Читать книгу Der junge Norden Staffel 1 – Arztroman - Carolin Grahl - Страница 6

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Vorwort

Alexander Norden, ausgestattet mit dem spanischen Temperament seiner Mutter und den meerblauen Augen der Nordens aus München, verlässt sein Elternhaus auf Gran Canaria, um in München Medizin zu studieren. Bis er eine Wohnung gefunden hat, kommt er bei der Familie Dr. Daniel Nordens, des renommierten Chefarztes der Behnisch-Klinik, unter. Wer nun dem alten Klischee anhängt, die Studienzeit sei geprägt von Spaß und Party und hedonistischen Umtrieben, den mag die Realität enttäuschen: Alexander ist ein stolzer Halbspanier, der sich weder auf dem Vermögen seiner Eltern ausruht noch die Beziehungen seines berühmten Onkels Daniel zu seinem Vorteil nutzen will. Er will alles aus eigener Kraft schaffen, und er hat das Zeug dazu!

Zunächst bestimmen Wohnungssuche, Jobsuche und die ersten Einführungsseminare seinen Tagesablauf. Als Rettungsassistent kann er sich ein Zubrot verdienen und Erfahrungen sammeln, und wenn er die Spätschichten übernimmt, muss auch sein Studium nicht leiden, das er im Übrigen sehr ernst nimmt. Schon früh zeigt sich, dass er ein begnadeter Diagnostiker zu werden verspricht. Es ist nicht immer einfach: Sogar unter den Professoren neidet manch einer ihm seine Begabung und versucht, ihm Steine in den Weg zu legen …

*

»Umleitung! Schon wieder! Das darf doch nicht wahr sein! Dieses München scheint sich pünktlich zu Julias Ankunft in eine einzige Baustelle verwandelt zu haben!« Ungeduldig trommelte Alexander Norden auf das Lenkrad, ehe er, wenn auch widerwillig, den Blinker setzte und in die vorgeschriebene Richtung abbog.

Gleichzeitig warf er einen raschen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett.

Noch eine knappe halbe Stunde, bis der Euromed, mit dem seine Cousine Julia aus Madrid kam, in den Bahnhof einfuhr! Vielleicht hatte der Zug ja Verspätung, aber wenn nicht …

Wenigstens besaß die Ampel, der er sich gerade näherte, die Freundlichkeit, auf Grün zu springen!

Unwillkürlich drückte er das Gaspedal ein wenig stärker durch – und sah im selben Moment einen quittengelben Sportwagen in einem Wahnsinnstempo über die Kreuzung schießen.

Alexander trat die Bremse bis zum Anschlag durch, aber es half nichts.

Während er unsanft gegen den Airbag prallte, gellten das Kreischen von Metall und das Splittern von Glas in seinen Ohren.

Ohne dass es ihm bewusst wurde, knirschte Alexander mit den Zähnen, während er sich an der durch den Zusammenstoß arg verbeulten und klemmenden Autotür zu schaffen machte. Es dauerte eine geraume Weile, bis sie aufsprang.

Mit einem Satz stand Alexander auf der Straße und lief mit Riesenschritten auf die Fahrertür des quittengelben Sportwagens zu.

Er riss sie ruckartig auf – und schaute in das schreckensbleiche, von wunderschönen dunklen Augen beherrschte Gesicht einer jungen Frau. Ihr kastanienbraunes Haar, das in der Mitte gescheitelt war, floss wie Seide auf ihre schmalen Schultern, ihre vollen sinnlichen Lippen waren leicht geöffnet.

Alexander musste erst einmal tief Luft holen. Wenn er alles erwartet hatte, so doch mit Sicherheit nicht, dass eine Person, die aussah wie ein Filmstar oder ein Topmodell …

»Sind Sie verletzt?«, fragte er besorgt.

Die junge Frau schluckte, dann schüttelte sie langsam den Kopf. »Ich glaube nicht«, gab sie zurück. »Und Sie?«

»Auch nicht«, erwiderte Alexander. »Nur mein Auto …« Er brach ab, als ihm glühend heiß einfiel, dass das zerbeulte Gefährt hinter ihm gar nicht sein Auto war.

Der Wagen gehörte Fee Norden.

Sie hatte ihm beim gemeinsamen Frühstück mit Daniel, Dési und Janni angeboten, ihr Auto zu benutzen, um seine Cousine Julia vom Bahnhof abzuholen.

»Ja, unsere Autos«, sagte die junge Frau in diesem Moment schuldbewusst, wobei sie ihren Blick von Alexander abzog und stattdessen auf die lädierte Motorhaube ihres Porsche lenkte. Sie seufzte. »Und was machen wir jetzt?«, fragte sie mit dem hilflosen Charme einer verwöhnten Prinzessin.

»Tango tanzen wohl eher nicht«, knurrte Alexander, auch wenn er seine harschen Worte im nächsten Augenblick schon wieder bereute.

Die junge Frau presste ihre schönen Lippen aufeinander, bis sie nur noch ein schmaler Strich waren. »Warten Sie. Ich werde mir den Schaden an Ihrem Wagen ansehen«, schlug sie nach einem Moment der Überlegung vor und schickte sich an auszusteigen.

Alexanders Pulsschlag beschleunigte sich, als ihr schlanker, aber wohlproportionierter Körper mit katzenhafter Geschmeidigkeit an ihm vorbei glitt und der Hauch eines ihm unbekannten, aber sehr angenehm duftenden Parfüms ihn einhüllte.

Es roch nach einer Prise Maiglöckchen und ein wenig Rosenduft, unterlegt mit einer herberen grünen Note …

»Ich … Nun ja, ich verstehe nicht viel von Autos. Aber Totalschaden ist es wohl eher nicht«, stammelte die junge Frau erleichtert. »Allerdings …«

Ein wildes Hupen machte jedes weitere Wort unverständlich.

Hinter Alexanders Wagen hatte sich bereits ein kleiner Stau gebildet, der sich langsam, aber sicher zu einem Autohupen-Chor formierte.

»Wir möchten gern weiterfahren«, brüllte ein Mann durch das weit geöffnete Seitenfenster gegen das Hupkonzert an. »Haben Sie wenigstens schon die Polizei gerufen? Ein Krankenwagen scheint ja zum Glück überflüssig zu sein.«

»Nein, die Polizei haben wir noch nicht gerufen …«, antwortete Alexander und zückte unwillkürlich sein Handy.

Im selben Augenblick spürte er die Hand der jungen Frau auf seiner. Ihre Finger fühlten sich weich und zart an, zitterten aber vor Aufregung.

»Bitte … Bitte rufen Sie nicht die Polizei«, bat sie Alex mit leiser, jedoch sehr eindringlicher Stimme. Um trotz des Hupkonzerts verstanden zu werden, war sie so dicht neben ihn getreten, dass er ihren Atem auf seiner Wange spüren konnte.

Alexander wurde abwechselnd heiß und kalt. »Wir regeln die Angelegenheit ohne Polizei«, hörte Alexander sich im selben Moment zu dem aufgebrachten älteren Herrn sagen. »Und selbstverständlich fahren wir sofort unsere Autos an den Straßenrand, damit der Verkehr wieder ungehindert passieren kann.«

Dann eilte er ohne ein weiteres Wort zu Fees Wagen.

Die junge Frau hielt Alexander ein weißes, rot und grün bedrucktes Kärtchen entgegen. »Im Handschuhfach war leider keine Karte meiner Versicherung«, sagte sie. »Aber das hier ist meine Visitenkarte. Oder, besser gesagt, die Visitenkarte meines Vaters.« Sie lächelte zaghaft. »In den Farben der italienischen Flagge. Papa liebt seine Heimat über alles.«

»Alberto Manolo«, las Alexander indessen halblaut vor sich hin. »Alberto Manolo … Manolo«, wiederholte er gedankenverloren. Der Name Manolo war ihm nicht fremd, auch wenn er fürs Erste nicht wusste, wie und wo er ihn zuordnen sollte. Er hatte ihn, seit er in München war, schon etliche Male gehört, dessen war er sich sicher. Aber …

»Die Gourmetrestaurants ›Da Manolo‹«, half ihm die junge Frau auf die Sprünge.

Alexander fiel es wie Schuppen von den Augen. Alberto Manolo war der Betreiber einer großen und ziemlich exklusiven Restaurantkette.

»Ich bin Sina. Sina Manolo«, sagte die junge Frau und reichte Alexander ihre Hand. »Es tut mir wirklich leid, dass wir uns unter derart misslichen Umständen kennengelernt haben. Ich begreife überhaupt nicht …« Erschöpft und niedergeschlagen lehnte sie sich gegen die eingedrückte Motorhaube ihres quittengelben Porsche.

»Ich bin Alex. Also Alexander Norden.«, stellte er sich vor.

Sina zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Der Sohn von Dr. Daniel Norden, dem Chefarzt und ärztlichen Direktor der Behnisch-Klinik?«, fragte sie.

Im ersten Moment war Alex so verblüfft, dass er keine Worte fand. Er schüttelte nur stumm den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Dr. Norden ist nicht mein Vater. Er ist mein Onkel. Ich bin, um genau zu sein, sein Neffe zweiten Grades.«

»Immerhin«, bemerkte Sina. Ihre braunen Augen musterten Alexander interessiert.

»Im Übrigen, das Auto gehört nicht mir, sondern meiner Tante Fee«, stellte er klar. »Sie hat es mir heute Morgen geliehen, weil …« Er verstummte mitten im Satz und schaute entgeistert auf seine Armbanduhr. »O Gott, ich muss sofort zum Bahnhof. Julias Zug … Er muss längst angekommen sein.«

Sina erstarrte für einen Moment, und ein Schatten lief über ihre Züge.

Julia?

Alex Norden hatte eine Freundin?

»Dann will ich Sie … dich nicht länger aufhalten, Alex«, sagte Sina. »Und nochmals vielen Dank, dass du nicht die Polizei gerufen hast. Danke für dein Vertrauen. Papa wird es nicht enttäuschen. Er wird Frau Dr. Norden … deiner Tante den Schaden bis auf den letzten Cent ersetzen. Dafür verbürge ich mich. Wie ich ihn kenne, legt er mit Sicherheit sogar noch eine Entschädigung für den Ärger obendrauf.«

Alexander winkte ab. »Das ist nicht nötig. Wenn er für den Schaden aufkommt, ist das genug. Ich glaube nicht, dass Fee eine Entschädigung möchte.«

*

Mit eiligen Schritten hastete Alexander in das Bahnhofsgebäude.

Trotz des zwar sonnigen, aber ziemlich kühlen Oktobertags spürte er, wie ihm heiß und heißer wurde.

Er kam eine geschlagene Dreiviertelstunde zu spät!

Der Euromed aus Madrid war natürlich längst wieder abgefahren, das Gedränge der Reisenden hatte sich aufgelöst. Nur wenige Menschen bewegten sich noch mit ihren Koffern oder Trolleys über die Bahnsteige, und von Julia war, so sehr Alex seinen Kopf auch drehte und wendete, weit und breit keine Spur zu sehen.

Schon war er entschlossen, unverrichteterdinge wieder umzukehren, als er plötzlich seinen Namen hörte.

»Alex! Alex!«

Gott sei Dank, das war Julia! Alexander fiel ein Stein vom Herzen.

»Da bist du ja endlich!«, jubelte sie und wirkte dabei nicht weniger erleichtert als Alex selbst.

»Es tut mir so leid, dass ich derart unpünktlich bin«, entschuldigte Alex sich. »Ich bin rechtzeitig losgefahren, weil ich dich auf keinen Fall warten lassen wollte, aber …«

»Alles gut. Ich bin dir nicht böse, auch wenn ich wirklich schon sehr, sehr lange warte«, gab Julia zurück. Sie warf einen Blick auf die Bahnhofsuhr und schien zu rechnen. »Ich glaube, ich warte seit ungefähr zwei Stunden. Oder sind es schon drei?«

Alex gab ihr einen sanften Schubs mit dem Ellbogen. »Lügnerin!«, schalt er sie mit einem breiten Grinsen. »Du übertreibst wieder einmal maßlos!«

»Ach ja? Tue ich das?«. Julia grinste zurück. »Wo bist du eigentlich so lange gewesen? Hast du verschlafen? Oder hattest du frühmorgens schon ein Date mit deiner Liebsten?«

»Weder noch. Du wirst es nicht glauben, aber ich hatte einen Unfall. Ausgerechnet mit Fees Wagen«, antwortete Alexander.

»Ach du meine Güte!« Julia trat unwillkürlich erschrocken einen Schritt zurück.

Erst in diesem Moment fiel Alexander auf, dass sie nur einen hauchdünnen geblümten Sommerrock und eine ebenso dünne kurzärmelige Bluse trug. Ihre Arme waren – wie hätte es anders sein können – von Gänsehaut überzogen, ihre Lippen bläulich verfärbt.

»Du frierst, Julia«, sagte Alexander besorgt, schlüpfte aus seiner Lederjacke und legte sie seiner Cousine um die Schultern.

»Und ob ich friere«, pflichtete Julia ihm bei, während sie sich in seine Jacke kuschelte und demonstrativ mit den Zähnen klapperte. Fast mitleidig sah sie auf ihre bloßen Füße hinunter, die in hübschen, mit einer Plastikblume verzierten Riemchensandalen steckten. »Ist es hier immer so kalt?«

Alexander zog Julia neckisch an dem Pferdeschwanz, zu dem sie ihre fast hüftlangen, lockigen Haare zusammengefasst hatte. »Darf ich dich daran erinnern, dass es dein ureigenster Wunsch war, hierher nach München zu kommen? Ein Wunsch übrigens, über den deine Eltern anfangs alles andere als glücklich waren.«

»Als ob ich das nicht wüsste, Alex«, gab Julia zurück. »Und um ehrlich zu sein, sie sind nach wie vor nicht sonderlich angetan von meiner Entscheidung, die Schule so kurz vor dem Abitur auf Eis zu legen. Aber ich bin seit vier Wochen achtzehn und somit volljährig. Meine Eltern müssen endlich einsehen, dass ich tun und lassen kann, was ich will. Zum Beispiel kann ich ohne Weiteres …«

»Klar doch. Du kannst ohne Weiteres im deutschen Spätherbst herumlaufen wie zu Hause in Spanien mitten im August, du kannst …« Alexander verstummte für einen Moment, weil Julia ihm den Mund mit ihrer Hand verschloss.

Ihre Hand war immer noch eiskalt, sodass er sie spontan zwischen seine Hände nahm, um sie zu wärmen.

»Du wirst dich erkälten, wenn du dir nicht ganz schnell wärmere Sachen anziehst«, mahnte er. »Eine lange Hose, richtige Schuhe, einen Pullover …«

»Fäustlinge, eine Mütze aus Webpelz, eine Daunenjacke, Ohrenschützer, Pulswärmer …«

Julia half ihm, den Koffer ein wenig zu öffnen. Leider fand sich absolut nichts, was für einen frostigen Münchner Oktobertag geeignet gewesen wäre.

Alexander überschlug kurz sein nicht allzu üppiges Budget, schob den Gedanken an Geld aber sofort energisch beiseite. Seiner Cousine zuliebe konnte er notfalls auch einmal den Gürtel enger schnallen.

»Ich wollte mir hier in München ohnehin neue Sachen kaufen, weißt du«, gestand Julia ein wenig kleinlaut, während sie ihren Koffer in einem wahren Kraftakt wieder verschloss. »Sachen, die man hier in Süddeutschland trägt. Sachen, die hier in Mode sind.«

»Verstehe, Julia.« Er blinzelte seiner Cousine zu. »Unter diesen Umständen schlage ich vor, dass wir jetzt eine Bank überfallen und anschließend in den exklusivsten Promiläden für dich shoppen. Ich kenne zwar keine Geschäfte dieser Art, aber ich bin sicher, du hast vor deiner Abreise gute Recherchearbeit geleistet und kannst mir auf die Sprünge helfen.«

Wieder lachte Julia ihr helles, unbeschwertes Lachen.

»Und ob. Mein Sparbuch habe ich übrigens auch geplündert«, gestand sie ohne den geringsten Anflug von Reue. »Schließlich will ich mein Jahr in Deutschland genießen. Und vielleicht finde ich hier in München sogar ein neues Glück.«

Sie hakte sich bei Alexander unter und sah betont kokett zu ihm auf.

Alexander drückte Julias Arm und schmunzelte.

»Wer weiß?«, mutmaßte er. »Hübsch, wie du bist, wird es dir bestimmt nicht schwerfallen, in kürzester Zeit eine Menge Verehrer zu finden. Es sei denn, du bist als Au-pair den ganzen Tag und die halbe Nacht damit beschäftigt, die krakeelenden Kinder deiner Gastfamilie zu hüten.«

»Ich vermute fast, dass es darauf hinauslaufen wird«, sagte Julia. »Aber, um ehrlich zu sein, ich finde die Vorstellung halb so schlimm. Ob ich nach der Enttäuschung mit Ronaldo wirklich schon wieder bereit für eine neue Beziehung wäre oder ob ich es überhaupt je sein werde … Sicher bin ich mir da keineswegs.«

Alexander schwieg, und auch Julia lief eine Weile neben ihm her, ohne etwas zu sagen.

»Hast du Ronaldo inzwischen noch einmal gesehen?«, fragte Alexander schließlich.

Julia seufzte und lehnte für einen Moment ihren Kopf an die Brust ihres Cousins.

»Natürlich«, sagte sie dann. »Wie könnte ich Ronaldo aus dem Weg gehen in dem kleinen Ort, in dem wir zu Hause sind? Und auch in der Schule … Er hat im Frühsommer Abi gemacht. Bis dahin war er also so gut wie dauernd präsent in meinem Leben.«

Julia klang auf einmal so unglücklich, dass Alexander gar nicht anders konnte, als seinen Arm beschützend um ihre Schultern zu legen.

»Aber jetzt, im Herbst, wird er zum Studium fortgehen«, sagte er nach einer Weile. »Es wäre also vielleicht gar nicht so schlimm geworden, wenn du noch das eine Jahr bis zu deinem Abschluss weitergemacht hättest und …«

»Alex, bitte! Jetzt hörst du dich schon genauso an wie meine Eltern«, fuhr Julia ihm ärgerlich in die Parade. »Obwohl ich das gerade von dir am allerwenigsten erwartet hätte. Immer warst du derjenige, der Verständnis für mich gezeigt hat. Bei jedem Streit mit meinen Eltern hast du versucht zu vermitteln. Fast immer hast du meine Partei ergriffen. Warum willst du auf einmal …«

»Ist ja gut. Vergiss es«, beschwichtigte Alexander. »Wir packen jetzt deinen Koffer und deine Reisetasche in Fees Wagen und dann gehen wir Wintersachen shoppen, in Ordnung?«

»Super«, freute sich Julia und schenkte Alexander ein strahlendes Lächeln.

Als sie und Alex den Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude erreichten, weiteten sich Julias Augen in jähem Entsetzen. Ungläubig starrte sie Fees demolierten Wagen an.

»Da hast du aber ganze Arbeit geleistet«, bemerkte sie mit einem entgeisterten Seitenblick auf ihren Cousin.

»Ein nagelneuer quittengelber Porsche war’s«, entgegnete er schließlich. »Mit einer jungen Frau in meinem Alter am Steuer. Der Porsche war ihr Abigeschenk.«

»Wow«, entfuhr es Julia. »Ein Porsche als Abigeschenk! Sind ihre Eltern Multimillionäre? Hast du dir die Prinzessin wenigstens geangelt? So einem Goldfisch begegnet man schließlich nicht alle Tage.«

Julia grinste, dann schloss sie die Augen bis auf einen schmalen Schlitz und setzte eine konzentrierte Miene auf, während sie ihre Hände hielt, als ruhten sie auf einer unsichtbaren Kristallkugel.

»Mein lieber Alex, ich sehe dich im Smoking mit Fliege bei einer Party in einer wunderschönen weißen Villa«, prophezeite sie. »Goldene Türklinken, goldene Wasserhähne. Ein Pool im parkartigen Garten, gefüllt mit Champagner statt mit Wasser …«

Alexander lachte lauthals los. »Wer sagt dir denn, dass ich so etwas überhaupt möchte?«, wies er Julia mit einem Augenzwinkern zurecht.

Julia antwortete nicht.

Stattdessen nahm sie wieder Gesichtsausdruck und Haltung einer Wahrsagerin an.

Alexander umfasste Julias Schultern und rüttelte sie sanft. »Darf ich die berühmte Wahrsagerin Señorita Julia aus ihrer Trance wecken?«, erkundigte er sich. »Es ist dringend. Sie braucht nämlich warme Kleidung und warme Schuhe. Schon vergessen? Sie wird sich in der Gegenwart eine schlimme Erkältung zuziehen, wenn sie noch länger in der Zukunft verweilt.«

Julia stöhnte auf. »Du kannst schrecklich prosaisch sein, Alex. Immer nur auf das Nüchterne bedacht.«

»Auf das Notwenige«, korrigierte Alexander.

»Gut, du hast ja recht. Gehen wir also einkaufen«, lenkte Julia ein.

Zielstrebig betrat Alexander mit Julia die nahe am Bahnhof gelegene ›Galeria Kaufhof‹.

Die Vorstellung, sich in einer Galeria-Kaufhof-Filiale für den Winter einzukleiden, riss Julia nicht eben vom Hocker, aber sie musste wohl oder übel einsehen, dass es unter den gegebenen Umständen die beste Möglichkeit war.

Bereits eine gute Stunde später war Julia mit ihrem Einkauf fertig, und es blieb sogar noch Zeit für einen Besuch in der Cafeteria.

»Ist dir inzwischen wieder warm, Julia?«, wollte Alexander wissen.

Julia nickte. »Einigermaßen«, erwiderte sie. »Und der Kaffee tut noch ein Übriges. Danke für die Einladung.«

»Gern geschehen«, sagte Alexander. »Nachdem du dir deine neue Herbst- und Wintergarderobe komplett selbst bezahlt hast, war die Einladung zum Kaffee ja wohl das Mindeste, was ich tun konnte.«

»Du bist ein richtiger Schatz, Alex«, lachte Julia. »Ich wünsche dir von ganzem Herzen, dass du mehr Glück in der Liebe hast als ich.« Sie trank einen Schluck Kaffee, dann setzte sie hinzu: »Ist die Porschefahrerin hübsch?«

Um Alexanders Mundwinkel zuckte es.

»Überhaupt nicht«, antwortete er mit todernster Miene. »Sie hat riesige Froschaugen, eine schrecklich lange Nase und einen schiefen Mund. Außerdem …«

»Außerdem sehe ich dir an der Nasenspitze an, dass du mir gerade eine Menge Unsinn erzählst«, fiel Julia ihrem Cousin ins Wort.

»Okay, du hast mich eiskalt erwischt«, gab Alexander klein bei. »Sie sieht umwerfend aus. Attraktiv und sexy. Und obwohl sie so eine miserable Autofahrerin ist, ist sie eigentlich ganz nett.«

»Hört, hört«, kicherte Julia. »Und wie heißt sie?«

»Sina«, antwortete Alexander. »Sina Manolo.« Er griff nach seiner Lederjacke, holte die Visitenkarte von Sinas Vater heraus und zeigte sie Julia. »Dieser Alberto Manolo betreibt die Restaurantkette ›Da Manolo‹. Es sind Gourmetrestaurants.

