch ein paar Nächte auf der Couch bleiben könnte. Was ich schlussendlich zum Glück nicht musste.
Denn ich fand Bienes Anzeige auf www.willwohnen.at. Ihre Worte waren mir total sympathisch. Ich erinnere mich heute noch daran und weil es der Beginn einer sehr guten Zeit war, habe ich mir die Annonce damals auch ausgedruckt und hebe sie mit ein paar besonderen Erinnerungen, in einer hübschen Schachtel in der untersten Lade meines Nachtkästchens auf. Biene schrieb:
„Sitzengelassene 2-fach Mutter sucht saubere MitbewohnerIN mit festem Charakter und bevorzugt gebrochenem Herz im 2. Bezirk, Zirkusgasse. Vergebe schönes Einzelzimmer mit Küche und Bad zur Mitbenützung. Interesse an gemeinsamen Heulabenden vorhanden.“
Schon damals habe ich mich in Biene verliebt. Ihre Ehrlichkeit haute mich um und ich schrieb ihr sofort. Wenige Stunden später besuchte ich sie in unserer zukünftigen Bleibe und einen Tag später half sie mir meine Sachen aus der Martinstraße zu übersiedeln. Ich besaß zum damaligen Zeitpunkt kein Auto. Biene schon. Sie war damals immerhin schon neunundzwanzig, Mutter eines vierjährigen Sohnes und einer zweijährigen Tochter. Ihr Mann betrog sie ein ganzes Jahr mit seiner Sekretärin und war scheinbar nicht mal besonders geschockt, als Biene es herausfand. Nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, warf sie ihn kurzerhand aus der gemeinsamen Wohnung. Da sie damals nicht arbeitete, beschloss sie schnell ein Kinderzimmer zu streichen und zur finanziellen Unterstützung eine Mitbewohnerin zu suchen. Das war dann ich. Biene hatte sofort Mitleid mit mir. Ich gestand ihr vom ersten Moment an meine noch nicht sichtbare Schwangerschaft. „Aber du kannst dir das Zimmer leisten, oder? Ich kann dich echt nicht gratis wohnen lassen!“ war ihre einzige Frage. Ich versprach ihr Hoch und Heilig, dass ich natürlich bezahlen würde. Damit war das Thema erledigt.
Das Zusammenleben mit Biene war traumhaft. Sie wurde meine Familie und sie erkor mich zur besten Tante der Welt. Sie machte mir Lust auf den Zwerg, der meinen Bauch knapp zum Platzen brachte und bestärkte mich darin, dass ich eine gute Mutter sein könnte bzw. würde. An ihren Kindern durfte ich üben. Wickeln, Geschichten vorlesen, kochen und füttern, Bauklötze auftürmen, still Tauben beobachten und erklären, warum die Straßenbahn auf Schienen fährt. Während meiner Schwangerschaft arbeitete ich noch bis zum sechsten Monat in einem Kaffeehaus, bis mein Chef mich wegen meines zu sichtbaren Bauches heimschickte. Danach gab ich Nachhilfe. Mein Englisch war damals noch immer sensationell gut und Biene erlaubte mir entweder das Wohnzimmer oder die Küche für die Nachhilfe Stunden zu benützen. Mit dem Geld kam ich sehr gut über die Runden und Biene ließ mir immer Geld nach, wenn ich abends ihre Kinder hütete. Sie begann damals wieder zu kellnern und zweimal die Woche arbeitete sie als Nachportier im nahegelegen Hotel Angelika. Ihre Kinder Tristan und Arabella gingen mir schnell zu und ich war froh ein gemütliches Zuhause gefunden zu haben, wo ich willkommen war. Wenn wir beide frei hatten, gingen wir gemeinsam Lebensmittel einkaufen, kochten und quatschten den ganzen Tag. Wir verbrachten lange Nachmittage im Augarten am Spielplatz, fuhren mit der U-Bahn in den Volksgarten, genossen das Wetter und die Großstadt. Da ich auf Weihnachten zu Hause keine Lust hatte, nahm sie mich kurzerhand zu ihren Eltern nach Langenfurth in Niederösterreich mit. Bienes Eltern waren genauso nett wie sie selbst und es war eines der schönsten Weihnachten, die ich bis dahin verbracht hatte.
Erst im Januar informierte ich meine Eltern über meine Schwangerschaft. Meine Mama meldete sich in diesem Herbst alle zwei Wochen bei mir, doch ich hatte keine große Lust mit ihr zu telefonieren, also schrieb ich hin und wieder nur eine kurze sms. Meine Schwangerschaft eröffnete ich ihnen in einem Brief. Ich verwendete keine Anrede. Was hätte ich schreiben können? „Liebe Mama, lieber Papa!“ stimmte nicht mehr. „Liebe Mama!“ und kein Papa mehr? Auch blöd. „Liebe Mama, lieber Andreas!“ Dämlich! „Liebe Sybille, lieber Andreas!“ Kurz dachte ich an „Hey Ihr Stinker!“ aber ich besann mich natürlich eines Besseren. Die ganz derben Gedanken behalte ich dann doch öfter nur für mich – oder spar sie mir für später, um sie Alexander zu erzählen. Obwohl er äußerlich betrachtet ein viel gemäßigter Typ ist als ich, kann er mit und über mich lachen. Er nimmt mir selten was übel. Einzig wenn er den Kopf schüttelt und nichts sagt, weiß ich, dass es genug ist.
Also verwendete ich keine Anrede. Nicht mal „Hallo!“ Wie klang denn das? Ich war immerhin mehr als eine weitläufige Bekannte. Meine Nachricht war kurz und informativ.
„Ich wollte Euch nur Bescheid geben, dass ich diesen März mein erstes Kind erwarte. Liebe Grüße, Anna“
Mehr fiel mir einfach nicht ein. Ob es mir gut ging? Wollten sie das wissen? Wollte ich es ihnen sagen? Mein Papa, der immer hinter meinen beruflichen Plänen her war, hatte seit dem denkwürdigen 26. Juni 2003 aufgehört mich zu kontaktieren und meine Mama traute sich kaum etwas zu fragen. Ich denke sie war damals auch heftigst mit sich beschäftigt und damit um meinen Papa zu kämpfen. Erst später erfuhr ich von meiner Schwester, dass er für mehr als ein halbes Jahr auszog. Eigentlich wundert es mich heute noch, dass meine Eltern doch wieder zusammen fanden. Meine Mutter kann hartnäckig sein, aber irgendwie habe ich echt nicht damit gerechnet, dass er ihr jemals verzeihen könnte. Habe ich mich getäuscht. Zum Glück.
Ja, ich bin froh, dass meine Eltern heute wieder zusammen sind. Sie sind nicht das glückliste Paar aller Zeiten, aber sie sind echt. Und die Lüge hat aus meinem Papa einen Mensch gemacht. Heute, als halb-erwachsene Frau und Mutter von drei Kindern weiß ich eines sicher: die Wahrheit liegt immer in der Mitte. Ich war ja immer ein Schwarz-Weiß-Typ so wie Caro noch einer ist. Aber Kinder machen dich weich. Du erkennst, dass der Grauton deine Zone ist. Da wo die Grenzen verschwimmen. Auf Fragen gibt es nicht mehr nur die eine gültige Antwort. Wer siegt in einem Streit? Woran erkennt man den Sieger? Der der erster lacht oder als letzter? Täter und Opfer sind oftmals eins und am Ende verlieren beim Zwist immer zwei. Wenn Leandra und Benedikt streiten, haut meist Benedikt als erster zu. Doch Leandra weiß ganz genau, wo sie ihn ärgern kann. Sie kennt seine wunden Punkte, seine Unterlegenheit und bohrt so lange darin herum, bis er hilflos um sich schlägt. Nicht erst einmal habe ich diese Dynamik beobachtet.
Und wer ist dann Schuld? Leandra, die lästige Ziege oder Benedikt, der Schläger???
Wen schimpfe ich? Zu wem halte ich? Wer muss verteidigt werden?
Du betrügst deinen Mann nicht ganz ohne Grund. Nicht, dass ich auf diesem Gebiet Erfahrung hätte! Doch auch wenn er nicht Schuld ist, das möchte ich auf keinen Fall sagen, das wäre zu leicht, obwohl das durchaus ein Grund sein kann, kann sein Verhalten dich dorthin führen. Mein Papa war immer der Boss. Überlegen, erhaben über jeden Zweifel. Er war immer der Gewinner. Meine Mutter ist auch erfolgreich. Sie hat drei Kinder großgezogen, ohne gröbere Katastrophen – meine ausgenommen – aber die schreibe ich eh hauptsächlich mir selbst zu. Sie hat es geschafft beruflich wieder einen Anschluss zu finden und arbeitet heute erfolgreich als Einkäuferin für eine große Parfumerie-Kette. Sie ist eine sehr attraktive Frau mit gutem Geschmack, achtet gut auf sich, ist eine tolle Hausfrau und kann mir durchaus als Vorbild dienen.
Aber meinem Papa das Wasser reichen zu wollen, war sicher nicht immer leicht. Ich weiß nicht, ob das der Grund war. War sie einsam? Böse? Wütend? Vielleicht selbst betrogen?
Wie gesagt: ich werde nicht weiter bohren. Nie wieder! Das habe ich gelernt. Die Erkenntnis ein Kuckuckskind zu sein hat mich nicht weiß-Gott-wie weitergebracht. Habe ich so zumindest noch nie gesehen. Es gibt die Menschen, die dann sagen: „Du wirst sehen. In ein paar Jahren erkennst du, dass das alles für etwas gut war.“ Besser, als nicht das Ergebnis eines verheimlichten Seitensprungs zu sein? Mit dieser Art von Zweckoptimismus kann ich nichts anfangen. Nein, ganz sicher wäre ich mindestens genauso glücklich gewesen, wenn diese unschöne Wahrheit über meinen Ursprung erst gar nicht real wäre. Was hätte schlecht sein sollen daran, dass alles in Butter war. Ich, das richtige Ei, im richtigen Nest. Es wäre mir normal erschienen. Ist ja auch normal. Ich habe nichts gegen normal. Nur der Kuckuck, meine Mutter, dieser Rabe, hat mich einfach in das Nest meines Papas geschmuggelt. Ich bin Diebsgut. Wurde meinem Vater gestohlen, ohne dass er es überhaupt wusste. Hat mich gar nie vermisst. Schon eigenartig, diese Gedanken über meine Herkunft.
Ob ich meinen Vater kennen lernen wollte? Zu Beginn nicht. Ich hatte andere Probleme. Später, nach einigen Monaten fragte ich meine Mutter nach ihm. Sie bat mich zu verstehen. Wieder. Die nächste Lüge. Er wusste nicht von mir. Auch er war verheiratet. Meine Mutter hatte ihm nie gesagt, dass ein Kind aus ihrer Affäre entstanden war. War es eine Affäre oder nur eine Nacht? Ich traute mich lange nicht zu fragen. Es ist nicht fein, die Abgründe der eigenen Mama zu erkunden. War sie doch bis dahin die helfende Hand, der schützende Schirm über mir. Erst als Leandra auf der Welt war - meine Mutter kam damals jedes Monat mindestens einmal nach Wien, weil sie mich unterstützen wollte – konnte ich ihr verzeihen. Sie brachte Unmengen von Windeln, Geld und schöne Dinge für mich. Mal ein Parfum, mal einen Gutschein von Sisley und Mango. Sie wollte mich glücklich machen und mich trösten. Das weiß ich. Und den Versuch rechne ich ihr hoch an. Zu Beginn schlief sie im Hotel Angelika, weil sie sich nicht traute zu fragen, ob sie auf der Couch schlafen dürfte. Erst beim dritten Mal bot Biene an, dass sie doch auch auf der Couch schlafen könnte. Meine Mama sah mich fragend an. Ich nickte. Es war o.k. Ich war dankbar für eine Nacht, die ich durchschlafen konnte. Leandra war kein pflegeleichtes Baby. Sie war das erste Enkelkind meiner Mama.
Nie hätte ich gedacht, dass meine Mama eine so tolle und vor allem begeisterte Oma sein würde – besonders unter den damaligen Umständen. Mit Leandra war sie total entspannt. Wenn ich sie beobachtete, bemerkte ich, dass sie mit meiner kleinen Maus richtig glücklich war. Ich weiß, dass sie große Opfer brachte alle drei Wochen von Freitag Abend bis Sonntag Nachmittag zu mir nach Wien zu kommen. Meine Schwester hatte mir berichtet, dass Papa wieder zu Hause eingezogen war. Offensichtlich waren sie auf dem Weg es noch einmal zu probieren. Ihr Job war sicherlich stressig, wenn ich sie danach fragte, winkte sie immer wortlos ab. Wenn meine Mutter das tut, ist es meist ziemlich schlimm. Und vielleicht hat Leandra sogar auch ihr geholfen diese Zeit zu überstehen. Sie war eine Möglichkeit sich mir zu nähern, ihrem eigenen Leben zu entfliehen und das Leben noch mal in seiner größtmöglichen Leichtigkeit zu spüren. Mit den Augen eines Kindes. Essen, Trinken, Schlafen, Spielen. Basta! Mit wie wenig wir beginnen und was im Laufe der Jahre für Unmengen Ballast dazu kommt.
