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Der Sonne hinterher

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Nach dem verkorksten Silvester befand Lina, dass sie dringend mal „vor die Haustüre“ musste. Ihr Café hatte praktischerweise drei Wochen Betriebsferien – und sie war ebenfalls urlaubsreif. Abstand gewinnen, den Kopf klar kriegen, das wäre wohl angesagt. Nein, sie musste es zähneknirschend zugeben: Es war nicht die beste aller Ideen gewesen, am Silvesterabend mehrfach in desolatem Zustand (um das Wort „sternhagelvoll“ in dem Zusammenhang zu vermeiden!) bei Jan anzurufen, um völlig hirnloses Zeug auf den Anrufbeantworter zu sprechen – wobei Sprechen nicht unbedingt die geeignete Beschreibung für ihre Verbalentgleisung sein konnte, es war wohl eher Labern mit schwerem Zungenschlag. Voll peinlich. Was genau der Inhalt des Lamentos war, konnte Lina nur noch anhand der um 3.17 Uhr (!!!) abgeschickten Frust-Email erahnen, die voller Beschimpfungen und Ausraster (und Rechtschreibfehler!) gewesen ist. Frei nach dem Motto: „Nie hast Du Zeit für mich, nie kann man was mit Dir anfangen, schon gar nicht an Wochenenden oder Feiertagen, unter der Woche aber auch nicht, da musst Du ja diese ganzen langhaarigen Weiber mit ihren noch längeren Beinen unterrichten – oder wie der Bosbach durch alle Talkshows tingeln. Außerdem hältst Du mich sowieso nur hin, im ganzen Leben heiraten wir doch nie mehr, nie hast Du auch nur einmal gesagt, dass Du gerne mit mir alt werden würdest, nie, nie nie. Und von Kindern auch kein Wort von Dir, wahrscheinlich kann ich mir das sowieso bald abschminken. Dann bin ich nämlich dummerweise zu alt zum Schwangerwerden…

Dabei wusste sie doch aus unzähligen Frauenzeitschriften, dass jeder Paartherapeut heutzutage vehement davon abriet, das Wort NIE in Verbindung mit Vorwürfen an den Partner auszusprechen. Vollkommen kontraproduktiv. Aber wer weiß das noch im vollen „Kopp“ – in einer einsamen Silvesternacht? Ein Wunder, dass die Endungen zumindest im Schriftlichen noch vorhanden waren. Die Aufzeichnungen von Jans Anrufbeantworter hätte Lina nicht hören mögen, nicht im nüchternen Zustand. Das musste schon ziemlich daneben gewesen sein.

Oh, oh… Seitdem war wieder mal Funkstille zwischen ihr und ihrem nicht angetrauten Jan. Keine schlechte Ausgangssituation, um mal schnell die Biege zu machen und das Weite zu suchen. Und am allerliebsten auch das Warme, zumindest in Form einer luxuriösen Hotelsauna, denn es war inzwischen doch „arschkalt“ geworden, was Lina gar nicht behagte. Auf einmal, kurz nach Weihnachten, hatte sich der Winter wohl doch noch daran erinnert, warum er eigentlich Winter heißt. Und was ihn von den anderen Jahreszeiten üblicherweise so unterscheidet.


Zumindest ein Kurzurlaub müsste irgendwie noch drin sein, hatte sie sich überlegt. Ihren ursprünglichen Plan, die Ostsee von Travemünde bis Swinemünde abzugrasen, ganz gemütlich mit dem Auto, sozusagen aufs Geratewohl und ohne die üblichen Touristenströme wie im Sommer, könnte sie sich jedoch abschminken. Dabei hätte es so schön sein können. Im Winter war es oben an der Küste am allerbesten, das wusste sie aus Erfahrung. Außerdem wären sie vielleicht noch bei seiner Mutter und ihrem netten Italiener in Hamburg vorbeigeschneit und auf einen Drink in ihrem Lieblingshotel an der Alster abgestiegen. Aber das war jetzt auch Geschichte, befürchtete Lina.