»Wow! Eine Restaurantkette! Und nicht irgendein Pizza- und Pastalieferservice oder irgendwelche gewöhnlichen Trattorien, sondern lauter Tempel für Gaumenfreuden. Das ist … das ist … einfach phänomenal, das ist …«

»Aber hallo!« Alexander zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Seit wann findest du Gourmetrestaurants derart phänomenal? Du hebst ja regelrecht ab, Julia. Kochbegeistert warst du zwar schon immer, aber ist mir da in letzter Zeit womöglich irgendetwas entgangen, was ich wissen sollte?«

Julia lud Mandeltorte auf ihre Kuchengabel und führte sie zum Mund. »Schmeckt super. Für eine Kaufhauscafeteria absolute Spitzenklasse«, urteilte sie fachmännisch, während sie kaute.

Sie aß noch eine Weile schweigend weiter, dann ließ sie plötzlich die Kuchengabel sinken und schaute Alexander mit forschenden Augen an. »Könntest du dir vorstellen, nicht zu studieren und … und irgendetwas anderes zu machen, Alex?«, fragte sie unvermittelt.

Alexander schob seine Kaffeetasse beiseite. »Nein, das könnte ich nicht«, erwiderte er. »Warum sollte ich auch? Ich will Arzt werden und kranken Menschen helfen. Wie du weißt, ist das mein sehnlichster Wunsch, seit ich denken kann. Und um Arzt zu werden, brauche ich nun einmal ein Medizinstudium.«

Julia nickte, aber Alexander spürte mit feinen Sinnen, dass seine Antwort sie nicht befriedigte. Allerdings begriff er auch nicht, worauf Julia wirklich hinauswollte. »Und wenn du, warum auch immer, lieber Krankenpfleger oder Altenpfleger sein würdest als Arzt? Würdest du dann Medizin studieren, nur weil deine Eltern …«

»Nein«, antwortete Alexander. »Dann wäre die Lage natürlich eine ganz andere. In diesem Fall würde ich selbstverständlich eine Ausbildung zum Krankenpfleger oder zum Altenpfleger machen. Aber wie kommst du auf all diese eigenartigen Fragen, Julia?«

Julia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, um nicht vorhandene Kuchenkrümel abzulecken. »Du weißt doch, wie viel meinen Eltern daran gelegen ist, dass ich mein Abitur mache«, sagte sie nach einer Weile. »Und wie sehr sie sich wünschen, dass ich Pädagogik studiere und Lehrerin werde. Genau wie meine ältere Schwester Linda, die sie mir bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit als leuchtendes Vorbild präsentieren. Aber ich …«

»Aber du?«

»Ich möchte das nicht, verstehst du, Alex? Einerseits möchte ich meine Eltern natürlich nicht enttäuschen. Sie lieben mich über alles und sie haben mir nicht nur das Leben, sondern auch eine wunderschöne Kindheit geschenkt.« Julia holte tief Luft. »Um ehrlich zu sein, am liebsten möchte ich überhaupt nicht an die verdammte Schule zurück. Ich möchte …«

Julia verstummte.

»Ist es wegen Ronaldo?«, erkundigte Alexander sich schließlich. »Ist es, weil du ihn damals bei diesem Schulball kennengelernt hast und die Schule dich deshalb an ihn erinnert, auch wenn er nicht mehr da ist?«

Julia stützte ihren Kopf in ihre Hände, als wäre er ihr zu schwer. »Ja und nein. Wegen Ronaldo ist es natürlich auch«, räumte sie schließlich ein. »Aber es geht nicht allein um ihn. Da ist noch etwas anderes. Etwas ganz anderes. Etwas, was wichtig ist. Ich glaube, es ist sogar wichtiger als Ronaldo.«

»Und das wäre?«

»Ach, Alex. Wahrscheinlich kann ein so lerneifriger und wissbegieriger Mensch wie du es nur schwer begreifen, aber die Schule, das Lernen – ist einfach nicht so mein Ding.«

»So ein richtiger Lerntyp bin ich auch nicht, Julia«, gab Alex zurück. »Das habe ich eingesehen, als ich Christian Norden kennengelernt habe. Janni ist ein richtiger Nerd. Er ist mit Computern und mit dem Internet, mit Blogs und Websites und allem Digitalen fit wie kein Zweiter. Und er weiß auch sonst einfach alles. Ein wandelndes Lexikon sozusagen.«

»Er weiß mehr als du?«

Julias Tonfall war deutlich anzumerken, dass sie davon keineswegs überzeugt war, doch Alexander nickte bestätigend. »Er weiß viel mehr als ich. Das darfst du mir glauben, Julia. Obwohl er jünger ist. Und er stört sich kein bisschen an ›grauer Theorie‹, während ich über den hohen Anteil rein theoretischer Kurse in den vorklinischen Semestern alles andere als glücklich bin.« Er seufzte, schob dann aber entschlossen das Kinn vor. »Augen zu und durch. Einen anderen Weg gibt es nicht, um das zu erreichen, was ich wirklich will. Und ich werde es erreichen. Koste es, was es wolle.«

»Hmm. Natürlich wirst du es erreichen.«

Julia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Aber ich glaube, wir müssen nun allmählich wirklich los zu meiner Gastfamilie. Ich bin schon gespannt, wie die Bergers aussehen, wie sie sind und wie sie wohnen. Und wie ich mit den Kindern zurechtkomme. Ich schätze, das wird ein aufregendes Jahr.«

»Da bin ich mir ganz sicher«, pflichtete Alex seiner Cousine bei.

Sie erhoben sich, wobei Alex sich wie selbstverständlich Julias sämtliche Einkaufstüten auflud, und steuerten dem Ausgang zu.

»Ach, dass ich es nicht vergesse«, sagte er plötzlich, als sie schon fast wieder vor Fees verbeultem Auto standen. »Daniel und Fee Norden haben dich eingeladen, Julia. Sie möchten dich gern kennenlernen. Sie haben den kommenden Samstagabend vorgeschlagen. Vielleicht kannst du das mit deiner Gastfamilie regeln. Wenn nicht, ist es aber auch nicht weiter schlimm. Dann werden wir eben eine andere Lösung finden.«

»Wird dieser Janni ebenfalls da sein?«, erkundigte sich Julia neugierig.

»Natürlich«, stellte Alexander klar. »Und seine Zwillingsschwester Dési.« Er grinste. »Du solltest dich vielleicht für diesen Abend besonders schick machen. Dési versteht so einiges von Mode. Sie überlegt sich sogar, später einmal Mode-Désign oder etwas in der Art zu studieren.«

»Oh! Das wird ja immer interessanter«, lachte Julia.

»Mit Sicherheit. Fee und Daniel haben übrigens gemeint, wenn es bei dir am Samstag klappt, könnten wir vielleicht ein letztes Mal den Gartengrill anwerfen. Am Wochenende soll es angeblich noch einmal spätsommerlich warm werden.«

Julia wickelte ihren neuen Strickponcho enger um sich. »Warm? Was du nicht sagst«, bemerkte sie skeptisch.

*

Alexander Norden schloss die Tür zum Studentensekretariat und blickte mit gerunzelter Stirn auf den Vorlesungs- und Seminarplan, den er soeben abgeholt hatte. Auf zwei randvollen Seiten waren sämtliche Pflichtkurse aufgelistet, die er im ersten Semester zu belegen hatte. Dazu die genaue Zeit, zu der die Kurse stattfanden, und die Namen der Dozenten und Professoren, die sie abhielten.

55 Wochenstunden insgesamt! Und dabei war das Vor- und Nachbereiten der Kurse noch nicht einmal eingerechnet! Das würde ein wahres Mammutprogramm werden!

»Biologie, Chemie, Biochemie …«, las Alex halblaut vor sich hin. »Physik, Physiologie, Anatomie …« Und dann gab es zu jedem dieser Kurse auch noch Pflichtpraktika, die aller Wahrscheinlichkeit nach aber nicht das Geringste mit der Wirklichkeit des Arztberufs zu tun hatten …

»Hallo? Auch Ersti?«

Alex drehte sich um und blickte in das Gesicht eines blonden jungen Mannes.

»Auch Ersti«, bestätigte Alexander.

»Ganz schön was zu tun«, stellte sein Gegenüber fest und hielt dabei den Stundenplan in die Höhe. »Und jede Menge rein theoretischer Lernstoff. Typisch München. Ich fürchte, wir werden hier vor unseren klinischen Semestern keinen einzigen Patienten zu Gesicht bekommen.«

»Vom Krankenpflegepraktikum einmal abgesehen«, sagte Alexander. »Hast du dich schon angemeldet?« Er zögerte einen Moment, dann setzte er hinzu: »Ich bin übrigens Alex.«

»Ich bin Bernd«, kam prompt die Antwort. »Und – ach ja, das Krankenpflegepraktikum, das habe ich schon hinter mir. Ich habe einen Monat im Pflegeheim, einen Monat im Krankenhaus und einen Monat in einer Arztpraxis abgeleistet. Damit ich schon einmal einen Vorgeschmack bekomme für die Möglichkeiten, die sich mir später auftun.«

»Ich muss das Praktikum erst noch absolvieren«, erklärte Alexander.

Bernd zog die Augenbrauen hoch. »Wird ganz schön happig, wenn man es nicht vor Studienbeginn hinter sich bringt«, sagte er.

Alexander zuckte die Schultern.

»Allerdings habe ich das Praktikum nur deshalb vorgezogen, weil ich meine Wartezeit sinnvoll nutzen wollte«, gestand Bernd freimütig. »Mein Abiturschnitt war nicht gerade das, was ich mir gewünscht hatte. Deshalb hat es ja leider auch nicht geklappt mit Berlin und der Charité.«

»Berlin? Charité?« Alexander musterte Bernd interessiert. »Wolltest du lieber nach Berlin als nach München?«

»Aber ja doch«, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Berlin ist um Längen besser als München, finde ich. In Berlin haben sie bereits OSCE.«

»Und das bedeutet?«

»Ein anderes, sinnvolleres Prüfungssystem. Aber das Beste ist, dass in Berlin von Anfang an anhand konkreter Fallbeispiele gelernt wird und immer mit Patienten.«

»Das klingt wirklich gut«, sagte Alexander nachdenklich.

»Hast du eigentlich schon eine Wohnung gefunden?«

Bernds Frage riss Alex aus seinen Gedanken. Er schüttelte den Kopf. »Leider nein.«

»Und wo lebst du? Auf der Straße? Unter einer der Isarbrücken?«, grinste Bernd und blinzelte Alex zu.

Alex musste lachen. »Bei Verwandten«, antwortete er. »Aber ich kann dort natürlich nur für begrenzte Zeit unterschlüpfen. Daniel und Fee sagen zwar, dass ich sie nicht störe, ganz im Gegenteil. Aber das ändert nichts daran, dass ich etwas Eigenes brauche.«

»Verstehe. Mir geht es ähnlich.« Bernd hielt ein Blatt Papier hoch, auf dem Alex ganz oben den Satz ›Suche Wohnung in München‹, entziffern konnte.

»Und wo lebst du jetzt? In einem Bauwagen? In einem ausrangierten Wohnmobil? Oder in einem selbstgebastelten Tiny House?«, grinste diesmal Alexander und blinzelte zurück.

»Ich wohne derzeit immer noch bei meiner Oma. Sie hat in Fürstenfeldbruck ein kleines Haus mit einem riesigen Garten. Den halte ich einigermaßen instand und darf dafür mietfrei im Dachgeschoss wohnen. Ein Dauerzustand ist das natürlich nicht. Also suche ich. Da es mit dem Studentenwohnheim leider nicht geklappt hat, probiere ich es jetzt mit einer Wohnung. Oder, besser gesagt, mit einer Wohngemeinschaft zu dritt oder zu viert. Hättest du eventuell Interesse, dich zu beteiligen?«

Alex überlegte nicht lange. »Ja, warum nicht?«, erwiderte er.

Bernd zog eine Schachtel mit Reißnägeln aus der Tasche seiner Motorradjacke und heftete seinen Zettel ans Schwarze Brett. »Super. Dann wären wir nämlich schon zu dritt. Alissa – sie studiert im zweiten Semester Tiermedizin – ist ebenfalls auf Wohnungssuche und würde sofort in unser Projekt einsteigen. Im Moment lebt sie noch bei ihren Eltern, die in Fürstenfeldbruck ganz in der Nähe meiner Oma wohnen. Aber sie möchte baldmöglichst ausziehen. Wir sitzen also im Grunde genommen alle drei im gleichen Boot.«

»Könnte man so sagen«, stimmte Alex zu. »Und was ist mit einer Nummer vier? Miete geteilt durch vier ist besser als Miete geteilt durch drei, schätze ich.«

»Eine Nummer vier wird sich bestimmt finden«, gab Bernd zurück. »Ursprünglich sollte meine Freundin die vierte im Bunde sein.« Eine Weile betrachtete Bernd seinen glänzenden Motorradhelm, dann wandte er sich wieder Alexander zu. »Aber das hat sich leider erledigt, weil sie seit gestern Abend nicht mehr meine Freundin ist. Wir haben uns getrennt. Und zwar so lautstark, dass wir jetzt eine Anzeige wegen nächtlicher Ruhestörung am Hals haben.«

Alexander unterdrückte nur mühsam ein Lachen.

Die beiden waren offenbar ein sehr temperamentvolles Pärchen gewesen.

»Ich bin ebenfalls Single«, erklärte Alex. »Allerdings dauert mein Singledasein schon etwas länger.«

»Ach, was im Übrigen Alissa, also die Tiermedizinstudentin, betrifft, muss ich dir noch etwas sagen. Oder besser gesagt, dich vorwarnen«, unterbrach Bernd Alexanders Erinnerungen.

Alex brauchte einen Moment, um wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden. »Alissa, ach ja«, murmelte er, immer noch ein wenig zerstreut.

»Also … Alissa hat eine Katze. Ich sage das nur für den Fall, dass du allergisch gegen Katzenhaare bist oder keine Tiere in der Wohnung magst«, erklärte Bernd. »Sie hat die Katze irgendwo aufgelesen und bei sich aufgenommen. Das ist so Alissas Art. Und sie würde sich eher von einem ihrer Beine oder Arme trennen als von der Katze. Falls du damit ein Problem hast …«

»Nicht, dass ich wüsste«, erwiderte Alexander.

»Dann ist es ja gut«, stellte Bernd klar. »Der Zettel, auf dem steht, dass wir eine Wohnung suchen, ist jetzt jedenfalls öffentlich. Wenn wir Glück haben, meldet sich jemand. Wenn nicht, müssen wir eben weiterhin die Wohnungsangebote in der Zeitung durchfilzen.« Er überlegte einen Moment. »Wie hoch darf denn die Miete für dich maximal sein? Und wie weit vom Schuss oder, besser gesagt, von der Uni darf die Wohnung liegen? Hast du ein Auto? Oder ein Motorrad wie ich?« Voller Stolz schwenkte Bernd bei diesen Worten seinen Motorradhelm.

Alexander schüttelte den Kopf. »Ich habe vor, mir ein Fahrrad zu kaufen«, gab er zurück. »Und es stört mich nicht im Geringsten, damit längere Strecken zurückzulegen, wenn im Gegenzug die Wohnung entsprechend günstig ist.« Er machte eine kleine Pause »Was die Höhe der Miete betrifft … Wie viel ich bezahlen kann … Das weiß ich noch nicht so genau«, räumte er ein. »Ich habe leider noch keinen Job. Und bei unserem vollgestopften Stundenplan …«

»Vollgestopft. Das ist das passende Wort«, pflichtete Bernd Alex bei. »Ich für meinen Teil arbeite, von meiner segensreichen Tätigkeit für Omas Garten einmal abgesehen, als Rettungssanitäter.«

»Als Rettungssanitäter?«, hakte Alexander interessiert nach.

Bernd nickte. »Auch ein Abi ohne Eins vor dem Komma ist zu etwas gut«, erklärte er grinsend. »Die Ausbildung zum Rettungssanitäter habe ich während meiner Wartezeit auf einen Studienplatz absolviert. Ich wollte unbedingt etwas machen, was mit meinem späteren Beruf zu tun hat. Und da kam mir, als ich mit meinem Motorrad in einen Unfall verwickelt wurde, die Idee mit dem Rettungswagen.«

»Nicht schlecht. Ich glaube, Rettungssanitäter … Das wäre auch etwas für mich. Aber eine Ausbildung während des Studiums …«

»Dürfte eher schwierig sein«, ergänzte Bernd. »Du kannst dich allerdings ohne Weiteres zunächst einmal als Rettungsassistent versuchen.«

Alexanders Interesse war geweckt. »Während der Semesterzeit machst du wohl hauptsächlich Nachtschichten?«, erkundigte er sich, eingedenk des minutiös durchgetakteten Stundenplans.

»So ist es«, antwortete Bernd. »An vorlesungsfreien Tagen wie zum Beispiel heute übernehme ich dagegen …« Ein Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn von einer Sekunde auf die andere verstummen. »Übernehme ich dagegen die frühere Schicht«, fuhr er dann hektisch fort. »Und deshalb muss ich jetzt ganz dringend los. Man sieht sich wieder. Spätestens am ersten Vorlesungstag.«

»Bis bald«, sagte Alexander.

*

Der Wetterbericht hatte recht behalten: Das Wochenende, das auf Julias Ankunft in München folgte, brachte für kurze Zeit noch einmal den Spätsommer zurück.

In einem mit bunten Blumen gemusterten romantischen Kleid und mit offenen Haaren machte Julia sich am frühen Samstagabend auf den Weg zu den Nordens, um deren Einladung Folge zu leisten.

Sie freute sich darauf, Daniel und Fee und die Zwillinge Janni und Dési kennenzulernen. Und sie freute sich auch auf das Wiedersehen mit Alexander, den sie, vollauf beschäftigt mit den Kindern der Bergers, seit ihrem Ankunftstag nicht mehr getroffen hatte.

Zu Julias Erleichterung war ihre Gastfamilie sofort bereit gewesen, ihr an ihrem ersten Wochenende als Au-pair in München frei zu geben, sodass dem Grillabend auf der Terrasse der Nordens von Anfang an nichts im Wege gestanden hatte.

Obwohl die Temperatur um die Mittagszeit ein wohl letztes Mal die 25-Grad-Marke geknackt hatte und die fast hochsommerliche Wärme noch immer in der Luft lag, zog Julia auf dem Weg zu den Nordens ihre Strickjacke enger um sich. Allerdings nur, um sie schon nach kurzer Zeit hastig wieder auszuziehen, weil ihr plötzlich so heiß war, als säße sie in einem Backofen. Dabei fühlte sie sich müde und ausgelaugt, als hätte sie den lieben langen Tag schwer geschuftet, was durchaus nicht der Fall war.

Ob es noch weit bis zum Haus der Nordens war?

Alex’ Wegbeschreibung nach musste sie schon fast davorstehen, aber …

»Julia, hier sind wir!«, vernahm Julia in diesem Moment Alexanders Stimme.

Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihn über die Hecke eines der Nachbargärten besser sehen zu können.

Heftig winkend stand Alexander auf der Terrasse der Nordens und bedeutete ihr, näher zu kommen.

Wenig später stand Julia im schon herbstlichen Garten der Nordens und wurde von der ganzen Familie aufs Herzlichste begrüßt.

Die ganze Familie Norden wirkte in Julias Augen überaus sympathisch.

Gern nahm Julia am gedeckten Tisch Platz und schaute nicht ohne ein Quäntchen Erheiterung Alexander zu, der mit ernster, wichtiger Miene damit beschäftigt war, sich um den Grill verdient zu machen.

Normalerweise wäre Julia beim Anblick des Essens das Wasser im Mund zusammengelaufen, aber seltsamerweise verspürte sie, obwohl ihr Mittagsmahl nur aus einem Schinken-Käse-Sandwich bestanden hatte, keinen großen Appetit.

Ob auch das mit der beginnenden Erkältung zusammenhing? Julia war sich ziemlich sicher. Dennoch gab sie sich einen Ruck. Sie durfte sich nicht derart gehen lassen! Eine Erkältung war schließlich nichts Schlimmes!

Auf Alexanders Fragen hin begann sie, ein wenig von den Bergers und ihren drei Kindern zu erzählen, die sie samt und sonders schon ins Herz geschlossen hatte, bis ihr mit einem Mal Fees demoliertes Auto wieder einfiel.

Sollte sie Fee danach fragen?

Oder doch lieber nicht?

»Julia, geht es Ihnen nicht gut?« Daniel Nordens Frage riss Julia aus ihren Gedanken.

»Es ist meine eigene Schuld«, sagte sie. »Ich war bei meiner Ankunft einfach viel zu leicht angezogen. Obwohl mir hätte klar sein müssen, dass es in München kälter ist als zu Hause in Spanien. Und obwohl ich aus Erfahrung weiß, dass ich leider ziemlich anfällig für Erkältungen bin.«

»Nun, hinterher ist man immer klüger. Mit diesem Problem stehen Sie nicht allein, Julia«, sagte Daniel lächelnd. Er stand auf und ging ins Haus, von wo er ein paar Minuten später mit einem Rezeptblock zurückkam. »Ich schreibe Ihnen ein Mittel auf, das hervorragend bei Erkältungen wirkt. Sie werden sich schon ein paar Stunden, nachdem Sie es eingenommen haben, wie neugeboren fühlen«, versprach er Julia, während er das Rezept ausstellte. »Schließlich müssen Sie als Au-pair-Mädchen mit allen Sinnen präsent sein, damit Ihnen Ihre jungen Schützlinge nicht auf der Nase herumtanzen. Und anstecken möchten Sie die Kids natürlich auch nicht.«

»Auf gar keinen Fall«, sagte Julia sofort, griff nach dem Rezept und steckte es in ihre Handtasche. »Und vielen Dank«, setzte sie nach einer kurzen Pause noch hinzu.

»Bitte, bitte. Gern geschehen«, erwiderte Daniel. »Ich wünsche Ihnen gute Besserung. Und – Sie sollten das Medikament auf alle Fälle gleich morgen früh zum ersten Mal einnehmen, damit die Erkältung sich nicht in Ihrem Körper breitmachen kann. Deshalb habe ich auf der Rückseite des Rezepts für Sie vermerkt, welche Apotheke in Ihrer Umgebung Sonntagsdienst hat.«

Julia nickte dankbar.

Alexander zuliebe, der sich so viel Mühe mit dem Grill gegeben hatte, zwang sie sich schließlich, ein Würstchen und einen Maiskolben zu probieren. Zu ihrer Überraschung kam jedoch mit dem Essen der Hunger, und es fiel ihr plötzlich gar nicht mehr schwer, nach einer Weile sogar noch einen zweiten Teller zu leeren.

Auch als Daniel nach der Abendmahlzeit eine Flasche Wein öffnete und die ganze Familie auf Julias Jahr in Deutschland anstieß, sagte Julia nicht Nein.

