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Naurénya

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S

ie wurde nicht ohnmächtig, hatte aber das Gefühl, in einem Zustand kurz davor zu sein. Eine starke Hand packte sie am Oberarm und hielt sie. Sie blickte in das breitgrinsende Gesicht Pans, dass durch das flackernde Licht an der Decke nicht weniger unheimlich wirkte.

»Du bist faszinierend«, sagte er. »Ich kann deine Angst spüren. Und doch zieht es dich immer wieder an diesen Ort.«

»Was bist du?«, keuchte sie.

»Ein Gestaltwandler«, erklärte er, als ob das alles erklären würde.

»Was?«, fragte sie schwach. Er musterte sie.

»Ich würde dir ja ein Glas Wasser anbieten. Aber das ist nicht mein Element. Vielleicht sollten wir uns einfach setzen.«

Sie nickte, plötzlich bereit, einfach alles hinzunehmen, was hier geschah.

Sie bückte sich nach ihrem Handy und ihr kam eine Idee. Wie doof konnte sie eigentlich sein? Sie hätte unlängst früher daran denken können. Kein Netz, sagte ihr Handy. Akku schwach. Na für ein bis zwei Fotos würde es noch reichen.

Es blitzte.

»Was tust du da?«, fragte Pan alarmiert und trat wieder näher.

»Ich muss das Majik zeigen. Sonst drehe ich durch.«

»Wie?«

»Mit dem Foto.« Sie drehte das Display zu Pan, sodass dieser das Foto begutachten konnte. Sein Gesicht zeigte keinerlei Regung. Dann, ohne Vorwarnung, griff er nach dem Handy, schmetterte es auf den Boden und trat darauf. Es knirschte.

»Waaaa?«, schrie Leyla entsetzt.

»Das darfst du nicht. Niemand darf hiervon wissen. Vorerst«, meinte er knapp.

»Aber«, jammerte sie und hob ihr Handy auf. Das Display war vollkommen zerstört. »Spider-App! Weißt du, wie teuer das wird?«

Er drehte sich um, es schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren. Er ging zum Gemeinschaftsraum und zögernd folgte Leyla ihm. Das Flackern war immer noch im Durchgang. Er lief einfach hindurch. Sie registrierte es und zog die Brauen hoch. Das war interessant! Sie selbst betrat den Raum seitlich, um nicht mit dem Portal in Berührung zu kommen.

Im Raum ließ sie sich auf einer der Sesselkanten nieder, die nicht nur aussah wie Stein, sondern auch so hart war. Pan schien das nicht zu bemerken, wieder lümmelte er sich in eine der Sitzgelegenheiten, richtete seine Augen auf sie und starrte sie an. Keiner sagte etwas. Irgendwann wurde es ihr zu unbehaglich.

»Habe ich wieder drei Fragen?«, fragte sie zögernd und er bleckte die Zähne. Offensichtlich sollte es ein Grinsen sein.

»Vielleicht.«

»Besonders redselig bist du nicht, oder?«

Er sagte nichts, zog nur grinsend die Augenbrauen hoch.

»Das war meine zweite Frage, oder?«

»Deine Dritte.« Er lachte bellend und sie stöhnte. Was für ein furchtbares Spiel.

»Dann bist du wohl dran.«

»Ich hebe mir meine Fragen für später auf. Aber wenn du nicht bald Sinnvolles erfragst, gehe ich. Mir wird langweilig.«

Sie starrte ihn verblüfft an.

»Warum darf ich niemandem zeigen, was ich hier sehe?«

»Wenn deine Welt es erfährt, bricht Chaos aus.«

»Aber ich bin ja auch hier. Wer sagt, dass nicht noch weitere aus ›meiner Welt‹ hierher kommen werden?«

»Das wäre gut möglich. Ist bisher aber nicht der Fall. Genau deshalb bist du so interessant. Warum bist du hier? Jetzt schon?«

»Was heißt: Jetzt schon?«

»Was einst zusammengehörte, stürzt jetzt ineinander. Die Grenzen verschwinden.«

Sie sah ihn an. Plötzlich schon wieder wütend. Sie stand auf.

»Okay. Das hat so keinen Sinn. Ich kann tausend Fragen stellen und werde doch keine ordentliche, verständliche Antwort erhalten. Gibt es irgendwo Menschen, mit denen man sich vernünftig unterhalten kann?«

»Gibt es.« Er stieß ein kehliges Lachen aus. »Setz dich

wieder.«

Sie tat wie ihr geheißen und er richtete sich auf.