Bei Jan brauchte sie jetzt wohl nicht mehr anzukommen, schon gar nicht mit der einst noch in vollkommener Harmonie geschmiedeten Reiseidee. Er schmollte ja jetzt in Hochform und hatte ansonsten die Läden heruntergelassen, sinnbildlich. Aber allein würde sie auch nicht wegfahren, sie kannte sich. Also, musste Plan B her: Urlaub unter Freundinnen! Na klar, das war doch die Lösung. Ein Trip mit den Mädels, super!!! Wann hatten sie auch das letzte Mal so richtig Zeit miteinander verbracht? Ohne, dass eine von ihnen schon zu Beginn des Treffens auf die Uhr – oder noch schlimmer, das Smartphone – schaute, frei nach dem Motto: Ich bin jetzt schon im Stress, hab‘ eigentlich gar keine Minute Luft, nicht mal für ein Mädelsmeeting.

Lina sehnte sich schon seit Längerem danach, mal wieder richtig einen abzuquatschen, wie sie es nannte. Wäre doch super, so ein paar Tage (und Nächte!) im Kreise der legendären Flaggenmädels, wie sie sich aufgrund ihrer Haarfarben nannten, die mit viel Phantasie die Deutschlandflagge plus Fahnenstange darstellten: Susi (schwarz), Ines (rot), Lina (gold) und Marie-Anne (metallic-grau). Das unschlagbare Vierer-Team seit nunmehr über zwanzig Jahren - wohlgemerkt, lange, bevor irgendjemand an „Sex and the City“ auch nur gedacht haben konnte! Sowas musste einem erst einmal jemand nachmachen. Das war doch mehr, als so manche Beziehungskisten oder Ehen zeitlich auf die Reihe bekamen, fand Lina.

Aber in letzter Zeit war es sehr still geworden, manchmal dachte sie schon, das war’s bald mit der Vierer-Bande. Jede ging ihrer Wege, jede hatte ihr eigenes Päckchen zu tragen: Susi Lustig, die rasende Reporterin vom Hessenfunk, war tatsächlich nach ihrer Scheidung wieder superglücklich mit ihrem einstigen Ex-Mann Jochen, Marie-Anne kämpfte immer häufiger mit gesundheitlichen Problemen und musste in ihrem Fußpflege-Studio so manchen langen Arbeitstag unter Schmerzen ihre Frau stehen – und Ines war beruflich stark engagiert, sie hatte ja Linas stressigen Chefsekretärinnenjob „geerbt“ – und zu alldem auch noch eine ernsthafte Rund-um-die-Uhr-Beziehung, denn ihr Siegbert war Boss und Lover in Personalunion.

Keine der Flaggenmädels konnte sich also über Langeweile beklagen, am allerwenigsten Lina selbst. Doch gerade aus diesem Grunde war sie der Meinung, eine Auszeit täte doch allen gut.

Also haute sie Folgendes in die Tasten:


Hi Mädels,

erst einmal PROSIT NEUJAHR, Ihr Lieben. Für das Neue Jahr 2015 alles Liebe, viel Glück und was Ihr sonst noch so gebrauchen könnt. Ich hoffe, Ihr habt es gut angefangen. Auf die Umstände meines komplett verkorksten Silvesters will ich jetzt mal nicht näher eingehen, da müsste man erheblich mehr Zeit einplanen. Wobei ich auch schon beim Thema wäre: Was haltet Ihr von einem gemeinsamen Mädels-Kurzurlaub? Mal wieder so richtig schön ausgiebig über alles und jenes herziehen, ohne zeitliche Begrenzung und das ewige Schauen auf die Uhr? Es gibt doch Super-Angebote, Stichwort „Freundinnen-Wellness“ und so… Muss ja nicht gleich ganz weit weg sein. Also, ich hätte Zeit.