Eines Sonntagnachmittags also in Wien, als wir zu Fuß zum Bahnhof spazierten – meine Mama kam damals lieber mit der Bahn – ich glaube, weil sie sich mit dem Schlafmangel, den Leandra verursacht hatte, nicht mehr ans Steuer traute – fragte ich sie. Ob sie meinen biologischen Vater denn auch geliebt hatte. Sie atmete tief durch, sah geradeaus und strich Leandras Decke im Kinderwagen gerade bevor sie sagte: „Für einen Moment dachte ich es.“ Dann sah sie mich an. Direkt in die Augen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“
War das eine Enttäuschung? Ich weiß es nicht. Wäre es notwendig gewesen, dass sich meine biologischen Eltern auch wahrhaftig liebten im Moment meiner Zeugung? Wäre ich dann besser? Glücklicher? Hätte es irgendetwas verändert? Was wäre gewesen, wenn sich meine Mama danach von meinem Papa getrennt hätte und mit meinem echten Vater zusammengekommen wäre. Wo wäre meine jüngere Schwester heute?
Ich glaube an das Schicksal. Und ich hoffe, dass es uns sowieso ereilt. Dann kann ich weniger falsch machen. Was passieren muss, wird sowieso passieren. Caro findet das natürlich Schwachsinn. War ja klar. Caro ist Fitnesstrainerin. Sie glaubt an die Kraft. Die, der Gedanken und die der Muskeln. Ihr Körper ist ein Beweis ihrer Einstellung. Caro ist eine weibliche Kampfmaschine. Ihr Körper ist gestählt, ihr Blick klar. Sie denkt nach was sie will und trifft dann eine Entscheidung, aufgrund derer sie einen Aktions-Plan entwirft und diesen 1:1 durchzieht.
Caro will elf Prozent Fettgehalt und den hat sie auch. Habe ich mit eigenen Augen gesehen, auf ihrer High-Tech Waage, die sie immer bei sich hat. Diese Verrückte. Ich besaß nie eine Waage. Jede enge Jean verrät dir, ob du die Tage zuvor zu sehr gevöllert hast oder nicht. Da brauche ich kein Gerät dazu.
Caro liebt Ralf und Ralf liebt Caro. Denn Ralf ist das männliche Pendant zu Caro. Er ist ehrgeizig, zielstrebig und entschlossen. Die beiden sind ein sogenanntes Power-Paar. Völlig unschlagbar. Grundsätzlich sehr unsympathisch. Wäre nicht Ralf ein guter Kindheits-Freund von Alexander, hätte ich ihn nicht kennen lernen wollen. Model-Gesicht (gut, dafür kann er ja nichts), Hammer-Körper, perfektes, modisches Gespür, einwandfreie Manieren. Freundlich, offen und lustig. Gott im Himmel – wie anstrengend. Und dann in seinem Schlepptau – Caro. Zahnspangenlächeln, Superbody, mindestens 800 Gramm Silikonbrüste – ich schätze pro Seite!
Ich muss allerdings zugeben, dass mich das fasziniert. Einerseits finde ich es zutiefst ekelhaft sich wabbeligen, leblosen Müll unter die Haut – ernsthaft bis ans eigene blutige Fleisch – stopfen zu lassen. Auch an mir sind diese schauerlichen Schönheits-OP-Dokus nicht spurlos vorüber gegangen. Andererseits finde ich es gut, Dinge zu tun, die man nur für sich selbst tut und auch dazu steht. Ohne Rücksicht auf Verluste – in dem Fall vielleicht sogar die eigene Gesundheit.
Unvernünftig, aber das mag ich ja.
Caro hat einen Traum und den lebt sie. Sie will schön sein, sie will fit sein, sie will sich gut fühlen. Und das tut sie. Man sieht es ihr an. Bei unserem ersten Treffen in unserer eigenen Wohnung hatte es eine Affenhitze, weil es draußen saukalt war und ich schon seit acht in der Früh den Kachelofen anheizte. Alexander und ich lieben die Wärme, die Sonne, den Süden. Wo einem Kleinberg nicht als erstes in den Sinn kommt. Caro musste sich ihr hübsches Langarm-Leibchen ausziehen, damit ihr die Schweißperlen nicht gleich vom Haaransatz hinter den Ohrläppchen auf den vorderen Schulterbereich und weiter ins Dekoltee geronnen wären. Unter ihrem Shirt hatte sie einen Hauch von einem Shirt an. Dünn, fast durchsichtig, ohne Ärmel und mit tiefem Ausschnitt. Darunter ein sexy Push-Up. Ich war fasziniert und starrte auf ihren Busen. Sie bemerkte meinen Blick und lächelte. Keine Scham, keine Unsicherheit. Fragend hob sie die Augenbrauen und nickte mir zu.
„Frag nur.“ sagte sie.
Wir hatten bis dahin kaum vier Sätze gewechselt. Uns lediglich freundlich begrüßt und ich stellte ihr gerade ihren Kaffee – schwarz, ohne Zucker – logisch, oder? – auf unsere Bar. Meinte sie das ernst? Wusste sie, was ich dachte? Scheiß drauf, kam mir in den Sinn. Mittlerweile war ich überzeugt, dass ich in Kleinberg nichts mehr zu verlieren hatte.
„Sind die echt?“
Caro lachte nun laut. „Nein.“ Sie schüttelte ihren Kopf und ihre langen, welligen, goldblonden Haare, die sie zu einem hohen Zopf am Hinterkopf fixiert hatte, wiegten von einer sexy Schulter zur anderen. Erst als sie mich fragte: „Magst mal anfassen?“ und ich ihrem Angebot nachkam, traf Alexander fast der Schlag.
Er war bis dahin im Gespräch mit Ralf vertieft gewesen, als er plötzlich zu mir rüber sah und rief: „Anna!“ Sein Blick war wirklich geschockt. Und dabei kennt er mich doch schon so gut.
Caro und ich lachten bis wir fast am Boden lagen und da wusste ich es: Die Reinkarnation von Biene war da. Endlich! Sie hat mich gefunden. Ich habe wieder eine Freundin! Ein Mensch zum Anfassen – im wahrsten Sinne des Wortes.
Männer verstehen Frauen-Freundschaften nicht. Frauen auch nicht. Die Frauen aus Kleinberg zumindest nicht – meine Meinung. Es gibt drei Gruppen von Freundinnen-Frauen in Kleinberg.
Gruppe A: die Messlatten. Sie vergleichen den ganzen Tag. Ihre Ehen, ihr Gewicht und ihre Kleidergröße. Die Kinder, das Haus – Größe, Ausstattung, Baujahr. Jeden Tag geht es ums Gewinnen und Verlieren. Bist du heute leichter, hast du gewonnen. Haut dein Sohn morgen als erster zu, verlierst du. Hast du das beste Guglhupf-Rezept, bist du King. Und so weiter und so fort. Schrecklich!!! Bei denen lauf ich sofort weg. Denn: da will ich nicht mithalten.
Gruppe B: die Versöhnlichen. Sie versprühen den Spirit: gemeinsam sind wir stark. Sie jammern über ihre Männer und bemitleiden sich selbst. Sie sprechen sich Mut zu, versuchen tapfer zu sein. Sie verstehen die Probleme der Anderen. Sie brauchen einander, um sich angenommen zu fühlen. Jammern tu ich auch, aber nicht über Alexander. Ich jammer bei Alexander über die. Die ziehen mich runter. Und sie langweilen mich. Ihre Gedanken sind in einem festen Raster eingekesselt. Das macht keinen Spaß. Zu Beginn war ich in Wien auch in so einer Mütter-Runde unterwegs, aber nach wenigen Wochen stieg ich auf Reality-TV um. Das bot mehr Höhepunkte.
Gruppe C: die Schlangen. Das sind natürlich die Gefährlichsten. Sie vereinen beide Seiten. Sie sind die Überläufer der Messlatten im Fell der Versöhnlichen getarnt. Sie wirken auf den ersten Blick wie Mitglieder der Gruppe B, lullen dich ein, reden dir gut zu. Folgen geduldig deinen Worten, mit denen du ihnen deine tiefsten Abgründe offenbarst. „Ja, ich habe meinem Sohn schon mal eine Ohrfeige gegeben“ dabei sprichst du absichtlich leise. Sie sieht dich mitfühlend an, streichelt dir den Arm. Lässt dir Zeit dich zu suhlen im eigenen Dreck. Am Ende streicht sie sich die makellose Bluse glatt, schaut verklärt gen Himmel und säuselt: „Hm. Ich verstehe dich gut. Aber weißt du, mit Felix habe ich so ein Glück. Er ist einfach ein Engel!“ Bumm. Eine Ohrfeige rechts und links. Was für eine Lügnerin. Felix sind grundsätzlich Lauser. Mit diesem Namen wird kein Engel aus einem Bub. Sonst hast du was falsch gemacht.
Diese Gruppe musst du dringend meiden. Die sind echt böse und fies. Anhänger der Gruppe A und B sind einfach so wie sie sind und bleiben untereinander. Aber die Schlangen sind hinterlistig und unverfroren. Nach einem Kontakt mit ihnen fühlst du dich aufrichtig schlecht, weil sie die Lust aus deinem Unglück gewinnen. Pfui!
Die Freundschaft von Caro und mir fällt in keine dieser Kategorien. Wir müssen also eine Gruppe D in Kleinberg gründen. Wobei ich daran zweifle, dass wir weitere Mitglieder anwerben können – schlichtweg, weil unsere Spezies bis jetzt noch nicht vertreten ist. Unsere Verbindung zueinander basiert nicht auf unseren Lebensumständen. Das Muttersein vereint uns nicht. Keinesfalls teilen wir die Einstellung zum Leben, denn Caro ist ehrgeizig und ich nicht. Sie sucht nach Perfektion und Erfolg – Dinge, die ich geschickt von mir abwenden konnte. Auch Werte haben wir nicht dieselben. Wir sind gleich alt, doch das ist ganz sicher nicht der Grund. Wir haben sogar dasselbe Horoskop, doch unsere Charaktere unterscheiden sich gänzlich. Ich würde sagen, es liegt mehr daran, dass Caro ziemlich authentisch ist und ich denke, das bin ich auch. Caros Äußeres spiegelt ihr Inneres wider – wie bei mir. Mit einem gänzlich anderen Ergebnis.
Caro ist direkt und ehrlich und das ist die Eigenschaft bei Menschen, die ich definitiv am meisten schätze. Ich kann gar nicht anders sein als ich. Verstellen ist etwas, das ich hasse. Acht Jahre schleppte ich meine Lebenslüge mit mir herum wie einen schweren, nassen, stinkenden Sack und am verpatzten Tag meiner Sponsion schwor ich mir nie wieder zu lügen.
Caro hat den Vorteil noch keine Mutter zu sein. Sie weiß nichts besser und verteilt keine guten Ratschläge. Sie hört mir oftmals erstaunt zu und glaubt mir, dass es so ist wie es ist. Sie hat nicht vor Vierfach-Mutter zu werden. „Maximal eins.“ lautet ihre Devise. Und selbst das ist nicht fix. Sie meinte schon, dass wenn sie länger mit mir befreundet bleibt, stehen die Chancen ziemlich gut, dass sie von eins auf null reduziert. Caro ist dreiunddreißig und somit gleich alt wie ich. Und wenn ich sage gleichalt, meine ich gleichalt. Denn: wir haben am selben Tag Geburtstag, im selben Jahr. Heuer im Mai, am ersten, würden wir beide vierunddreißig Jahre alt werden. Das ist Schicksal. Klar, dass Caro die Freundin ist, die mir der gnädige Mann mit dem weißen Bart, der oben im Himmel auf einer Wolke sitzt und unser Schicksal amüsiert lenkt, geschickt hat. Damit ich nicht verkümmere in Kleinberg. Wie eine ungegossene Blume, der man zu wenig Sonnenlicht schenkt. Auch wenn ich nicht so wirke, bin ich durchaus empfindsam. Die persönliche Isolation hier im Bergnest macht mir wirklich zu schaffen.