»Bis etwa vor dreitausend Jahren waren deine und meine Welt vereint. Die Welt der magischen Wesen und der Tiere, die Welt der Magie-Begabten und der Unbegabten. Das ging lange Zeit gut, auch wenn es stets Zwist zwischen den einen oder anderen gab. Das ist normal. Irgendwann aber kam es zum Bruch zwischen den begabten Menschen und den Unbegabten. Letztere hatten Angst. Sie fühlten sich schwach, der Macht ausgesetzt, nutzlos. Und das äußerten sie in Hass und Argwohn. Das Ende der Geschichte ist, dass die beiden Welten getrennt wurden. Ein hoher Rat beschloss damals, dass es das Beste für alle sei. Anfangs wurden Grenzgänger noch gebilligt, geradezu benötigt. Man versuchte den Kontakt nicht abreißen zu lassen, parallel zu bauen, zu forschen. Man konnte sogar von der Entwicklung der Unbegabten lernen, denn kaum fühlten sie sich nicht mehr bedroht, zeigte sich, dass auch sie auf unglaublich kreative Weise ihren Magiemangel ausglichen.

Doch seit etlichen Jahren schon ist das Betreten der jeweils anderen Welt verboten. Deine Welt hat längst vergessen, dass es meine gibt und das ist auch gut, sonst würde das Chaos hereinbrechen. Oder besser, jetzt wo die Grenzen bröckeln, wird das Chaos hereinbrechen. Klar soweit?«

Leyla, vollkommen überrumpelt von der ausführlichen Erklärung, war überhaupt nichts klar. Sie wusste gar nicht wo sie mit ihrer nächsten Frage ansetzten sollte. Aus Angst, Pan würde wieder in Ein-Wort-Antworten zurückfallen, sagte sie, was ihr als erstes einfiel.

»Warum bröckeln die Grenzen?«

Er machte eine Handbewegung und deutete auf alles um sie herum.

»Irgendetwas ist passiert. Vor knapp fünf Monaten. Alles ist über Nacht zu schwarzem Stein geworden. Es erstreckt sich bis zum Birmgebirge im Nordwesten und hat aus diesem Grunde auch die Schimmerelfen erwischt, die in dieser Gegend für den Grenzzauber zuständig sind. Keine Elfen, kein Zauber, keine Grenze. Und freiwillig kommt niemand hierher, um sie zu ersetzen. Hier kann man nicht überleben.«

»Was passiert, wenn die Grenzen verschwinden?«

»Zerstörung. Natur und Gebäude fallen ineinander, Menschen und Mächte prallen aufeinander. Explosion. Vernichtung von allem.«

»Das ist ja furchtbar. Warum tut jemand so etwas. Wer war …« Sie stockte und starrte Pan an. »Warte. Warum bist du hier?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Ein ruhiger Ort. Weg von der Hysterie. Ich bin schnell. Jagdreviere sind immer noch erschließbar.« Er gähnte.

Sie drehte nervös an ihrem Ohrring.

»Was sagtest du doch gleich, was du bist?«

»Ein Gestaltwandler. Mal Mensch, mal Panther. Je nachdem.«

»Ist das deine Begabung?«

Statt einer Antwort deutete er zur Decke. Leyla hatte gar nicht darauf geachtet, jetzt aber sah sie, dass der lichtspendende Feuerball immer noch über ihnen schwebte.

»Oh«, machte sie und starrte hinauf. Ihr Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Das waren so unglaublich viele Informationen und sie hatte immer noch so viele Fragen. Warum war ausgerechnet sie hier? Wer hatte nun dieses Desaster angerichtet, dass scheinbar die Zerstörung zweier Welten – eine davon die ihrige – herbeiführte und … Sie blickte zu Pan. Ganz sicher, wer oder was er war, war sie sich immer noch nicht. Geh nach Hause, drängte sie eine innere Stimme. Lauf, bevor es zu spät ist. Er ist gefährlich.

Ja, das war er ganz sicher. Sein Blick war undurchschaubar und berechnend. Und was hatte er gesagt? Ich kann deine Angst spüren? Kein sonderlich vertrauenserweckender Gedanke. Und dann diese Zähne! Er ließ ihr die Zeit zum Überlegen.

»Möchtest du mehr sehen?«, fragte er dann.

›Nein!‹, dachte Leyla.

»Ja«, sagte ihr Mund und er nickte.

Er hatte seine Lust am Reden wieder verloren. Nur einsilbig antwortete er Leyla, während sie und die Feuerkugel sich einen Weg durch die Gänge bahnten.

»Die Türen! Sie sind alle verschlossen«, versuchte sie das Gespräch wieder in Gange zu bringen.

»Als alles zu Stein wurde, ist alles unbeweglich geworden. Türen, die zu sind, bleiben zu. Nicht, dass man nicht versucht hätte es zu ändern.« Er lachte schaurig und bedeutete ihr mitzukommen. Plötzlich kam Leyla ein Gedanke, der sie zutiefst erschreckte. Wenn alle Türen zu waren, hieß das …

»Sind, sind da noch Menschen drin?«, fragte sie mit weitaufgerissenen Augen.