So ein verlängertes Wochenende wäre doch was für uns?

Rückmeldungen und Vorschläge werden gerne genommen, möglichst zeitnah. Planmäßig habe ich mein ansonsten heiß geliebtes Café bis einschließlich 19. Januar geschlossen. Betriebsferien!!! Warum, fragt Ihr? Weil ich es mir verdient habe…

Also Mädels, nun mal ran, wir werden das doch gebacken kriegen, oder?

Bussis an alle und nochmals Frohes, neues Jahr!

Eure Lina


Kaum war die Nachricht verschickt, klingelte im verträumten Bad Salzhausen auch schon das Telefon. Die Frankfurter Nummer kannte Lina in- und auswendig, kein Wunder, es war ja einst ihr eigener Anschluss gewesen. Die liebe Ines, das allzeit fleißige Bienchen, hatte also ihren Dienst schon wieder angetreten. Wahrscheinlich arbeitete sie hochmotiviert alles Liegengebliebene von vor Weihnachten ab.


„Hallo, Lina!“, hauchte sie etwas außer Atem in den Hörer. „Gerade habe ich Deine Mail gelesen! Mensch, ich wollte ja die ganze Zeit schon mal anrufen, aber hier ist die Hütte wieder mal am Kacken… Püh!“ Das hörte sich nach Vollstress an, befürchtete Lina, die sich nur allzu gut noch immer an ihr erstes Leben als Chefsekretärin erinnern konnte. „Jetzt mach‘ mal langsam, Du bist ja ganz außer Puste! Und übrigens, nur mal so fürs Protokoll: Es heißt korrekterweise, hier ist die Kacke am Dampfen – dass eine Hütte kackt, habe ich ja noch nie gehört… Aber egal. Was gibt es denn so früh im neuen Jahr schon wieder an Hektik bei Dir?“

Eigentlich wollte sie es gar nicht so ganz genau wissen, aber nun stieg Ines gleich ins Thema ein: „Kick-Off 2015, Du weißt doch, wir machen jetzt keine Jahresend-Tagungen mehr, sondern beginnen das Jahr gleich mit einem Mega-Meeting. Alle, die irgendwas zu vermelden haben, kommen da zu Wort… Und die Leute werden ja immer komplizierter, je mehr Möglichkeiten ihnen das Leben bietet. Ständig stellen sie alles in Frage und meckern an der Planung herum, angefangen beim Hotel, dann gefällt ihnen der Ablauf nicht, dann finden sie, das Buffet sei nicht richtig durchdacht, der Standort falsch beschrieben, die Location nicht hip genug, die Matratzenstärke nicht explizit mit Gewichtsangabe versehen – oder es fehlen die korrekten Angaben zu allen verfügbaren Allergenen auf der Speisekarte im Internet. Ich werde noch waaaahnsinnig! Und das Schlimmste ist: Sie schütten einen zu mit ihren Mails und SMSen. Ich verfluche den Tag, an dem der Quatsch erfunden wurde…“

„Ja, manchmal hasse ich das alles auch, besonders dann, wenn ich unüberlegtes Zeug in die Tasten gehauen habe, nachts um halb vier oder so. Aber mal im Ernst, was hältst Du denn jetzt von meiner Idee?“ Dann war erst einmal Sendepause, das verhieß wohl nichts Gutes, befürchtete Lina aus Erfahrung. Also schob sie vorsichtshalber nach: „Wenn Du mich fragen würdest, ich würde sagen, Du hättest Urlaub nötig, Ines Gerlach!“ Aber vom anderen Ende kam nur ein schweres Atmen…

„Lina, Du hast vollkommen recht, urlaubsreif bin ich – selbst nach den Feiertagen. Aber Fakt ist, ich kann hier nicht weg. Diese Kick-Off-Geschichte raubt mir den letzten Nerv und ich kann Siegbert hier unmöglich alleine lassen – oder ihm eine Vertretung vor die Nase setzen. Das funktioniert einfach nicht.“ Dann hörte man Stimmengewirr in Ines‘ Büro, es schien also wieder lebhaft zuzugehen. Ein gehetztes „Ich schicke Ihnen das alles nochmals schriftlich zu, dann hätten wir ja jetzt alles geklärt“, signalisierte Lina, dass die Zeit für Privatgespräche ihr Ende erreicht hatte. Ines war wirklich im Stress.