Bei unserem ersten Gespräch fanden Caro und ich heraus, dass wir am selben Tag geboren wurden. Wie cool! Ich hatte bis dahin noch nie eine Freundin, keinen Freund, kein Kind, gänzlich niemanden, der am selben Tag Geburtstag hat wie ich. Ich glaube zwar nicht komplett an die Astrologie, aber Horoskope lese ich schon mal ganz gerne. Weil ich ja an das Schicksal glaube. Vor Jahren ließ ich mir natürlich auch so ein Lebenshoroskop erstellen mit den verschiedenen Häusern – also den einzelnen Lebensbereichen. Dabei wird geschaut, welches Sternzeichen zum Zeitpunkt deiner Geburt jedes einzelne Haus wie z.B. die Spiritualität, die Liebe, die Kommunikation etc. beherrschte. Sehr interessant muss ich sagen. Der Großteil stimmte. Die positiven Dinge vor allem. Bei den negativen Aspekten konnte ich nicht sehr viele Übereinstimmungen mit mir finden. Aber egal. Caro sagt sowieso, ich sollte positiver sein. Warum also nicht nur die positiven Seiten deines Horoskopes beherzigen. Caro ist klug und zielstrebig. Schneide ich mir doch ein Stück von ihr ab.
Und es kam noch viel besser. Ich wurde am 1. Mai 1979 in Salzburg geboren, Caro wurde am 1. Mai 1979 in Hamburg geboren. Meiner Lieblingsstadt – neben New York, Paris und London. Und obwohl ich kein fitter Typ bin, kenne ich die Kaifu Lodge in Hamburg. Ich bin nicht sportlich, aber hip. Ein Praktikum während meines Studiums an der Fachhochschule verbrachte ich in Hamburg. Schicke Großstadt mit elegantem Flair. Sechs Monate lang – Juhu! Und wo trifft man am besten nette Leute, wenn man neu ist und niemanden kennt? Natürlich im Fitness-Center. Und sind sie schon nicht nett, sind sie zumindest schön. Auch was! Caro freute sich, dass ich ihr Stamm-Fitness-Center in ihrer Heimatstadt kenne. Wir fragten uns, ob wir uns nicht schon mal über den Weg gelaufen sein könnten? Durchaus möglich, meinte ich. Allerdings, warf ich nach einiger Überlegung ein, erinnere ich mich vor allem an gemütliche Stunden in der Sauna, einen ausgelesenen Roman am Fahrrad, eine Regenerations-Runde im Pool und natürlich an die Parties. Da habe ich keine verpasst. Caro auf der anderen Seite war dort Trainerin und permanent am Schwitzen. Sie ist so eine Trainerin, die rumbrüllt und mir Angst macht. Vor ihr und vor mir. Vor meinem nahenden körperlichen Zusammenbruch oder einem echten Kreislauf-Kollaps. Also meide ich Kursstunden generell. Ich wollte ja Leute kennen lernen. Nicht an mein Limit gehen. Ich brauche meine Grenzen nicht auszutesten, um zu wissen, dass es sie gibt.
Caro ließ die Parties aus. Sie hatte ja einen Plan. Sie und ich waren damals zweiundzwanzig. Sie studierte Sport und jobbte nebenher als Trainerin. Sie war auf dem Weg nach oben. Runter auf elf Prozent Fettgehalt, Maximalkraft steigern, perfekte Beherrschung der menschlichen Anatomie. Sie trainierte nach Plan, aß nach Plan, schlief nach Plan. Ganz anders bei mir. Ich schlafe, wenn ich müde bin, auch mal untertags. Ich esse wenn ich Lust habe und das fällt nicht immer mit Hunger zusammen. Und ich trainiere nur, wenn es nicht anders geht und ich meine Kinder, manchmal auch zwei gleichzeitig den Hügel hochziehen muss, damit wir gemeinsam zum hundersten Mal an diesem langen, nicht-enden-wollenden Wintertag runter rodeln können.
Das ist mein Workout. Haushalt und Kinder. Hätte ich niemals gedacht, dass das wirklich fit macht. Tut es aber, denn ich bin nicht unfit. Aber ich habe ein paar Kilo zu viel auf den Rippen. Fällt selbst mir auf und liegt wahrscheinlich daran, dass ich glücklich bin oder sagen wir so – dass ich gerade in keiner größeren Katastrophe drinnen hänge. Caro sagt, ich habe Glück, dass ich kein Frustesser bin. Bin ich tatsächlich nicht. Deswegen auch keine Waage. Als ich mit sechzehn, dem Alter, wo es bei den Mädels meist mit Diäten und Magersuchtswahn losgeht, erfuhr, dass ich das untergeschobene Ei bin, ging zuerst mal die Welt unter. Und wer denkt in solchen Momenten ans Essen? Ich nicht. Mir verging alles. Die Lust aufs Leben, die Lust aufs Atmen und aufs Essen sowieso. Biene hasst alle Fotos aus ihrer Teenager Zeit, weil sie damals so aufgedunsen war. Sie nennt sich selbst „Germknödel“ auf diesen Fotos, doch das ist ziemlich übertrieben. Als ich sie kennenlernte, hatte sie eine Topfigur. Heute weiß ich, dass das die Kinder waren. Die nehmen einen einfach total her. Erst das Stillen und dann die durchwachten Nächte. Heute sieht auch sie wieder gesund und zufrieden aus.
Ich auf der anderen Seite mag meine eigenen Fotos aus dieser Zeit nicht, denn sie zeigen wie unglücklich ich tatsächlich gewesen sein muss. Gott-sei-Dank gibt es das Vergessen. Bin ich froh, dass ich mich nicht mehr genau erinnern kann, wie schrecklich sich das damals alles angefühlt hat. Die Bilder reichen mir, um eine Ahnung zu bekommen, wie es damals um mich stand. Vielleicht ist der Leopold mit seinem Alzheimer sogar gesegnet? Ich wage es nicht auszusprechen. Nicht mal neben Alexander. Sein Vater ist ihm heilig und dessen Krankheit ein Fluch. Da kennt selbst er keinen Zweckoptimismus.
Fotos, die mich im Alter von circa siebzehn Jahren zeigen, demonstrieren ein abgemagertes, eingeschüchtertes Mädchen, in dessen Augen sich vor allem eines widerspiegelte: Angst. Ein schrecklicher Anblick, denn das war ich. Manchmal frage ich mich, wie blind mein Umfeld gewesen sein muss, um nicht zu erkennen, dass etwas grob schief lief mit mir. Ein Erklärungsversuch: mein Papa ist ein Mann und letztendlich unsensibel, meine Schwester war vierzehn und das erste Mal verliebt, meine Mama wusste sowieso Bescheid und versuchte ihre eigene Panik mit aller Kraft zu unterdrücken und mein älterer Bruder maturierte in diesen Monaten und ging danach zum Bundesheer.
Blieb also wenig Aufmerksamkeit für mich und wahrscheinlich war es gut so. Denn sonst wäre viel früher alles aufgeflogen. So konnte ich mich innerlich vorbereiten und abfinden mit der Tatsache wer ich war. Als die Welt für meinen Papa zusammenbrach, war meine schon wieder zusammengeflickt. Ich war für zwei Jahre in Amerika „untergetaucht“ und begann wieder zu leben. Alleine – nur ich, Anna. An der Seite von Menschen, die freundlich waren, mich akzeptierten, mir aber nicht zu nahe kommen konnten. Ich hatte ein sicheres Familiennetz und war nicht alleine. Trotzdem hatte ich Zeit zu verdauen und Verdrängtes langsam anzunehmen. Ich war ich. Daran konnte selbst ich nicht mehr rütteln.
Übrigens: mein Lieblings-Kinderbuch. „Das kleine Ich-bin-ich“ von Mira Lobe. Wer es nicht kennt, obwohl es der absolute Klassiker ist: es geht dabei um ein noch nicht definiertes Wesen, das kleine Ich-bin-ich. Es ist nicht Kuh, nicht Pferd, nicht Fisch und möchte wissen, wer es ist. Es fragt sich so durch Wald und Wiesen und vergleicht sich mit Anderen. Hat den Schwanz vom Fisch, die Ohren vom Hund, die Beine vom Nilpferd. Aber es gleicht niemandem auf Haut und Haar. Traurig und deprimiert streicht es durch die Straßen, bis die Erleuchtung Gestalt annimmt und es erkennt: Ich bin ich. Und wer das nicht weiß ist dumm. Bumm. Mein kleinster Sohn lacht heute jedes Mal, wenn wir das lesen.
Damals in Philadelphia habe ich herausgefunden, dass es eine englische Übersetzung gibt und sie Billy und Joe zum gemeinsamen vierten Geburtstag – die beiden sind ein Zwilling – geschenkt. Suzie war entzückt. Sie kannte das Buch nicht und versuchte sich damals selbst im Schreiben. Keine Kinderbücher sondern Fantasy-Romane. Ich las die Geschichte mindestens hundert Mal mit den Burschen. Für sie, aber vielleicht noch viel dringender für mich.
Denn was ist die Moral von der Geschicht? Jeder ist einzigartig, unvergleichbar und gut, so wie er ist. Wer hätte diese Versicherung notwendiger gehabt als ich? Doch allein die Tatsache, dass es sich dabei um den Kinderbuchklassiker schlechthin handelt, zeigt, dass wir Menschen alle so sind. Unsicher, klein. Und ich bin nicht allein. Wir wollen gut sein, so wie wir sind. Und wir müssen es uns selbst sagen. Vor allem aber unseren Kindern.
Caro sah nun auch auf die Uhr. „Trotzdem.“
„Was trotzdem?“
„Trotzdem könntest du dein Leben mehr zum Positiven verändern. Was hast du zu verlieren?“
„Nichts schätze ich.“ Welch unglaublicher Irrtum.
„Na dann. Deal!“
„Was Deal?”
“Ab heute startest du neu durch.“
Entgeistert sah ich Caro an. Ich fürchte mich vorm Durchstarten. Fast jedes Mal in meinem Leben, wenn ich dachte, wow, jetzt wird’s richtig cool, jetzt geht es los, ging es steil bergab bzw. gar nicht mehr weiter. So wie damals mit Charles. Meinem schwarzen Boyfriend in Florida. Wir schworen uns die ewige Liebe beim Abschied am Flughafen und als ich ihn in einer „Ich-umarme-die-ganze-Welt-und-überrasche-ihn-spontan“ Aktion unerwartet bei sich zu Hause besuchte, nur einen Monat nachdem ich wieder in Österreich aufgeschlagen war, erwischte ich ihn mit einer Anderen. Hätte ich mir denken können, dass das mit der Long-Distance-Relationship nicht klappt. Sich Mühe geben sieht allerdings anders aus. Tränen überströmt saß ich stundenlang auf einer Bank am Strand, bis ich mich aufraffte, eine Bekannte von mir anzurufen, mit der ich zuvor ein paar Mal um die Häuser gezogen war. Mitleidig nahm sie mich auf und ich konnte sieben Tage auf ihrer Couch schlafen, bis mein Rückflugsdatum erreicht war. Ich genoss die Zeit mittelmäßig, saß oft am Strand und dachte nach. Wenigstens wurde ich dabei braun. Die paar Wohlstandskilos, die mir meine glückliche Zeit als Au-Pair Mädchen und freier Mensch im Marshmallows- und Over-Sized-Food-Packages reichen Amerika beschert hatte, schmolzen in einer Woche dahin. Nachdem Charles damit meine letzten Verbindungen zu den Vereinigten Staaten gekappt hatte, kam ich desillusioniert nach Hause. Aber: die Fotos beweisen es: ich sah gesund aus. Wie eine gewöhnliche Zwanzigjährige. Mehr wollte ich nicht.
Mein Vater stellte mir das Ultimatum und ich zog nach Wien. Wieder weg. Nicht so weit, aber weit genug.
Caro wartete auf eine Antwort. Hm, ich überlegte. Ein Warum würde ihr als Antwort nicht genügen.
„Aber ich fürchte mich.“ Mitfühlend ergriff Caro meine Hand.
„Du Dummerchen. Wovor denn? Davor, dass du dich selbst überraschst?“
„Nein. Davor, dass ich mich selbst wieder schockiere! Wäre nicht das erste Mal!“
„Und wenn du es diesmal einfach richtig machst?“ Ein Argument.
„Ich glaube aber nicht an das „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“-Zeug.“
„Macht nix. Denn es ist sowieso so. Ob du willst oder nicht. Dein Leben nimmt dich mit auf deine Reise. Entweder du schleifst einfach nebenher oder stellst dich selbst auf die Ski und übernimmst die Führung.“
„Ich mag keine Berg-Vergleiche. Die bringen mir sicher Unglück!“ Verzagt sah ich Caro an. Ich meinte es ernst. Mit den Jahren war ich abergläubisch geworden. Und im Jahr zuvor hatte ich mir beim Skifahren den Ellenbogen gebrochen. Am Babylift.