Irgendwie fühlte sie sich mit einem Mal auch ohne Medikament schon sehr viel besser.

Als Julia sich schließlich verabschiedete, war es kurz vor Mitternacht.

Fee bat Daniel, Julia nach Hause zu fahren, doch Julia lehnte das Angebot rundweg ab. »Ich kann zu Fuß gehen, wirklich«, versicherte sie. »Ich würde es mir nie verzeihen, wenn auch noch Ihr Wagen, Herr Dr. Norden …«

Daniel wiegelte lachend ab und wies darauf hin, dass ein zweiter Unfall in diesem Zusammenhang doch eher unwahrscheinlich wäre, aber Julia blieb eisern bei ihrem Entschluss und war nicht umzustimmen.

»Gut, dann werde ich dich nach Hause begleiten, Julia«, erklärte Alexander ebenso entschlossen. »Ich möchte auf keinen Fall, dass du zu so später Stunde in einer Großstadt wie München allein unterwegs bist. Und außerdem wird mir nach dem üppigen Essen und Trinken ein kleiner Spaziergang guttun.«

Julia war es zufrieden.

Groß und rund stand der Mond am sternenübersäten Himmel, als sie und Alexander schließlich das Haus der Nordens verließen.

Verträumt schaute Julia, während sie neben ihrem Cousin herlief, immer wieder zu den Myriaden von Lichtpunkten auf, die das dunkle Firmament erleuchteten.

»Hat dir der Abend bei den Nordens gefallen?«, erkundigte sich Alexander unvermittelt.

»Aber natürlich, Alex«, gab Julia zerstreut zurück, noch nicht ganz bereit, das zauberhafte Land ihrer Erinnerung schon wieder zu verlassen.

Alexander ergriff wie selbstverständlich Julias Hand.

Julia dankte ihm mit einem liebevollen Blick.

Es war so schön, Hand in Hand durch die Nacht zu gehen, auch wenn es nur ihr Cousin war, dessen Nähe sie spürte.

Julia verhielt den Schritt, weil ihr mit einem Mal wieder schwindlig wurde. Die Straße unter ihr schien sich plötzlich in Wellen zu bewegen, und die Sterne am Himmel sahen aus, als würden sie auf Wanderschaft gehen und ihre Plätze tauschen. Unwillkürlich klammerte Julia sich Halt suchend fester an Alexanders Hand.

Alexander wandte sich ihr mit einem fragenden Blick zu und erschrak bis ins Mark. Julia war so blass, dass ihr Gesicht im Halbdunkel der Straße regelrecht weiß leuchtete.

»Julia, was hast du? Fühlst du dich nicht gut?«

Alexanders Stimme drang nur wie aus weiter Ferne zu Julia durch. Erschöpft lehnte sie sich einen Moment gegen einen Baum, der am Rand der Straße ein einsames Dasein fristete und goldrote, welke Blätter auf sie heruntersegeln ließ.

Nach ein paar Minuten fühlte sie sich wieder besser. Der Schwindel legte sich mehr und mehr. Nur die Übelkeit, die plötzlich in ihr aufgestiegen war, war immer noch da. Sie hatte zwar ein wenig nachgelassen, aber Julia hatte immer noch das Gefühl, ihr Magen würde sich zusammenkrampfen.

»Julia, was ist los mit dir?«

Alexanders Stimme war nun wieder klar und deutlich und die Besorgnis in seinen blauen Augen nicht zu übersehen.

Julia nahm einen tiefen Atemzug.

Und noch einen und noch einen.

Bestimmt würde die frische, reine Nachtluft ihr guttun!

»Es … Es geht schon wieder«, stammelte sie. »Alles halb so schlimm.«

Als sie sah, dass Alexander nicht bereit war, sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben, versuchte sie ein schiefes Lächeln.

»Mir ist nur ein bisschen schwindlig geworden. Wahrscheinlich habe ich ein Glas Wein zu viel getrunken. Und die Übelkeit … ist auch leicht zu erklären. An das deutsche Essen werde ich mich wohl erst peu à peu gewöhnen müssen.« Sie presste eine Hand gegen ihren Bauch. »Und Bauchweh habe ich auch. Wahrscheinlich ebenfalls vom deutschen Essen.«

Alexander runzelte die Stirn.

Julia spürte, wie ihr Magen und ihr Bauch schon wieder rebellierten, gab sich aber alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen.

»Gleich morgen früh löse ich Dr. Nordens Rezept ein«, versprach sie. »In dieser Apotheke, die Sonntagsdienst hat. Und dann nehme ich tagsüber ganz brav meine Arznei. Genau nach Verordnung.«

Alexander zog die Augenbrauen hoch und musterte seine Cousine mit skeptischen Blicken. »Ich werde dich spätestens gegen Mittag anrufen und dich an dein Versprechen erinnern«, mahnte er.

Julia nickte schicksalsergeben. »Tu, was du nicht lassen kannst«, sagte sie. »Hast du eigentlich schon ein Zimmer oder eine kleine Wohnung in Aussicht?«

»Nicht direkt«, erwiderte Alex. »Du kannst dir deine Ablenkungsmanöver also sparen.«

»Und was ist mit deinen Medizinkursen? Hast du dich schon eingeschrieben?«

»Ja, habe ich. Es dauert nicht mehr lange, dann geht es definitiv los.«

»Was du natürlich kaum erwarten kannst.«

»Julia, versprichst du mir, mich anzurufen, falls es dir trotz Dr. Nordens Medizin wieder schlechter gehen sollte?«, drängte Alexander anstelle einer Antwort.

Julia verdrehte die Augen. »Ja, Herr Onkel Doktor in spe«, erwiderte sie.

Eine Weile liefen Julia und Alexander schweigend durch die nächtlichen Straßen.

»Siehst du, ich bin schon fast wieder in Ordnung«, sagte Julia, als sie ein gutes Stück Weg zurückgelegt hatten, und machte ein paar Hüpfer, wie um Alexander zu beweisen, dass seine Besorgnis vollkommen unbegründet und übersteigert war.

Alex bemühte sich ebenfalls, heitere Laune zu zeigen, und lachte betont munter. »Allmählich glaube ich, dass du einfach nur simulierst«, behauptete er. »Du willst mit irgendwelchen Krankheitssymptomen Aufmerksamkeit erregen. Du willst im Mittelpunkt stehen. Du willst …«

»Ich will gar nichts.« Julia nahm wieder Alexanders Hand und zog ihn neckend ein paar Mal hin und her. »Oder vielleicht will ich doch etwas?«, plapperte sie weiter. »Vielleicht will ich ja unserem Onkel Doktor in spe ein paar Nüsse zu knacken geben, damit er sich schon einmal ein bisschen in Diagnostik üben kann.«

»Dasselbe habe ich mir auch soeben gedacht«, gab Alexander zurück.

Er lief weiter neben Julia her und verabschiedete sich erst von ihr, als sie den Haustürschlüssel der Bergers zückte und den Eingang des Mietshauses aufschloss, das nun für ein ganzes Jahr ihr Zuhause sein sollte.

»Komm gut zurück zu den Nordens und grüße sie noch einmal ganz herzlich von mir«, sagte sie zu Alex und verschwand im Flur.

Alex schaute ihr nach, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, dann trat er den Rückweg an.

Dabei kreisten seine Gedanken bei jedem Schritt immer wieder um seine Cousine.

Schnupfen, Übelkeit, Schwindel, Bauchschmerzen … Waren das wirklich nur Symptome einer Erkältung oder gar einer Grippe, verstärkt möglicherweise noch durch die Aufregung durch all das Neue?

Vielleicht, nur wollte das alles irgendwie nicht so recht zusammen passen.

Natürlich war es noch ein weiter Weg, bis er Arzt sein würde, und er durfte sich deshalb auch kein Urteil anmaßen, aber sein Gefühl sagte ihm, dass Julia nicht nur an einer Erkältung litt, sondern dass mit ihr irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

*

Der erste Vorlesungstag!

Endlich!

Schon am Morgen war Alexander so aufgeregt, dass er, natürlich mit sämtlichen guten Wünschen der Nordens im Gepäck, viel zu früh aufbrach und deshalb vor der Physikvorlesung, mit der alles beginnen sollte, noch jede Menge Zeit hatte.

Er belegte einen der vorderen Plätze im Hörsaal und trat anschließend noch einmal auf den Gang hinaus, um sich ein wenig umzuschauen.

Sein erster Weg führte ihn ans Schwarze Brett, um nach dem Zettel zu sehen, den Bernd in der vergangenen Woche angeheftet hatte. Er war an der rechten Seite in zigfacher Ausführung mit Bernds Telefonnummer bestückt, die bei Interesse abgerissen werden konnte.

Leider war noch über die Hälfte der Telefonnummern da.

Neugierig las Alexander auch noch die anderen angepinnten Zettel, in der Hoffnung, vielleicht auf ein passendes Jobangebot zu stoßen, als ihm plötzlich ein süßlich-herber Duft in die Nase stieg. Es war noch gar nicht lange her, dass er diesen Duft …

Verwundert drehte Alexander sich um und entdeckte Sina Manolo, die, eine einfache, aber trotzdem teuer aussehende Ledertasche unter den Arm geklemmt, an ihm vorbei durch die weit offen stehende Tür in den Hörsaal ging.

Mit großen erstaunten Augen starrte Alexander ihr nach. Er fand sie immer noch so attraktiv wie bei der unseligen ersten Begegnung, und obwohl sie genau wie die überall herumstehenden Studenten Jeans, Pulli und Jacke trug, wirkte sie ein bisschen wie aus einer anderen Welt.

Konnte es sein, dass sie Medizinstudentin im ersten Semester war, genau wie er selbst?

Alexander ertappte sich dabei, wie spontan ein unbändiges Glücksgefühl in ihm aufstieg, schalt sich aber gleichzeitig dafür.

»Hi, Alex!« Der Gruß kam von Bernd Winter, der Alexander, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, von hinten auf die Schulter tippte.

»Hi, Bernd!«

Natürlich war Alex nicht wirklich überrascht, Bernd zu sehen, aber er freute sich trotzdem. Spontan hob Alex seine rechte Hand, und Bernd gab lachend high five.

Genau wie zuvor Alex, ließ nun auch Bernd seine Blicke über das Schwarze Brett schweifen, bis sie auf seinen Zettel fielen.

»Nicht gerade üppige Ausbeute«, stellte er fest. »Und eines der Angebote können wir sowieso vergessen. Ich habe gleich am Telefon abgesagt. Viel zu teuer. Die Wohnung brauchen wir gar nicht erst zu besichtigen.«

Bernd verstummte abrupt, als er merkte, dass der Flur sich leerte und die soeben noch müßig sich unterhaltenden Studenten Richtung Hörsaal eilten.

»Ich glaube, das ist der Prof«, stellte er fest und wies mit dem Kinn auf einen etwa vierzigjährigen Mann in Jeans und Pulli, der entschlossenen Schrittes ebenfalls auf den Hörsaal zusteuerte.

Bernd und Alex suchten eilends ihre Plätze auf.

Als Alex sich gesetzt hatte, galt sein erster Blick dem Pult, der Tafel und dem Dozenten, doch dann schaute er sich im Hörsaal um.

So unauffällig wie möglich suchte Alex die Reihen ab – und wurde prompt fündig. Auch Sina schien nach ihm Ausschau gehalten zu haben, denn ihre Blicke trafen sich.

Alex sah das Aufblitzen in Sinas Augen, und sein Herz begann sofort, heftig zu klopfen: Sina hatte ihn offensichtlich genauso wenig vergessen wie er sie.

Sie winkte ihm verstohlen zu, was ihr einen strafenden Blick des Professors eintrug, der sie jedoch nicht weiter zu stören schien. Stattdessen versuchte sie sogar, Alex Zeichen zu geben, die sich, wie Alex vermutete, auf ein Treffen nach der Vorlesung bezogen.

Wie selbstverständlich nickte Alex ihr zu. Und stellte plötzlich fest, dass sein erster Vorlesungstag noch viel aufregender war, als er es sich in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

Unwillkürlich behielt Alexander Sina im Auge.

Ihre Aufmerksamkeit war mittlerweile auf den Professor gerichtet, sodass Alexander ihr Gesicht im Profil sah: Es war schlichtweg perfekt. Stirn, Nase, Kinn, alles passte wunderbar zusammen. Schade nur, dass der Rollkragenpullover die Linie ihres Halses verbarg. Und dass ihr aufgestützter linker Arm ihn daran hinderte, die sanfte Wölbung ihres Busens …

Energisch wandte Alexander den Kopf ab.

Wenn er seine Vorlesungen und Seminare damit verbrachte, Sina Manolo zu betrachten …

Alexander straffte den Rücken und richtete seinen Blick auf Tafel und Vortragspult. Von nun an galt seine volle Aufmerksamkeit den Worten des Professors, die er gewissenhaft schriftlich festhielt, um sie später noch einmal zu rekapitulieren.

Selbst nach dem Ende der Vorlesung erlaubte Alexander sich keinen einzigen weiteren Blick in Sinas Richtung.

Dass sie an der Tür des Hörsaals auf ihn wartete, ignorierte er, auch wenn er sie aus den Augenwinkeln längst wahrgenommen hatte. Sie zu sehen, konnte er schließlich nicht vermeiden, wollte er nicht mit geschlossenen Augen umherlaufen.

Zielstrebig steuerte er auf Bernd zu, um mit ihm das weitere Vorgehen in der Wohnungssuche zu besprechen.

Nach einigem Hin und Her gelang es den beiden, sich auf einen Termin für die Besichtigung der infrage kommenden Wohnungen zu einigen.

Bernd, der immer weniger bei der Sache war, konnte nach einer Weile ein Grinsen nicht mehr unterdrücken.

»Die Dreizimmerwohnung ist wohl doch nicht das Richtige, Alex«, bemerkte er schließlich mit leisem Spott. »Wie es aussieht, wirst du nicht mehr lange Single bleiben. Und wenn du schon nach drei Wochen wieder ausziehst, haben ich und Alissa ein ernstes Problem.«

»Ich? Wieso sollte ich nach drei Wochen ausziehen? Ich …«, entrüstete sich Alex, bis ihm bewusst wurde, dass Sina Manolo immer noch an der Hörsaaltür lehnte, ihn unter halb gesenkten Lidern betrachtete und keine Sekunde aus den Augen ließ.

»Ich habe ein Angebot für dich, Alex«, sagte Bernd in das entstandene Schweigen hinein. »Du hast dich doch, wenn ich mich recht entsinne, für eine Ausbildung zum Rettungssanitäter interessiert.«

Alexander nickte. »Ja, und du hast mir vorgeschlagen, es erst einmal als Rettungsassistent zu versuchen.«

»So ist es. Hast du noch immer Lust, dich, zumindest probeweise, in den Rettungswagen zu setzen?«

»Natürlich«, kam es spontan von Alexander. »Siehst du am Ende vielleicht sogar eine Möglichkeit für mich, bei einem oder mehreren Einsätzen mitzufahren?«

»Yep, so eine Möglichkeit sehe ich durchaus«, erwiderte Bernd und schaute Alex dabei verheißungsvoll an. »Hubsi, also Hubert, hat sich für eine Ausbildung zum Rettungsassistenten beworben, ist nun aber überraschend abgesprungen, weil er – er ist erst sechzehn – mit seinen Eltern nach Norddeutschland zieht. Du könntest also fürs Erste problemlos seinen Platz einnehmen und dir alles einmal sozusagen aus nächster Nähe anschauen. Ist das ein Angebot?«

»Aber ja. Natürlich ist es das«, kam es sofort von Alex. »Wann könnte es denn losgehen?«

»Sobald du möchtest. Du kannst die Spätschicht nehmen«, erwiderte Bernd. »Wir beginnen um 16 Uhr. Die Schicht endet pünktlich um Mitternacht. Bist du dabei?«

»Klar bin ich dabei.«

Bernd grinste wieder, diesmal noch einen Tick breiter.

Alex drehte sich demonstrativ so, dass er Sina Manolo den Rücken kehrte. »Wollen wir uns drüben am Automaten noch einen Kaffee holen, ehe die Anatomievorlesung beginnt?«

»Klar«, stimmte Bernd sofort zu und bewegte sich augenblicklich, wie von einem Magneten angezogen, in Richtung Kaffeeautomat.

Erst als Bernd sich einen Kaffeebecher zog, fiel Alex auf, dass der Motorradfreak in der linken Hand auch diesmal wieder seinen Motorradhelm trug, genau wie bei ihrer ersten Begegnung.

Unwillkürlich stahl sich ein Schmunzeln auf Alex’ Lippen.

War der Helm so etwas wie ein Maskottchen, das Bernd, wenn irgend möglich, überhaupt nicht aus der Hand legte? Oder hatte Bernd nur Angst, das gute Stück im Hörsaal zurückzulassen und bei seiner Rückkehr möglicherweise nicht mehr vorzufinden?

»Hallo, ihr beiden, ich glaube, die Anatomievorlesung fängt gleich an«, wurde Alex in diesem Moment abrupt aus seinen Gedanken gerissen, die, wie er verärgert feststellte, schon wieder um Sina gekreist waren.

Die mahnende Stimme kam von einer Erstsemester-Studienkollegin, die sich ebenfalls einen Kaffee geholt hatte, sich aber, ohne weiter auf Bernd und Alexander zu achten, unverzüglich wieder aufmachte in Richtung Hörsaal. »Ich bin übrigens Britt«, rief sie den beiden aus einiger Entfernung noch zu und verschwand.

Alex sah ihr verblüfft nach.

Sie war überschlank und nicht allzu groß und hatte schulterlange krause Haare, die so rot waren, dass sie leuchteten, als ob sie in Flammen stünden. Ihre Füße steckten in abgetragenen Turnschuhen. Jeans mit Löchern und ein grauer selbst gestrickter Pulli ergänzten das Outfit.

»Britt, der Kobold«, grinste Bernd und setzte sich in Bewegung, um noch rechtzeitig zur Anatomievorlesung zu kommen.

Da der Professor, ein nicht mehr ganz junger und ein wenig mürrisch dreinblickender Herr, bereits am Pult stand und seine Skripten ordnete, beeilte Alex sich, zu seinem Platz zu kommen.

Er ließ sich in seinen Stuhl fallen und zog das Anatomielehrbuch aus seiner Tasche.

Kein Geringerer als der Professor selbst hatte es verfasst. Und, wenn man Daniel Norden glauben durfte, war der nicht ganz uneitle Professor unheimlich stolz auf sein Werk.

Leider hatte Alex noch keine Zeit gefunden, darin zu blättern, und wollte das nun gerade noch rasch nachholen, als ihm erneut Sinas Duft in die Nase stieg. Er irritierte ihn dermaßen, dass ihm das Buch mit einem lauten Klatschen zu Boden fiel.

Die Augen der in seiner Nähe sitzenden Kommilitonen richteten sich auf ihn, ebenso die strengen Augen des Professors.

Alexander spürte, wie ihm die Röte in die Wangen schoss.

Er bereute es, sich einen derart exponierten Platz in der zweiten Reihe gesucht zu haben, und hätte sich am liebsten verkrochen, als gepflegte Frauenhände ihm das Buch zurückreichten.

Sina Manolo!

Sina hatte sich allen Ernstes auf dem Platz neben seinem breit gemacht und den Studenten, der ursprünglich dort gesessen hatte, verdrängt.

Verwirrt nahm Alexander das Buch entgegen, wobei Sinas Fingerspitzen leicht die seinen berührten.

Im ersten Augenblick durchfuhr es Alexander wie prickelnde Elektrizität, die sich in Sekundenschnelle heiß und heißer in seinem ganzen Körper ausbreitete, doch schon im nächsten Moment schürte er in sich den Widerwillen angesichts Sinas Allgegenwart.

»Danke, Sina«, sagte er knapp, obwohl er eher das Gegenteil von Dankbarkeit empfand, sodass die beiden Worte fast wie ein Vorwurf klangen.

Als der Professor mit seinen Ausführungen begann und eine Frage stellte, hob Alex den Finger, doch Professor Herrenbach bedachte ihn nur mit einem flüchtigen, wenig freundlichen Blick.

Es war Britt oder der Kobold, wie Bernd sie genannt hatte, die zum Zuge kam.

Alexander folgte Professor Herrenbachs Vortrag weiter mit Aufmerksamkeit, beobachtete aber auch interessiert seine Wortwahl und seine Körpersprache. Er merkte kaum, wie die Zeit verging. Deshalb dachte er auch erst, als die Vorlesung zu Ende war, wieder an Sina. Verstohlen warf er einen Blick zu ihr hinüber, doch plötzlich schien sie sich überhaupt nicht mehr für ihn zu interessieren.

Sie benahm sich, als wäre er der fremdeste Fremde.

Die Luft war kalt und feucht. Über der Stadt hing eine Nebelglocke, die alles wie mit einem Grauschleier überzog und eine triste, düstere Stimmung verbreitete. Gesenkten Kopfes eilte Alex zur U-Bahn. Zu seiner Überraschung entdeckte er unter den am Bahnsteig wartenden Menschen Sina Manolo. Alexander versuchte, so zu tun, als sähe er sie nicht, hatte aber keinen Erfolg.

Als Sina ihn entdeckte, ging ein freudiges Aufleuchten über ihre Züge.

Sie machte ein paar eilige Schritte auf ihn zu, doch dann blieb sie plötzlich in einiger Entfernung stehen, als wäre sie gegen eine gläserne Wand gestoßen.

Entschlossen ging Alexander auf Sina zu und blieb mit fragend hochgezogenen Augenbrauen vor ihr stehen.

»Hallo, Alex«, sagte Sina mit leiser Stimme. »Das Sprichwort ›Man sieht sich immer zweimal‹ scheint also nicht zu lügen.«

»Den Eindruck habe ich auch«, gab Alex zurück. »Obwohl wir uns, so wie die Dinge stehen, mit Sicherheit noch mindestens zweihunderttausendmal sehen werden.«

Sinas samtig dunkle Augen richteten sich fast ein wenig schüchtern auf ihn. »Ich habe, ehrlich gesagt, durchaus mit einem Wiedersehen gerechnet«, gestand sie. »Weil ich von Anfang an überzeugt war, dass Dr. Nordens Neffe eigentlich gar nichts anderes studieren kann als Medizin. Für dich war es dagegen wohl eine ziemliche Überraschung, im Medizinstudium ausgerechnet auf mich zu stoßen.«

»Allerdings«, räumte Alexander ein. »Ich …«

Er verstummte unter dem Kreischen der einfahrenden U-Bahn und wollte sich zum Einsteigen anschicken, doch Sina Manolo blieb auf dem Bahnsteig stehen wie festgewurzelt.

»Nicht die U3?«, fragte er. »Wartest du auf die U6?«

Sina schüttelte den Kopf. »Nein, aber … Ich fürchte, du hast dich heute fast von mir verfolgt gefühlt. Es ist nur …«

»Unsinn. Wieso hätte ich mich verfolgt fühlen sollen«, log Alexander.

Als hätten sie es abgesprochen, traten er und Sina gleichzeitig von der wieder abfahrenden U-Bahn zurück und setzten sich auf die unbequemen Plastiksessel am Rand des Bahnsteigs.