So, die komplette Mädelsrunde konnte sie für einen gemeinsamen Trip schon mal Abhaken. Ines fiel definitiv aus.

Von Susi Lustig trudelte kurze darauf eine Antwort ein:


Hi Mädels,

die Idee von Dir, liebste Lina, war echt nicht schlecht. Aber es gibt ein großes Aber: Ich gehe nämlich ein paar Tage in Klausur, kann demnach leider nicht mit zum Flaggenurlaub. Hatte schon vor Längerem einen Aufenthalt im Kloster gebucht, denn das Tempo aus meinem Reporter-Alltag muss unbedingt mal raus. Sonst kann der Hessenfunk bald eine Umzugsanzeige für mich schalten: Frei nach dem Motto, „Für unsere allseits beliebte Susi war plötzlich Schluss mit Lustig – Sie ist überraschend umgezogen und freut sich über Blumen und Besuche auf dem Frankfurter Hauptfriedhof“.

Das wollte ich doch unter allen Umständen vermeiden, die Zeit ist noch nicht reif. Ich melde mich, wenn ich wieder geerdet und ge-ohmmmt bin.

Wo immer es Euch hin verschlägt: Viel Schbass, meine Lieben! Und blamiert mir nicht die Innung…

Total gestresste Grüße

Susi


Auf Zweierferien mit Marie-Anne verspürte Lina jedoch keinerlei Lust. Das würde schlicht und ergreifend zu bedeutungsschwanger und anstrengend, außerdem lagen zwischen dem Humor der beiden manchmal doch Welten. Und mit ihren vielen Wehwehchen und ihrem ewigen „Das kann ich nicht, meine Beine, Ihr wisst doch…“, erinnerte sie Lina eine Spur zu oft an den wehleidigen Jan, der immer dann, wenn es drauf ankam, irgendetwas „Gesundheitliches“ vorschob, damit er aus der Nummer raus war… Die Rücksichtnahme auf seine Befindlichkeiten hatte er sozusagen im Abo, und zwar lebenslänglich. Im Vierer-Team fiel das mit Marie-Annes Einschränkungen nicht weiter ins Gewicht, aber ein paar Tage exklusiv mit der Alterspräsidentin und ihrem Alterserscheinungen zu verbringen, wäre nicht angebracht. Insofern war Lina über deren Absage auf dem Anrufbeantworter auch überhaupt nicht traurig. Die anderen beiden dürfte das jetzt eh nicht mehr interessieren, die hatten sich ja schon abgemeldet.

Trotzdem stand nun die Frage im Raum: Was tun, Frau Siebenborn?

Urlaub streichen? Alleine fahren? ALLEINE???? Lina konnte sich mit dem Gedanken überhaupt nicht anfreunden. Sie war seit ewigen Zeiten nicht mehr als Solistin unterwegs gewesen, in den letzten beiden Jahren eigentlich nur mit Jan. Paris übers Wochenende, Shopping-Touren in allen Variationen, Hamburg im Traditionshotel Atlantic, Ayurveda in Traben-Trabach, Bad Ragaz im Heidiland und Lindau am schönen Bodensee. Um nur ein paar der Ziele zu nennen, mit denen Jan sie immer wieder überrascht und erfreut hatte. Ja, ja – es kam ihr schon wieder vor, als wären Lichtjahre vergangen, seitdem. Jetzt stand sie alleine da, die Luft war raus und sie hatte so langsam auch keine Puste mehr. Die alte Indianerweisheit, dass man ein totes Pferd nicht reiten kann, kam ihr in den Sinn.