„Was liegt dir dann?“ Etwas genervt sah mich Caro an.
„Bitte keine Vergleiche mit Sport oder so heftigem Siegeswillen.“ Caro überlegte. Ihr fiel nichts ein. Ich machte einen Vorschlag.
„Party.“
„Party?“
Ich nickte.
„Gut. Dann steig ein. Mach mit. Fang an zu tanzen. Hau dich auf die Tanzfläche und gib Gas.“ Hm. Ich dachte nach. Gas geben ist o.k.
„Aber nicht zu heftig, ja?“ Caro lächelte ihr entspanntes Sportlerinnen-Lächeln. Sie nahm einen letzten Zug an ihrem Mochito.
„Alles klar. Nicht zu heftig. Und jetzt bring ich dich ins Bett. Ist ja nicht auszuhalten, dein ewiges Gähnen!“
„Ich bring dich ins Bett. Immerhin bin ich mit dem Auto da.“ Caro nickte und zeigte mir einen Thumbs-up. Sie hatte an diesem Abend absichtlich gefragt, ob wir nicht mit unserem Auto fahren könnten. Im Gegensatz zu mir liebt sie Autos. Natürlich. Hat ja was mit Geschwindigkeit, Leistung und Potenz zu tun. Hätte Caro nicht ihre gewaltigen Möpse fix vorne rum geschnallt, könnte man sie vielleicht tatsächlich mit einem Mann verwechseln. Ihr Körper ohne Brust sähe wirklich etwas heftig aus. Sie ist total zart, hat aber Muskeln wie Sylvester Stallone. Ich weiß wovon ich spreche, denn ich habe sie schon im Bikini gesehen. Schon bei unserem zweiten „Date“ gingen wir mit meinen Kindern schwimmen. Caro tauchte erst mal im Sportbecken ab und war vierzig Minuten nicht mehr gesehen. Eigentlich asozial. Ich ölte mich halb frierend, wie so oft, im Planschbecken. Einzig gelegentlich vorbeiströmende Urin-Läckchen der kleinen Apfelgesichter hoben die Wassertemperatur für wenige Sekunden um ein gefühltes halbes Grad.
Caro kontrollierte zuerst ihr Kalorien-Konto auf ihrer High-Tech Uhr, bevor sie sich nach eigenen Angaben in etwa zwanzig Prozent erschöpft neben uns ins Wasser ließ. Denn das weiß ich auch jetzt schon. Caro hat Power wie fünf Bullen. Ich bin sicher, wenn du an ihrem Schweiß leckst, bist du energetisiert wie nach zwei Dosen Red Bull. Zwei Stunden Zumba am Vormittag, ein lockerer Regenerationslauf im Grundlagen-Ausdauer Bereich 1 von eineinhalb Stunden zu Mittag, eine Privat-Session Ashtanga-Yoga am Nachmittag und zwei Stunden Hot Iron am Abend sind Caros normales Leistungslevel. Ich habe sie beim Sport zwar noch nicht live erlebt, aber ich kenne ihren Kursplan im Club Frédéric, der unserem Haus gegenüber steht, auf der anderen Seite der hübschen Kleinberger Arche. Es ist ein Riesenclubhotel-Komplex und gehört der internationalen Frédéric-Gruppe an. Hotelmanager ist Ralf, Caros andere Hälfte. Bessere Hälfte wäre unrichtig, vereint doch Caro in sich schon alles, was ein erfolgreicher Mensch zum Glücklichsein braucht. Ich habe sie noch nie direkt gefragt, aber ich bin sicher, dass Caro Jörg Löhr hört (mein Papa besuchte seine Motivations-Seminare regelmäßig und ich weiß, dass er besonders in der Fitness-Branche viele Anhänger hat) und fest der Meinung ist, dass man grundsätzlich sich selbst glücklich zu machen hat. „Liebe dich selbst und es ist egal, wen du heiratest“ – eine Lektüre, die mal in Bienes Wohnzimmer rumlag. Nach in etwa zwanzig Seiten habe ich ihr verboten weiterzulesen. Biene war meiner Meinung und wir haben das Buch an einem Abend gemeinsam auf ihren rostigen Griller geworfen, den sie auf ihrem ein Mal zwei Meter großen Balkon stehen hatte.
Klarerweise brüllte Frau Niedermüller schon drei Minuten später aus dem sechsten Stock runter, wir sollen sofort das Feuer löschen, sonst würde sie Polizei und Feuerwehr rufen. Daraufhin ging Biene in die Küche und drehte die Musik um sicher zweihundert Prozent lauter. Wir hörten gerade „Where is the love?“ von den Black Eyed Peas. Noch bevor der Song endete, beschwerten sich weiters Frau Rapovic aus dem ersten und Herr Diechner aus dem vierten Stock. Die Polizei kam tatsächlich zehn Minuten später. Als die wieder weg waren, musste ich Biene vom Fenster wegsperren, um sie daran zu hindern Frau Niedermüller ihren nackten und damals sehr straffen Po rauszustrecken. Sie wohnte schräg von uns und hatte daher die beste Aussicht auf unser Tun.
Ab diesem Zeitpunkt legte sich Biene immer wieder Oben-ohne auf ihren/unseren Balkon. Das Ganze ging bis zur Hausverwaltung und das Oben-Ohne-am-Balkon-Liegen wurde nicht untersagt. Frau Niedermüller kochte vor Wut und konnte nichts dagegen tun. Ich freute mich mit Biene und für Herrn Niedermüller, der ab diesem Tag seine Zigaretten ausschließlich am Balkon rauchte und die Aussicht sichtlich genoss.
Man könnte sich fragen: Warum waren wir so böse? Oder aber auch: warum waren es die Anderen? Die Antwort ist: Frau Niedermüller war eine offensichtlich über die Maße frustrierte Frau und Biene und ich nahmen die Regeln nicht so ernst. Der Griller von Biene stellte definitiv keine Gefahr dar, bewahrten wir doch außerdem direkt um die Ecke in der Küche einen Feuerlöscher auf. Wir hatten immerhin drei kleine Kinder! Wir verantwortungslos? Nein, aber wir übertraten die Regeln. Genau wie damals als wir am falschen Tag die Wäsche im Trockenraum aufhängten. Am Abend fanden wir die frisch gewaschene und bereits trockene Wäsche am Boden. Irgendjemand, der ganz sicher Frau Niedermüller hieß, hatte sie einfach auf den Waschbetonboden geworfen. Alles war schmutzig und wir mussten von vorne beginnen. Biene schwor Rache. Ja, wir hatten uns im Tag geirrt und außerdem hatte Arabella die Kotzerei. Was bringt mir der Waschtag am Dienstag, wenn mein Kind am Mittwoch alles ankotzt? Regeln sind doof. Solche zumindest. Und die Menschen in der Stadt erbarmungslos. So gut es ist, dass dich in der U-Bahn niemand anspricht, wenn du dahin heulst, so blöd ist es, dass Nachbarn in der Großstadt nichts miteinander reden und man niemanden im Haus um einen Gefallen bitten kann.
In Salzburg, wo ich aufgewachsen bin, konnte man die Nachbarn schon noch um ein vergessenes Ei fragen. Nein, lassen wir die Ei-Vergleiche, die liegen mir nicht, nehmen wir lieber das nicht gekaufte Packerl Butter für die Sachertorte 1 aus dem Plachutta-Rezept-Buch. Für die braucht man nämlich geschlagene (vorher trennen!) 12 Eier – und so viele leiht dir nicht mal eine gestandene Salzburger-Hausfrau! In Wien war das anders. Da macht dir nicht mal wer die Tür auf. Besonders die, die keinen Späher haben. Die öffnen nur auf Termin, wenn sich jemand angekündigt hat. Auch verständlich – muss man in der Großstadt ja immer mit dem Schlimmsten und den Zeugen Jehova rechnen!
So mussten wir abends, wenn wir zu wenig Milch eingekauft hatten, zur Tanke wandern, um die hungrigen Mägen unserer Zwerge zu füllen. Unpraktisch, aber zumindest musst du dich bei niemandem bedanken. Das hat was.
Gut, vielleicht hätten wir das Verhältnis zu unseren Nachbarn etwas positiver mitgestalten können. Doch ich denke, das hätte nichts gebracht. Wir waren zu jung, zu verspielt, zu wenig frustriert. Für eine gewisse Bösartigkeit musst du definitiv ein gewisses Alter erreicht, ein unerträgliches Maß an Frust überschritten und dann noch die richtigen, beziehungsweise die falschen, Gene haben. Ein schlechter Charakter kommt ja auch nicht von irgendwoher. Im Leben muss man sich auch wirklich alles mühselig erarbeiten.
Vielleicht waren Biene und ich auch nur zu wenig angepasst an den Lebensrhythmus von durchschnittlichen 60-jährigen Großstädtern. Doch warum mussten wir uns ihnen anpassen? Die Erkenntnis kam bald: wir waren in der Minderheit.
Nachdem ich Alexander kennen lernte und schon nach weiteren sechs Monaten bei ihm einzog, weil in Bienes Wohnung einfach zu wenig für Platz für ihn, mich und Leandra war – Biene und ich weinten Rotz und Wasser – kündigte auch sie ihren Mietvertrag und zog zu ihrem neuen Freund. Weg aus unserer Wohnung in der Zirkusstraße 27b/8, in der ich trotz allem eine der besten Zeiten – ganz ehrlich: vielleicht die beste Zeit meines Lebens – hatte. Vermisst hat uns wahrscheinlich keiner. Außer Herr Niedermüller. Da wette ich drauf, denn Bienes Brüste sind groß und schön.
Wir hatten das unglaubliche Glück uns beide gleichzeitig wieder verliebt zu haben – nicht Alexander und ich sondern Biene und ich. Nicht ineinander sondern ich in Alexander und er sich in mich. Biene in Horst und der sich in sie. Der Hang zu Männern mit grässlichen Vornamen ist ihr leider geblieben. Ihr langjähriger Freund vor ihrem Mann Rüdiger hieß Kasper. Um nichts besser. Horst, den sie damals kennenlernte ist aber zum Glück und im Unterschied zu Rüdiger und Kasper ein toller Kerl mit gutem Charakter. Wahrscheinlich ist das so wie bei den kleinen Männern: die haben auch was zu kompensieren – ihre fehlende Größe - und sind meist deswegen besonders lässig. Ein Mann wie Horst muss Wohl-oder-Übel mit seinem Charakter punkten und das am besten noch bevor man einander namentlich vorgestellt wird.
Es passierte, als Leandra zwei Jahre wurde. Ihr Geburtstag ist der 13.03.2004 obwohl sie erst für den 20.03. gebucht war. Aber genau wie heute, hielt sie sich schon damals nicht an die Regeln und unsere Abmachungen. Heute schimpfe ich sie dafür, damals war ich froh. Ich hatte das Gefühl jeden Moment zu platzen und obwohl ich meinen Körper nicht wie ein kostbares Gut behandle, hatte ich ernsthafte Angst, dass dieses kleine Wesen, das doch so winzig nicht sein konnte, meine noch glatte und unbeschädigte Bauchhautschicht, die sich schützend über mein Baby und meine Eingeweide spannte, zerreißen würde.
Die Wehen begannen als ich mit Arabella und Tristan am Boden saß und „Wer-schießt-mit-seinem-Holzauto-die-meisten-Spielfiguren-um“ spielte. In den letzten Wochen war mir das am-Boden-Hocken ziemlich mühsam geworden, aber was sollte ich machen? Arabella reichte mir gerade über die Knie und Tristan mal eben an die Hüfte und somit war es unmöglich ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Biene arbeitete an diesem Nachmittag im Hotel; sie wollte vor meiner Niederkunft noch einen Haufen Überstunden ansammeln, damit sie nach Leandras Geburt ein bisschen für mich da sein konnte. Ihre Idee! Ich war gerührt.
Meine Eltern sperrte ich damals noch immer absichtlich weitgehend aus meinem Leben aus. Meine Mutter fragte mich einen Monat zuvor etwas sorgenvoll, wie ich denn die Geburt so plante. Als ich sie ansah, als ob sie belämmert wäre – man spricht ja meist von einer „natürlichen“ Geburt -, erklärte sie genauer, was sie meinte. Wer wird mich begleiten? Wer wird sich um mich kümmern und rund-um-die-Uhr für mich da sein? Ich sah weg und gab ihr keine Antwort. Ich wollte ihr absichtlich wehtun. Sollte sie sich doch zur Abwechslung mal richtig schlecht fühlen. Aber ich wusste: mit Sicherheit hatte sich meine Mutter sogar noch länger und ausgiebiger schlecht gefühlt als ich. Sie musste ja sechzehn Jahre länger mit der Lüge leben. Trotzdem! Ich konnte ja wohl gar nichts dafür, dass sich meine Mutter in einer schwachen Stunde einem anderen Mann in die Arme geworfen hatte.
