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Die Stadt am Ende des Alphabets

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„Moskau ist nicht Russland“, lautet ein russisches Sprichwort, und deshalb freuten wir uns besonders, als wir während unseres Aufenthaltes in Moskau auch noch eine Einladung nach Jaroslawl erhielten. Zwar blieben uns für den Besuch dieser Stadt nur ziemlich genau 24 Stunden, weil die Reise schon ihrem Ende entgegenging, doch die Eindrücke, die wir dabei sammelten, hätte ich um keinen Preis missen mögen.

Bereits die Fahrt von Moskau – 250 Kilometer Richtung Ostnordost – war eine Lektion in Sachen Landeskunde. Das betraf sowohl all das, was vor unserem Fenster an uns vorbeiflog, als auch die Gegebenheiten innerhalb des Zuges. So passierten wir etwa siebzig Kilometer hinter Moskau das berühmte Kloster Sergijew Possad, in dem wir schon mehrmals gewesen waren – ich zum ersten Mal sogar noch zu einer Zeit, als es noch sowjetisch Sagorsk hieß. Der Waggon selbst war insofern mehr als prägnant, als es sich um einen, wie es in Russland heißt, „allgemeinen Fahrgastwagen“ handelte. Das bedeutete, dass die einzelnen Abteile nicht durch Türen vom Gang getrennt waren, obwohl es sich um einen Liegewagen handelte, und auch im Gang waren Pritschen zu finden. Uns konnte das insofern egal sein, als wir nicht vorhatten, eine Nacht in dem Zug zu verbringen, unsere Mitreisenden hatten jedoch noch bis zu sechs Tage in dieser Konstellation vor sich, denn der Zug fuhr nach Tschita an der chinesischen Grenze. Wir aber durften nach wenigen Stunden aussteigen und waren ob der allgemeinen Enge auch gar nicht böse darüber.

Den Abend verbrachten wir bei unseren Freunden, und am nächsten Morgen machten wir uns auf, die Stadt zu erkunden. Erschwert wurde dieses Unterfangen dadurch, dass es ununterbrochen in großen Flocken schneite. Es war zwar nicht besonders kalt (nur wenige Grad unter null), und um uns aufzumuntern erzählte man uns, dass kurz zuvor noch –30° C geherrscht hatten, die gefühlte Temperatur war dennoch weitaus niedriger.

Aber – um bei den Sprichwörtern zu bleiben – wat dem eenen sin Uhl, is dem annern sin Nachtigall! Die Kinder, die in der sogenannten Eisstadt spielten, waren hellauf begeistert! Hierbei handelte es sich nämlich um von Firmen gesponserte Skulpturen, auf denen man herumtoben konnte – mit kleinen Brücken, Rutschbahnen und so weiter –, und sie alle waren aus Eis!

Wir aber schlenderten durch die Stadt und freuten uns an den vielen Kirchen und anderen architektonischen Besonderheiten. Dass das immer noch möglich ist, verdankt die Stadt Überlieferungen zufolge einem ganz profanen Umstand. Man erzählt sich in Jaroslawl, als unter Stalin der Großteil der Kirchen in den russischen Städten vernichtet oder bis zur Unkenntlichkeit zweckentfremdet wurde, sei die damalige Bürokratie alphabetisch vorgegangen. Da Jaroslawl im Russischen mit einem „Ja“, dem letzten Buchstaben des kyrillischen Alphabets beginnt, sei, ehe es zu diesen Zerstörungen kommen konnte, der Krieg ausgebrochen, und die dortigen Kirchen wurden verschont, weil es nun andere Prioritäten gab. Wie hoch der Wahrheitsgehalt dieser Geschichte ist, lässt sich inzwischen schwer feststellen, zumal auch in Jaroslawl nicht alle Kirchen dem Abriss entronnen sind, aber die Anzahl der erhalten gebliebenen Gotteshäuser ist wohl tatsächlich höher als in anderen Städten.