Aber sollte sie jetzt deshalb in ihren hart verdienten Betriebsferien zuhause im beschaulichen Kurort in der Wetterau bleiben? So schön ihre oberhessische Heimat ihr auch immer wieder erschien, das war nun wirklich zuviel verlangt. Aber alleine mit dem Auto die Ostseeküste entlang fahren? Nee, das war too much „Jan im Gepäck“, selbst wenn er weit weg sein sollte. Es musste etwas Neues her.

Nach stundenlangem Surfen auf den diversen Seiten im Netz war Lina jedoch verwirrter als zuvor. Wo sollte sie bloß hin mit sich und ihrem Resturlaub? Ski-Urlaub war nix für sie, zu kalt, zu weit weg, zu sportlich – und zu gefährlich! Sie war immerhin selbständig und konnte keine Krankenhausaufenthalte wegen verdrehter Gliedmaßen gebrauchen. Es müsste was Ruhigeres her, etwas Erholsames. Ihre Nerven bedurften der Pflege… Wellness auf irgendeiner Beauty-Farm! Ja, das klang doch schon besser. Ihr fiel da so einiges dazu ein. Immerhin hatte sie mal für die Gattin ihres Ex-Chefs, Herrn Hein, dem allseits berühmt-berüchtigten Peitschen-Heini, eine größerer Recherche in dieser Sache gestartet. Da konnte sie sich an einige verlockende Angebote noch gut erinnern – und noch viel mehr als das, kam ihr wieder ins Bewusstsein, dass dieser Heini auch an ihrem neuen Dasein als Kaffeehausbesitzerin „schuld“ war. Weil sie von seinen Eskapaden im Bahnhofsviertel wusste, seiner Vorliebe für erotische Spielchen der ganz anderen Art… Und genau diese Recherche für Marlene Heins Beauty-Urlaub hatte ihr damals mittels einer geschickt eingefädelten Intrige das Sekretärinnengenick gebrochen. Das war lange her, genauer betrachtet etwas mehr als zwei Jahre – doch irgendwie kamen ihr die Erinnerungen an diese Turbulenzen auch vor wie aus einem anderen Leben. Richtig verkraftet hatte sie dieses Mobbing aber noch immer nicht. Auch deshalb waren Ferien genau jetzt das richtige Stichwort.

Aber abgesehen davon, dass die exklusiven Adressen wirklich eine Sprengung ihres Budgets bedeutet hätten, waren so kurzfristig auch überhaupt keine Termine mehr frei. Die übliche Vorlaufzeit für eine Buchung auf einer renommierten Beautyfarm betrug nicht selten ein ganzes Jahr, wie Lina erfahren musste! Und da redeten manche Statistiker von einem Rückgang der Konjunktur? Bei solchen Wartezeiten – trotz horrender Preise? Das konnte ihr nicht in den Kopf gehen. Sie brauchte eine Pause, auch vom Surfen. Das war ja alles völlig verwirrend…

Und bei einer kurzen Shopping-Tour durchs benachbarte Nidda, wo sie meist ihre „kleinen“ Einkäufe erledigte, da in Bad Salzhausen im Prinzip nur Kliniken, Cafés und seltene Baumarten anzutreffen waren, ging sie ganz zufällig an einem der wohl noch letzten überlebenden klassischen Reisebüros vorbei – und stutzte. Warum nicht einfach mal den traditionellen Weg gehen? Ein paar Kataloge holen, stöbern und die vom Bildschirm strapazierten Äuglein schonen.

Gesagt, getan.