Über Biene fand sie heraus, dass meine beste Freundin schon beschlossen hatte mich in den Kreissaal zu begleiten. Was sie tatsächlich tat. Als ich sie etwas unsicher im Hotel anrief und ihr erklärte, dass mein Bauch seit gut einer Stunde zog und ich einstweilen glaubte, ernstzunehmende Wehen zu haben, wurde sie ziemlich nervös. Innerhalb einer halben Stunde war sie zu Hause. Hektisch rannte sie durch die Wohnung und fragte mich die Krankenhaus-Checkliste ab. Hatte ich alles eingepackt? Zahnbürste, Socken, E-Card, etwas Anzuziehen? Zu diesem Zeitpunkt schnaufte ich schon heftig.
Für mich war Bienes Reaktion irgendwie unerwartet. Sie ist immerhin fünf Jahre älter als ich, hatte damals schon zwei Kinder aus eigener Kraft in diese Welt gepresst und war generell ein ziemlich lässiger, entspannter Typ. Warum die Eile? Erste Geburten dauern meist Ewigkeiten. Habe ich mir damals sagen lassen.
Für Bienes Kinder hatten wir für den Fall, dass ich ins Krankenhaus musste, und davon war im 10. Schwangerschaftsmonat ja auszugehen, eine Freundin organisiert, die Arabella und Tristan hüten sollte. Leider aber, so stellte sich nach unserem Anruf heraus, hatte die just an diesem Tag eine Magen-Darm-Grippe bekommen und war für den aktiven Kinderdienst absolut unbrauchbar. Biene überlegte kurz hin und her. Dann wählte sie eine Nummer. Sie fauchte ein paar Unfreundlichkeiten ins Telefon; schon als sie zur Begrüßung nur „Hallo!“ bellte, hätte mir klar sein müssen, dass sie Rüdiger angerufen hatte. Rüdiger! Das ist kein Witz. Rüdiger ist Bienes Ex-Mann. Die Scheidung war einen Monat zuvor über die Bühne gegangen und die beiden gingen nicht als Freunde auseinander.
So betrachtet hat sich Biene aber vornamenmäßig doch gesteigert. Denn statt Rüdiger heiße ich hundert Mal lieber Kasper oder wenn es denn sein muss auch Horst. Schlimmer als Rüdiger geht wohl kaum. Was denken sich solche Eltern bloß? Von heute weg gerechnet ist seine Geburt und damit die Namensgebung ja erst dreiundvierzig Jahre her. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Rüdiger damals ein akzeptabler, weil schön klingender und damit positive Emotionen hervorrufender Name war. Unmöglich!
Was mich auf den Namen meiner Tochter bringt. Leandra. Das ist ein griechischer Name. Er bedeutet „die, des Volkes“. Ziemlich einfach. Die weibliche Form von Leander. Bevor meine Tochter zur Welt kam, wusste ich, dass Leandra ein Mädchen sein würde. Falls sich der Kinderarzt nicht drei Mal verschaut hatte. Es war mir Recht zu wissen, was da auf mich zukam - gab es doch sonst sehr viele Fragezeichen in meinem Leben. Eines weniger war mir Recht. Meine oberste Priorität bei der Suche nach dem passenden Namen war definitiv die Seltenheit. Ich bin Anna, seit mittlerweile vierunddreißig Jahren und ich weiß aus erster Hand, wie es ist mit einem der häufigsten Namen im deutschsprachigen Raum gesegnet zu sein. Gemeinsam mit Hannah und Lena führe ich seit Jahren die Top-Favorite-Namenslisten in Österreich an. Etwas anders in Deutschland – aber auf Platz 6 schaffe ich es immer noch.
Was dir mit so einem zwar schönen, aber fast zu beliebten Vornamen in deiner Schulzeit passiert? Du mutierst zur Anna P. oder Anna F. oder Anna Z. Wie in meinem Fall. So schön mein Vorname ist, so unschön war mein Nachname. Zencker. Anna Zencker. Das hätten meine Eltern sich doch denken können, dass man bei Anna den Nachnamen mitgenannt bekommt, damit die Lehrer die drei Annas in einer Klasse unterscheiden können. Und was hat man dann vom schönen „Anna“, wenn man mehrmals täglich seinen Nachnamen hört, der an Zank und Streit erinnert. Nein, nein, nein. Das würde ich anders machen.
Keinen Namen also unter den ersten 30 Beliebtheits-Plätzen und bitte auch keinen mit zu viel Bedeutung. Keine Victoria – so schön der Name auch ist – aber meine Tochter wird nicht aufs Siegen geeicht. Nicht von mir. Das soll sie sich schön selbst aussuchen. Keine glückselige Felicitas, obwohl auch das ein wunderbarer Name ist und keine bella Isabella. Mein Mädchen soll normal sein dürfen. Vielleicht schön, hoffentlich glücklich und wenn sie will erfolgreich. Aber ich werde ihr das nicht vorgeben.
Biene und ich haben uns in der Zeit in der Zirkusgasse manchmal ein Moussaka beim Griechen um die Ecke geholt. Besonders lecker und ausgiebig – nichts für Menschen wie Caro. Dort gab es einen unglaublich süßen Kellner, in den ich mich um ein Haar verliebt hätte. Aber eben nur fast. Denn wie die meisten schönen Männer hatte er einen Haken – ich war ihm zu weiblich. Der männliche Hang zu Männern kommt doch aus dem antiken Griechenland, oder? Egal, denn als dieser Kellner wohl bemerkte, dass ich auffallend oft und lange bei ihm stand, erzählte er mir ganz beiläufig von seinem Freund, mit dem er seit mehreren Jahren zusammen lebte. Das fand ich nett. So gehört sich das nämlich. Wenn du merkst, dass sich jemand in dich verliebt, weil er, in diesem Fall ich, dich mit verklärten Augen ansieht und über alles lacht, was du sagst, auch wenn es Sachen sind wie „Das Moussaka kostet pro Portion EUR 9,- zum Mitnehmen“ und du keine Gefühle für diesen Jemanden hegst, dann spann ihn nicht auf die Folter und lass ihn nicht zappeln, bis ihm der Appetit und die Hoffnung vergeht. Das tut man nicht. Das nennt man Quälerei!
Dieser sympathische und freundliche Kellner war also Leander. Ein schöner Mann mit einem schönen Namen. Leander. Das klingt weich (das „d“) und offen (die vielen Vokale) und fast liebevoll (beginnt mit „L“ wie in „Liebe“). Fand ich und finde ich noch immer. Leander erzählte mir, dass es in Griechenland auch die weibliche Form dafür gibt, als ich ihm zu seinem tollen Namen gratulierte.
Leander stellte mir zwei Portionen duftenden Moussaka unter die Nase, im Hintergrund säuselte griechische Urlaubsmusik, die mir Sonne und Meer vor meinem inneren Auge erscheinen ließ, ich sah in Leanders wasserblaue Augen. Mein Baby boxte mich in den Bauch und ich wusste: das da drinnen ist meine Leandra. Eine Frau des Volkes. Völlig normal. So wie ich ab meinem 16. Lebensjahr immer gerne gewesen wäre.
Einzig Alexander verbot mir unseren ersten Sohn Leander zu nennen. Er fand Leander und Leandra doof. Viel zu ähnlich. Ansichtssache, denke ich. Aber gut, weil es Alexander mit den Traditionen schon mehr hat als ich und unsere Söhne ja zu fünfzig Prozent auch seine sind, ließ ich mich zum gesegneten Benedikt und zum starken und gesunden Valentin hinreißen. Doch noch zwei Namen mit großer Bedeutung – aber was tut man nicht alles aus Liebe? Ich habe schon größere Dummheiten begangen. Heute sind die Namen meiner Söhne mein geringstes Problem.
Hätte ich sie Aram („der Ruhige“ – ein aramäischer Vorname) und Salomon („der Friedliche“ aus dem Hebräischen) getauft – würden sie dann still und zufrieden im Wohnzimmer auf der Couch sitzen und leise mit ihren Püppchen spielen, ohne etwas zu zerstören, Höllenlärm zu produzieren und mich in Ruhe meinen Kaffee trinken lassen? Ich werde es nie wissen. Und auf einen weiteren Testversuch lasse ich mich sicher nicht ein. Ich lerne nicht schnell, und bevorzugt ausschließlich aus Erfahrung. Ich habe erst begriffen, dass heiße Herdplatten wässrige Brandblasen hervorrufen, nachdem ich mindestens drei Mal drauf gegriffen habe. Ich bin ein gebranntes Kind. In vielerlei Hinsicht. Ich habe mittlerweile drei Kinder. Heute bin ich schlauer. Den „Salomon“, den soll eine andere probieren.
Nachdem Biene relativ hektisch etwa zwanzig Minuten durch die Stadt gekurvt ist, hielten wir vor einem großen Bürogebäude. Ich wollte schon fragen, denn das Krankenhaus hatte ich anders in Erinnerung, aber ich wollte Biene jetzt nicht ärgern und nervöser machen, als sie bereits war. Hatte ich doch tatsächlich etwas zu verlieren, äh, zu entbinden. „Du wartest hier. Bleib ruhig!“ rief sie aufgeregt. War ich doch, den Umständen entsprechend. Arabella und Tristan huschten mit ihr aus dem Auto und Biene war nur sieben Minuten später zurück. Das weiß ich deswegen so genau, weil ich die Zeitabstände zwischen den Wehen maß. Ich lag bei fünf Minuten. Das soll kein schlechter Wert sein für die ersten paar Stunden. Die Schmerzen waren erträglich, was glaube ich auch daran liegt, dass ich nicht besonders wehleidig bin. Ich habe es manchmal mit dem Magen. Wenn mir alles zu viel wird, beginnt sich meine Galle manchmal zu wehren. Früher vor allem, in meiner schweren Zeit. Natürlich lernte ich auch, dass man nicht zwei Tage aufs Essen vergessen darf, um sich dann vier Nutella Brote reinzuschieben. Dafür ist mein Magen nicht gemacht. Da schwappt die Gallensäure über und alles rebelliert. Zwei Mal war ich vor Jahren wegen einer Gallenkolik im Krankenhaus. Das ist keine feine Sache und wirklich schmerzhaft. Alles in dir zieht sich zusammen. Magen-Darm-Grippe hatte ich auch schon zwei, drei Mal. So ähnlich war das. Gallenkolik und Magen-Darm-Grippe kombiniert. Kein Spaziergang, aber nicht der Höllenritt, von dem manche Frauen auch Jahre später noch detailgenau berichten. Gut, ich war ja noch nicht mal im Kreissaal.
„Wo sind die Kinder?“ fragte ich Biene. „Bei Rüdiger“ antwortete sie knapp. „Aber, ist das hier nicht sein Arbeitsplatz?“ „Ja, und?“ Gut. Biene war jetzt nicht zum Scherzen aufgelegt. Ich hielt meine Klappe. Sollte ich etwa hinterfragen, wo sie ihre Sprösslinge ließ, um mir zu helfen? Nein. Diesmal wollte ich gerne nur an mich denken.
Im Krankenhaus angekommen, lief dann alles wie am Schnürchen. Man nahm mich auf, rauf in den 4. Stock. Gespräch mit der Krankenschwester oder war das schon eine Hebamme? Ich habe keine Ahnung. Ich habe mich wirklich auf mich konzentriert und das, was das Schicksal in den nächsten Stunden mit mir vorhatte. Eine interessante Erfahrung. Vollkommen im Jetzt versunken. Ist nicht schwer bei solchen Schmerzen. Da bleibt keine Zeit für sinnlose Gedanken. Untersuchung, Wehenschreiber, Einlauf. Stand der Dinge: Muttermund 6 cm offen. Sehr gut. Biene entspannte sich und fragte mich, wie es denn mir ging. „Gut, Danke“. Schmerzhaft, aber sonst dem Zustand angemessen. Erwartete ich doch Leandra, mein eigenes Fleisch und Blut. Und die ewige Erinnerung an Leander, den einfühlsamen, schwulen Griechen.
Dachte ich an Michael, den Erzeuger? Nein, nicht wirklich. Nachdem ich ihm etwas zeitverzögert (ich war damals schon im vierten Monat) von meiner Schwangerschaft berichtete, war er relativ schockiert. Und das ist untertrieben. Er wurde kreidebleich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mir die Würglaute nur eingebildet habe. Er traute sich auch nicht mehr viel zu fragen, als ich ihn darüber informierte, dass eine andere Option als dieses Kind auf die Welt zu bringen, für mich nicht in Frage kam und rechtlich keine andere Möglichkeit mehr bestand.