»Nichts Lebendiges«, wieder stieß er dieses Lachen hervor. Als er aber Leylas Gesicht sah, fügte er hinzu: »Die Universität war geschlossen, als es passierte.«

Im Erdgeschoss stand eine weitere Tür offen, zumindest nur angelehnt. Pan führte sie dorthin. Ein Windhauch schlug ihr entgegen und sie ahnte, was sie erwartete.

»Ein Hoch auf die Unachtsamkeit«, flüsterte er, quetschte sich durch den Türspalt und war verschwunden. Zögernd folgte sie ihm. Hinter der Tür befand sich eine kleine Abstellkammer. Besen und Eimer türmten sich in einer Ecke, doch das war nicht das Interessante am Raum. Der Raum hatte nur ein kleines Fenster, aber dieses stand weit offen. Leyla brauchte keine drei Schritte, um den Raum zu durchqueren. Sie kletterte auf die Kiste, die praktischerweise direkt unter dem Fenster stand und blickte hinaus. Pan stand dort und sah sie herausfordernd an. Wie sollte sie da durchkommen? Sie seufzte, schloss für einen Moment die Augen. Vielleicht war ja doch alles nur ein Traum, dann konnte ihr gar nichts passieren. Mit zitternden Händen stemmte sie sich hoch und streckte ihren Oberkörper gen Außenwelt. Innerlich wissend, dass das einfach kein Traum sein konnte. Pan griff nach ihr und half ihr hinaus. Sie erschauderte und sah ihn skeptisch an. Warum half er ihr und legte so großen Wert darauf ihr etwas zu zeigen? Er sah nicht so aus, als ob das sonst seine Art wäre. Ihre Gedanken wanderten aber sofort in eine andere Richtung, als sie sich umsah.

Es war gigantisch. Das Gebäude aus dem sie geklettert waren glich dem ihrer Uni ungewöhnlich stark. Zwei reich verzierte Gebäude wurden durch einen halbmondförmigen Bau verbunden. Während es in Potsdam jedoch lediglich Säulen und architektonische Schmuckstücke waren, die die Häuser verbanden, war es hier ein richtiges Haus. Allerdings wurde dieses mittlere Haus von Säulen getragen und begann erst in etwa zwei Metern Höhe. Leyla trat näher. Als sie zwischen den Säulen stand, erkannte sie, dass sich dahinter noch zwei gigantische Gebäude erstreckten. Natürlich war alles schwarz. Sie drehte sich zurück und versuchte ihre Aufmerksamkeit von den faszinierenden Skulpturen, die sagenhafte Geschöpfe darstellten, und den Steinverzierungen abzuwenden, um den Rest des Campus – ja es schien ein richtiger Campus zu sein – in Augenschein zu nehmen. Vor ihr lag ein weiteres Gebäude, ebenso wie zu ihrer Linken, rechts hingegen war ein riesiger Platz, den sie nicht ganz zu deuten wusste.

»Schulungsräume jeder Richtung, und Forschungseinrichtung«, sagte Pan da und deutete auf die soeben betrachteten vier Häuser und den Säulenbau, »kleine Arena«, er deutete auf den Platz, »Lehrer- und Schülerbehausungen«, das war das Gebäude geradezu, »und die Bibliothek.« Prompt steuerte er auf das linke Gebäude zu, ohne sich noch einmal zu Leyla umzudrehen. Er schien felsenfest davon überzeugt, dass sie ihm folgen würde, womit er vollkommen Recht hatte. Keinesfalls wollte sie auf diesem riesigen Friedhof – denn genau daran erinnerte sie diese trostlose, verlassene Gegend – allein bleiben.

Ein Fenster war zerbrochen. Sie hielt inne. Pan jedoch schien der Durchgang willkommen, er sprang sofort hindurch und zog sie nach.

»Ist hier noch jemand?«, fragte sie und folgte ihm vorsichtig.

»Sie waren in Scharen hier. Fast der gesamte Wissensbestand Naurényas liegt in dieser Bibliothek. Sie wollten wissen, was passiert ist. Wie es passieren konnte. Und was man dagegen tut. Aber die Bücher sind nicht zu bewegen.« Er machte eine dramatische Pause. »Sie haben versucht die Tür zu Pagnon einzutreten, zu verzaubern, aber nichts. Das Wissen bleibt hier – versiegelt. Nur die Fenster sind etwas brüchig.«

»Pagnon?«

»Ja.«

»Wer ist das?«

»Kein wer, ein was«, er gähnte. »Schau dich ruhig um. Ich mache ein Nickerchen.«

»Was?!« Leyla traute ihren Ohren nicht ganz, doch Pan schien es vollkommen ernst zu meinen. Er ließ sich wieder in einen Sessel sinken und fixierte sie mit seinem Blick ohne Anstalten zu machen, sich zu bewegen. Zögernd machte Leyla zwei Schritte rückwärts und blickte gen Decke.