»Wolltest du mir etwas sagen?«, erkundigte sich Alex.

Sina nickte. »Ja«, erwiderte sie. »Aber es war bis jetzt leider keine Gelegenheit. Zuerst warst du dermaßen in die Unterhaltung mit deinem Freund vertieft, dass ich mich nicht einmischen wollte, und dann, in der Anatomievorlesung …«

Alexander starrte eine Weile peinlich berührt auf seine Schuhspitzen, dann richtete er seine Augen fragend auf Sina.

»Ich wollte dich einladen«, sagte sie.

Bei diesen Worten erwiderte sie Alexanders Blick auf eine Art, die sein Blut sofort wieder in Wallung brachte, ob er nun wollte oder nicht.

»Einladen?«, wiederholte er.

»Ja. Wir feiern bei uns in der Villa jedes Jahr eine große Halloween-Party. Nicht direkt an Halloween, weil Papa als Italiener natürlich katholisch ist, aber … Jedenfalls steigt die Party Mitte November, also in etwa vierzehn Tagen. Es soll diesmal gleichzeitig eine Feier zum Semesteranfang und zum Beginn meines Studiums werden. Deshalb wollte ich auch dich zu dieser Party einladen.«

»Wow«, war alles, was Alexander fürs Erste dazu einfiel.

»Ich habe natürlich auch ein paar andere Studenten eingeladen, die ich noch von der Schule kenne. Nicht-Mediziner inklusive. Du kommst doch, oder?«, redete Sina fast ein wenig atemlos weiter.

»Natürlich«, stimmte er zu, ohne noch einen Moment zu zögern. »Ist es ein Kostümfest? Ich meine, werden sich dort Graf Dracula, ein Dutzend Fledermäuse, ein Rudel schwarze Katzen und jede Menge Geister tummeln?«

»Auf alle Fälle«, lachte Sina. »Und natürlich darfst du eine Begleitperson mitbringen«, riss Sina ihn aus seinen Gedanken. »Deine Freundin. Oder einen Freund. Egal. Ganz wie du möchtest.«

Alex dachte spontan an Julia. »Ich werde Julia mitbringen«, sagte Alexander und strahlte dabei übers ganze Gesicht.

»Das Mädchen, das du an dem Tag, an dem der Unfall passiert ist, vom Bahnhof abgeholt hast?«, erkundigte sich Sina. »Deine … deine Freundin?«

Alexander nickte zuerst, dann schüttelte er den Kopf.

»Julia – ist in der Tat das Mädchen, das ich abgeholt habe«, erklärte er, als er Sinas verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. »Aber sie ist nicht meine Freundin. Sie ist meine Cousine. Julia ist achtzehn und freut sich bestimmt riesig auf eine Party.«

»Na, dann …«

Sinas Augen leuchteten, und ihre sinnlichen Lippen waren auf einmal so unwiderstehlich nahe, dass Alexander sich für einen Moment vollkommen vergaß. Er umfasste Sinas Gesicht und berührte mit seinen Lippen ganz sachte ihren Mund. Zärtlich zupfte er mit seinen Zähnen an ihrer Unterlippe, während Sinas Arme sich wie selbstverständlich um seinen Nacken schlangen und ihre Lippen sich öffneten.

*

Wahrscheinlich hätte Alexander, als er das Haus der Nordens erreichte, noch immer an den Kuss gedacht, den er und Sina getauscht hatten, und ihn auf seinen Lippen gespürt, wäre da nicht die Vorfreude gewesen, Julia die Einladung zum Halloween-Fest zu überbringen.

Beschwingten Schrittes betrat Alexander das Haus der Nordens. Schon im Flur wurde er von Janni, Dési und Fee empfangen, die natürlich ganz genau wissen wollten, wie sein erster Tag an der Uni gelaufen war.

Eine Viertelstunde später wählte er in seinem Zimmer bereits voll freudiger Erwartung Julias Nummer.

Gespannt lauschte er, während es bei Julia anklingelte, aber zu seiner Enttäuschung hob niemand ab. Er versuchte es noch einmal und noch einmal und noch einmal. Das Ergebnis war immer dasselbe. Es meldete sich nur die Stimme der Mobilbox und riet ihm, eine Nachricht zu hinterlassen, eine SMS zu schreiben oder es ganz einfach später noch einmal zu versuchen.

Nach ein paar weiteren vergeblichen Versuchen gab Alexander es auf.

Plötzlich fiel ihm ihre seltsame Unpässlichkeit in den Tagen nach ihrer Ankunft wieder ein. Ihre Erkältungssymptome und auch die eigenartige Übelkeit und der Schwindel, die sie auf dem Heimweg von den Nordens befallen hatten.

Alexander wurde immer zerstreuter, was er bald auch vor den Nordens nicht mehr verbergen konnte.

»Geht Julia immer noch nicht ans Telefon?«, erkundigte sich Daniel beim Abendessen.

Alexander schüttelte nur stumm den Kopf.

»Mach dir nicht so viele Sorgen um die Gesundheit deiner Cousine«, beruhigte Daniel ihn, als hätte er seine geheimsten Gedanken erraten. »Hätte sich die Erkältung verschlimmert, hätte sich Julia zwischenzeitlich bestimmt bei dir oder auch bei mir gemeldet.«

»Vermutlich«, meinte Alexander. »Zudem habe ich Julia am Tag nach unserem gemeinsamen Grillabend noch einmal angerufen, und sie hat sich, als sie dein Rezept eingelöst und das Medikament geschluckt hatte, schon sehr bald wieder wohlgefühlt.«

»Eben«, bekräftigte Fee, nickte Alexander aufmunternd zu und füllte seinen Teller nach.

Alexander aß, wenn auch ohne rechten Appetit.

Er zog sich sehr bald auf sein Zimmer zurück, allerdings nur, um sofort wieder Julias Nummer zu wählen. An die Halloweenparty bei Sina dachte er längst nicht mehr. Ihm ging es inzwischen nur noch darum herauszufinden, was mit Julia los war.

Zu Alexanders Erschrecken ging Julia weiter nicht an ihr Handy.

Schon war Alexander im Begriff, die Nummer der Bergers zu wählen, als ihn ein Blick auf die Uhr zögern ließ.

Eigentlich war es schon viel zu spät, um Menschen anzurufen, die er nicht einmal persönlich kannte.

Ehe Alexander es sich versah, hatte er, da er die Handynummer nicht kannte, trotz seiner Bedenken die Festnetznummer der Bergers gewählt.

Auch sie schienen nicht erreichbar zu sein. Alex wollte den Anruf schon beenden, als in letzter Sekunde abgehoben wurde.

»Berger. Hannes Berger«, meldete sich ein Mann, der auf Alex einen derart erschöpften Eindruck machte, als hätte er einen Marathonlauf hinter sich.

»Guten Abend. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Alexander Norden, Julias Cousin. Ich versuche schon seit Stunden, Julia zu erreichen, aber sie geht nicht an ihr Handy.«

Eine Weile war am anderen Ende der Leitung nur ein heftiges Schnaufen zu hören. »Hören Sie mich? Sind Sie noch da?«, kam dann wieder die Männerstimme.

»Natürlich. Ich …«

»Ihre Cousine ist am späten Nachmittag hier in unserer Wohnung zusammengebrochen, während sie Kevin und Marwa bei ihren Hausaufgaben geholfen hat«, kam es vom anderen Ende der Leitung. »Unser Ältester, Kevin, war gottlob geistesgegenwärtig genug, meine Frau in ihrem Kosmetikstudio anzurufen. Sie ist sofort nach Hause gefahren und hat den Notarzt alarmiert. Julia war zu dieser Zeit bereits nicht mehr bei Bewusstsein. Sie wurde ins Klinikum rechts der Isar gebracht und …«

Alexander setzte sich auf sein Bett. Er hatte das Gefühl, seine Beine hätten sich in Pudding verwandelt und würden ihn nicht länger tragen.

»Und … Und wie geht es Julia jetzt?«, zwang er sich schließlich zu fragen.

»Besser«, kam die erlösende Antwort. »Sie musste reanimiert werden, aber sie hat Gott sei Dank keine bleibenden Schäden davongetragen. Julia lag nach der Wiederbelebung auf der Intensivstation«, fuhr er schließlich fort. »Ich bin in der Klinik geblieben, bis sie wieder ansprechbar war und auf Station gebracht werden konnte. Das … Das war der Schrecken meines Lebens. Das dürfen Sie mir glauben.«

Alex glaubte es gern, steckte doch auch ihm das Entsetzen tief in den Knochen. Seine Hand zitterte so, dass er kaum noch fähig war, sein Handy zu halten.

Alexander konnte sich später nicht einmal mehr erinnern, wie er sich von Herrn Berger verabschiedet hatte. Und er hätte auch nicht sagen können, wie lange er, das Mobiltelefon noch immer in seiner Hand, reglos dagesessen und vor sich hingebrütet hatte.

*

Am nächsten Morgen war Alexander bereits vor Tau und Tag auf den Beinen.

Weil die Nordens noch schliefen, schlich er sich leise und auf Zehenspitzen in die Küche, um sich eine Tasse Kaffee aufzubrühen, konnte aber kaum einen Schluck genießen.

Er beschloss, noch in der Dunkelheit des Novembermorgens aufzubrechen und zum Klinikum rechts der Isar zu fahren. Er musste Julia sehen und mit ihr sprechen, sonst würde er den ganzen Tag keine ruhige Minute haben.

Zu seiner Verblüffung erfuhr er in der Klinik, dass Julia in einem Einzelzimmer untergebracht war, sodass er sie auch zu dieser unüblichen morgendlichen Stunde problemlos aufsuchen konnte.

Als er vor ihrem Bett stand, ließ seine Angst ein wenig nach.

Julia lächelte ihm spontan zu und streckte sogar ihre Hand nach ihm aus.

Alex setzte sich zu ihr aufs Bett. »Verdammt, Julia, was machst du denn für Sachen?«, sagte er mit gespieltem Vorwurf. »Mir ist vor Schreck schier das Herz stehen geblieben, als ich von Herrn Berger erfahren habe, was mit dir passiert ist.«

Julia drückte lächelnd seine Hand. »Das tut mir wirklich leid, Alex«, sagte sie. »Zumal du doch jetzt alle Kraft für den Einstieg in dein Studium brauchst.« Für ein paar Minuten schien sie zu erschöpft, um weiterzusprechen. »Es war alles meine Schuld«, fügte sie dann hinzu. »Das Medikament, das Dr. Norden mir verschrieben hat … Ich hätte es laut Rezept und Beipackzettel über mehrere Tage nehmen sollen. Aber als ich mich besser gefühlt habe, habe ich es eigenmächtig abgesetzt. Schon am zweiten Tag. Da konnte es wohl seine Wirkung nicht richtig entfalten.«

»Natürlich nicht«, pflichtete Alexander seiner Cousine sofort bei.

Sie bedachte ihn mit einem halb bittenden, halb verschwörerischen Blick.

»Aber wir sagen Dr. Norden nicht, dass ich das Medikament nicht lange genug eingenommen habe, oder?«, bat sie Alex. »Die Nordens waren so nett zu mir. Ich möchte sie wirklich nicht verärgern.«

»Na gut«, meinte Alex, während er Julia mit kritischen, prüfenden Blicken musterte.

Ihre Augen wirkten trotz der Antibiotika-Gaben fiebrig, ihre Wangen waren unnatürlich gerötet.

»Hast du immer noch Temperatur?«, fragte Alex mit einem Blick auf die Fieberkurve an ihrem Bett.

»Ein bisschen«, spielte Julia ihre Beschwerden herunter. »Aber ich glaube, das Fieber ist über Nacht gesunken.«

Alexander war sich in diesem Punkt nicht so sicher, schwieg aber, um Julia keine Angst zu machen.

Er fand, dass das Breitspektrum-Antibiotikum längst eine durchschlagendere Wirkung zeigen müsste, sagte sich aber, dass er das als Medizinstudent im ersten Semester wohl nicht beurteilen konnte.

Als Alex Julia von Sina Manolo und ihrer großen Halloween-Party erzählte, zu der auch Julia eingeladen war, bekam Julia riesengroße Augen. Wie ein Kind, das am Geburtstag vor seinem Gabentisch steht.

»Und wann steigt diese Party?«, erkundigte sie sich sofort.

Alex konnte schon fast wieder lachen. Wenn Julia sich derart für Partys interessierte, musste sie wirklich bereits auf dem Wege der Besserung sein.

»In ungefähr zwei Wochen. Der genaue Termin steht noch nicht fest«, antwortete er. »Du wirst dich also mit deiner Genesung beeilen müssen, soll dir die Fete nicht durch die Lappen gehen. Und vor allem musst du dir verkneifen, deine Medikamente wieder allzu frühzeitig abzusetzen.«

»Kommt nie wieder vor. Versprochen«, versicherte Julia. »Aber diese Party darf ich auf keinen Fall versäumen.« Sie warf ihrem Cousin einen vor Begeisterung brennenden Blick zu. »Du hast doch gesagt, dass Sinas Vater eine Kette von Gourmetrestaurants betreibt«, redete sie weiter. »Und wenn die Party in der Multimillonärsvilla mit dem Champagnerpool stattfindet, sind bestimmt auch Sinas Eltern anwesend. Ich könnte also Sinas Vater bitten, dass er mir in einem seiner Restaurants eine Stelle als Kochlehrling verschafft. Das … Das wäre die absolute Wucht in Dosen.«

»Das ist in der Tat keine schlechte Idee«, erwiderte Alex. »Falls es dir mit dem Kochen auch nach deinem Jahr als Au-Pair immer noch so richtig ernst ist, würdest du in einem Da-Manolo-Restaurant bestimmt jede Menge lernen. Das Jahr bei den Bergers wäre so eine Art Bedenkzeit. Und für den Fall, dass du deinem Berufswunsch treu bleibst …«

Julia setzte sich vor Freude in ihrem Bett auf, wovon ihr prompt wieder schwindlig wurde. Aufseufzend sank sie zurück, zeigte Alexander aber trotzdem den hoch erhobenen Daumen.

Genau in diesem Moment ging die Tür des Krankenzimmers auf, und eine Ärztin mit einer Krankenschwester im Schlepptau betrat den Raum.

Sie bat Alexander, das Zimmer zu verlassen, und machte sich unverzüglich an Julias Tropf zu schaffen.

Alexander verabschiedete sich folgsam, zögerte seinen Weg zur Tür aber immer wieder hinaus.

Auf diese Weise bekam er mit, dass die Ärztin Julia ein Fiebermessgerät an die Stirn hielt und 39,2 murmelte. Die Zahl brachte in Alexanders Kopf sämtliche Alarmglocken zum Schrillen. 39,2 nach einer intravenösen Antibiotikagabe! Das konnte nicht sein! Das durfte nicht sein! Das konnte nur bedeuten, dass das Breitspektrum-Antibiotikum nicht wirkte! Und das hieß nichts anderes, als dass das Fieber immer weiter steigen würde, weil sein Erreger unerkannt blieb und in Julias Körper sein zerstörerisches Werk fortsetzen konnte!

Während er hinunter in den Eingangsbereich lief, begann das Gedankenkarussell in seinem Kopf, sich schneller und schneller zu drehen.

Ein Schreckensszenario jagte das andere.

Was, wenn die Übelkeit und der Schwindel kein Zufall gewesen waren, sondern mit Julias Erkrankung im Zusammenhang standen?

Hatte sie nicht auch über Bauchschmerzen geklagt?

Und hatte er nicht neulich gelesen, dass das Ebolavirus …

Wie aus dem Nichts fühlte Alexander plötzlich Übelkeit in sich aufsteigen. Auch dass er es heute absolut nicht geschafft hatte, ein Frühstück zu sich zu nehmen …

Was, wenn Julia sich das Ebolavirus eingefangen und ihn selbst bereits angesteckt hatte?

Sie hatte Kontakt mit den Nordens gehabt, mit den Bergers und ihren Kindern, sie hatte im Euromed nach München gesessen, hatte sich in der Galeria Kaufhof am Bahnhof eingekleidet und anschließend in der Cafeteria …

Er selbst war in der Universität gewesen, hatte Sina geküsst …

Alexander wollte schon ins Krankenhaus zurückzulaufen, als er sich energisch zur Ruhe zwang.

Durchdrehen war keine Option.

Diese Lektion konnte er als angehender Arzt gar nicht früh genug lernen.

Er musste einen klaren Kopf behalten, um nachdenken zu können. Kurz entschlossen setzte Alex sich auf eine der Bänke, die in den Gartenanlagen vor der Klinik aufgestellt waren. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte er sich wieder unter Kontrolle.

Wie, in aller Welt, war er ausgerechnet auf das Ebolavirus gekommen?

Julia war bis vor Kurzem noch zu Hause bei ihren Eltern in Spanien gewesen. Und dann nach Deutschland gefahren. In keinem der beiden Länder war auch nur ein einziger Ebolafall bekannt.

Es war eine verrückte Idee gewesen, die ihm auf Grund seiner Angst in den Kopf geschossen war, weiter nichts.

*

Das Krankenzimmer in der Behnisch-Klinik war hell und freundlich.

Julia konnte sich nicht erinnern, wann sie zum letzten Mal derart verwöhnt worden war.

Unwillkürlich huschte Julias Blick zur Tür des Krankenzimmers, die sich soeben leise öffnete.

Es waren jedoch nicht die Bergers und auch nicht Dési und Janni, die hereinkamen, sondern Dr. Daniel Norden, der mit einem freundlichen, aufmunternden Lächeln an ihr Bett trat.

Noch ehe er den Mund öffnen konnte, um nach ihrem Befinden zu fragen, hatte Julia bereits seine Hand ergriffen. »Tausend Dank, dass Sie sich so nett um mich gekümmert haben. Ich kann es noch immer nicht fassen, dass Sie mich hierher in Ihre Behnisch-Klinik haben bringen lassen.«

Dr. Norden zog sich einen Stuhl herbei und setzte sich neben Julia. »Aber dafür brauchen Sie sich doch nicht zu bedanken«, spielte er sein Entgegenkommen herunter. »Das ist eine Selbstverständlichkeit. Als Alexanders Cousine sind Sie schließlich Familie.«

»Hat Alex …«, begann Julia, verstummte aber, als Dr. Norden nickte.

»Alex ist, nachdem er Sie im Klinikum rechts der Isar besucht hat, sofort nach Hause gefahren und hat mir alles haarklein berichtet. Daraufhin habe ich veranlasst, dass Sie in die Behnisch-Klinik verlegt werden.«

Julia lächelte. »Und wie geht es jetzt weiter mit meiner Behandlung?«, fragte sie schließlich. »Hat die Blutuntersuchung schon ein Ergebnis erbracht oder …«

»Genau darüber wollte ich eigentlich mit Ihnen sprechen. Deshalb bin ich gekommen«, erklärte Daniel Norden. Er räusperte sich. »Ich habe veranlasst, das Breitspektrum-Antibiotikum, das Sie im Klinikum rechts der Isar bekommen haben, abzusetzen. Sie werden nun mit einem Antibiotikum behandelt, das erregerspezifisch wirkt. Mit einem Antibiotikum also, das für den Erreger, den wir in ihrem Blut gefunden haben, sozusagen maßgeschneidert ist.«

»Verstehe«, meinte Julia. »Dann werde ich bestimmt bald wieder auf den Beinen sein.«

»Das hoffen wir alle«, stimmte Dr. Norden zu.

»Und die Diagnose Lungenentzündung, die man im Klinikum rechts der Isar gestellt hat?«, wollte Julia wissen.

»Die Diagnose ist, so wie es aussieht, vollkommen richtig«, erklärte Daniel Norden. »Sie leiden in der Tat an einer Lungenentzündung, die durch eine verschleppte Erkältung ausgelöst wurde. Genau wie man Ihnen schon gesagt hat. Etwas anderes konnte ich jedenfalls nicht herausfinden.«

Unwillkürlich dachte Julia an die Party in der Villa der Multimillionärsfamilie. Wenn die Genesung so rasch vonstatten ging, wie es sich aus Dr. Nordens Mund angehört hatte, würde sie bestimmt daran teilnehmen können.

Alles würde gut werden, dessen war sie auf einmal ganz sicher.

Julia erwachte erst wieder, als es schon dämmerte und Alex bei ihr im Zimmer war.

Stirnrunzelnd stand er vor dem noch unberührten Mittagessen, das trotz des Wärme speichernden Alugeschirrs längst kalt geworden war.

Alex betrachtete seine Cousine aufmerksam.

Eine noch ziemlich junge thailändische Krankenschwester trat ein, stellte Julias Abendessen auf den Besuchertisch und nahm das immer noch unberührte Mittagessen kopfschüttelnd wieder mit sich.

Als sie verschwunden war, weckte Alex Julia mit einer sanften Berührung an der Schulter.

Sie lächelte ihm zu, aber ihr Blick war trüber und verschleierter als zuvor. Ihre Wangen glühten, und ihre Lippen waren rissig.

»Hallo, Alex. Wie lange habe ich denn geschlafen?«, erkundigte sie sich blinzelnd. »Tut mir leid, dass ich dich langweile. Aber ich bin heute ziemlich müde. Was wolltest du mir eigentlich erzählen? Wo waren wir stehengeblieben?«

»Wir reden später weiter. Momentan ist Abendessen angesagt«, antwortete Alex und präsentierte Julia den Teller, den die Krankenschwester gebracht hatte.

Julia gab sich Alex zuliebe Mühe, etwas zu essen, brachte es aber nur auf ein paar Bissen, ehe sie die Abendmahlzeit angewidert von sich schob.

Natürlich war es ein allbekannter Gemeinplatz, dass Fieber in den frühen Abendstunden schlimmer wurde. Trotzdem fragte sich Alex plötzlich, ob Dr. Norden wirklich recht hatte mit seiner Diagnose. Schließlich konnte selbst der beste Arzt sich irren. Natürlich nur in seltenen Fällen, aber …

Noch während Alex diese Gedanken im Kopf herumspukten, schämte er sich zutiefst, schalt sich arrogant und undankbar.

Schließlich setzte er sich mit einem Seufzer an Julias Bett und wartete auf die Visite.

Als Dr. Norden endlich kam, machte er bei Julias Anblick zwar ebenfalls ein leicht besorgtes Gesicht, gab sich aber alle Mühe, Alex zu beruhigen.

»Ich fahre jetzt nach Hause. Wenn du willst, kann ich dich in meinem Auto mitnehmen«, schlug er Alex vor.

Alex überlegte einen Moment. »Nein, danke«, erwiderte er dann. »Ich bin mit meinem neuen Rad hier, das ich morgen wieder brauche, um zur Uni zu fahren. Es wäre also nicht sehr geschickt, es hier auf dem Parkplatz der Behnisch-Klinik zu lassen.«

Dr. Norden war sich durchaus klar, dass Alex im Grunde nur Zuflucht zu einer Ausrede genommen hatte, ließ es aber dabei bewenden.

»Gute Nacht dann, wie auch immer«, gab Daniel zurück und verließ Julias Krankenzimmer.