Ob ich das alles beabsichtigt habe (absichtlich die Pille gekotzt habe)? Auf keinen Fall. Aber nach dem ersten Schock, der auch für mich wahrhaftig groß war, freute ich mich auch ein ganz klein wenig. Und mit jedem Tag ein bisschen mehr. Meine Schwangerschaft passte mir so gut in den Zeitplan, wie eine Fliege in die Suppe. Aber wie gesagt: ich bin naiv. Und obwohl ich natürlich Angst vor meiner Zukunft hatte – vor allem in finanzieller Hinsicht – war ich irgendwie stolz und glücklich. Dass ich schon das Zuhause eines kleinen Wuzi-Babys war und für viele Jahre sein würde. Ich mochte Kinder immer schon ausgesprochen gerne. Außer meine eigenen, könnte man heute sagen, wenn man böse sein will. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Ich liebe meine eigenen Kinder, alle drei. Nur schlechtgelaunt, schmerzgeplagt und gelangweilt kann ich gut auf sie verzichten. Das ist ein gewaltiger Unterschied.
Denn: meine Kinder sind die Schönsten, die Süßesten und natürlich die Klügsten. Aber nur zu 50 % aller Tag- und Nachtzeiten. Die anderen 50 % sind sie die Ausgeburt des Teufels. Blutsauger, Energiefresser, Zerstörer. Kinder eben. Meine eigenen. Billy und Joe waren so nie mit mir. Auch Rebecca, Steve und Willy nicht (meine zweite Au-Pair-Familie in Florida). Wir hatten nur Spaß und eine schöne Zeit. Das Grenzen-Austesten ersparten sie mir. Ich bin ihnen heute noch dankbar dafür. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, wäre eine Sterilisation für mich eventuell in Frage gekommen.
Warum ich dann überhaupt drei Kinder habe? Eine berechtigte Frage.
Eine logische Antwort ist meine 5/5 Theorie:
1/5 persönliche Naivität, über die ich reichlich verfüge
+ 1/5 von Alexanders Optimismus gepaart mit seinem großen Familien- bzw. Kinderwunsch
+ 1/5 Vergessen aller Sorgen und Probleme, die das Leben mit Kindern so mit sich bringt
+ 1/5 angeborener, primitiver Instinkt sich fortpflanzen zu wollen
+ 1/5 Wunder. Und dieser Teil ist am allerwichtigsten: es sind die Lichtblicke, die alles überstrahlen. Momente, die dich so beeindrucken, so berühren, so beglücken wie nichts und niemand zuvor.
Der allererste Anblick deines neugeborenen Babys, die erste Berührung der zarten Haut. Der Duft von deinen kleinen Lieblingen, ihr seidiges Haar. Die ersten Brabbel-Laute, ihr vertrauensseliger Blick, die kleine, gepolsterte Hand, die deinen Zeigefinger fest umklammert und nicht mehr loslässt. Das erste „Lieb hab“ und das „Budi“ (Bussi), bevor sie ihre Augen schließen. Und natürlich: der Anblick, wenn sie schlafen. Nichts, absolut niente nel mondo, ist so schön, wie das.
Wenn diese fünf Elemente zu einem denkwürdigen Zeitpunkt zusammen treffen, dann hauchst du: „Ja, Schatzi, du hast Recht, (noch) ein Kind wäre wirklich schön!“ Zehn Monate später steht ein Holzstorch vor deiner Tür – in Kleinberg, nicht in Wien. In Wien bekommst du eine Windeltorte mit Bipa-Gutscheinen geschenkt.
Michael auf der anderen Seite hatte der Wunsch sich fortpflanzen zu wollen, noch nicht ereilt. Leider blieb ihm nichts anderes übrig; das Baby war bereits auf Schiene. Beim ersten Gespräch sagte ich nicht viel. Ich wollte ihn das alles überdenken lassen. Hatte ich doch auch einige Wochen gebraucht, um mich mit dem Gedanken, Mutter zu werden, anzufreunden. Leider erwiderte Michael die Freundschaft zum Vaterschaftsgedanken nicht. Zu Beginn und auch später nicht.
Drei Wochen später trafen wir uns wieder. Leandras Erzeuger war wütend. Auch verständlich. War ich ja auch hin und wieder in dieser Zeit. Bei diesem Gespräch verabschiedete er sich mit einem „Zuerst will ich einen Vaterschaftstest. Davor siehst du kein Geld!“ von mir. „Du blöder, verfi…. Arsch!“ war meine Antwort.
Somit war klar: die gute Basis für eine harmonische Elternschaft war nicht hergestellt. Darum blieben wir bei den hard facts. Vaterschaftstest nach der Geburt, Feststellung der Unterhaltshöhe vom Jugendamt, alleiniges Sorgerecht für mich. Darüber hinaus war unsere Kommunikation beendet.
Ob ich enttäuscht war? Mittelmäßig. Ich kannte Michael gut. Er ist lustig, aber wenig ernsthaft. Wäre ich an diesem 26. Juni nicht so irrsinnig betrunken und traurig gewesen, wäre ich niemals mit ihm im Bett gelandet. Mit wem anderen vielleicht, mit ihm sicher nicht. Doch das Bedürfnis nach einem Vertrauten war so groß und Michael durch eben so viel Alkohol so aufgeweicht, dass das eine zum anderen führte. Muss ein Kind immer aus Liebe entstehen, damit es ein glückliches Leben verdient? Ich hoffe es nicht. Und wenn ich Leandra so neben mir erlebe jeden Tag, kann ich dem guten Gewissens widersprechen.
Nach exakt sechs Stunden Wehenarbeit kam Leandra um viertel vor neun abends auf die Welt. Biene hatte sich wacker geschlagen. Ich war sowieso ganz woanders. Jetzt, wo ich nämlich schon drei Kinder geboren habe, weiß ich: das alles völlig nüchtern, ohne mit Hormonbomben zugedröhnt zu sein, ansehen zu müssen, ist definitiv schlimmer als selbst die Gebärende zu sein. Ganz ehrlich: wenn ich es mir aussuchen kann, hoffe ich aufrichtig, dass mich niemals im Leben eine Freundin um diesen Gefallen bitten wird. Ich bin ja nur froh, dass ich Biene nicht darum gebeten habe – sie kam ganz alleine drauf. Sonst hätte ich danach ein schlechtes Gewissen gehabt. Schreien, Rufen, Schwitzen, Zittern, Fluchen, Jammern, Verzweifeln, Schweiß, andere Körperflüssigkeiten, die ich nicht näher benennen will….. nüchtern betrachtet: wenn das eine Freundschaft aushält, dann hält sie für immer.
Beim eigenen Mann sehe ich die Sachlage anders. Da ist der Zuseher und Motivationshelfer ja auch der Erzeuger und somit mitschuldig. Der darf da ruhig durch müssen. Wo gehobelt wird, fallen Späne und da kann er dann ruhig auch beim Aufräumen helfen – finde ich.
Aber Alexander ist sowieso die Ruhe in Person und er hat sich beim „Gebären“ absolut souverän verhalten. Kein Ekel, kein entsetzter Blick, keine Ohnmacht. Soll es alles geben! Er war stolz auf mich, zu Tränen gerührt beim ersten Blick auf unsere Söhne und am Tag nach der Entbindung bekam ich jedes Mal einen Riesenstrauß roter Rosen und haufenweise Schokopralinen von ihm. Dazu hatte er einen wunderschönen Brief gesteckt (zwei Mal!), in dem stand:
„Geliebte Anna! Danke!!!
Das hast Du ganz toll gemacht!
In Liebe, Dein Alexander“
Ich bewahre sie gemeinsam mit Bienes Wohnungsannonce in meinem Nachttisch auf.
Vier Monate vor Leandras zweitem Geburtstag, fragte mich Biene, ob ich Lust hätte in einem der Restaurants ihres Arbeitgebers zu kellnern. Ich hatte zum damaligen Zeitpunkt schon einige Gelegenheitsjobs gemacht. In einem Sonnenstudio arbeitete ich damals fix an zwei Nachmittagen, wenn Biene frei hatte. Sie wiederrum schob noch immer zwei Nachtdienste an der Rezeption, wo ich auf ihre Kinder schaute. Arabella war damals schon vier, Tristan bereits sechs Jahre und in der Schule. Darum hatte Biene ein Jahr zuvor begonnen auch vier Mal pro Woche vormittags zu arbeiten. In der Verwaltung eines größeren Einkaufszentrums. Darin befanden sich unter anderem Kaffeehäuser, Bars und Restaurants. Es war eine ziemlich angesagte Location und Biene und ich hatten es tatsächlich schon geschafft auszugehen, wenn meine Mama da war und auf Leandra aufpasste. Biene hatte ja den „Vorteil“, wenn man es so nennen will, dass Rüdiger die Kinder jedes zweite Wochenende hatte. So kam es eines Abends, dass ich im „Shrimps, Cocktails & more“ aushalf und große Mengen an leckerem Essen zu den dafür vorgesehenen Tischen karrte. Und als ich an der Tellerausgabe stand und auf zwei Mal „Chef’s Special“ und den „Small Shrimp & Fruit Salat“ wartete, hörte ich seine Stimme. Ich sah in seine wunderschönen, braunen Augen und versank in seinem beruhigenden Blick. Der Duft der schmackhaften Nahrung betörte meine Sinne und es war um mich geschehen. Mein zukünftiger Mann Alexander stand vor mir.
Es scheint, als hätte ich es irgendwie mit dem Essen. Denn auch Michael lernte ich erst in der Uni-Cafeteria richtig kennen – und wir wissen ja alle, was daraus wurde. Zum Glück erwiderte Alexander meine Gefühle sofort und stellte sich als absolut hetero heraus – im Gegensatz zu meinem schönen Griechen. Zwischen Leander und Alexander waren mir zwar zwei oder drei andere Männer begegnet, die mir gefallen hätten, doch die Tatsache, dass es sich bei mir um eine gestrandete, ziemlich junge Alleinerzieherin handelte, brachte mir keine besonderen Pluspunkte. Den zwei aufstrebenden, karriereorientierten Männern namens Richard und Paul war ich wohl eine zu uneinschätzbare und risikoreiche Aktie; der Student Peter war mir wiederrum zu jung und wenig gefestigt.
Alexander nahm mich vom ersten Moment an so, wie ich war. Er zweifelte an keinem Aspekt meiner Persönlichkeit, lachte herzhaft über meinen Witz und freute sich über Leandra, als er von ihr erfuhr und sie schlussendlich kennenlernte. Er war begeistert von meiner Kraft ein so kleines Kind – gut, ich hatte Biene! – alleine aufzuziehen und relativ positiv in die Zukunft zu sehen. Er mochte meine nüchterne Art und die Weise, wie wir problemlos zusammenarbeiteten. Ich bin ziemlich stressresistent und unempfindlich, auch wenn es mal ein bisschen hoch hergeht. Und das tat es an einem Samstagabend im „Shrimps, Cocktails & more“ eigentlich immer. Da wird man nicht mit Samthandschuhen angefasst, vor allem nicht, wenn man die Bestellung verschlampt, die Tische verwechselt und durch andere Faux-Pas das Küchenpersonal ärgert. Zum Glück war ich sehr geschickt und die Kellnerin mit den wenigsten Fehlläufen. Spätabends, meist nachts gegen zwei Uhr, wenn die Küche geschlossen wurde und ich nicht noch für den späteren Bardienst eingeteilt war, saßen wir Kellner manchmal mit den Köchen zusammen. Alexander war Küchenchef und ich halte ihn für einen der besten Köche der Welt. Das mag übertrieben sein, aber ich liebe sein Essen und ich liebe ihn. Ich liebe es ihm zuzusehen, wenn er konzentriert bei der Arbeit ist und mit Hingabe die Speisen dekoriert. Er liebt das, was er tut und sieht dabei auch noch unheimlich sexy aus.
Biene teilt meine Meinung nicht, was gut ist, denn sonst hätten wir uns in denselben Mann verliebt, was echt doof gewesen wäre. Biene kannte Alexander vom Sehen und war total erstaunt, als ich ihr gestand, mich in der Arbeit in ihn verliebt zu haben. Sie freute sich aber sehr für mich und nachdem wir zwei Mal alleine miteinander ausgegangen waren und mich Alexander vor Bienes Wohnungstür geküsst hatte, fragte sie mich, ob wir ihn nicht zu Leandras zweitem Geburtstag einladen sollten.