Schon kurze Zeit später saß sie bei Tee und schottischen Plätzchen auf ihrem Sofa und blätterte eifrig in den diversen Reiseprospekten. Aber auch da kam sie einfach nicht zu Potte. Irgendeinen Haken gab es immer. Außer einer Kurreise nach Tschechien in ein superschickes Grandhotel, wo man sich sicher fühlen konnte wie die Kaiserin von Österreich persönlich, sprach sie nichts wirklich an. Oder sagen wir besser, der Norden sollte es nicht sein, der Süden war Wintersport pur, der Osten, naja, da war eher Kultur und Sightseeing angesagt, die Mittelgebirge reizten sie kein bisschen. Doch nach Tschechien zu reisen, war laut der Reiseverkehrskauffrau nicht ganz ohne. „Da müssen Sie durchs Fichtelgebirge fahren, da gibt’s ne Menge Schnee, also gute Winterreifen, oder besser noch Schneeketten, brauchen sie da auf jeden Fall. Und in Tschechien müssen Sie immer einen bewachten Parkplatz dazu buchen, sonst kommen sie vielleicht mit der Bahn wieder nach Hause… Hi hi.“ Na, ganz toll, fand Lina. Sissi im Zweitklassewagon? Nee, also das ist vielleicht auch nicht das Richtige für sie.

„Und was könnten Sie mir noch empfehlen?“, wollte sie von der netten Fachkraft wissen. Immerhin verspricht man sich im Traditionsreisebüro doch etwas mehr von dem, was man im Internet nachlesen kann…

„Warum muss es denn unbedingt Kur und Wellness sein? Fahren Sie doch einfach in den Süden, ins Warme! Da haben Sie keinen Fahrtstress, brauchen keine Schneeketten, haben tollen Luxus und All-Inclusive für ein Drittel des Preises, von dem wir hier sprechen.“

Man konnte ja alles Mögliche von ihr behaupten, fand Lina, aber beratungsresistent war sie nicht.

*

Der Flieger ging um 15.00 Uhr. Zielort: Djerba, Tunesien. Planmäßige Ankunft: 17.50 Uhr. Danach würde es direkt in den Fünf-Sterne-Club „Alice Palace“ gehen – und spätestens um Mitternacht wäre Lina in der hoteleigenen Diskothek, zum Abtanzen und Schwofen unter der Original-70er-Jahre-Glitzerkugel, die sie schon auf der hauseigenen Homepage in Augenschein genommen hatte. Nach einem mehrgängigen Buffet, versteht sich. Sie träumte bereits von klebrigen Honig-Nuss-Schleckereien der arabischen Art, gespickt mit Datteln, Feigen und anderen Figurkillern. Lauter babbisch‘ Zeuch, wie der Oberhesse sagen würde… Reinste Plombenzieher, aber gut. Lina sagte immer noch „gut“, nicht lecker – seit sie gehört hatte, dass die oberste Anstandsdame der Nation nochmals zu Protokoll gegeben hatte, dass „lecker“ ausschließlich in Verbindung mit Hundefutter zum Ausdruck kommen sollte.

Aber nicht nur gutes Essen sollte ein wichtiger Bestandteil ihres winterlichen Sommerurlaubs werden, nein, auch die dazugehörigen ortsüblichen Drinks würden nicht außen vor bleiben. Und das Beste? Andere müssen das alles zubereiten, auftischen, servieren und die Reste wieder abräumen. Und spülen! Sie jedenfalls wäre vorerst außen vor, denn ansonsten war sie es ja, die andere in ihrem Café verköstigte. Zwar tat sie das überwiegend sehr gern, aber anlässlich des Urlaubs wollte sie sich das Ganze mal wieder von der anderen Seite zu Gemüte führen. „Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen!“, wusste schon Sokrates, die alte Socke. Äh, der alte Grieche. Von Wellness war da nie die Rede! Lina Siebenborn hielt dieses Wellness sowieso für überschätzt und überbewertet. Und überbezahlt!