Auch sonst hat man beim Flanieren durch die alten Straßen eher das Gefühl, in einen Tolstoi-Roman oder einen historischen Film zurückversetzt worden zu sein. Die Atmosphäre in der Stadt ist eine ganz andere als in Moskau: wesentlich stiller, ruhiger und ein bisschen aristokratisch wie in Sankt Petersburg. Entlang der Wolga wurden auf der Uferpromenade in regelmäßigen Abständen sogar Pavillons für die Verliebten aufgestellt. Wenn das nicht romantisch ist!

So ist es überhaupt kein Wunder, dass Jaroslawl zum „engsten Kreis“ der Städte des Goldenen Ringes zählt. Unter dieser Bezeichnung werden altrussische Städte nordöstlich von Moskau zusammengefasst, die Touristen einen besonders guten Einblick in die Geschichte, Kultur und Volkskunst Russlands geben. Die Liste der Städte, die zum Goldenen Ring gehören, schwankt etwas – je nach Blickwinkel und wahrscheinlich auch nach Reiseveranstalter –, doch Jaroslawl gehört zu den Städten, die sich in jeder Aufzählung finden.

Wie könnte es auch anders sein? Schließlich wurde hier das erste Zeugnis russischen Schrifttums, das „Igorlied“, das über 800 Jahre alt ist, gefunden. In der Zeit der Wirren im 17. Jahrhundert, als Moskau von polnisch-litauischen Eroberern besetzt war, war Jaroslawl die Hauptstadt des russischen Staates, und auch das erste russische Theater wurde hier gegründet. Mancherorts im Zentrum werden auch andere Spuren der Vergangenheit mit geradezu entwaffnender Offenheit präsentiert: So fanden wir an einer Hauswand sage und schreibe vier Straßenschilder untereinander: „Surkow-Straße“, „ehemalige Schulstraße“, „ehemalige Gymnasiumsgasse“, „ehemalige Verkündigungsgasse“. Das Gegenteil dieser Umbenennungswut zeigt sich an der Kirche des Kasaner Klosters, die sich immer noch in der Straße des 1. Mai befindet, wovon auch ein Straßenschild an der Kirchenmauer zeugt.

Da wir genau zum orthodoxen Weihnachtsfest gekommen waren, führte uns unser Weg auch in ein Kloster: Dort fand ein großes Weihnachtsvolksfest mit Gesang, Tanz und Spielen statt. Uns interessierten allerdings das Klostergelände und die einzelnen Gebäude noch mehr. In einem von ihnen haben wir uns eine sehr schöne und relativ große Ikonenausstellung angesehen. Das war ein Gefühl – zum orthodoxen Weihnachtsfest diese Ikonen zu sehen, während es draußen ganz allmählich dämmerte und der Schnee in großen Flocken fiel! Spätestens in diesem Moment war klar, dass es eine der besten Entscheidungen dieser Reise gewesen war, nach Jaroslawl zu kommen, und dass ich tief in meinem Inneren hoffte, irgendwann zurückzukehren und noch etwas mehr Zeit für diese Stadt zu haben.

Um unseren kurzen Aufenthalt so intensiv wie möglich auszukosten, spazierten wir so lange durch das historische Stadtzentrum, bis wir uns sehr beeilen mussten, um noch rechtzeitig zum Bahnhof zu kommen. Für den notwendig gewordenen Endspurt wurden wir nun aber durch einen Zug entschädigt, der das komplette Gegenteil dessen war, mit dem wir gekommen waren. Diesmal hatten wir Plätze in einem „Vorortzug mit erhöhtem Komfort“ reserviert, was nicht nur bedeutete, dass es ausschließlich Sitz- und keine Liegeplätze gab (darauf deutet in Russland schon die Bezeichnung „Vorortzug“ hin, alle anderen haben wegen der großen Entfernungen standardmäßig Liegewagen), sondern auch, dass wir uns mit Videofilmen die Fahrzeit verkürzen konnten, denn dafür gab es extra Monitore.

Moskau ist nicht Russland – das stimmt sicher, und es ist gut, sich das immer wieder vor Augen zu führen! Denn wie viel würde man verpassen, wenn man sich bei einem Besuch nur auf die Hauptstadt beschränken würde!

Januar 2001


Reiseskizzen aus Russland

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