Julia richtete sich ein wenig in ihrem Bett auf.

»Du solltest wirklich nach Hause gehen, Alex«, sagte sie. »Es geht mir schon viel besser. Also genügt es vollauf, wenn du morgen wiederkommst.«

Wie um ihren Worte Nachdruck zu verleihen, legte Julia ihre Hand auf Alexanders Arm.

Ihre Hand war so heiß, dass Alex bei der Berührung erschrocken zusammenzuckte.

»Okay, mach dir keinen Kopf. Ich gehe in ungefähr einer Stunde«, log er. »Oder, besser gesagt, ich fahre mit meinem neuen Fahrrad. Versuch jetzt erst einmal, wieder zu schlafen.«

Folgsam schloss Julia die Augen und war im Nu eingeschlafen.

Alex durchstreifte unruhig das Krankenzimmer, inspizierte Julias Schrank, sah aus dem Fenster, betrachtete die Bilder, die an der Wand hingen. Schließlich kehrte er auf seinen Platz neben Julias Bett zurück und dimmte das Licht.

Nach einer Weile übermannte ihn der Schlaf, doch viel Ruhe war ihm nicht vergönnt.

Er erwachte davon, dass Julia sich wild in ihrem Bett hin und her wälzte. Ihre Stirn war schweißnass, ihre Haare waren strähnig, und auch auf ihren Wangen und ihrer Oberlippe glänzten Schweißperlen.

»Julia, was ist los?«, fragte Alex besorgt. »Ist dir heiß?«

Julia nickte, dabei sah sie ihn mit großen Augen an, als blicke sie durch ihn hindurch.

»Ich bin so glücklich, dass … dass du gekommen bist, Ronaldo«, flüsterte sie plötzlich. »Es ist so schön, dass du da bist. Es ist so schön, mit dir an den Strand zu gehen. Wir gehen doch an den Strand, oder? Weißt du noch, damals, als wir im Sand gelegen und den Wellen gelauscht haben? Damals, als wir uns …«

Sie unterbrach sich von einer Sekunde auf die andere und schaute unverwandt in eine Ecke des Krankenzimmers, in der für Alex allerdings nicht das Geringste zu entdecken war.

Plötzlich verengten sich ihre Augen zu schmalen Schlitzen, und sie machte abwehrende Bewegungen mit ihren Händen.

»Warum hast du sie mitgebracht?«, empörte Julia sich. »Warum? Ist das immer noch nicht zu Ende mit Juana?«

Alex hielt Julias Hände fest. »Da ist niemand«, versicherte er ihr.

Julia entzog ihm ihre Hände mit einem Ruck. »Doch. Du lügst. Da ist Juana«, ereiferte sie sich. »Ich sehe sie doch. Glaubst du etwa, dass ich Juana nicht erkenne? Du hast Juana mitgebracht. Das ist eine bodenlose Gemeinheit. Du bist nur gekommen, um mich zu demütigen, du …«

Alex schluckte trocken.

Julia redete mit Ronaldo. Und sah in einer Ecke des Krankenzimmers Juana, die Frau, für die Ronaldo sie verlassen hatte.

Dafür gab es nur eine Erklärung: Julia redete im Fieberwahn.

Wenn das Fieber aber in den vergangenen Stunden derart gestiegen war …

Wie von selbst griff Alexanders Hand zu der Klingel über Julias Krankenbett. Es dauerte nur ein paar Minuten, bis die Nachtschwester auftauchte, aber für Alex dehnte sich jede Sekunde zu einer Ewigkeit.

»Meine Cousine … Sie fantasiert. Sie muss sehr hohes Fieber haben«, stammelte Alexander.

Die Krankenschwester schenkte ihm einen Blick, der ihn beruhigen sollte, was aber keineswegs der Fall war. Alex wurde im Gegenteil nervöser und nervöser, zumal die Krankenschwester, nachdem sie Julia kurz gemustert und ihren Puls gefühlt hatte, sofort eine Ärztin rief.

»Irgendetwas stimmt mit meiner Cousine nicht«, war das Erste, was Alex der noch ziemlich jungen Ärztin entgegenschleuderte, als sie erschien. Dabei würdigte er sie kaum eines Blickes.

»Das Antibiotikum, das Dr. Norden Julia gegeben hat, wirkt nicht«, redete er viel zu schnell und viel zu laut weiter. »Ich fürchte, das bedeutet, dass zwar eine Pneumonie vorliegt, aber möglicherweise eine andere Grunderkrankung die Ursache ist für …

»Sind Sie Mediziner?«, unterbrach die junge Ärztin Alexanders Redeschwall.

»Ich … Ja, das heißt nein. Also noch nicht. Ich bin Medizinstudent«, brachte er ein wenig ungeschickt hervor.

»Erstes, zweites oder drittes Semester?«, kam prompt die nächste Frage. Der herablassende Unterton war nicht zu überhören.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Alex wäre eingeknickt, aber er nahm sich zusammen.

Selbstbewusster, als ihm zumute war, warf er den Kopf zurück.

»Spielt das eine Rolle?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. »Hier geht es meiner Meinung nach weniger um medizinisches Wissen als um eine logische Schlussfolgerung. Wenn ein spezifisches Antibiotikum nicht anschlägt, lässt sich daraus ableiten, dass …«

»Dass hier Dr. Norden die Diagnosen stellt«, fuhr die junge Ärztin Alexander gnadenlos in die Parade.

Alex schluckte, war aber immer noch nicht bereit, klein beizugeben.

»Dr. Norden ist mein Onkel«, hielt er dagegen. »Er wird es mir mit Sicherheit nicht verübeln, wenn ich mir Gedanken mache …«

Die junge Ärztin hob abwehrend die Hände.

»Dr. Norden hat mich, ehe er die Behnisch-Klinik verlassen hat, angewiesen, die Antibiotikadosis ihrer Cousine zu erhöhen, sollte das Fieber in der Nacht steigen«, erklärte die junge Ärztin mit glasklarer, fast ein wenig schriller Stimme. »Da dieser Fall nun eingetreten ist, werde ich mich genau an die Anweisungen halten, die Dr. Norden mir gegeben hat.«

Sie hielt Julia ein Fiebermessgerät an die Stirn.

Dass es 41,7 Grad zeigte, beunruhigte sie, aber sie ließ sich nichts anmerken, um sich nicht von Neuem mit Alexanders Einwänden auseinandersetzen zu müssen. Gewissenhaft untersuchte sie noch Herz und Kreislauf der Patientin, ehe sie sich wieder Alexander zuwandte, der inzwischen so dicht hinter ihr stand, dass sie seinen Atem spüren konnte.

»Frau Sanchez – Ihre Cousine bekommt zusätzlich noch ein Mittel, das die Herztätigkeit und den Kreislauf unterstützt«, erläuterte sie, während sie demonstrativ einen Schritt zur Seite trat. »Damit wäre alles im Sinne von Dr. Norden geregelt.« Sie richtete ihren Blick direkt auf Alexanders Gesicht und hielt seinen Blick fest. »Falls Sie sich morgen bei Ihrem Onkel über mich beschweren wollen, können Sie sich gern meinen Namen notieren.«

*

Der Anatomiekursus bei Professor Herrenbach begann um neun Uhr. Wie immer war der Professor pünktlich auf die Minute.

Alexander saß an seinem Platz und versuchte, sich zu konzentrieren und mit wachen Sinnen aufzunehmen, was Professor Herrenbach erklärte. Allerdings war das nach der fast vollständig durchwachten Nacht gar nicht so leicht.

Und Julia ging ihm ebenfalls nicht aus dem Kopf.

Als Alexander die Behnisch-Klinik verließ, hatte Julia tief und fest geschlafen.

Fast ein wenig zu tief und zu fest für seinen Geschmack, aber er hatte seine sofort wieder aufflammenden Bedenken und Fragen zurückgedrängt und der Ärztin keinen weiteren Grund gegeben, ihn zurechtzuweisen.

»… Ja, Sie habe ich gemeint.« Professor Herrenbachs Stimme traf Alex wie ein Peitschenhieb und riss ihn mit beinahe elementarer Gewalt ins Hier und Jetzt zurück. »Oder wollen Sie mir unterstellen, dass ich schiele?«

Er hatte nicht die geringste Ahnung, was der Professor zuvor erklärt hatte. Was, um Himmels willen, sollte er nur …

»Die Zellen sind von einem Sarkolemm umgeben.« Die Stimme Bernd Winters, der neuerdings meist neben ihm saß, klang sicher und fest. Und verschaffte Alex ein Gefühl der Erleichterung, das ihm beinahe einen lautstarken Stoßseufzer entlockt hätte. Professor Herrenbach hatte Bernd gemeint, nicht ihn. Er war noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.

»Ausgezeichnet, Winter«, lobte der Professor. »Sollte sich im Laufe Ihres Studiums herausstellen, dass Ihr Intelligenzquotient auch nur annähernd mit den Pferdestärken Ihres Motorrads konkurrieren kann, steht Ihrer medizinischen Karriere nichts mehr im Wege.«

Verhaltenes Gelächter wurde laut.

Professor Herrenbach ließ die Studenten einen Moment gewähren, dann mahnte er zur Ruhe.

Alexander brauchte unbedingt eine Tasse Kaffee oder noch besser gleich einen ganzen Becher: riesengroß und dampfend.

Als Alexanders Blick das Anatomielehrbuch auf seinem Pult streifte, verschwammen die Buchstaben, und er wurde gewahr, dass ihm für einen Moment tatsächlich fast die Augen zugefallen wären.

Das konnte ja heiter werden, zumal er nach den Vorlesungen sofort wieder zu Julia fahren und sich womöglich eine weitere Nacht um die Ohren schlagen musste …

»Diesmal habe ich Ihnen – ja, genau Ihnen – eine Frage gestellt, Norden. Ist Ihnen das noch gar nicht aufgefallen?«, vernahm Alex plötzlich Professor Herrenbachs Stimme so laut, als stünde der Professor unmittelbar neben ihm.

Alex zuckte zusammen und war einen Moment lang völlig verwirrt.

»Entschuldigung, tut mir leid. Ich habe Ihre Frage …«

»Verschlafen«, ergänzte Professor Herrenbach Alexanders Satz. Und fügte mit einem sarkastischen Lächeln hinzu: »Ich bezweifle im Übrigen, dass Sie nur diese eine Frage verschlafen haben. Wahrscheinlich wissen Sie auch nicht, worüber wir zuvor gesprochen haben.«

»Es … Es ging um den Aufbau der Skelettmuskelzellen und Skelettmuskelfasern«, stotterte Alex mit hochrotem Kopf. »Wenn Sie Ihre Frage bitte wiederholen würden, könnte ich …«

»Nein, Norden«, fuhr Professor Herrenbach Alexander ein zweites Mal in die Parade. »Ich werde meine Frage nicht für Sie wiederholen. Im Übrigen, wenn Sie lieber im Unterricht schlafen als nachts, soll das nicht mein Problem sein. Allerdings muss ich Sie im Interesse Ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen bitten, nicht zu schnarchen. In diesem Fall müsste ich Sie nämlich auffordern, den Hörsaal zu verlassen.«

Gelächter wurde laut.

Alex hätte am liebsten das Weite gesucht, aber diesen Gefallen wollte er weder den Lachern noch Professor Herrenbach tun.

Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, blieb er ruhig sitzen.

Irgendwann würde sich der Sturm auch wieder legen.

Alex war nun hellwach und nahm jedes Wort auf, das aus Professor Herrenbachs Mund kam. Den versäumten Nachtschlaf spürte er nicht mehr, weil der Ärger und die Blamage, die ihm zuteil geworden waren, in ihm brodelten und kochten.

»Reg dich wieder ab, Alex«, brummte Bernd, als der Professor ihnen für kurze Zeit den Rücken zuwandte, weil er etwas an die Tafel schrieb. »Wer weiß, was für eine Laus dem Herrenbach über die Leber gelaufen ist. Vielleicht haben ihm seine Frau und seine Geliebte am gleichen Tag den Laufpass gegeben. Verstehen könnte ich jede von ihnen.«

»Quatsch. Der hat weder Frau noch Geliebte«, kam es im Flüsterton von Sina Manolo. »Keine Frau der Welt ist dumm genug, um sich mit einem Typen wie Herrenbach einzulassen. Das dürft ihr mir unbesehen glauben.«

Alexanders Mundwinkel zogen sich nach oben.

Der Vormittag war gerettet.

Wie gut, dass er an der Uni bereits Freunde gefunden hatte!

Freunde, die auch nach der Vorlesung noch ein wenig mit ihm über Professor Herrenbach lästerten. Und die dann gemeinsam mit ihm in die Mensa gingen und sich an der Theke ihr Menü zusammenstellten.

Trotz seiner misslichen Erfahrung im Anatomiekursus verspürte Alexander mit einem Mal wieder richtigen Hunger.

Entspannt wie lange nicht, suchte Alex sich mit Sina und Bernd einen Tisch. Kaum hatten sie Platz genommen, plauderten sie auch schon munter drauflos.

Zu Alexanders Überraschung dauerte es nicht lange, bis Sina einem gut aussehenden Studenten winkte. Er war genauso dunkelhaarig und dunkeläugig wie sie selbst, hochgewachsen und schlank, dabei so muskulös und durchtrainiert, als verbrächte er mindestens genauso viel Zeit im Fitnessstudio wie an der Universität.

In den Medizinkursen hatte Alex ihn nirgends gesehen.

Ob er Sinas Freund war?

Verblüfft stellte Alexander fest, dass ihm diese Vorstellung Unbehagen bereitete, wenn er sich auch nicht so recht erklären konnte, warum.

Dieser eine und bisher einzige Kuss in der U-Bahn-Station gab ihm schließlich kein Recht …

»Hallo, Tonio«, rief Sina dem jungen Mann zu und strahlte übers ganze Gesicht.

Im selben Moment drängte sich hinter Tonio eine junge Studentin vor und hängte sich an Tonios Arm, den Blick schwärmerisch auf sein Gesicht geheftet.

Sie zog Tonio weiter, und Sina lachte. Es war ein Lachen, das fröhlich und liebevoll klang, in das sich aber auch ein Hauch von Bitterkeit mischte.

»Mein Bruder Tonio, wie er leibt und lebt«, sagte sie. »Immer von schönen Frauen umgeben, immer umschwärmt, immer im Mittelpunkt. Er genießt es, Hahn im Korb zu sein. Und dabei wünscht Papa sich nichts sehnlicher für ihn, als dass er endlich ernsthaft wird, sein Studium abschließt, eine Frau heiratet, die in unsere Familie passt, ein halbes Dutzend Kinder mit ihr zeugt und sich in die Führung unserer Restaurantkette einarbeitet.«

»Er hat eben noch nicht die Richtige gefunden«, vermutete Bernd achselzuckend.

»Sehe ich genauso«, pflichtete Alex ihm bei.

Sina verdrehte die Augen. »Er wird nie die Richtige finden, solange er sich immer nur von irgendwelchen Schönheiten angeln lässt, anstatt selbst einmal die Angel auszuwerfen«, unkte sie. »Und wie soll er unsere Restaurantkette weiterführen, wenn er sich nicht einmal entschließen kann, endlich sein BWL-Studium zu beenden? Er ist mittlerweile schon fünfundzwanzig – und studiert immer noch.«

»Wir werden mit fünfundzwanzig auch immer noch studieren«, wandte Alexander ein. »Zumindest werden wir noch keine fertig ausgebildeten Ärzte sein.«

»Das kann man nicht vergleichen«, wehrte sich Sina. »Ein BWL-Studium geht viel schneller. Und Tonio ist ziemlich intelligent. Würde er nur einen winzigen Tick ernsthafter werden …«

Weiter kam Sina nicht, denn in diesem Moment klingelte Alexanders Handy.

Alexander zuckte zusammen, weil ihm plötzlich klar wurde, dass es sich um eine Hiobsbotschaft handelte. Er hätte nicht sagen können, weshalb er sich so sicher war, aber für ihn gab es dennoch nicht den geringsten Zweifel.

Erst recht nicht, als er auf das Display schaute und sah, dass der Anruf von Dr. Norden kam.

Mit zusammengebissenen Zähnen drückte Alex die Annehmen-Taste.

Bernd und Sina hielten unwillkürlich den Atem an. Und tauschten besorgte Blicke, als sie beobachteten, wie aus Alexanders ohnehin schon blassem Gesicht auch noch der Rest Farbe wich.

»Ich komme sofort«, war alles, was Sina und Bernd von ihm vernahmen, ehe er das Gespräch beendete.

Er erhob sich, noch während er das Handy zurück in seine Jackentasche steckte. »Ich muss weg«, murmelte er und rannte los, doch Sina hielt ihn am Arm zurück.

»Es ist wegen Julia. Ist das so schwer zu erraten?«, gab Alex hastig zurück, ohne sich umzuwenden.

Er lief weiter, doch Sina war nicht bereit, ihren Griff zu lockern.

»Keines der Medikamente hat gewirkt«, gab er schließlich Auskunft. »Julia ist ins Wachkoma gefallen. Es … Es besteht kaum noch Hoffnung. Mein Onkel hat gemeint, ich … ich müsste mich darauf einstellen, dass wir sie verlieren.«

»Aber … Aber sie ist doch noch so jung«, erwiderte Sina hilflos.

Alex wandte sich erneut abrupt ab.

Sina sollte nicht sehen, dass er mit den Tränen kämpfte.

Während Alex sich einen Weg durch das Gedränge der Mensa bahnte, blieb Sina ihm dicht auf den Fersen.

»Aber was … Was fehlt ihr denn eigentlich?«, redete sie weiter auf Alexander ein. »Sie kann doch nicht einfach so ins Wachkoma fallen. Dafür muss es doch einen Grund geben.«

»Ich habe dir von Julias Lungenentzündung erzählt«, erklärte er im Weitergehen, wobei er seine Hand auf Sinas Schulter legte und sie neben sich herschob. »Gegen die Lungenentzündung hat sie ein Mittel bekommen. Aber es wirkt nicht. Ich … Deshalb vermute ich, dass da noch etwas ist. Noch eine andere Krankheit, von der niemand weiß. Eine Krankheit, die niemand entdeckt. Und wenn man sie nicht findet …«

»Du wirst sie finden«, kam es von Sina, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt.

»Ich?« Alex schüttelte heftig den Kopf

»Du schaffst es«, sagte Sina. »Wenn du es nicht schaffst, wer dann? Du wirst ein wunderbarer Arzt werden, Alex. Das spüre ich. Ganz tief in mir spüre ich es. Ich glaube an dich, Alex.«

*

In derart niedergeschlagener Stimmung hatte Alex das Haus der Nordens noch nie betreten.

Er hatte den ganzen Nachmittag bei Julia in der Behnisch-Klinik verbracht, doch der Zustand seiner Cousine war unverändert geblieben, ihre Lage hatte sich als aussichtslos erwiesen.

Als sich Julias Zustand in der Folge sogar noch weiter verschlechterte, hatte Dr. Norden sich endlich schweren Herzens aufgerafft, Julias Eltern und Julias ältere Schwester zu verständigen.

Sie waren zuerst stumm vor Verzweiflung gewesen und hatten dann versprochen, den nächstmöglichen Flug zu nehmen und nach München zu kommen.

Nun saßen Daniel und Fee am großen Tisch im Esszimmer, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.

Auch Janni und Dési verhielten sich sehr schweigsam, bis Janni plötzlich eine Idee hatte.

»Wir könnten im Internet suchen«, schlug er seinen Eltern und auch Alex vor. »Wir benutzen fürs Erste einfach eine Suchmaschine, in die wir Julias Symptome eingeben. Und wenn das nichts bringt, scrollen wir uns durch sämtliche Medizinseiten, die es gibt. Wenn wir dabei so systematisch wie möglich vorgehen, haben wir zumindest eine Chance, fündig zu werden. Es hat Sinn, auch wenn die Chance noch so klein ist. Alles ist besser, als tatenlos herumzusitzen und einfach nur Trübsal zu blasen.«

Daniel Norden und Fee tauschten wenig hoffnungsvolle Blicke.

Auch Alex konnte sich nicht vorstellen, dass Jannis Vorschlag irgendetwas an Julias misslicher Lage ändern würde, aber er wollte Janni nicht vor den Kopf stoßen. Janni wollte helfen. Er wollte etwas tun, anstatt nur abzuwarten.

Gemeinsam lasen sie unzählige Medizinseiten, ohne jedoch ihrem Ziel auch nur einen winzigen Schritt näher zu kommen.

Alex stützte sein Kinn in seine Hände und starrte gedankenverloren vor sich hin. Er wischte die trüben Gedanken beiseite, denn plötzlich kam ihm eine Idee.

An jenem Grillabend bei den Nordens war Julia bereits erkältet gewesen und hatte zu Daniel gesagt …

»Julia hat damals, an unserem ersten gemeinsamen Abend, erzählt, dass sie schon immer sehr anfällig für Erkältungen war. Erinnerst du dich?«, wandte sich Alex an seinen Onkel. »Und ich selbst habe Julia ebenfalls als eher kränkliches Kind im Gedächtnis.«

Daniel Norden nickte zerstreut.

»Da könnte der Schlüssel zur Lösung liegen«, fuhr Alexander Norden fort. »In unserer Familie war öfter von einem Fall von HLH die Rede. Wenn nun Julias Lungenentzündung gar nicht die Folge einer verschleppten Erkältung, sondern ein Symptom von HLH wäre? Eine von der Erkältung ausgelöste Überreaktion ihre Immunsystems, wie sie bei HLH …«

»Und was ist, bitte, HLH?«, erkundigte sich Janni stirnrunzelnd.

»HLH ist die Abkürzung für Hämophagozytische Lymphohistiozytose«, gab Daniel bereitwillig Auskunft.

Janni runzelte die Stirn. »Ist das dasselbe wie ein Zytokinsturm?«, wollte er wissen.

Daniel war perplex. »Was du doch alles weißt«, stellte er mit einer gehörigen Portion Vaterstolz fest.

»Na ja, so genau weiß ich es nun auch wieder nicht«, räumte Janni ein. »Schließlich habe ich nicht vor, Medizin zu studieren.«

»Ein Zytokinsturm ist eine besonders starke Form eines Zytokin-Freisetzungssyndroms«, erklärte Daniel Norden bereitwillig. »Dabei setzt das Immunsystem eine Menge entzündungsrelevanter Zytokine frei, die wiederum Leukozyten zur Bildung weiterer Zytokine veranlassen.«

Alex hatte genau zugehört.

»Das ist genau das, was ich gemeint habe. Das ist nicht nur der Schlüssel zur Lösung. Das ist die Lösung«, rief er. »Wenn HLH einmal in einer Familie auftritt, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass sie öfter in Erscheinung tritt, weil die Krankheit meines Wissens erblich ist. Also ist es gut möglich, dass Julia, ohne dass wir es bisher wussten, Trägerin des Gens ist.«

Daniel Norden nickte beiläufig, wirkte aber dennoch alles andere als überzeugt. »Die Krankheit ist erblich. In diesem Punkt kann ich dir nicht widersprechen, Alex«, antwortete er. »Aber HLH tritt in der Regel bereits im Säuglingsalter in Erscheinung. Und da Julia schon achtzehn Jahre alt ist …«

Alexander seufzte.