Sie stand in einem riesigen Eingangsbereich, die Decke war bestimmt zwanzig Meter über ihr. Von unten an zogen sich Gemälde über die Wände, alle ohne Bild, alle schwarz, aber edel gerahmt. Weiterhin standen lauter Tischchen und Lesesessel herum, Pflanzen und Türen säumten die Stellen der Wände, die nicht von Bildern bedeckt waren. Das Herzstück des Raumes war jedoch eine gigantische Wendeltreppe, die zu mehreren Galerien führte, hinter deren offenen Rundbögen sich die Bücherregale verbergen mussten.

Sie sah zurück zu Pan, der die Augen geschlossen hatte, doch sie war sich ziemlich sicher, dass er nicht schlief. Im Gegenteil. Vorsichtig machte sie ein paar Schritte auf die Treppe zu, als ihr etwas auf einem der Tischchen auffiel. Eine Figur.

»Was ist das?«

»Eine Schimmerelfe.« Und damit hatte sich ihre Vermutung bestätigt, dass Pan nicht schlief. Die Figur war nur an einem einzigen Punkt des Fußes mit dem Tisch verbunden. In der Tat war sie so gefertigt, dass es aussah, als würde sie jeden Moment abheben. Es knackte kurz, als Leyla danach griff und die dünne Steinverbindung trennte.

»Oh«, machte sie verstört.

»Tisch und Figur gehörten ohnehin nicht zusammen.«

Leyla hielt die Figur dichter vors Gesicht.

»Sie sieht so echt aus. Als ob …« Ein furchtbares, kreischendes Geräusch zerriss die Stille in der Halle, dröhnte in ihren Ohren und überzog ihren Körper mit Gänsehaut. Sie zuckte zusammen, ließ die Figur fallen und blickte mit schreckensgeweiteten Augen auf.

»Entschuldigung«, sagte Pan und gähnte erneut, »dumme Angewohnheit.« Er hob die Hand und hörte auf, mit den Nägeln über den Stein zu kratzen. Leyla starrte ihn immer noch an. Ihr Herz schlug wie wild.

»Sie ist echt«, sagte Pan und schloss wieder die Augen. »Nun ja, sie war es.«

Leyla blickte auf die Steinsplitter zu ihren Füßen.

»Du meinst, es war ein echtes Lebewesen?!«

»Zur falschen Zeit, am falschen Ort.«

»Wird sie wieder lebendig werden?«

»Diese?« Er öffnete ein Auge und musterte die zerbrochenen Teile. »Wohl eher nicht.«

Schaudernd sah Leyla auf das, was sie angerichtet hatte. Sie bückte sich und hob ein Stück Stein, es war wohl einst ein Arm gewesen, auf. Unauffällig ließ sie es in ihre Tasche gleiten.

»Wolltest du dich nicht umsehen? Du kannst das Licht mitnehmen.«

Sie wusste nicht, was genau er meinte, verstand aber, dass sie gehen sollte. Langsam schritt sie die Treppe hinauf. Die Feuerkugel folgte ihr. Das hatte er damit gemeint. Fast oben angekommen, blickte sie noch einmal hinab. Der Sessel, auf dem Pan gesessen hatte, war leer.

Sie schluckte.

Bücher über Bücher füllten die Regale. Sie hatte die erste Galerie erreicht und war durch einen der zahlreichen Rundbögen getreten. Gezwungenermaßen. Eigentlich hätte sie lieber nach Pan Ausschau gehalten. Immer wieder blickte sie sich um. Die Regale bildeten ein einziges Labyrinth, überall zweigten Gänge ab und je tiefer sie in den Saal hineinging, desto mehr wurden ihr die Ausmaße des Ganzen bewusst. Sie war sich nicht sicher, ob sie oder die Lichtkugel, die immer ein Stück vor ihr zu schweben schien – was sie sehr verräterisch fand – die Richtung vorgab. Es musste einen Grund dafür geben, dass Pan sie hier haben wollte und sie war sich sicher, dass dieser ihr nicht gefallen würde. Immer wieder hielt sie an und lauschte, blickte auf den Boden, um Schatten zu erkennen. Doch alles war ein einziger Schatten. War da nicht ein Klicken? Sie wandte sich um und lief rückwärts weiter, während ihre Augen über die Regale glitten. Ihre Ferse blieb an etwas hängen, sie stolperte und drehte sich um die eigene Achse, um zu sehen, was da auf dem Boden lag. Identifizieren konnte sie es allerdings nicht, es sah aus wie eine Kugel. Aber was hatte eine Kugel hier auf dem Boden zu suchen? Es … Sie blickte auf und keuchte.