Ich war damals sehr skeptisch, hatte ich doch schon zwei Männer erfolgreich mit meinen Lebensumständen verschreckt. Außerdem – und das erschien mir damals viel gewichtiger – hatten sich meine Eltern – Mama und Papa! - zum Geburtstagsfest meiner Tochter angesagt. Es war eines der ersten Male, dass meine Eltern gemeinsam bei mir auftauchten, nach dem großen Crash vor damals drei Jahren. Geburtstagsfest ist jetzt etwas hoch gegriffen, hatten Biene und ich nur geplant im Kreise der Familie zu feiern – mit ein paar Luftballons, einem leckeren Kuchen, zwei Kerzen und einem gesanglich ausbaufähigen „Happy Birthday“.
Familie im engeren Sinn hieß damals: Leandra und ich, Biene, Arabella und Tristan.
Dazu hatte sich noch Bienes Mama angesagt, was mich unglaublich rührte. Auch sie mochte mich sehr gerne und half uns beiden, wo es ging. Meine Eltern riefen zwei Wochen vorher an und fragten, ob sie zu Leandras Geburtstag kommen könnten. Im ersten Moment war ich nicht sonderlich begeistert, denn ich genoss es noch immer mir die Rosinen aus Leandras Leben alleine herauszupicken. Ich war noch nicht ganz bereit die besonderen Momente, auf die ich mir noch ein Exklusivrecht sicherte, mit ihnen zu teilen. Ja, sie halfen mir regelmäßig und sie hatten angefangen, mir seit Leandras Geburt regelmäßig Geld zu überweisen. Ich war darauf nicht wirklich stolz, aber ich konnte es leider zu gut gebrauchen. Mit der nicht allzu üppigen Summe an Unterhalt, die Michael monatlich überwies, dem Kinderbetreuungsgeld und der Familienbeihilfe, war es unvermeidbar nebenbei auch noch zu kellnern oder im Sonnenstudio auszuhelfen. Meine Eltern hatten im letzten Jahr besonderes Großeltern-Engagement gezeigt und waren regelmäßig, meist separat, nach Wien gekommen, um sich um uns zu kümmern. Sie luden Leandra und mich zum Essen ein, wir gingen ins Kasperltheater, den Zoo oder schwimmen.
Nachdem ich also mit Biene gesprochen hatte, riet diese mir, dies als Chance für alle – sie meinte damit mich, Leandra und meine Eltern - zu nützen, um den Geburtstag etwas festlicher zu gestalten und den Familienfrieden wieder herzustellen.
Klarerweise sah ich diesem Termin mit etwas Unbehagen entgegen. Ich wusste nicht wirklich, wie Alexander in dieses Bild einzufügen war. Schon bei unserem ersten gemeinsamen Abendessen weihte ich Alexander in die Geschichte meiner Familienverstrickungen ein. Wahrscheinlich wollte ich mir und ihm ersparen, dass wir uns näher kamen, um später zu erkennen, dass er mit meinem vermurksten Leben doch nichts zu tun haben wollte.
Aber: er war überhaupt nicht schockiert. Er bemitleidete mich nicht, sondern brachte mir im Gegenteil große Bewunderung entgegen. Dieser Mann fand es sogar toll, dass ich schon solche Turbulenzen in meinem Leben durchzustehen hatte und empfand mich als ausnehmend „reif“. Meinte er nicht vielleicht abgebrüht?
Heute weiß ich, was Alexander am meisten an Menschen schätzt. Genauso wie ich steht er auf geradlinige, ehrliche Menschen, die zu sich stehen. Was nicht heißt, dass ich mich toll finde – Alexander sich vielleicht schon eher. Aber ich weiß einstweilen, wer ich bin und sehe keinen Sinn darin, mich zu verstellen. Lügen haben kurze Beine und fliegen über kurz oder lang auf. Deswegen benütze ich sie nicht mehr.
Doch was Alexander noch viel wichtiger findet, ist Mut. Er hasst feige Menschen, die Selbstverantwortung von sich weisen und andere vorschieben. Bei unserem ersten gemeinsamen „Arbeitseinsatz“ war ich nicht die einzige Aushilfe. Mit mir waren noch zwei weitere Mädchen da, die das erste Mal in diesem Restaurant arbeiteten. Einer der Oberkellner kommandierte uns ziemlich durch die Gegend und redete uns in der Hektik dieses geschäftigen Abends mehr als einmal doof an. Besonders eine Studentin, sie war ziemlich jung und schüchtern, hatte er ins Visier seines verbalen Aggressionsabbaus genommen. Er verunsicherte sie mit irreführenden Anweisungen und schikanierte sie für ihr Aussehen im Allgemeinen und ihre Brille im Speziellen. Eine Zeitlang sah ich mir das Ganze an, bis ich vor der Essensausgabe explodierte und ihm laut und deutlich sagte, was ich von seiner herablassenden und arroganten Art hielt. Ich drohte ihm augenblicklich heimzugehen und mit Sicherheit den Restaurantbesitzer von seinem miesen Verhalten zu informieren, wenn er die Herabmachungen meiner Kollegin nicht sofort einstellte. Mir war klar, dass ich nicht unentbehrlich war, doch eine – und das sage ich nicht, weil ich eine Angeberin bin, sondern weil es stimmt – so flotte Kellnerin wie mich bei Hochbetrieb heimgehen zu lassen, wäre wahrscheinlich nicht die beste Idee gewesen.
Alexander war in diesem Moment genau vorne am Anrichtetisch und hörte sich das Ganze aus nächster Nähe an. Später erzählte er mir, dass er das für die coolste Aktion gehalten hatte, die er seit Längerem erlebt hatte. Am nächsten Morgen erzählte ich Biene beim Frühstück von den Vorfällen und sie berichtete am Montag alles haargenau ihrem Boss, der sich bedankte und sich den Oberkellner namens Alfred zur Brust nahm. Ich durfte weiterhin zum Kellnern kommen und die junge Studentin Elisabeth wurde meine Freundin. Sie leitet heute eine Personalvermittlungsagentur, die sich auf die Restaurant- und Hotelbranche spezialisiert hat. Welch Ironie des Schicksals! Ich frage mich: würde sie Alfred heute einen Job geben?
So kam es, dass wir am Nachmittag des 18. März 2006 - weil ein Samstag zum Festefeiern geeigneter ist - Leandras Geburtstag in Bienes Wohnung feierten. Meine süße und lebhafte Tochter, ihre Großeltern mütterlicherseits, Biene und ich, Bienes Mama Diana, Arabella, Tristan und Alexander. Eine illustre Runde fand ich, wenn ich das Bild so auf mich wirken ließ. Zur Beruhigung hatte ich mir vorher schon zwei Glas Weißwein eingeflößt. Einen sehr sinnvollen Brauch, den ich mir zu Kindergeburtstagen beibehalten habe.
Meine Eltern waren nicht darüber informiert, welche Funktion Alexander in meinem Leben einnahm. Ich hielt es nicht für notwendig, sie über meine persönlichen Umstände aufzuklären. Außerdem hatten Alexander und ich unseren Beziehungsstatus zum damaligen Zeitpunkt selbst noch nicht definiert und das Letzte, was ich wollte, war ihn gleich zu Beginn wieder zu verscheuchen.
Meine Privatsphäre vor meinen Eltern zu schützen, war mir unheimlich wichtig. Ich wollte mir von ihnen nicht noch einmal in die Suppe spucken lassen. Nichts wäre mir unangenehmer gewesen, als wenn mein Papa Alexander einem verfrühten und völlig peinlichen „Bist-du-der-ideale-Schwiegersohn-Test“ unterzogen hätte. Die Tatsache, dass sich mein Papa damals seit gut einem Jahr wieder aktiv in mein Leben einmischte, war nicht immer angenehm. Zu Beginn wollte er wissen, wer der Vater von Leandra war und ob ich meine Rechte – finanzieller wie ideeler Natur – auch einforderte. Ich verzieh ihm – war doch die Juristerei sein Leben. Diese Art von Aktionismus war ganz seine Art. Die von ihm initiierten Gespräche, wenn wir mit Leandra in der Sandkiste saßen oder mit ihr am Donaukanal entlang spazierten, kreisten um meine Zukunftspläne und welche Karrierechancen ich mir noch ausrechnete. Zum damaligen Zeitpunkt kalkulierte ich nur meine monatlichen Einnahmen und Ausgaben und schaute, dass ich über die Runden kam.
Mein Papa verstand nicht, warum ich Leandra nicht in eine Krabbelstube gab und Vollzeit arbeiten ging. Nachdem er sich an die Tatsache gewöhnt hatte, dass ich seiner Ansicht nach viel zu früh Mutter geworden war, begann er wieder Pläne zu schmieden. Für mein Leben und wie es gelingen könnte. Doch ich wollte mit aller Kraft verhindern, dass er zum wiederholten Male seine Vorstellungen von einem gelungenen Leben auf mich überband.
Alexander auf der anderen Seite machte alles richtig. Er brachte mir an diesem 18. März einen großen Strauß Blumen, bunte Tulpen, die ich besonders liebe. Ich bemerkte die fragenden Blicke meiner Eltern, als sie einzuschätzen versuchten, wer der freundliche, junge Mann war. Alexander ist nur drei Jahre älter als ich und war damals also noch 29 Jahre alt, da er im August Geburtstag hat. Für Leandra brachte er ein Überraschungsei, einen Korb bunt, bemaltes Holzgemüse (weil er von mir wusste, dass Leandra irrsinnig gerne kochen spielte) und – und das haute mich vollends um – die englische Version des „Kleinen-Ich-bin-Ich“. Ich hatte ihm zuvor von meinen Au-Pair Aufenthalten in Amerika erzählt, von meinen „Kindern“ und den Dingen, die ich mit ihnen getan und unternommen hatte. Er wusste, dass das „Kleine-Ich-bin-Ich“ zu meinen Lieblingsbüchern zählte, nicht nur weil ich es Leandra vorlas, sondern weil es eine große Bedeutung für mich hat. Ich hatte ihm erzählt, dass ich nach meinem Studiumabschluss davon geträumt hatte, noch weit weg zu kommen und die Welt zu bereisen. Ich war damals noch nicht bereit zu glauben, dass mir diese Chancen im Leben, für immer verschlossen bleiben sollten.
In das Buch schrieb er:
„Liebe Leandra!
Alles Liebe zu Deinem 2. Geburtstag.
Ich schenke Dir das „Kleine-Ich-bin-Ich“, weil es das Lieblingsbuch Deiner Mama ist und weil es zeigt, dass jeder, so wie er ist, genau richtig ist. Du bist perfekt und ein großer Glückspilz. Du hast mir etwas voraus, weil Deine Mama Dich jetzt schon über alles liebt.
Herzlichst,
Alexander“
Brauche ich dazu noch etwas zu sagen? Dieser Mann hatte mein Herz erobert und noch in der gleichen Nacht schlief ich das erste Mal mit Alexander – auf Bienes alter Couch. Ich wusste, dass ich an der Seite dieses Menschen den Rest meines Lebens verbringen wollte. Die Puzzleteile meiner Vergangenheit ergaben ein Ganzes und ich war sicher: ich hatte mein richtiges Zuhause gefunden. Alexander hatte begriffen, wer ich war und akzeptierte die Art, wie ich mein Leben meinen Vorstellungen gemäß leben wollte. Alexander war bereit an meine Träume zu glauben – auch wenn sie nicht immer realistisch waren. Er schenkte mir den Glauben an mich selbst wieder – und ich ihm meine Liebe.
Er rettete mich, obwohl mir gar nicht bewusst gewesen war, dass ich mich in ernsthafter Gefahr befand. Nämlich der Einsicht, dass ich ein Verlierer bin.
Das war mein Happy End und das ist es heute noch. Wenn nicht die Kinder größer und lauter geworden wären, ich älter und träger und Kleinberg nicht so verdammt langweilig wäre.
Das Buch, das Alexander unserer Tochter zum 2. Geburtstag geschenkt hat, bewahre ich heute in meinem Nachtkästchen auf. Ich will nicht, dass es verloren geht oder es durch die Kinder bekritzelt und zerrissen wird. Spätabends, wenn die anderen schon schlafen und ich meine Glücksgefühle pflegen will, sehe ich es mir im Bett an. Die erste Seite gefällt mir am besten. Der Text ist nicht von Mira Lobe.
An diesem Abend verließen Caro und ich die Aprés-Ski-Bar in Wagenham nüchtern, denn von einem verwässerten Mochito kann man sich bei Gott nicht betrinken und bei dieser Art von Musik konnten wir beide keine ausreichende Partystimmung entwickeln.
„Was hältst du davon, wenn wir mal zum Fortgehen nach München fahren? In einen echt coolen Club.“ Ich dachte über Caro’s Vorschlag nach.
„Ja, gute Idee. Klar.“ Die Müdigkeit bremste meine Freude. Niemals, seitdem ich in Kleinberg lebte, hatte mich jemals Jemand gefragt, ob wir was gemeinsam unternehmen wollten – ich meine jetzt nur was für Erwachsene, Frauen bevorzugt – gemeinsame Rodel-, Wander- oder Poolnachmittage, an denen es Jause in Form von Muffins, Karottenschnitze und Hirsebällchen mit Himbeer-Verdünnungssaft gibt, ausgenommen.