War seine Idee nur eine neue Sackgasse gewesen, weiter nichts?

Oder …

»Wenn du sagst, dass es in der Regel so ist, Daniel, gibt es dann auch eine Ausnahme?«

»Es gibt von jeder Regel eine Ausnahme«, räumte Dr. Norden ein. »Allerdings ist mir diese Ausnahme in meiner medizinischen Praxis noch nicht untergekommen. Was bedeutet, dass ich sie schlicht und einfach nicht kenne.«

»Verstehe«, sagte Alex. »Aber diese Ausnahme ist trotzdem eine Spur. Also möchte ich diese Spur gern weiterverfolgen. Wenn sie sich im Nichts verliert, wird davon schließlich nichts schlimmer, als es ohnehin schon ist.«

Dr. Norden zuckte nur die Schultern, während Alex und Janni die Köpfe zusammensteckten und sich wieder über den Laptop beugten.

Es dauerte eine Weile, bis sie fündig wurden.

»Das ist es«, rief Alex plötzlich, griff nach dem Laptop und eilte zu Dr. Norden, der sich inzwischen mit einer medizinischen Fachzeitschrift auf das Wohnzimmersofa zurückgezogen hatte.

Als Alex sich zu ihm setzte, legte er bereitwillig seine Lektüre beiseite.

»Und?«, fragte er mit einem interessierten Blick auf den Laptop.

»Da«, sagte Alex und führte den Mauszeiger über die betreffende Internetseite. »Da ist es. Es gibt in der Tat eine sekundäre Form von HLH. Und sie betrifft alle Altersgruppen. Dass Julia von dieser sekundären Form betroffen ist … Sie hatte nicht nur Erkältungssymptome. Sie hat auch über Übelkeit, Schwindel und Bauchschmerzen geklagt. Und gerade diese Beschwerden sind für die sekundäre Form ebenfalls von Bedeutung. Wenn ich diesen Text richtig verstanden habe …«

Dr. Norden blickte eine Weile angestrengt mit zusammengekniffenen Augen auf den Bildschirm des Laptops, dann nickte er zustimmend.

»Du hast alles richtig verstanden, Alex«, sagte er. »Ich werde jetzt sofort in der Behnisch-Klinik anrufen und die entsprechenden Untersuchungen für Julia veranlassen. Wenn wir die Ergebnisse haben und deine Diagnose hat sich als richtig erwiesen, dann hast du deiner Cousine das Leben gerettet, Alex. Einen schöneren Anfang für ein Medizinstudium, einen schöneren Anfang für den Einstieg in den Beruf des Arztes kann es gar nicht geben.«

Alex schluckte trocken.

Auf Dr. Nordens Anruf in der Behnisch-Klinik folgte banges Warten.

Die ganze Familie Norden, auch Dési und Janni, waren um das Telefon versammelt und harrten dem Moment entgegen, in dem es endlich klingeln würde.

Schließlich war es so weit. Das Klingeln des Telefons ertönte und riss die Nordens aus ihrer brütenden Spannung.

Dr. Nordens Züge hellten sich in Sekundenschnelle auf, was nur heißen konnte, dass endlich alles in trockenen Tüchern war.

»Deine Diagnose hat sich bestätigt, Alex«, erklärte Dr. Norden nach Beendigung des Telefongesprächs beinahe feierlich. »Julia kann geholfen werden. Wenn du möchtest, fahren wir jetzt gleich in die Behnisch-Klinik, dann kannst du ihre Genesung mit eigenen Augen miterleben.«

Alex wagte kaum, das Angebot seines Onkels anzunehmen, aber als Dr. Norden, ohne auf seine Antwort zu warten, aufstand, zur Garderobe eilte und Mantel und Autoschlüssel holte, war er sofort bei ihm.

*

Dass Julia über den Berg war und wieder gesund werden würde, empfand Alex als überwältigendes Glück.

Seine Eltern und Linda freuten sich mit ihm, und auch die Bergers ließen es sich nicht nehmen, Julia zu ihrer Genesung zu beglückwünschen und Alex ihre Anerkennung auszudrücken für den Beitrag, den er dazu geleistet hatte.

Alex war erleichtert, sich nun endlich voll auf sein Studium konzentrieren zu können.

Er würde so bald wie möglich Professor Herrenbachs Anatomielehrbuch durcharbeiten, um die Negativpunkte wieder wettzumachen, die sich auf Grund der unglücklichen Umstände angehäuft hatten. Außerdem gab es auch in den anderen Fächern einiges nachzuholen.

Und dann waren da noch die Fahrten mit dem Rettungswagen, die Bernd ihm versprochen hatte und mit denen er seine Eignung zum Rettungsassistenten und später vielleicht sogar zum Rettungssanitäter unter Beweis stellen wollte.

An diesen Fahrten war Alex besonders viel gelegen.

Darüber hinaus musste endlich auch die Wohnungssuche energisch vorangetrieben werden.

Und – last but not least – da war noch Sina Manolos Party.

Sie war zwar während der permanenten Verschlechterung von Julias Zustand auf unbestimmte Zeit verschoben worden, doch nun, so hatte Sina Alex versichert, lief die Planung bereits wieder auf Hochtouren.

Nur das Motto hatte sich aufgrund des Aufschubs verändert: An die Stelle von Halloween sollte nach Sinas neuester Idee ein Winterthema treten. Schließlich konnte es auf Grund der fortgeschrittenen Jahreszeit gut sein, dass zumindest ein Teil der Party im verschneiten Garten der Manolo-Villa stattfand.

Denn natürlich würde die Party erst steigen, wenn Julia wirklich mitfeiern konnte.

Es war nach einem der nun seltener gewordenen Besuche bei Julia in der Behnisch-Klinik, als Dr. Norden Alex beiseite nahm.

»Ich muss kurz mit dir sprechen, Alex«, sagte er. »Wir können uns in meinem Büro unterhalten. Aber wir können auch zusammen die Cafeteria aufsuchen und uns einen Imbiss gönnen.«

»Ist irgendetwas mit Julia?«, fragte Alex, als er das Gefühl hatte, das Schweigen nicht länger ertragen zu können.

Daniel Norden schüttelte den Kopf. »Nicht direkt«, erwiderte er. »Du weißt, dass sie eine Stammzellenspende braucht. Wir haben darüber gesprochen.«

Alex nickte.

Daniel hatte ihm erklärt, dass eine dauerhafte Heilung, ein dauerhafter Schutz vor weiteren Überreaktionen des Immunsystems nur durch eine Stammzellenspende erreicht werden konnte.

Aus diesem Grund hatten sich alle engeren Familienmitglieder – darunter natürlich auch Alex – einem Bluttest unterzogen.

Linda und Julias Mutter waren nach der Auswertung der Tests als ungeeignet für eine Spende ausgeschieden. Alex und Julias Vater waren als geeignet eingestuft worden.

»Als Spender wurde Julias Vater ausgesucht«, sagte Alex. »Hat sich daran etwas geändert?«

»Allerdings«, seufzte Daniel Norden. »Wie du weißt, wird bei einem potenziellen Spender ein gründlicher Checkup durchgeführt, der ausschließen soll, dass eine bisher noch unerkannte Grunderkrankung vorliegt.«

»Und im Fall von Julias Vater …«

»Wurde eine Erkrankung entdeckt, die sofort behandelt werden muss. Er scheidet auf Grund dieser … dieser Erkrankung als Spender aus. Eine Stammzellenentnahme wäre unter diesen Umständen zu belastend für ihn.«

Alex zog die Augenbrauen hoch. »Das heißt, dass Julia auf meine Stammzellen angewiesen ist«, schlussfolgerte er.

»Ja, genau«, pflichtete Dr. Norden ihm bei.

Alex zuckte die Schultern. »Dann muss es eben so sein«, sagte er nüchtern. »Schließlich ist die Entnahme von Stammzellen aus dem Beckenkamm keine große Sache. Die Narkose werde ich schon verkraften. Und ob ich nun noch eine oder zwei Wochen von meinem Studium versäume, wird, schätze ich, keinen allzu großen Unterschied machen. Dann gibt es eben eine weitere Verzögerung, die mich aber nicht am endgültigen Durchstarten hindern wird. Zumal ich den Aufschub zum Lernen nutzen kann.«

»Gut, dass du das so siehst«, sagte Daniel Norden erleichtert. »Ich werde selbstverständlich mit Professor Herrenbach und auch mit den anderen Professoren und Dozenten sprechen, damit sie wissen, was Sache ist. Sie sollen dich schließlich nicht falsch einschätzen.«

Alex winkte ab, während er einen Schluck von seinem Cappuccino trank.

»Ich werde meinen Weg schon machen, Daniel«, versicherte er seinem Onkel. »Es ist nett, dass du dich bemühst, ihn mir zu ebnen, aber …«

»Keine Widerrede, Alex«, wehrte Dr. Norden ab. »Es geht nicht darum, dir deinen Weg zu ebnen. Das hast du weiß Gott nicht nötig. Immerhin hast du mich, was Julias Diagnose betrifft, ziemlich alt aussehen lassen. Aber ich finde, Professoren sollten sich ein realistisches Bild von ihren Studenten machen können, das, so weit möglich, nicht auf ihren bloßen Vermutungen, sondern auf Fakten beruht. Nur darum geht es mir.«

Alex verkniff sich einen Einwand, auch wenn er überzeugt war, dass zumindest Professor Herrenbach in Bezug auf seine Studenten in seine eigenen Vorstellungen so verliebt war, dass er sich für Fakten nur schwer würde erwärmen können.

Wenige Tage später stand Alex mit seiner Reisetasche an der Aufnahme der Behnisch-Klinik und ließ sich von einer Krankenschwester zu seinem Zimmer bringen.

Es lag in einem der oberen Stockwerke, von wo aus er einen schönen Blick auf den Krankenhauspark hatte, und war bestens ausgestattet, fand vor seinen Augen aber trotzdem keine Gnade.

Zum Glück konnte ihm Dr. Norden lauter erfreuliche Ergebnisse mitteilen, sodass der Stammzellenspende nun endgültig nichts mehr im Wege stand.

Vor dem Eingriff am anderen Morgen war er vollkommen ruhig, und als er aus der Narkose aufwachte, empfand er nur noch Freude, Julia geholfen zu haben.

Sie würde dank seiner Hilfe nun ein vollkommen normales Leben ohne Infektanfälligkeit und ohne Gefahr eines neuen Zytokinsturms führen können.

Am liebsten hätte Alex gleich mit Julia zusammen gefeiert, doch das Feiern würden sie, so hatten sie es sich jedenfalls vorgenommen, auf Sina Manolos Party nachholen. Und zwar umso ausgiebiger.

Alex war bester Stimmung und blieb deshalb auch bei seinem Entschluss, die Behnisch-Klinik einen Tag nach dem Eingriff auf eigene Verantwortung zu verlassen.

Nach Dr. Nordens Visite zog er sich an und begab sich zum Ausgang der Klinik, wo ziemlich hektischer Betrieb herrschte.

»Alex! Du bist ja schon wieder so gut wie völlig fit«, klang es ihm, als er gerade die Glastür nach draußen durchschritt, mit einem Mal in den Ohren.

Die Stimme war ihm wohlbekannt. Der Duft, der ihn plötzlich umwehte, ebenfalls. Sina Manolo!

Alex drehte sich nach ihr um und hielt einen Moment lang unwillkürlich die Luft an.

Wie schön Sina aussah!

»Wolltest du gerade spazieren gehen? Gehen wir zusammen?«, fragte sie und brachte Alex damit in ziemliche Verlegenheit.

»Ja, gehen wir zusammen«, sagte Alex, weil ihm fürs Erste nichts Besseres einfiel.

»Ich finde es wunderbar von dir, dass du so viel für deine Cousine tust«, sagt sie und lehnte ihren Kopf an Alexanders Schulter. »Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht.« Sie zog einen mit Glitzerstaub übersäten Umschlag aus ihrer Tasche und wedelte damit hin und her. »Das ist die Einladung zu meiner Party. Das Motto ist ›Winter-Wunderland‹. Vielleicht schneit es ja. Und wenn nicht …«

»Wenn nicht, werdet ihr Schneekanonen auffahren«, ergänzte Alex scherzhaft.

Sina musste lachen. »Nein, aber die Deko passt auf alle Fälle zum Winter. Und ich habe mir auch schon ein Kostüm für mich ausgedacht«, plapperte sie voller Begeisterung weiter.

»Und? Verrätst du es mir?«, fragte Alex.

Sina strahlte ihn an. »Natürlich. Ich möchte doch, dass wir zusammenpassen. Ich möchte, dass wir beide …« Sie verstummte, und Alex sah, wie ihre Wangen von einer feinen Röte überzogen wurden. »Also, das Kostüm ist aus der ›Eiskönigin‹. Kannst du dir nicht denken, was es ist?«

Alex überlegte.

Er hatte das Musical zwar gesehen, aber seine Erinnerungen waren, wie er feststellen musste, ziemlich lückenhaft.

»Du bist … Anna«, entschied er schließlich auf gut Glück.

»Erraten. Dafür bekommst du einen Kuss«, erklärte Sina.

Sie hatte ihren Satz kaum beendet, als sie auch schon ihre Arme um Alexanders Nacken schlang.

Sinas Kuss schmeckte süß und verheißungsvoll.

Als ihre Zunge sanft seine Lippen berührte, hatte Alex das Gefühl, es gäbe für ein paar selige Augenblicke nur ihn und Sina auf der ganzen Welt. Nur sie beide und dieses berauschende Glück, das ihn mit einem Mal vom Scheitel bis zu den Zehenspitzen erfüllte.

Sie schob ihre Hand unter seinen Pullover und ließ sie einen Moment lang auf seinem Herzen ruhen, ehe sie sich zu seiner Enttäuschung wieder von ihm löste.

Nur ihre leicht verschleierten Augen zeugten noch davon, wie sehr auch sie die kurze Zeitspanne der Nähe genossen hatte. Und wie schwer es ihr gefallen sein musste, sie aufzulösen.

»Und als was wirst du dich verkleiden?«, fragte Sina unvermittelt, ihr Gesicht plötzlich wieder ganz nah an seinem. »Hast du schon eine Idee?«

Alex überlegte fieberhaft.

»Wirst du Kristoff sein?«, hakte Sina nach.

»Lass dich überraschen«, wiederholte Alex, während er sich über den Hinweis freute.

»Und du wirst also deine Cousine mitbringen?«, erkundigte sich Sina.

»Ja, natürlich. Sie freut sich schon riesig. Wenn ich ihr die Einladung zeige, wird sie in hellen Jubel ausbrechen«, antwortete Alex. »Sie hat sich im Übrigen in den Kopf gesetzt, deinen Vater kennenzulernen.«

»Meinen Vater?« Sina war aufrichtig erstaunt. »Wenn es um meinen Bruder ginge, könnte ich sie ja verstehen, aber …«

Alex lachte. »Julia ist im Moment eher in die Kochkunst verliebt als in einen Mann. Sie möchte unbedingt eine Lehre als Köchin absolvieren. Deshalb möchte sie deinen Vater fragen, ob in einem seiner Restaurants ein freier Ausbildungsplatz für sie ist.«

Sina stutzte einen Moment, dann zeigte sie sich begeistert. »Deine Cousine scheint ihre Ziele mit Mut und Engagement zu verfolgen«, sagte sie anerkennend. »Mein Vater wird sie mögen. Endlich einmal nicht eines dieser Mädchen, wie Tonio sie scharenweise ins Haus bringt. Er schleppt lauter Mädchen an, die nur von einem Luxusleben an der Seite eines reichen Mannes träumen.«

»Du glaubst also, dein Vater wird Julia wirklich ermöglichen, in einem der ›Da Manolos‹ zu lernen?«, freute sich Alex.

»Da bin ich mir ziemlich sicher«, stellte Sina klar.

Sie gingen ein paar Schritte weiter, wobei Alex jedoch mit einem Mal beträchtlich hinkte.

»Du solltest nicht so lange auf den Beinen sein«, bemerkte Sina besorgt. »Hast du Schmerzen? Warum gehen wir nicht hinauf in dein Krankenzimmer? Oder in die Cafeteria, damit du dich setzen kannst?«

Hand in Hand kehrten sie in die Behnisch-Klinik zurück und wären um ein Haar mit Dr. Norden zusammengestoßen, der ihnen entgegenkam.

Als er die beiden sah, trat unwillkürlich ein zufriedenes Grinsen auf sein Gesicht.

»Wolltest du dich nicht heute Morgen selbst entlassen?«, hielt er Alex entgegen.

Alex senkte zuerst leicht betreten den Blick, doch dann sah er seinem Onkel offen in die Augen. »Ja, das wollte ich«, gab er zurück und griff nach Sinas Hand. »Aber leider – oder Gott sei Dank – ist nichts daraus geworden.«

»Wie man sieht«, stellte Dr. Norden nicht ohne Genugtuung fest. »Es wäre wohl auch ungeschickt gewesen, vor einem so reizenden Besuch fortzulaufen.«

»In der Tat«, gab Alex überraschend selbstbewusst zurück.

*

Die Schneeflocken waren handtellergroß, nass und schwer. Trotz der ausgelassenen Partystimmung, die das ganze Haus erfüllte, wirkten sie irgendwie traurig und verloren.

Ganz so, wie Julia sich im Moment fühlte.

Sie hatte sich – mit Désis tatkräftiger Hilfe – als Schneeflocke verkleidet. Ihr Kostüm bestand aus einem figurbetonten weißen, mit Glitzer durchsetzten Strickkleid, das ihre Knöchel umspielte. An den Händen und am Hals war es mit flauschigem, weichem Webpelz verbrämt, der auch ihre zu einer komplizierten Aufsteckfrisur gekämmten Haare zierte.

Julia seufzte. Sie hatte sich riesig auf die Party gefreut, hatte sich vorgestellt, mit Alex und ein paar seiner Studienkollegen zu tanzen.

Aber die Tanzkapelle hatte noch gar nicht angefangen zu spielen, und Alex war fast pausenlos mit Beschlag belegt. Vor allem von Sina, die ihn kaum eine Sekunde aus den Augen ließ.

Sie selbst kannte wirklich niemanden hier.

Julia nahm ihr Glühweinglas und trat auf die weitläufige Terrasse hinaus.

Der Garten der Manolos war wirklich riesig. Ein Schneemann stand einsam neben dem Pool.

Einen Moment lang fragte Julia sich, ob er echt, eine Attrappe oder ein verkleideter Mensch war.

Die Antwort war rasch gefunden, als er anfing, sich die offenbar frierenden Beine zu vertreten. Der Schneemann war also auch ein Partygast, stellte Julia erfreut fest. Und er schien genauso allein zu sein wie sie.

Julia näherte sich ihm langsam und ein wenig zögernd, beschleunigte aber unwillkürlich ihre Schritte, als sie nicht mehr allzu weit von ihm entfernt war. Es war ihr fast, als hätte der Schneemann magnetische Kräfte, die sie anzogen.

»Hallo, Schneemann!«, sagte Julia, als sie schon ziemlich dicht vor ihm stand, und lächelte ihm zu.

Der Schneemann wich verblüfft einen Schritt zurück und musterte Julia aufmerksam. »Hallo, Schneeflocke«, antwortete er, ihr Kostüm auf Anhieb richtig deutend. »Für uns beide ist im Haus wohl nicht der richtige Platz. Wir würden im Nu schmelzen.«

Julia musste lachen. »Kann gut sein. Mir gefällt es hier im Garten ausgesprochen gut.«

Mir auch«, grinste der Schneemann. »Vor allem, seit ich so angenehme Gesellschaft habe.«

Jetzt erst merkte Julia, dass die Augen, mit denen der Schneemann sie unter seinem Zylinderhut ansah, wie Kohlen funkelten. Als Nase trug er eine Karotte aus Plastik, die er, während er mit ihr sprach, abnahm und in einer Tasche seines Schneemannkostüms verschwinden ließ.

Nun konnte Julia sein Gesicht sehen.

Es war ebenmäßig, wirkte aber durch die hohen Wangenknochen und das markante Kinn durchaus männlich.

»Sind Sie auch zum ersten Mal hier in dieser illustren Gesellschaft?«, erkundigte sich Julia zutraulich. »Ich meine, kennen Sie auch noch niemanden?«

Julia glaubte, ein kurzes Zucken um die Mundwinkel des Schneemanns wahrzunehmen, aber sicher war sie sich nicht.

»Nein, ich kenne … eigentlich niemanden«, erwiderte der Schneemann, wobei er sich umsah, als wollte er prüfen, ob aus irgendeiner dunklen Ecke des Gartens nicht doch plötzlich wie durch Zauber ein bekanntes Gesicht auftauchte.

Interessiert beobachtete der Schneemann sein Gegenüber.

Die kleine Schneeflocke war, wie unschwer zu erkennen war, noch sehr jung, fast noch ein Mädchen. Jedenfalls war sie seiner Ansicht nach zu jung, um eine Studentin zu sein.

Aber wie war sie dann hierher zu Sinas Party gekommen?

Mit einem Mal kam dem Schneemann eine verwegene Idee.

»Eigentlich bin ich gar kein Gast«, gestand er. »Ich arbeite hier, sozusagen. Sollte der Schneefall stärker werden, und sollten die Flocken liegenbleiben, muss ich die Terrasse und die Einfahrt zu den Garagen schneefrei halten.« Er wies mit dem Kinn auf den Reiserbesen, den er in seiner linken Hand hielt. »Ich bin der Gärtnergehilfe.«

Julia runzelte die Stirn. »Und die Manolos lassen Sie hier in der feuchten Kälte stehen? Sozusagen halb als Arbeitskraft und halb als eine Art Dekoration? Und Sie bekommen nicht einmal ein Glas Glühwein?«

Mitleidig reichte Julia dem Schneemann ihren Becher, auch wenn der Inhalt schon ein wenig kalt geworden war.

Der Schneemann trank in gierigen Schlucken. »Ich bin Tonio«, sagte er. »Trinken wir auf du?«

»Warum nicht? Ich bin Julia.«

In diesem Augenblick fiel es dem Schneemann wie Schuppen von den Augen.

Julia! Julia war das Mädchen, auf Grund dessen Krankheit Sina zweimal die Party verschoben hatte, hauptsächlich um diesem Alex Norden, der sehr an seiner Cousine hing, einen Gefallen zu tun!

Tonio schluckte. Vielleicht hätte er Julia doch sagen sollen, wer er wirklich war. Aber sie war so süß! So anders als die anderen Mädchen, die er kannte! Nicht so draufgängerisch, sondern eher ein bisschen scheu. Und sie hatte ihm den Glühwein gegeben, weil sie Mitleid gehabt hatte und ihm etwas Gutes hatte tun wollen, nicht, weil sie die Angel auswerfen wollte.

Mit einem Mal erschien ihm Julia, seine kleine Schneeflocke, noch schöner als zuvor. Noch schöner als vor ein paar Minuten, als sie wie aus dem Nichts aufgetaucht war, fast als wäre sie vom Himmel gefallen.