»Interessant, oder?«, sagte eine Stimme dicht an ihrem Ohr und zum wiederholten Male hatte sie das Gefühl, dass die Ereignisse die Kraft ihrer Psyche überstiegen.

»Du bist ganz schön schreckhaft!«, Pan lachte. Sie sagte nichts, sondern starrte nur auf die Szenerie vor sich. Sie hatte offensichtlich das Ende des Raumes erreicht. An der Wand unter dem Fenster stand ein Schreibtisch. Aber das war nicht das Erschreckende. Davor stand ein Mann. Oder vielmehr die Statue eines Mannes, dem das pure Entsetzen ins Gesicht gemeißelt war. Die Augen weitaufgerissen, der Mund geöffnet zum stummen Schrei. Es sah so skurril aus.

»Das ist Sir Moi«, erklärte Pan und trat auf die Statue zu. »Geschichtsprofessor. Hatte in der Neujahrsnacht wohl auch wieder nur seine Studien im Kopf.« Er klopfte dem versteinerten Mann auf die Schulter und strich dann über das Wams. Leyla fiel die Kette mit dem dicken Schlüssel auf, die um Sir Mois Hals hing. Langsam kehrte Farbe zurück in ihr Gesicht.

»War es das, was ich unbedingt entdecken sollte?«

»Vielleicht.«

»Hättest du mich nicht vorwarnen oder es mir einfach erzählen können?« Sie wandte den Blick ab.

»Nichts prägt sich so gut ein, wie Dinge, die man mit eigenen Augen sieht«, sagte er.

»Und warum sollte ich es sehen?«

»Wer weiß. Jetzt bringe ich dich zu den Lebenden.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er los – lautlos.

Das Gras knackte unter ihren Füßen, als die dünnen Steinfäden zerbrachen. Jeder Laut knisterte verräterisch und selbst Pans Schritte schienen unglaublich laut zu sein. Nun, anschleichen konnte sich hier wenigstens keiner. Sie wechselten auf den Weg, doch das Knirschen der kleinen Steinchen war nicht angenehmer. Es war ein gewaltiger Schlosspark, den sie nun durchquerten. Aber es überraschte sie nicht im Geringsten. Pan hatte ja bereits erläutert, dass es einen Austausch und Parallelbauten bis vor wenigen Jahrhunderten gab und soweit ihr bekannt war, wurde das Neue Palais in Potsdam Mitte des 18. Jahrhunderts fertiggestellt.

Mittlerweile begann es zu dämmern, die Sonne in ihrem Rücken war blutrot und verteilte ihr oranges Licht.

»Hat was Apokalyptisches«, meinte Leyla und dann sah sie es. Zu spät. Sie wollte noch innehalten, doch … Die Welt um sie herum war plötzlich wieder in Farbe getaucht. Die Sonne beschien unzählige grüne Bäume und Wiesen. Pan war verschwunden. Sie drehte sich um. Hinter ihr lag das Universitätsgelände und keine Handbreit entfernt flackerte die Luft auffällig. Es war eben jene Stelle, die sie an ihrem Geburtstag so in Panik versetzt hatte. Sie starrte auf die Stelle, bis das Sonnenlicht ihr in den Augen brannte und sie sich abwenden musste. Sie sah sich um. In der Ferne waren zwei Jogger, doch die hatten sie nicht bemerkt. Was jetzt? Sie atmete tief ein und aus. Das war’s. Sie konnte jetzt einfach nach Hause fahren und fertig. Einfach alles vergessen. Einen Haken an die Sache machen und sich freuen, unbeschadet entkommen zu sein. Aber genau das konnte sie eben nicht und sie wusste nicht warum. Noch einmal atmete sie tief ein und aus und trat dann durch das Flackern hindurch zurück nach Naurénya. Die Farbe wurde wieder aus der Welt gesaugt, sie sah zu Pan auf. Er stand regungslos da, mit verschränkten Armen und sagte zunächst nichts. Dann:

»Siehst du die Übergänge?«

»Ja … ich … also es ist so ein Flackern und …«

Er nickte. »Wir können es hier auch sehen. Aber wir können nicht hindurch – noch nicht.«

»Wieso nicht?«

Er ging nicht darauf ein.

»Wenn du es sehen kannst, solltest du Übergänge, die du nicht kennst, meiden. Sonst bleibst du noch irgendwann in einer Hauswand stecken, weil in der einen Welt kein Gebäude steht, in der anderen schon.« Wieder klang es mehr nach Desinteresse, als nach einer Warnung. Er drehte sich um und setzte seinen Weg fort.