Ich startete den BMW X6 und Caro freute sich über den Klang des Motors. Sie selbst teilte sich auch ein PS-starkes Auto mit Ralf, so wie Alexander und ich. Aber teilen ist nicht der richtige Ausdruck. Lieh doch eigentlich Alexander mir sein Auto – und nicht umgekehrt. Ich hatte es nicht mitausgesucht und konnte auch keinen Euro für seinen Kauf beisteuern. Mich interessieren Autos genauso wie die Tücken des österreichischen Strafrechts – nämlich gar nicht. Ich weiß, wo sich in unserem Auto die fünf Warnwesten und der erste Hilfe Koffer befindet und dass es fünf Vorwärts- und einen Rückwärtsgang gibt. Ich erkenne unser Auto manchmal an seinem Kennzeichen aber vor allem an dem einen Kratzer, den ich ihm bei einem eher ungeschickten Parkmanöver zugefügt habe. Alexander ist ein wirklich entspannter Typ und ein lässiger Mensch, aber leider ist bei ihm das Auto wie bei so vielen Männern ein sensibles Detail seiner gefühlten Persönlichkeit. Ich habe vor Jahren ein lustiges Kabarett von Bernhard Ludwig in Wien angehört. Er erörterte die vielfältigen Unterschiede zwischen Frauen und Männern und den Dingen, auf die die zwei Geschlechter Wert legen. Dabei kam wieder ganz klar raus, dass Männer sogar über (ihr biologisch) wertvollstes, körperliches Unterscheidungsmerkmal in der 3. Person sprechen - „Er würde heute so gerne noch einmal.“ -, das eigene Auto aber mit ihrer Grundpersönlichkeit verwechseln - „Ich stehe direkt vor der Türe.“. Seltsam. Da ich kein Mann bin, versuche ich es gar nicht zu verstehen.
Wichtig für mich ist nur, dass ich es mir mit Alexanders Auto nicht verscherzen darf, sonst habe ich ein Problem mit meinem Mann. Gerne wäre ich weiterhin mit unserem am Ende etwas lädierten Golf weitergefahren, doch nachdem wir ihn in Wien ziemlich hergenommen hatten (auch meist ich; als Entschuldigung: ich bin eine Großstädterin und wenn du mal parken musst, musst du eben parken, ein kleiner Stupser vorne und hinten sollte da doch echt keine Staatskrise hervorrufen, oder? – in der Hinsicht sind mir die Franzosen extrem sympathisch) entschied Alexander, dass wir das Auto verkaufen sollten. Wir, besser gesagt Alexander, bekamen zwar nur mehr einen Pappenstiel für die alte Rostlaube, aber mein Mann meinte, dass wir in Kleinberg mit dem Ding sowieso nicht mehr weiterkämen. Ich bin der Meinung, dass es für mich noch immer gereicht hätte.
Da ich sowieso gerne Leute schaue, habe ich in Wien fast ausschließlich die Öffis benützt. So erspare ich mir das Kaffeehaussitzen. Die Kinder fanden Bim-, U-Bahn- und Busfahren immer aufregend und dabei ist es meist geblieben. Auch wenn ich hätte können, nahm ich Alexanders Auto in der Stadt so gut wie nie. Was natürlich auch der Grund für meine mangelhaften Fahr- und Parkfähigkeiten sein könnte. Wenn wir zu Besuch nach Kleinberg oder Salzburg fuhren, was in den letzten Jahren ein paar Mal vorkam, fuhren wir dann mit Alexanders altem Golf, der ihm über zehn Jahre als fahrbarer Untersatz diente und zu fünft wirklich ungemütlich wurde. Auch drei Kindersitze konnte man nicht nebeneinander auf der Rückbank unterbringen, was dazu führte, dass ein Kind vorne saß und ich eingequetscht zwischen zwei riesenhaften Kindersitzen hinten in der Mitte steckte. Der mittlere Gurt funktionierte auch nicht mehr wirklich, was aber egal war, denn selbst bei einem Aufprall mit über 50 km/h bin ich sicher, dass ich in dieser fix verankerten Position – meine Hüftknochen fest zwischen den Kindersitzen eingekeilt - niemals durch die Windschutzscheibe gesegelt wäre.
Warum es für Kleinberg gleich so ein Schlitten sein musste, verstand ich nicht. Gut, Allrad bei den dortigen Wetter- und Neigungsverhältnissen verstehe ich ja noch. Aber deswegen doch kein Auto um über EUR 65.000,-! Als mir Alexander nebenbei erzählte, was das Auto kostete, fiel ich fast in Ohnmacht. In Wien gab es ganze Wohnungen dafür zu kaufen. Gut, nur die mit ein bis eineinhalb Zimmern, aber trotzdem! Verrückt, so eine Verschwendung. Aber ist ja nicht mein Geld, denn ich besitze streng genommen gar keines. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich mir über Geld keine Sorgen mache, denn ich habe nichts zu verwalten und nichts zu verlieren. Ich bin zwar Inhaberin eines Giro-Kontos, aber dort geht definitiv nie die Post ab. Am Anfang des Monats liegt immer eine nette Summe drauf, die mir Alexander überweist und die sich dann Tag für Tag verringert. Zwei Tage vor Ende des Monats ist im besten Falle alles weg. Im schlechtesten Fall bin ich schon am 20. blank. Dann muss ich zu Alexander betteln gehen.
Das klingt ziemlich schrecklich, ist es aber nicht. Caro habe ich das noch gar nicht erzählt, sie wäre wahrscheinlich so geschockt, dass es ihr vielleicht die silikongefüllten Brüste zusammenziehen würde. Für sie muss ich der Inbegriff der unselbständigen, komplett von ihrem Mann abhängigen Frau sein. Was ich streng genommen ja auch bin. Aber ich fühle mich nicht unwohl dabei. Für Alexander ist es in Ordnung, nein sogar richtig, dass ich mich bis jetzt fast ausschließlich um die Kinder gekümmert habe. Und das tue ich seit mittlerweile neun Jahren. Einstweilen nicht mehr so gerne wie früher, aber gut. Jeder hat im Job irgendwann einen Durchhänger.
Nachdem ich Alexander kennengelernt habe, jobbte ich weiter bei „ihm“ im „Shrimps, Cocktails & more“. Das ging noch gut ein Jahr so und den Job im Bräunungsstudio hatte ich ja auch noch. Zusätzlich kam immer eine kleine Summe von meinen Eltern, der Unterhalt für Leandra von Michael und das hochgeschätzte österreichische Kinderbetreuungsgeld – ahja und die Kinderbeihilfe. Bei Biene zahlte ich für das Zimmer nicht viel und als Leandra zweieinhalb war, zogen Alexander, Leandra und ich zusammen.
Einige Monate nachdem Alexander und ich zusammengezogen waren, bekam er ein tolles Angebot als Küchenchef in einem anderen sehr angesagten Restaurant in Wien. Sie boten ihm eine fette Gehaltsverbesserung an und da Alexander bereit für eine Veränderung war, nahm er die Stelle an. Für mich war die Arbeit im „Cocktails, Shrimps & more“ danach nicht mehr dasselbe. Ich vermisste ihn, seine Stimme, die vielen Blicke, die wir zwischendurch immer austauschen konnten… das Gefühl mit meinem Geliebten zusammen zu sein. Bald verging mir die Lust, dort zu arbeiten. Außerdem begann Leandra fast zur gleichen Zeit in den Kindergarten zu gehen und ich hatte somit die Möglichkeit auch vormittags Geld zu verdienen. Wien ist zum Glück eine große Stadt und bietet daher ein relativ breit gefächertes Arbeitsangebot.
Zu Beginn wusste ich nicht Recht, was ich tun sollte, denn meine Uni hatte ich damals schon vor knapp vier Jahren abgeschlossen und Arbeitserfahrung hatte ich so gut wie keine vorzuweisen. Während der Ferien und meiner Studienzeit kellnerte ich auch fast immer und konnte tatsächlich keine Erfahrung im Bürobereich vorweisen. Alexander motivierte mich, mich auch für Stellen zu bewerben, denen ich mich eigentlich nicht ganz gewachsen fühlte und riet mir es einfach zu probieren. Aufhören konnte ich noch immer, womit ich ihm völlig Recht geben musste.
Nach drei Monaten hatte ich endlich einen Job in der Tasche, wenngleich es nicht das war, was ich mir erträumt hatte, aber es war ein sehr guter Anfang. Ich arbeitete in einem Hotel als Assistentin in der Bankettabteilung. Ich schrieb Angebote und Vereinbarungen für Firmen, die Seminare und andere Veranstaltungen wie auch Bälle oder Produktpräsentationen in unserem Hotel angefragt bzw. gebucht hatten. Mein Tätigkeitsbereich war mäßig spannend und bot mir insgesamt zu wenige Höhepunkte. Allerdings hatte ich eine wirklich süße Vorgesetzte und alleine wegen dem bisschen Spaß, den wir hatten, lohnte sich das Arbeitengehen. Da ich aber nur vormittags anwesend war, hatte ich mit kaum jemand anderem Kontakt; war mein Job grundsätzlich darauf beschränkt den gesamten Schreibkram und die Ablage für den Konferenz- und Seminarbereich abzudecken.
Privat lief aber alles super. Alexander und ich waren sehr glücklich, Leandra schloss ihn sofort in ihr Herz und nach nicht allzu langer Zeit wurde immer klarer, dass sich vor allem Alexander noch Kinder mit mir wünschte. Ich war achtundzwanzig, Alexander einunddreißig Jahre alt und uns fiel kein Grund ein, warum wir länger warten sollten. Natürlich kam es mir in den Sinn, dass jetzt ein echter Berufseinstieg für mich wirklich angebracht wäre, aber meine Empfindungen waren von den Mutterglückshormonen der ersten Jahre noch immer so durchzogen, dass mir die Familiengründung als absolut vorrangig erschien. Zumal es sich um meine Familie mit Alexander handelte. Arbeiten könnte ich später auch noch gehen – fürs Kinderkriegen war es irgendwann zu spät, sagte ich mir.
Bevor ich ihn kennen lernte, wollte ich so einiges anders machen in meinem Leben und freute mich schon, mein Berufsleben angehen zu können, wenn meine Tochter einmal im Kindergarten war. Natürlich gab es damals auch schon Krabbelstuben, aber irgendwie hing ich dann doch zu sehr an Leandra und da ich ja nicht wusste, ob sie nicht mein einziges Kind bleiben würde, wollte ich diese besondere Zeit mit ihr noch auskosten und genießen. Eigenartig aber wahr, denn trotz der damaligen Umstände, gelang mir das sehr gut.
So kam es, dass Alexander und ich ein Paar Mal ohne Kondom miteinander schliefen. Mein Vertrauen in die Pille war mir damals irgendwie abhandengekommen und so hatte ich nach Leandras Geburt nicht mehr angefangen, sie zu nehmen. Wir ließen es sozusagen darauf ankommen und siehe da: nur zwei Monate nach meinem Probemonat im Hotel war ich erneut schwanger. Alexander und ich freuten uns sehr, meine und seine Eltern konnten ihre Begeisterung sehr gut kontrollieren. Natürlich wusste ich, dass mein Papa das alles für eine Schnapsidee hielt, hatte er doch erneut Hoffnung geschöpft, mein finanziell unabhängiges und erwachsenes Leben in Schwung zu bringen.
Ich glaube an diesem Punkt sah selbst er ein, dass es Zeit war aufzugeben. Meine Lebensführung würde ihm immer ein großes Geheimnis bleiben, das ich weiterhin hüten werde wie einen Schatz.
Um kurz vor halb zwölf ließ ich Caro am Haupteingang des Hotels aussteigen:
„Gute Nacht Sexbombe!“ Das war nur einer meiner Spitznamen für Caro – neben „Arnie“ (für Arnold Schwarzenegger), Pam (Pamela Anderson) und Hulk (für Hulk Hogan).
„Gute Nacht Schlafmütze!“ – gemeinsam hatten wir uns noch die Codenamen „Jammerlappen“, „Raubein“ und „Anti-Mutter“ ausgedacht.
Wir gaben uns ein Küsschen links und rechts und ich fuhr nach Hause. Kurz vor meiner Tages-Deadline wankte ich in mein – zu meiner Überraschung – erst halbvolles Bett. Ich kuschelte mich an Alexander und in dieser Nacht träumte ich von heißem Sex mit einem Schneemann in einer menschenleeren Après-Ski-Bar – im Hintergrund lief „Griechischer Wein“ von Udo Jürgens.