Er schaute Julia an und hielt ihren Blick mit dem seinen fest.

In diesem Moment erklang von drinnen, vom großen Salon, in dem die Party stattfand, Musik. Die Band hatte angefangen zu spielen: Winter-Wonderland.

Der Garten, in dem er sich schon tausendmal aufgehalten hatte, kam ihm mit einem Mal wirklich wie eine Art Wunderland vor. Trotz des nassen, matschigen Schnees, der allmählich eine Decke über dem Rasen bildete. Trotz der traurig unter der Schneelast herunterhängenden letzten Rosen, die bis zuletzt der Kälte getrotzt und noch geblüht hatten.

Er ließ den Reiserbesen zu Boden fallen, nahm Julia den leeren Glühweinbecher aus der Hand und stellte ihn daneben. »Wollen wir tanzen?«, flüsterte er. Ohne die Antwort der verblüfften Julia abzuwarten, zog er sie an sich und umschlang sie fest mit seinen Armen.

Sie wiegten sich im Takt der Musik, und es dauerte nicht lange, bis Julias Kopf an seine Schulter sank. Sie schmiegte sich an Tonio, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass ihre Körper sich bei jedem Tanzschritt perfekt ergänzten und wie füreinander geschaffen waren.

Julia hatte das Gefühl zu schweben.

Wirklich waren nur die Schneeflocke und der Schneemann, die einander gefunden hatten wie in einem Märchen.

»Hast du Julia gesehen? Ich vermisse sie schon seit einer Weile. Zuerst stand sie mit diesem Rentier und dann noch eine Weile mit dieser … dieser Schneehäsin am Büffett, aber …«

Unruhig sah Alex sich um, doch Sina legte beschwichtigend ihre Hand auf seine Schulter.

»Julia ist erwachsen«, mahnte sie Alex. »Und sie ist wieder völlig gesund. Sie muss jetzt lernen, ihre eigenen Wege zu gehen. Das wollte sie schließlich. Dafür ist sie nach Deutschland gekommen.«

Alex nickte zerstreut. Er war sich nicht sicher, ob Sina recht hatte. Allerdings fiel ihm auch kein zündendes Gegenargument ein, mit dem er ihre Worte hätte widerlegen können.

»Die Band ist gut. Wollen wir tanzen? Oder wollen wir lieber ein wenig ins Freie gehen?«, schlug er schließlich vor.

Sina brauchte nicht lange zu überlegen. »Gehen wir ein wenig ins Freie«, entschied sie. »Ein bisschen frische Luft könnte nicht schaden.«

Sie griff sich an der Garderobe ein Cape aus Webpelz, das sogar eine Kapuze hatte, in der sie ›Annas‹ Zöpfe verstauen konnte. Auch zwei Becher Glühwein für sich und Alex nahm sie noch mit, ehe sie durch die Salontür nach draußen trat.

»Wie romantisch«, stellte Alex mit einem Blick auf die Lichter und die fast wie echt flackernden Gartenfackeln am Pool fest.

»Gefällt es dir?«, fragte Sina und fügte, als Alex bejahte, hinzu: »Es gibt am anderen Ende des Gartens einen kleinen Pavillon. Soll ich ihn dir zeigen?«

»Warum nicht?«, antwortete Alex und folgte ihr.

Leider erwies sich der Pavillon als verschlossen. Und der Schlüssel lag unglücklicherweise auch nicht am üblichen Platz, denn als Sina das Maul des Türklopfers öffnete, war es leer.

Sina und Alex blieb nur die Bank unter dem Vordach des Pavillons, auf der sie sich niederließen.

Eine Weile schauten sie schweigend in den Schneeregen, der sich allmählich wieder mehr in Schnee verwandelte.

»Warst du eigentlich schon einmal verliebt, Alex?«, fragte Sina unvermittelt.

Verwirrt schaute Alex sie an. »Stehst du auf Liebesgeschichten, Sina?«, verschaffte er sich Bedenkzeit.

Sina zuckte die Schultern. »Ich möchte dich näher kennenlernen. Bis jetzt weiß ich nur, dass du ein Neffe des bekannten Dr. Norden von der Behnisch-Klinik bist, dass du ein großes Herz für deine Cousine hast und sehr fürsorglich bist und dass du das Zeug hast, ein hervorragender Arzt zu werden.« Sie prostete Alex mit ihrem Glühweinbecher zu. »Aber ich möchte noch viel mehr über dich wissen.«

Alexanders Mundwinkel verzogen sich wie in leisem Spott, während sich seine Augenbrauen hoben. »Und warum?«

Sina schaute ihm unverwandt in die Augen. »Vielleicht … Vielleicht, weil mir das, was ich bis jetzt an dir kennengelernt habe, gefällt? Und weil mich deshalb interessiert, ob mich der Rest genauso anspricht?«

Sina kuschelte sich eng und enger an Alex, während außerhalb des Vordachs immer dickere Flocken fielen und anfingen, vor Sinas und Alexanders Füßen einen weichen, flaumigen Teppich zu bilden.

»Erzähl mir lieber von dir«, verlangte Alex.

»Und wo soll ich anfangen?«, entgegnete Sina. »Was willst du wissen?«

Alex legte den Kopf schief, sodass seine Wange Sinas weiches, seidiges Haar berührte.

»Ich habe mich sehr gewundert, als ich dich unter den Erstsemestern im Medizinstudium wiedergesehen habe«, sagte Alex. »Ich hätte bei einer so reichen und schönen Frau, wie du es bist, eher auf Mode getippt. Oder auf irgendetwas Unternehmerisches. Oder auf … Ich weiß nicht so genau. Jedenfalls nicht auf Medizin. Was hat dich dazu gebracht, Medizin zu studieren?

»Als Laura, meine kleine Nichte, an Leukämie erkrankt ist … Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit Krankheit und der Bedrohung des Lebens in Berührung gekommen bin. Ich war damals dreizehn, und es war eine vollkommen neue Erfahrung für mich. Ich wollte Laura helfen. Ich wollte alles für sie tun. Ich wollte sie retten.«

»Eine Stammzellenspende?«, erkundigte sich Alex.

Sina nickte.

»Und? War sie erfolgreich?«

Sina nickte wieder. »Ja«, sagte sie. »Laura es geschafft. Sie ist inzwischen wieder vollkommen genesen.« Sina trank ihren Glühweinbecher leer und stellte ihn neben sich auf die Bank. »Das Gefühl, helfen zu können, hat mich damals regelrecht überwältigt. Es ist mir zu einem Bedürfnis geworden und hat in mir den Wunsch geweckt, daraus eine Lebensaufgabe zu machen …«

Sina unterbrach sich und spielte mit einem ihrer Zöpfe.

Dann sah sie gedankenverloren an ihrem langen blauen Kleid hinunter, das zu ihrer Verkleidung als Anna, Schwester der Eiskönigin, gehörte.

Lächelnd musterte sie Alex von der Seite. Er war tatsächlich als Kristoff erschienen. Er hatte sogar ein mit Pralinen gefülltes Stoffrentier mitgebracht, das er ihr geschenkt hatte.

»Aber jetzt, glaube ich, müssen wir allmählich zu den anderen zurückgehen. Ich möchte nicht, dass meine Gäste mich vermissen und sich vernachlässigt fühlen.«

»Verstehe.« Alex erhob sich.

Dicht nebeneinander schritten er und Sina durch den Schnee, in dem sich ihre Spuren abzeichneten.

Das Gespräch mit Sina hatte Alex in eine Welt entführt, die ganz anders war als diese fröhliche, aber auch ein bisschen oberflächliche Feier.

Die Sina, die er soeben näher kennengelernt hatte, hatte sein Herz angesprochen. Sie hatte tief in ihm eine Saite berührt, die mit ihr im Gleichklang schwang oder zumindest einen harmonischen Zusammenklang erschuf.

Stumm und in seine Gedanken versunken griff Alex nach Sinas Hand, die sie ihm willig überließ.

Es dauerte allerdings nicht lange, bis beide verblüfft innehielten, weil zwei Gestalten, von denen jede einen Reiserbesen in der Hand hatte, die Ränder des Pools und die Terrasse von Schnee befreiten.

Sina kniff die Augen zusammen. Der Gärtner hatte doch heute Abend frei! Machten sich zwei Partygäste einen Spaß daraus …

Noch während sie überlegte, wer die fleißigen Partygäste waren, fiel es ihr mit einem Mal wie Schuppen von den Augen.

»Das … das sind Julia und … und mein Bruder. Er hat sich als Schneemann verkleidet, und Julia, die Schneeflocke …«

Von einer Sekunde auf die andere ließ Alexander Sinas Hand los.

Alex konnte sich noch haargenau an Tonio erinnern: ein attraktiver, auf den ersten Blick sympathisch aussehender junger Mann im Gefolge einer etwas blasiert wirkenden Schönheit, die sich an ihn gedrängt und ihn angesehen hatte, als wäre er Adonis und Rockefeller in einer Person.

Und Alex hatte auch nicht vergessen, was Sina über ihren Bruder gesagt hatte. Sie hatte ihn als Bummelstudenten und Frauenliebling, als Schwerenöter und Casanova bezeichnet. Natürlich hatte sie nicht genau diese Worte benutzt, schließlich war dieser Tonio trotz allem ihr Bruder. Aber wenn man die beschönigenden Umschreibungen und Floskeln wegließ …

Alexanders Beschützerinstinkt gegenüber seiner Cousine war geweckt.

Noch ehe Alex sich seines Vorhabens vollends bewusst wurde, machte er einen Riesenschritt auf Tonio und Julia zu, die fröhlich lachten und außer den tanzenden Schneeflocken nichts um sich herum wahrnahmen. Er wollte Julia rufen und sie aus ihrer Versunkenheit reißen, doch im selben Moment wäre er fast auf dem glitschigen Nassschnee ausgerutscht, weil Sina seinen Lauf abrupt stoppte.

Energisch vertrat sie ihm den Weg.

Alex stieß hart gegen sie, sodass sie ebenfalls ins Straucheln kam und er sie festhalten musste.

»Nicht, Alex. Tu es nicht«, sagte sie, nachdem sie sich mit Alexanders Hilfe wieder gefangen hatte. »Lass deine Cousine das Leben genießen, das du ihr geschenkt hast. Hast du so wenig Vertrauen zu ihr?«

Alex schaute Sina an und schaffte es nicht, ihrem bittenden Blick auszuweichen.

»Und du? Hast du so viel Vertrauen zu deinem Bruder?«, antwortete er mit einer Gegenfrage. »Als du ihn mir und Bernd in der Mensa vorgestellt hast, hatte ich nicht den Eindruck, dass das so ist. Du …«

»Ich habe mit keinem Wort gesagt, dass Tonio ein schlechter Mensch ist«, fuhr Sina Alex in die Parade.

»Nicht?«, erkundigte sich Alex mit einem leicht spöttischen Unterton.

»Ich habe gesagt, dass Tonio seinen Studienabschluss hinauszögert. Und dass er zu den Frauen, die ihm nachstellen, nicht Nein sagen kann«, ereiferte sich Sina. »Ich habe nicht gesagt, dass er leichtfertig ist. Was du in meine Worte hineininterpretierst, dafür kann ich nichts.«

Sinas Stimme klang so hart, dass Alex unwillkürlich zurückprallte. Ihre Augen, in denen noch vor ein paar Sekunden nichts weiter als eine verzweifelte Bitte gelegen hatte, sprühten nun Funken. Und schleuderten Blitze, als wäre wie aus dem Nichts heraus ein heftiges Wintergewitter ausgebrochen.

Unsicher löste Alex seinen Blick von Sinas Gesicht und sah hinüber zu Julia und Tonio.

Sie hatten aufgehört, Schnee zusammenzufegen. Ihre Besen lehnten traulich vereint an der Hauswand der Manolo-Villa, während Schneemann und Schneeflocke im Schneegestöber tanzten, obwohl die Band Pause machte und vom Salon her kein einziger Ton mehr zu vernehmen war.

Sie tanzten nach einer Musik, die nur sie hören konnten.

Und Julia sah dabei so glücklich aus, wie Alex sie noch nie erlebt hatte.

Als Alexander Sinas Blicke auf sich gerichtet fühlte, kroch, ohne dass er es gewollt hätte, Scham in ihm hoch.

*

Julia und Tonio hatten alles Zeitgefühl verloren und hätten nicht sagen können, wie lange sie getanzt hatten, als die Musik, die nur sie hören konnten, endlich verklang.

Hand in Hand gingen sie ein Stück in den verschneiten Garten hinein, als Tonio die schon wieder von leichtem Flaum bedeckten Spuren auffielen, die vom Pavillon herkamen.

Er lachte in sich hinein, während er nach dem schweren schmiedeeisernen Schlüssel in der Tasche seines Schneemannkostüms griff.

Da hatte er wohl – ohne es zu wollen und ohne irgendeine böse Absicht – ein Schäferstündchen vereitelt.

Wie das Leben und das Schicksal doch so spielten!

Er und die schöne blonde Irena mit den gefährlichen Kurven hatten am frühen Nachmittag verabredet, sich so bald wie möglich von Sinas abendlicher Winter-Wonderland-Feier loszueisen und den Pavillon aufzusuchen, wo sie ungestört zu zweit allein sein konnten. Um auf Nummer sicher zu gehen, dass nicht zufällig ein anderes Paar auf dieselbe Idee kam, hatte Tonio den Pavillon abgesperrt und den Schlüssel nicht wieder in das Maul des Türklopfers zurückgelegt.

Gedankenverloren ließ Tonio den Schlüssel durch seine Finger gleiten, spürte das Metall, das seine Körperwärme angenommen hatte, befühlte den Bart und das andere, verschnörkelte Ende des Schlüssels, das die Form eines Herzens hatte.

Währenddessen fielen auch Julia die Spuren im Schnee auf.

»Was ist das?«, wollte sie wissen. »Es sieht aus, als wäre jemand erst vor Kurzem hier durch den Garten gegangen. Ich habe aber nichts gesehen und nichts gehört.« Für einen Moment wurden ihre Augen groß und ängstlich, und sie schüttelte sich. »Das ist fast ein bisschen gruselig«, sagte sie. »Als ob ein Geist völlig lautlos in unserer Nähe …«

Ein amüsierter Blick aus Tonios Augen brachte sie zum Schweigen.

»Wer hier gelaufen ist, weiß ich genauso wenig wie du. Aber eines weiß ich ganz sicher: In der Villa Manolo gibt es keine Geister«, grinste er. »Mir ist jedenfalls, solange ich für sie arbeite, noch nie ein Geist aufgefallen. Außerdem hinterlassen Geister keine Spuren, weil sie schweben. Und lautlos können im Übrigen auch menschliche Schritte sein. Vor allem, wenn man über nassen Schnee läuft.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte Julia ein wenig kleinlaut.

Tonio sah ihr tief in die Augen. »Möchtest du sehen, wo die Spuren herkommen?«

»Von der Villa, schätze ich«, erwiderte Julia.

»Sie führen zur Villa hin«, berichtigte Tonio.

»Vielleicht gibt es einen zweiten Eingang vom Garten her?«, vermutete Julia, doch Tonio schüttelte nur den Kopf.

»Komm«, sagte er und zog Julia mit sich fort.

Als Julia den Pavillon vor sich sah, kam sie sich einen Moment lang vor wie in einer Märchenwelt.

»Das ist ja wunderschön«, stammelte sie.

Wieder schob Tonio seine Hand in die Tasche seines Schneemannkostüms und umfasste den Schlüssel.

Er zückte den Schlüssel, hauchte einen Kuss auf das metallene Herz und schaute Julia erwartungsvoll an.

»Du hast einen Schlüssel zu diesem Pavillon?«, wunderte sie sich. »Die Manolos überlassen dir den Schlüssel zu …«

Tonio biss sich auf die Unterlippe.

Fast hätte er vergessen, dass er für Julia nicht Tonio Manolo, sondern Tonio, der Gärtnergehilfe, war.

»Ich muss diesen Pavillon in Schuss halten«, redete er sich heraus. »Ich muss dafür sorgen, dass alles in Ordnung ist, wenn jemand von der Familie ihn benutzen will.«

Julia nickte. Tonios Antwort leuchtete ihr ein.

»Und ich muss den Pavillon absperren, damit nicht Unbefugte sich hier aufhalten«, ergänzte er und wies auf die Fußspuren, die mittlerweile fast nicht mehr zu sehen waren.

»Aber eigentlich sind wir doch auch Unbefugte«, wandte Julia ein. »Dürfen wir denn …«

Sie verstummte mitten im Satz, als Tonio die Tür aufstieß und sie einen Blick ins Innere des Pavillons werfen ließ.

Im rötlich flackernden Lichtschein, der von einem elektrisch betriebenen Kaminfeuer ausging, zeigten sich ein mit einem rosengemusterten Stoff überzogenes Sofa mit romantisch verschnörkelten Beinen, dazu passend ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Auf dem Tisch befand sich eine Schale mit Lebkuchen und eine mit Crackern, dazu eine Flasche Wein mit zwei Gläsern.

Julia holte erst einmal tief Luft.

»Für wen ist das?«, fragte sie, als sie sich wieder gefasst hatte, und wies auf den Wein und die Leckereien.

»Für di …« Tonio stockte. Er hatte ›für dich‹ sagen wollen, aber gerade noch rechtzeitig die Kurve genommen. Dass es eigentlich für Irena gewesen war, hatte er ohnehin längst ausgeblendet. »Für die Gäste von Sina Manolo oder für die Gäste ihrer Eltern natürlich. Sie fragen nach dem Schlüssel, wenn sie Zeit im Pavillon verbringen wollen. Aber heute hat niemand gefragt. Niemand hat sich für den Pavillon interessiert. Also ist alles, was ich vorbereitet habe, für uns.«

Tonio fühlte, wie sein Herz unter dem Schneemannkostüm heftig und aufgeregt klopfte.

Er war offenbar weniger gut im Lügen, als er immer geglaubt hatte.

Oder war es die Vorfreude auf das unverhoffte Tête-à-tête mit Julia, was ihn derart nervös machte?

Oder doch eher die Angst, dass sie ihn zurückweisen und augenblicklich das Weite suchen würde, wenn sie begriff …

Zögernd trat Julia ein. Ebenso zögernd nahm sie sich einen der Lebkuchen und verspeiste ihn langsam und genüsslich.

Tonio entkorkte währenddessen die Weinflasche und füllte die beiden Gläser, dann zog er die Tür des Pavillons hinter sich und Julia zu. »Sonst heizen wir den Garten«, erklärte er lachend.

Julia schüttelte den Kopf. Sie ließ sich auf das Kanapee fallen und zog Tonio neben sich.

Im selben Augenblick beugte er sich über Julia und küsste sie. Julia erwiderte seinen Kuss mit Leidenschaft und Intensität, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, einen Mann zu küssen, den sie vor gerade einmal einer Stunde kennengelernt hatte. Sie konnte es kaum begreifen, aber zwischen ihr und Tonio war alles so selbstverständlich. Es war, als wäre es schon immer so gewesen. Als könnte es gar nicht anders sein.

»Angenehm warm hier im Gegensatz zu draußen«, sagte Tonio, streifte seinen Zylinder ab und zog die Plüschjacke seines Schneemannskostüms über den Kopf. Dann schälte er Julia unter vielen Küssen aus ihrem duftigen Schneeflockencape, das sie draußen über ihrem Kleid getragen hatte.

Sie trank einen Schluck von ihrem Wein.

»Komisch«, sagte sie und nahm einen zweiten Schluck. »Wirklich komisch, dass wir hier sitzen, als wären wir ein richtiges Paar. Dabei wissen wir gar nichts voneinander.« Sie kicherte. »Oder wusstest du, dass ich aus Spanien komme?«

Tonio schluckte. Natürlich wusste er das, wenn er es auch nicht zugeben durfte, um nicht aus der Rolle zu fallen.

»Du sprichst aber sehr gut Deutsch«, bemerkte er stattdessen.

»Weil ich eine deutsche Mutter habe«, erklärte Julia. »Und du? Tonio … klingt irgendwie so italienisch. Aber dein Deutsch ist ebenfalls perfekt.«

»Ich bin trotzdem Italiener«, redete Tonio drauflos. »Meine Eltern sind aber schon sehr lange hier.«

»Sind deine Eltern Gärtner?«

»Nein, wieso …«, begann Tonio und verstummte von einer Sekunde auf die andere. Ärgerlich biss er sich auf die Zunge. Es musste wahrlich auf der ganzen Welt keinen Menschen geben, der ungeschickter im Lügen war als er. »Nur ich will Gärtner werden. Meine Eltern haben keine grünen Daumen«, redete er auf gut Glück weiter. »Im Übrigen glaube ich, dass die Manolos mich hauptsächlich deshalb eingestellt haben, weil ich ein Landsmann bin.«

Julia probierte ein paar Cracker und spülte sie mit einem weiteren Schluck Wein hinunter. »Wie sind die Manolos so? Ich meine, wenn man für sie arbeitet?«, bohrte sie weiter.

Tonio sah sie erstaunt, aber auch ein wenig verwirrt an. Was würde wohl als Nächstes folgen und womöglich sein Lügengebäude zum Einstürzen bringen?

»Sie sind gar nicht so übel«, antwortete er ausweichend. »Also längst nicht so schlimm, wie du anfangs gedacht hast. Sie bezahlen mich nicht gerade großartig, aber doch ganz ordentlich. Sie sind freundlich und reißen mir nicht den Kopf ab, wenn ich einen Fehler mache. Also man kann sagen, dass sie im Prinzip okay sind.« Er bedachte Julia mit einem forschenden Blick. »Warum fragst du?«

»Weil ich eine Lehrstelle als Köchin suche, sobald meine Au-pair-Zeit bei den Bergers zu Ende ist«, gab sie zurück. »Und weil ich mir gedacht habe, dass ich vielleicht in einem der ›Da Manolo‹-Restaurants lernen könnte. Das wäre mit Sicherheit eine gute Ausgangsbasis, um später als Köchin eine gute Anstellung zu finden.«

»Allerdings«, bemerkte Tonio. »Würdest du gern mit meinem … meinem Arbeitgeber darüber sprechen?«

»Das wäre wunderbar«, erwiderte Julia, während sie ihre kleinen Hände zu Fäusten ballte, um ihrer Freude Ausdruck zu verleihen.

Heute musste ihr Glückstag sein! Heute mussten die Sterne besonders günstig stehen! Heute musste das Leben sie lieben!

»Ich … könnte herausfinden, wann mein Arbeitgeber Zeit und wirklich gute Laune hat«, schlug Tonio vor. Und hatte damit, Julias Gesichtsausdruck nach zu schließen, voll ins Schwarze getroffen. »Du gibst mir deine Telefonnummer, Julia, und ich sage dir Bescheid, wenn es so weit ist.«

»Das willst du wirklich für mich tun?«, freute sich Julia. »Das ist großartig. Danke.«

Ehe Tonio es sich versah, schlang sie ihre Arme um seinen Nacken und drückte ihn so fest an sich, dass ihm beinahe die Luft wegblieb. Als sie sich wieder von ihm löste, umarmte sie ihn unmittelbar darauf ein zweites Mal, nur sanfter und zärtlicher. Dabei näherte sie ihren Mund dem seinen und küsste ihn voller Inbrunst.