»Komm schon«, rief er. »Nur weil wir denken, dass hier keiner überleben kann, muss das noch lange nicht so sein.« Ein ausreichendes Argument, wie sie fand. Leyla musterte noch einmal kurz das Flackern, machte dann einen Bogen darum und folgte ihm rasch.

»Was passiert …« Noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, geschah etwas mit ihm. Sein Körper krümmte sich und binnen eines Wimpernschlags war der große Mann verschwunden und eine Raubkatze fauchte sie an.

»Ernsthaft?«, fragte sie leicht gekränkt. »Keine Lust mehr, Fragen zu beantworten?« Offensichtlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen, denn die unheimliche Katze wich zwar nicht von ihrer Seite, war aber fortan kein Gesprächspartner mehr. Sie kam sich beinahe eskortiert vor.

Die Umgebung änderte sich schlagartig. Leyla hatte es schon aus der Ferne sehen können: Das Ende der Schwärze. Plötzlich überschritt sie die Grenze, das Ende der Versteinerung. Ihre Füße bewegten sich auf normalem Kies, links und rechts waren saftig grüne Wiesen, vor ihr in nicht allzu weiter Entfernung war ein Anwesen, das einem König würdig gewesen wäre. Goldene Figuren und riesige Blumenkübel säumten eine lange, geschwungene Treppe und endeten vor einem gigantischen Tor. Die Mauer daneben war jedoch recht niedrig und diente eher der Zierde, denn wirklich der Abschreckung. Dahinter erkannte Leyla eine schneeweiße Villa. Und genau diese schien Pans Ziel zu sein. Leyla wandte sich um. Hinter ihr standen die schwarzen Bäume wie drohende Riesen, flankiert von schwarzen Hecken und Büschen. Kein Blatt bewegte sich und am Horizont reckten sich die schwarzen Gebäude der Universität in die Höhe und ließen das dahinter liegende Gebirge noch trostloser aussehen. Es war wirklich aberwitzig, wie das Phänomen plötzlich und grundlos abbrach und der normalen Welt wieder Platz machte. Was auch immer hier die normale Welt sein mochte.

Sie wollte gerade weitergehen, als ihr etwas auffiel. Hatte Pan nicht gesagt, die Versteinerung hatte in der Neujahrsnacht, also im Winter, stattgefunden? Wieso trugen die versteinerten Bäume und Büsche dann Blätter? Sie sollte sich dringend eine Frageliste erstellen – nur für den Fall, dass Pan wieder gesprächig werden würde.

Dieser führte sie nun zielstrebig den geschwungenen Pfad entlang und bog in der Tat dann zur Villa ab. Er sprang die Treppe hinauf und verharrte vor dem gigantischen Eichenholztor. Dort wartete er auf Leyla, die endlich auch keuchend die oberste Stufe erklomm. Er gönnte ihr offenbar keine Pause, denn er fauchte, schlug mit seinem Schwanz gegen die Tür und sah sie herausfordernd an.

»Ich soll Klopfen«, mutmaßte sie und der Panther schien zufrieden mit ihrer Annahme. Doch Leyla war nicht bereit, das Spielchen mitzuspielen. »Was hältst du davon, wenn du dich wieder in deine menschliche Gestalt begibst und mir ein paar Fragen beantwortest. Zum Beispiel, wo wir hier sind und was wir hier wollen.« Sie funkelte den Panther an, der davon gänzlich unbeeindruckt schien. Er richtete sich auf und starrte Leyla nieder. Fordernd schlug er erneut gegen das Tor. Leyla schluckte. Er machte ihr doch Angst in dieser Gestalt und vielleicht tat sie wirklich besser daran zu tun, was er erwartete. Zögernd hob sie die Hand und klopfte leicht gegen das Holz. Dann sah sie sofort wieder zu Pan. Wenn Raubkatzen die Augen verdrehen konnten, so war sie sich ziemlich sicher, dass Pan gerade genau dies tat. Seufzend hob sie erneut die Hand, um dieses Mal etwas lauter zu klopfen, als ihr die goldene Glocke ins Auge fiel. Sie betätigte das Läutseil. Die Glocke bewegte sich, doch es kam kein Ton heraus.

»Sie funktioniert nicht«, sagte sie und zog erneut.

»Ja, ja so schnell bin ich nicht.«

Erschrocken sprang Leyla zurück, als die Stimme ertönte und gleichzeitig die Pforte aufgerissen wurde. Das Gebrabbel seinerseits wich einem kleinen Schrei, dann wurde das Tor augenblicklich wieder zugeworfen. Leyla stand vollkommen perplex da. Sie hatte nicht einmal jemanden gesehen.