Wohlfühlen konnte man sich doch auch, wenn man schlaue Entscheidungen trifft und zur Verfügung stehendes Kapital nutzbringend einsetzt. Besonders das Preis-Leistungs-Verhältnis dieser Reise sowie die zeitliche Nähe zum Urlaubsort hatten sie zu der Überzeugung geführt. Geschlagene knappe drei Stunden Flugzeit und man war auf einem anderen Kontinent, in der arabischen Welt, an unendlich weiten Stränden, inmitten eines niemals enden wollenden Sommers. Mit Rundum-Verpflegung und Bespaßung allerorten. Natürlich, nicht zu vergessen: Keine Winterreifen erforderlich. Stattdessen konnten ihre Sandalen mal wieder den Dienst antreten und ihren geruhsamen Winterschlaf vorzeitig beenden. Die Profiltiefe war in diesem Fall eher unerheblich…

Es würde ein Abenteuer werden, dessen war sich Lina sicher. Aber dass es so schnell schon losgehen würde?

Just in dem Moment, da sie in einer Art Endlos-Schlange am Schalter ihrer zuständigen Fluglinie anstand, erhaschte sie einen Blick auf ein Abenteuer ganz anderer Art: War das schon eine Fata Morgana außerhalb der Wüstenzone, fragte sie sich - oder handelte es sich bei dem wild knutschenden Etwas da hinten in der anderen Schlange um eine Doppelgängerin von Susi Lustig? Herr, lass‘ es eine Täuschung sein, wünschte sich Lina. Aber so eine unmögliche Klamottenzusammenstellung (Leo-Hose und rosa Kunstpelzjacke!) und eine derartige schwarze Mähne im Chaka-Khan-Look hatte nur eine Person im ganzen Rhein-Main-Gebiet zu bieten. Und das war die rasende Reporterin, die sie zu ihren allerbesten Freundinnen zählte.

Die Brille fürs Ferne schaffte bei der Identifizierung der Zielperson Abhilfe. Ja, es war ihre Freundin, die hier leidenschaftlich busselte – und zwar nicht mit ihrem wieder aufgewärmten Göttergatten Jochen, nein, das hier war eher „Modell Jungbrunnen mit 5-Tage-Bart“. Soweit Lina das erkennen konnte auf die Entfernung. So sah Klosterleben in der Neuzeit also aus... Einkehr, Klausur, Innehalten, Kraft schöpfen und sich wieder für den Alltag erden, das war doch die Planung für den Jahresbeginn, laut der offiziellen Ankündigung. Innehalten! Aha. Und das alles mithilfe eines unverschämt gut aussehenden Toyboys, der maximal fünfzehn Jahre konfirmiert sein dürfte – um jetzt nicht mit kleinlichen Altersangaben aufzuwarten. Das war also Susi Lustig im Nebenleben, sie klammerte ihre Hand an den sicher steinharten und durchtrainierten Hintern dieses noch immer knutschenden Sahnestückchens. Fast wäre Lina neidisch geworden – aber sie verkniff es sich im letzten Moment.

Jedoch wunderte sie sich, wie unverfroren Frau Lustig doch ihre Flaggenmädels angelogen hatte. Angelogen. Was für ein hässliches Wort! Sicher hatte Lina da nur etwas durcheinandergebracht, beruhigte sie sich, vielleicht war der junge Mann ja vom Kloster geschickt, um eine Art Escort-Service für ältere Damen darzubieten, die sich ansonsten in Deutschlands größtem Flughafen nur noch schwerlich alleine zurechtfinden würden.

Ja, ja, Frau Siebenborn, jetzt lüg‘ Dir noch selbst in die Tasche, sagte Lina zu sich selbst. Irgendwie war sie megamäßig enttäuscht von dem Fremdküssen und dem Schwindeln ihrer Busenfreundin, aber schon kurz darauf, in der Vorwartehalle zum Flieger, hatten sich bereits wieder Töne von herannahender Altersmilde bei ihr eingestellt.

Was hätte Susi auch sagen sollen?