»Hallo?«, fragte sie leicht irritiert und ganz langsam öffnete sich das Tor erneut.

»Wer seid ihr? Was wollt ihr?«, fragte die Stimme und jetzt erst erblickte Leyla den kleinen Gnomen, der auf dem Boden hockte. Er war in etwa so groß wie ihre Hand, hatte ein kleines, unglaublich faltiges Gesichtchen und eine sehr große Nase. Die Haut wirkte ledrig und die kleinen schwarzen Knopfäugelein begutachteten voller Schrecken Pan.

»Was bist du?«, rief Leyla verblüfft, was dazu führte, dass der entsetzte Blick nun ihr galt.

»Bitte?«, fragte das Wesen schockiert. Pan schien die Unterhaltung zu lange zu dauern, er setzte sich einfach in Bewegung und marschierte in den Innenhof.

»Halt!«, rief der kleine Gnom entsetzt, was vollkommen überflüssig war, denn Pan hatte ohnehin schon innegehalten. Kurz fragte sich Leyla warum. Als sie jedoch ebenfalls durch das Tor trat, spürte sie den Grund sofort. Sie konnte hier nicht atmen! Entsetzt machte sie einen Schritt zurück, holte tief Luft und blickte zu dem kleinen Männlein, das die Arme verschränkt hatte und versuchte seinen ängstlichen Blick in einen bitterbösen zu wandeln.

»Ich glaube«, sagte Leyla stockend, da Pan immer noch keine Anstalten machte, sich zu verwandeln, »Ich glaube, wir wollen zum Besitzer dieses Grundstücks.« Jetzt blickte der Gnom sie vollkommen fassungslos an.

»Du glaubst?!«, krächzte er und warf noch einen nervösen Blick auf Pan. »Was bist du, dass …« Er hielt schlagartig inne. »Millmill, lass sie mal ein Stück herein«, rief er und schlüpfte von dannen.

Leyla spürte, dass etwas geschah. Vorsichtig machte sie wieder einen Schritt vor und stellte überrascht fest, dass das Atmen nun auch an dieser Stelle kein Problem mehr war. Pan war bereits dabei in den Innenhof zu laufen. Leyla folgte ihm langsam und sah sich nach allen Seiten um.

Der Hof war fast leer. Hinter der Tür, so erkannte sie jetzt, saß eine alte Frau. Sie sah aus, als wäre sie schwach und kränklich, so dünn und gebeugt, wie sie dasaß. Ihr Gesicht war verhärmt, aber ihre Augen musterten Leyla aufmerksam. Zwei in Dienstbotenuniform gekleidete junge Mädchen liefen über den Hof und starrten sie dabei neugierig an, während ein älterer Mann an einer Art Brunnen kniete. Von rechts erklang gedämpftes Wiehern – oder zumindest ein Geräusch, das einem Pferdewiehern gleichkam. In der Tat sah das Gebäude einem Stall nicht unähnlich. Zur Linken waren mehrere kleinere, gedrungen wirkende Häuser, vielleicht Dienstbotenquartiere? Und von irgendwo her kam ein köstlicher Geruch, der Leylas Magen augenblicklich knurren ließ. All das vergaß sie aber umgehend, als sie vor dem Hauptgebäude zum Stehen kam. Die Abendsonne zeichnete orange Schatten auf das Weiß, die großen Fenster reflektierten das Licht und … mit einem Mal sprang die Eingangstür auf. Ein hochgewachsener Mann stand dahinter. Leyla hatte keine Zeit ihn genauer zu begutachten, geschweige denn etwas zu sagen, denn eine harte, kalte Stimme sagte:

»Was wollt ihr auf meinem Gut. Verschwindet!«

Und just in diesem Moment fegte aus dem Inneren des Hauses ein Windstoß, so heftig, dass Leyla die Balance verlor. Sicherlich wäre sie über den ganzen Hof geschleudert worden oder zumindest gestürzt, wenn Pan sich nicht blitzartig verwandelt hätte, um sie zu greifen. Selbst er hatte allerdings offensichtliche Probleme, sich dem merkwürdigen Sturm entgegenzustemmen. Er fauchte. Schlagartig und genauso plötzlich, wie der Wind gekommen war, verschwand er.

»Ein Gestaltwandler. Sieh mal einer an«, sagte die Stimme nicht weniger unfreundlich.

Leyla strich sich die Haare aus dem Gesicht, rappelte sich wieder einigermaßen auf und begutachtete nun endlich den Mann, der ihr gegenüberstand und dem sie offensichtlich so unwillkommen war.

»Aston van Raiken«, erwiderte Pan nicht weniger kalt. Und beide Männer starrten sich eine Zeitlang wortlos an.