Hier Mädels, ich komm‘ nicht mit zum Wellness-Trip, ich mach‘ diesmal sozusagen mein eigenes Wellnessprogramm, ganz abseits von Beziehung und Beruf. Ein bisschen Spaß muss ein, das gönnt Ihr mir doch, oder? Ich konnte diesem hinreißenden Knackarsch beim besten Willen keine Abfuhr erteilen, Treue hin oder her. Statistisch gesehen bin ich sowieso schon zigmal von Jochen und seinen Vorgängern betrogen worden, ich habe da beruflicherseits genauestens recherchiert und somit also offiziell Aufholbedarf, da ich mein Lebtag noch nie fremdgegangen bin. Ihr seid mir doch nicht böse, gell?

Nein, so viel Intimität hätte sie im umgekehrten Fall sicher auch nicht vor der Mädelsrunde ausgebreitet. Das war doch eher was für jüngere Geschlechtsgenossinnen, deren Lebens- und Liebes-Bahnen noch nicht so gefestigt sind. Aber von einer Lady in den besten Jahren konnte man doch keinesfalls ernsthaft annehmen, dass sie ihr komplettes Liebesleben vor der Mädelsrunde ausbreitete. Das musste man großzügig unter Notlüge verbuchen – oder einfach unter „geänderten Urlaubsplänen“. Zum Glück waren die beiden in einen anderen Flieger eingestiegen, sonst hätte die Sache doch unter Umständen eine recht peinliche Wendung genommen.


Der Flug nach Afrika war eine willkommene Abwechslung nach dieser überraschenden Szene. Überall urlaubswillige Menschen, die fast nur ein Thema hatten: das Wetter! Und wie froh sie seien, endlich mal wieder Sonne auf der Haut zu spüren. Zwei ältere Damen in der Reihe hinter ihr waren so forsch, Lina gleich zu fragen, in welchem Haus sie auf Djerba residieren würde. „Ich bin im Alice Palace“, hatte sie selbstbewusst und stolz geantwortet. Immerhin, sie hatte ihren Urlaub verdient – und das in mehrfacher Hinsicht. „Ach“, rief die eine durch den halben Ferienflieger, „wir sind doch auch im Alice! Wir sind seit Jahren IMMER im Alice!“ Das war die Rothaarige mittleren Alters, die sich als Geli vorstellte. „Eigentlich Angelika, aber für die meisten bin ich nur die Geli…“ – woraufhin Lina bei der Gelegenheit klarstellte: „Ich bin eigentlich Angelina, aber für die meisten nur Lina…“.

„Wie sympathisch!“, stieß die blond-grauhaarige Mittsiebzigerin aus, „da haben wir bestimmt eine Menge Spaß zusammen. Ich bin übrigens die Inge. Also eigentlich Ingeborg, aber die meisten nennen mich nur Inge.“

Dann hatten die beiden sich nicht mehr eingekriegt vor Lachen. Und Lina musste wohl oder übel aus Sympathie (!!!) ein bisschen mitkichern. Irgendwie war es ja auch schön, dass sie ein wenig Gesellschaft hatte in der großen weiten Welt, in die sie sich begeben hatte. Man wechselte ja den Kontinent normalerweise nicht gerade wie die Unterhemden. Und heute stand nun mal „Kontinentwechsel“ auf dem Programm, was ganz schön aufregend war.

„Hach, ich bin richtig uffgereechd!“, ließ Lina dann noch aus der Tiefe ihres Herzens los, wo der Heimatdialekt beheimatet war. Wobei die beiden Ladies hinter ihr sofort gänzlich aus dem Häuschen waren.

„Ei, Geli, guckemaa, die Lina iss auch e echt‘ Hessemädsche, die sacht ja auch uffgereechd, knau wie mir, wenn mer babbele, wie uns de Schnabbel gewachse is!“ Und in diesem Moment war Lina dann auch klar, dass dies ein Urlaub mit Familienanschluss werden würde.

Na denn.

Jenseits von Oberhessen

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