Aston van Raiken war ein etwa fünfzigjähriger Mann. Groß und hager. Seine blonden Haare waren kurzgeschoren, sodass es fast aussah, als hätte er eine Glatze. Seine blauen Augen blickten kalt und berechnend. Und alles an ihm strahlte pure Arroganz aus. Er war Leyla sofort unsympathisch.

»Mir scheint, ihr habt einen Vorteil mir gegenüber. Ihr wisst, wer ich bin, ich weiß nicht, wer ihr seid«, sagte Aston van Raiken nach einer Weile und schien wütend darüber, dies auch noch anmerken zu müssen. »Da ihr euch auf meinem Grundstück befindet, ist es ziemlich unhöflich, sich nicht vorzustellen.«

»Die Möglichkeit uns vorzustellen, wäre uns fast verwehrt geblieben. Ich bin sicher, es war nicht Eure Absicht, uns vom Hof zu fegen.«

»Eine Raubkatze und eine Geisteskranke? Oder zumindest eine, die so spielt? Der Glauppel hat berichtet. Und glaubt mir, in Zeiten wie diesen lasse ich niemanden lieber hier hinein, als Wesen wie euch.« Seine Stimme troff vor Ironie.

»Nun seht Ihr ja, dass es sich nicht direkt um eine Raubkatze handelt und immer noch hat ein Mann wie Ihr nicht den Anstand, uns hereinzubitten. Auch wenn ich es beinahe schon als Ehre betrachte, dass Ihr höchstpersönlich die Tür öffnet«, spottete Pan und deutete eine Verbeugung an.

›Na, da haben sich zwei gefunden‹, dachte Leyla, der die Stimmung überhaupt nicht behagte. Sie zuckte bei jedem Wort zusammen und war froh noch nicht Opfer der Feindseligkeit geworden zu sein, was sich – so war sie sich sicher – bestimmt noch ändern konnte.

»Verlasst auf der Stelle meinen Hof, Gestaltwandler.«

Pan bleckte die Zähne, was den Mann nicht im Geringsten zu beeindrucken schien.

»Jetzt habt Ihr auch noch was gegen Gestaltwandler?«, fragte er herausfordernd. Der Mann schien kurz zu überlegen, ob er sie nicht einfach noch einmal rausschmeißen sollte, aber anscheinend war die Gelegenheit für eine Beleidigung zu verlockend.

»Ihr verdorbenen, missratenen Kreaturen. Eure Hinterlist ist mir bekannt und nun verschwindet, bevor ich euch eigenhändig hinausbefördere.«

»Bitte«, sagte Pan, »wenn Ihr kein Interesse an den

Neuigkeiten habt.« Er drehte sich um.

Leyla starrte seinen Rücken an. Sie konnte kaum glauben, dass er kleinbeigab. Andererseits wusste sie nicht direkt, was Aston van Raiken anstellen konnte, um sie höchstpersönlich von hier zu entfernen. Und … Ihre Gedanken überschlugen sich, was wenn dieser fremde Mann Recht hatte und Pan wirklich hinterlistig war? Was wusste sie schon über seine Beweggründe und ihr Hiersein? Aston van Raiken schien auf Pans Köder jedenfalls nicht anzuspringen. Er starrte nun Leyla an und diese wich so rasch wie möglich zurück. Ein kalter Luftzug folgte ihr. Ein Schritt, zwei Schritte und …

»Was sucht er hier?« Die neue Stimme war genauso arrogant und kühl, aber ein Hauch Überraschung war ebenso dabei. Leyla blickte auf. Neben Aston van Raiken war ein junger Mann erschienen. Er ignorierte Leyla, betrachtete Pan dafür mit Abneigung.

»Du kennst diesen Gestaltwandler?« Van Raiken zog die dünnen Augenbrauen hoch.

»Pan. Er ist ein Flammist. Ich kenne seine Physiognomie aus der Universität.«

Abwertender hätte er es nicht ausdrücken können, fand Leyla und fragte sich gleichzeitig was zur Hölle ein Flammist war. Aston van Raiken schien kurzzeitig zu überlegen.

»Was will er hier?« Es schien beinahe so, als würde er seinen Sohn fragen, denn dass das sein Sohn war, davon ging Leyla aus. Er war ebenso blass wie Aston van Raiken und hatte ebenso hellblondes Haar. Auch wenn das seinige lang genug war, dass er es zum Zopf binden konnte.

»Er will ihr nur ein bisschen die Umgebung zeigen und es wäre doch zu schade, wenn er Ihren Wohnsitz da auslassen würde«, sagte Pan und sie erkannte das Funkeln in seinen Augen.

»Und wer ist sie?«, fragte van Raiken sichtlich genervt.

»Oh, nur eine von Drüben.«

Für einen Moment schien es, als würden den van Raikens die Gesichtszüge entgleiten.

Ardantica

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