Tonio wurde es so heiß, als wäre die Temperatur im Pavillon von einer Sekunde auf die andere sprunghaft bis zur Vierzig-Grad-Marke gestiegen.

Was für eine aufregende Umarmung!

Was für ein aufregender Kuss!

Warum in aller Welt hatte er sich als Gärtnergehilfe ausgegeben und nicht von Anfang an gesagt, wer er wirklich war?

Könnte er Julia jetzt einfach erklären, dass er mit seinem Vater reden und ein gutes Wort für sie einlegen würde? Sie wäre mit Sicherheit zu allem bereit. Sie würde ihm das süßeste und leidenschaftlichste Dankeschön bereiten, das ein Mann sich nur wünschen konnte!

Tonio stieß geräuschvoll die Luft aus.

Das Dankeschön konnte er sich, wenn er es geschickt anstellte, bestimmt ebenso als Tonio, der Gärtnergehilfe, abholen.

Warum sollte er also nicht noch eine Weile Gärtnergehilfe bleiben?

Immerhin war es eine berauschende Erfahrung gewesen, auch als Gärtnergehilfe bei einer Frau punkten zu können. Und noch dazu bei einer Frau wie Julia.

Er würde sich erst als Tonio Manolo zu erkennen geben, wenn er ganz sicher sein konnte, dass Julia weder sein Geld noch sein Name interessierte.

Dann erst würde er ihr reinen Wein einschenken.

Als Julia ihm genau in diesem Moment sein Weinglas hinhielt, um mit ihm auf ihre Kochlehre anzustoßen, musste er lachen.

Sie schaute ihn verwirrt an, dann trank sie ihm zu. »Auf meine Zukunft als Köchin«, sagte sie. »Und auf deinen Beitrag dazu.«

»Auf uns«, ergänzte Tonio. »Und auf unsere Jobs bei den Manolos.«

»Ja, auf uns. Auf uns beide«, flüsterte Julia.

Als sie sich wieder küssten, glitten Tonios Hände zärtlich, aber auch besitzergreifend über Julias sanfte Rundungen, die sich unter ihrem weißen Schneeflocken-Strickkleid abzeichneten.

Einen Moment lang spannte sich ihr Körper an, dann spürte Tonio, wie sie nachgab. Fühlte ihre Bereitschaft, sich seinen Berührungen hinzugeben.

Sollte er sich holen, was Julia willens war, ihm zu schenken? Sein Körper verlangte danach, aber sein Verstand sagte Nein.

Und sein Herz war diesmal ausnahmsweise auf der Seite seines Verstandes.

So nah er sich Julia fühlte, diese letzte Gemeinsamkeit musste warten.

Bis er es wagte, Julia zu sagen, wer er wirklich war.

Bis keine Lüge mehr zwischen ihnen stand.

*

»Geschafft für heute«, grinste Bernd, griff nach Professor Herrenbachs Lehrbuch der Anatomie und ließ es schwungvoll in seine Tasche gleiten. »Ende der Kurse. Ende der Vorlesungen. Mein Motorrad hat lange genug gewartet«, setzte er hinzu und schickte einen beinahe verliebten Blick in Richtung seines Motorradhelms, der selbstgefällig glänzend vor ihm auf dem Tisch ruhte.

Alex schaute Bernd belustigt zu. »Du hast nicht vergessen, dass wir heute noch eine Wohnung besichtigen wollen?«, vergewisserte er sich, als Bernd den Zündschlüssel für seine Maschine hervorholte und in seiner Hand wiegte.

Bernd schüttelte den Kopf. »Nie und nimmer. Wie könnte ich etwas dermaßen Wichtiges vergessen? Allerdings werde ich auf meinem Feuerstuhl hinfahren, auch wenn es bis zur Schwabinger Giselastraße nur ein Katzensprung ist.« Er warf Alex einen fragenden Blick zu. »Möchtest du mitfahren?«

Alex überlegte einen Moment. »Nein, danke«, erwiderte er. »Ich werde mein Fahrrad nehmen. Ich schätze, damit bin ich im Münchner Feierabendverkehr auch nicht langsamer als du.«

Alex verdrehte die Augen und bemühte sich, mit Bernd Schritt zu halten. »Wird Alissa bei der Wohnungsbesichtigung auch wieder mit von der Partie sein?«

»Die Verrückte«, kicherte Bernd. »Alissa mit Elvis, dem Riesenkater. Love me tender, love me long, take me …«

»Norden!«

Alex zuckte unwillkürlich zusammen, als er Professor Herrenbach seinen Namen rufen hörte. Er wandte sich dem Professor zu, der wie aus dem Boden gewachsen unmittelbar vor ihm stand.

»Können Sie einen Moment Ihrer kostbaren Zeit für mich erübrigen, Norden?«, fragte der Professor mit unverkennbar ironischem Unterton. »Oder wollen Sie sich lieber weiterhin die zauberhafte Gesangsdarbietung Ihres Studienkollegen anhören?«

»Bin schon seit einer halben Stunde weg«, kam es von Bernd, ehe Alex auch nur zu einer Erwiderung ansetzen konnte.

Professor Herrenbach zog unwillig die Augenbrauen hoch, ehe er demonstrativ auf den riesigen Stapel Bücher und Skripten schaute, den er im Arm hatte. Er reichte ihm fast bis zum Kinn. Mit einer entschlossenen Bewegung drückte er die eine Hälfte des Stapels seinem Assistenten in die Arme, die andere Alex. »Wenn Sie die Sachen in mein Büro tragen würden? Sie wissen, wo es ist, Norden?«

Alex nickte verwirrt und machte sich wie ein Schuljunge, dem der Lehrer eine Aufgabe übertragen hat, auf den Weg.

Mit einem leisen Ächzen platzierte Alex den schweren Stapel genau auf die Stelle von Professor Herrenbachs Schreibtisch, die der Assistent ihm anwies.

Dann zog der Assistent sich mit einer angedeuteten Verbeugung in Richtung des Professors zurück.

»Nun, Norden«, begann Professor Herrenbach, »haben Sie gehofft, ich werde Sie bereits in den ersten Tages Ihres ersten Semesters zu meinem zweiten Assistenten befördern? Derartige Überlegungen traue ich Ihnen, um ehrlich zu sein, durchaus zu. Wenn ich Ihnen auch bedauerlicherweise mitteilen muss, dass ich nichts dergleichen geplant habe oder plane.«

Alex stand da wie ein begossener Pudel und wusste nicht, was er sagen sollte. Einen Moment lang trat er verlegen von einem Bein aufs andere, dann straffte er seine Gestalt.

»Sie haben mich gebeten, Ihrem Assistenten beim Tragen Ihrer Bücher zur Hand zu gehen«, erwiderte Alex betont kühl. »Hier sind die Bücher.« Mit einer knappen Handbewegung wies er auf einen der beiden Bücherstapel. »Dann darf ich mich jetzt wohl verabschieden. Ich bin mir sicher, Sie haben jede Menge zu tun.«

Professor Herrenbachs Augenlider verengten sich zu schmalen Schlitzen.

Alexander Norden … Daniel Norden.

Gab es nicht ein Sprichwort, das besagte, dass der Apfel nie weit vom Stamm fiele?

Obwohl dieser Alexander Norden, der ihm hoch aufgerichtet gegenüberstand, als würde er sich mit ihm messen wollen, offenbar nur ein entfernter Neffe Daniel Nordens war, schien Professor Herrenbach das Sprichwort in hervorragender Weise auf ihn zuzutreffen.

»Ich habe in der Tat jede Menge zu tun«, unterbrach Professor Herrenbach seine Gedankengänge, als er sah, dass Alexander Norden bereits im Begriff war, nach der Türklinke zu greifen. »Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir noch einen Moment zuzuhören.«

Alex nahm seine Hand von der Türklinke und richtete seinen Blick aufmerksam auf den Professor.

»Lassen Sie mich Ihnen sagen, Norden, dass Stolz und Einbildung der Feind jedes Mediziners und, generell gesprochen, der Feind jeder wirklichen Leistung sind«, begann Professor Herrenbach.

Alex blieb reglos stehen und sagte kein Wort, weil er sich beim besten Willen keine Vorstellung davon machen konnte, was der Professor ihm eigentlich sagen wollte.

Professor Herrenbach, der nach diesem Statement innehielt und Alexander mit wachen Sinnen beobachtete, wartete somit vergebens auf eine Erwiderung.

»Dass Sie Ihrer Cousine Stammzellen gespendet haben, ehrt Sie«, redete er nach einer Weile weiter, bemüht, auch nicht das geringste Gefühl in seine Worte zu legen. »Was allerdings Ihren neuen Wunderkind-Status als Diagnostiker betrifft, sehe ich Ihre Leistung weit weniger enthusiastisch als Ihr Onkel. Ich würde sagen, Sie hatten schlicht und ergreifend Anfängerglück, Norden. Nicht weniger, aber leider auch nicht mehr.« Professor Herrenbach räusperte sich und setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs, sodass er Alex gegenüber immer noch etwas über Augenhöhe war. »Sie sollten sich also lieber nicht allzu viel darauf zugute halten.«

»Ich halte mir nichts darauf zugute. Aber ich bin froh und glücklich, dass meiner Cousine geholfen werden konnte. Auch Dr. Norden selbst und sein Sohn Janni, der mir bei meinen Internetrecherchen eine große Hilfe war, haben ihren Teil dazu beigetragen«, erwiderte Alex. »Dafür bin ich ihnen sehr dankbar.«

Professor Herrenbachs Kiefer mahlten. Diese Antwort … hätte genau in derselben Form auch von Daniel Norden kommen können. Eine typische Norden-Antwort sozusagen.

Grenzenlose Arroganz, eingehüllt in den mausgrauen Mantel der Bescheidenheit!

Professor Herrenbach stand von seinem Schreibtisch auf, um zum Fenster und wieder zurück zu laufen. Bewegung half ihm immer noch am besten, wenn es galt, Ärger und Erregung zu bemeistern.

Schließlich blieb er vor Alex stehen.

»Bescheidenheit steht einem Erstsemester immer gut zu Gesicht«, sagte er mit lauerndem Blick. »Nur fürchte ich, dass sie in Ihrem Fall nicht echt ist, Norden.« Er machte eine kurze Pause, um seine Worte wirken zu lassen, dann fuhr er fort. »Sie sind ein Mensch, dem der Sinn nach eigenen Gedanken und Erkenntnissen, nach Originalität steht. Sie sollten sich aber bewusst sein, dass Originalität ohne ein solides Grundwissen keinen Sinn hat. Sie müssen nicht das Rad neu erfinden, Norden. Sie müssen Ihre Lehrbücher durcharbeiten und den Inhalt verstehen und in Ihrem Gedächtnis abspeichern. Einzig und allein das ist Ihre Aufgabe.«

Alex warf den Kopf zurück und setzte zu einer Erwiderung an, entschied dann aber, dass es besser war zu schweigen. Er musste sein Temperament im Zaum halten, wollte er sich nicht in unnötige Schwierigkeiten bringen. Andernfalls würde ein Wort das andere geben …

»Danke für Ihre Ausführungen. Ich werde sie mir zu Herzen nehmen«, war alles, was er von sich gab.

Wut stieg in Professor Herrenbach auf.

Dieser Alexander Norden machte sich lustig über ihn, indem er seinen Spott so formulierte, dass er nicht zu greifen war. Stattdessen klang, was er sagte, nach Höflichkeit und Respekt.

»Dann haben wir uns hoffentlich verstanden. Sie können gehen«, sagte der Professor, ebenfalls am Rande seiner mühsam aufrechterhaltenen Beherrschung angelangt.

Als Alex die Tür hinter sich geschlossen hatte, riss der Professor ein Stück Papier aus seiner Schreibmappe, zerknüllte es genüsslich und schleuderte es in den Papierkorb. Er wiederholte den Vorgang noch zweimal, bis er sich einigermaßen wieder beruhigt hatte.

Daniel Norden … Alexander Norden.

Er war Daniel Norden zum ersten Mal während seiner Assistenzarztzeit begegnet. Daniel Norden war damals ebenfalls Assistenzarzt gewesen, ein Jahr unter ihm. Dennoch hatte Herrenbach immer in Daniels Schatten gestanden.

Im Berufsleben war Daniel Norden später genauso erfolgreich geblieben wie im Studium.

Professor Herrenbach schnaubte.

Er würde es diesem Norden nicht leicht machen, darauf konnte der Typ sich gefasst machen.

*

Nach dem weißen Intermezzo am Abend von Sina Manolos Party hatte der Winter sich noch einmal zurückgezogen und dem Spätherbst ein paar weitere Tage zum Abschiednehmen gegönnt.

Als Kevin und Marwa ihre Hausaufgaben erledigt hatten, hatte Julia deshalb beschlossen, vor der Rückkehr der Eltern mit den beiden noch kurz den Spielplatz aufzusuchen.

An jeder Hand eines der Kinder, stand sie nun vor den Schaukeln, die leider alle besetzt waren.

»Ich will schaukeln. Jetzt gleich«, verlangte Kevin, seinen Blick fest auf Julia gerichtet. »Kannst du den anderen Kindern nicht sagen, dass sie gehen sollen, weil jetzt ich schaukeln will?«

»Nein, das kann ich nicht. Aber wenn wir noch ein klein wenig warten …«

»Ich will aber nicht warten.« Ungeduldig zerrte Kevin an Julias Hand.

Julia seufzte.

»Blöde Schaukeln. Ich will sowieso nicht schaukeln«, erklärte Marwa prompt und zerrte Julia in die andere Richtung. »Ich will auf die Rutschbahn. Das ist viel lustiger.«

Julia suchte verzweifelt nach einem Kompromiss, als ihr endlich die Karamellbonbons einfielen. Sowohl Marwa als auch Kevin liebten diese Bonbons, und deshalb steckte sie immer ein paar davon in ihre Manteltaschen.

»Wir machen ein Glücksspiel«, entschied Julia. »In einer meiner Hände ist ein Bonbon. Wer errät, in welcher Hand es ist, dem gehört es. Wenn Kevin es bekommt, darf Marwa als Entschädigung zuerst an die Rutschbahn, wenn Marwa das Bonbon erwischt …«

»Darf ich schaukeln«, brüllte Kevin.

Julia nickte und hielt den Kindern ihre Fäuste hin.

»Ich zuerst«, bestimmte Kevin.

Julia öffnete die Faust, auf die er zeigte, und gab ihm das Karamellbonbon. Während er es gierig in den Mund schob, ließ Julia mit einer Fingerfertigkeit, die einem Zauberkünstler alle Ehre gemacht hätte, das zweite Bonbon aus der anderen Hand wieder in ihre Manteltasche gleiten und machte sich auf den Weg zur Rutschbahn.

Kevin lutschte eine Weile zufrieden sein Bonbon, dann begann er, es zu zerbeißen. Als er damit fertig war, riss er sich von Julia los und rannte zu den Schaukeln, von denen endlich eine frei geworden war.

Im Nu war ein heftiger Streit mit einem anderen Jungen um die freie Schaukel entbrannt.

Julia wusste nicht mehr, wohin sie sich wenden sollte, als plötzlich zwei starke Arme ihre Schultern umfassten.

»Julia, steckst du in Schwierigkeiten? Tanzen dir die Kids auf der Nase herum?« Tonios Stimme klang dunkel und warm, aber auch ein wenig amüsiert.

Während Julia sich zu ihm umdrehte und ihn verwirrt anschaute, lief Tonio zu Kevin und dem anderen Jungen und schlichtete geschickt den Streit. Da auch Marwa neugierig herbeigelaufen kam, konnte Julia wieder befreit durchatmen.

»Wo kommst du denn her, Tonio?«, erkundigte sie sich erleichtert. »Ich habe dich gar nicht gesehen.«

»Das glaube ich dir gern, beschäftigt, wie du warst«, grinste er.

Er rieb sich die Hände und hätte sich am liebsten selbst auf die Schulter geklopft. Was für ein Glück, dass er, einer spontanen Eingebung folgend, den Weg über den Spielplatz genommen hatte!

Mit kräftigen Schwüngen trieb Tonio Kevins Schaukel höher, bis der Junge begeistert jauchzte.

»Wer bist du eigentlich?«, erkundigte Marwa sich indessen.

Tonio schenkte Julia einen verliebten Blick. »Ich bin ein Freund von Julia«, antwortete er dann.

»Ich habe auch viele Freunde in meiner Klasse«, erklärte Marwa und entlockte Tonio damit ein Schmunzeln.

»Hast du … ein bisschen Zeit für mich?«, wandte er sich wieder an Julia.

Julia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Bald«, nickte sie. »In einer halben Stunde bringe ich die Kinder nach Hause. Dann habe ich für heute frei.«

»Das trifft sich gut«, gab Tonio zurück. »Ich habe nämlich heute auch nichts mehr zu tun. Da könnten wir doch vielleicht ein bisschen zusammen im Englischen Garten spazieren gehen.«

Julia nickte, während ihre Augen in Vorfreude auf das unverhoffte Beisammensein mit Tonio aufleuchteten. »Vielleicht klappt das in nächster Zeit sogar öfter, denn Gärtner und Gärtnergehilfen haben ja im Spätherbst und Winter wenig Arbeit«, bemerkte sie hoffnungsfroh.

»Du sagst es«, erwiderte Tonio, aber bei diesen Worten lief ein nervöses Zucken über sein Gesicht. Mit den Lügen musste endlich Schluss sein! Ein für alle Mal!

»Ich muss dir etwas sagen, Julia. Etwas sehr Wichtiges«, setzte er schließlich hinzu.

Julia streifte ihn mit einem kurzen Blick, dann wurde sie von Kevin in Anspruch genommen, der mittlerweile vom Schaukeln genug hatte und bremsen und absteigen wollte.

»Ich glaube, wir sollten jetzt nach Hause gehen. Eure Eltern sind nach einem langen Arbeitstag bestimmt hungrig und haben keine Lust, mit dem Abendessen auf euch zu warten«, sagte Julia.

»Ich warte auf dich«, sagte Tonio, als sie die Kleinen in die Wohnung zu den Bergers brachte.

Kaum hatte sie Kevin und Marwa den Eltern übergeben, lief Julia eilends zurück ins Freie.

Tonio stand noch da! Verträumt schaute er vor sich hin.

Als Tonio sich zu ihr umwandte, rannte sie auf ihn zu und warf sich in seine ausgebreiteten Arme.

Er hob sie hoch und wirbelte sie herum, bis ihr beinahe schwindlig wurde. Dann ließ er sie sanft zurück auf den Boden gleiten, hielt sie aber immer noch fest und sicher in seinen Armen. Er ließ sie auch dann nicht los, als sie wieder klar sehen konnte und die Welt aufhörte, sich zu drehen.

Eng umschlungen gingen sie weiter, bis sich die grüne Oase des Englischen Gartens vor ihnen auftat.

Tonio hatte, während er auf Julia gewartet hatte, beschlossen, sie zu einem Abendessen und einem Glas Wein ins Seehaus einzuladen. Dort wollte er ihr dann gestehen, wer er wirklich war.

Er würde ihr sagen, dass er mit seinem Vater bereits über eine Lehrstelle für sie gesprochen hatte und dass alles in trockenen Tüchern war. Sie konnte anfangen, sobald ihr Au-pair-Jahr zu Ende war. Oder sofort. Ganz wie es ihr beliebte.

Und er würde ihr sagen, wie viel sie ihm bedeutete. Wie glücklich es ihn machte, dass sie ihm, dem einfachen Gärtnergehilfen und Schneemann, ihre Zuneigung geschenkt hatte.

Dann würde er sie küssen.

Und er würde sie fragen, ob sie auch Tonio Manolo lieben konnte. Und ob sie Ja sagen konnte zu Tonio Manolos Liebe.

Und wenn sie dann Ja sagte …

»Schau, ein Eichhörnchen«, flüsterte Julia plötzlich und zeigte empor ins Geäst eines schon fast entlaubten Ahorns. »Es sammelt Nahrung für den Winter.«

Tonios Blick folgte Julias Finger.

Und im selben Moment entdeckte er Rainer.

Verdammt, er hatte das Unheil kommen gesehen! Wieso, in drei Teufels Namen, tauchte plötzlich wie aus dem Nichts Rainer auf? Das durfte doch einfach nicht wahr sein!

Tonio drehte sich zur Seite und schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab, als würde die untergehende Sonne ihn blenden.

Wenn er Glück hatte, konnte er das Schlimmste noch abwenden …

»He, Tonio! Erkennst du mich nicht mehr?«, rief Rainer in diesem Moment.

Kein Glück, kein Glück, hämmerte es in Tonios Kopf. Was sollte er nur machen? Wenn Rainer ein falsches Wort sagte, was mehr als wahrscheinlich war …

Julia umfasste Tonios Hand fester und zeigte mit der anderen auf Rainer. »Da hat jemand nach dir gerufen, Tonio. Hast du nicht gehört?«

Tonio sog tief die reine, kalte Abendluft ein, als wäre es sein letzter Atemzug. Dann schickte er sich ins Unvermeidliche und wandte sich Rainer zu.

»Tonio, Kumpel, erkennst du mich denn nicht mehr?«, wunderte sich Rainer, während er rasch näher kam. Er musterte Tonio von Kopf bis Fuß. »Wirklich kaum zu glauben! Ich bin den ersten Tag aus den Staaten zurück und begegne Tonio Manolo, meinem besten Freund aus Kinder- und Jugendtagen. Und er … Er erkennt mich nicht!«

Tonio fühlte einen Kloß im Hals, der ihm schier die Luft nahm.

»Natürlich erkenne ich dich«, rechtfertigte er sein Zögern. »Ich konnte es nur einfach nicht fassen, dass du es wirklich bist. Woher hätte ich wissen sollen, dass du wieder im Land bist?«

»Jetzt weißt du es«, lachte Rainer. »Wie geht es dir? Und was macht deine schöne Schwester Sina? Ist sie schon vergeben, oder habe ich noch eine letzte Chance? Und was treiben deine Eltern den ganzen Tag, von der Mehrung ihrer Finanzen einmal abgesehen?« Rainer schnappte nach Luft, um weiterreden zu können. »Bis in die USA habt ihr leider noch nicht expandiert. Jedenfalls habe ich in New York vergebens nach einem ›Da Manolo‹ gesucht.«

Noch ehe Tonio auch nur eine einzige von Rainers Fragen beantworten konnte, spürte er, wie Julia ihre Hand aus seiner Manteltasche zog.

Tonio wollte sie festhalten, doch sie befreite sich mit einem derart energischen Ruck, dass er fast ins Straucheln kam. Gleichzeitig trat sie einen Schritt zur Seite, um einen gebührenden Abstand zwischen sich und Tonio zu bringen.

»Julia, ich kann dir alles erklären. Es ist nicht so, wie du denkst. Es ist ganz anders. Ich hätte heute Abend ohnehin noch über die kleine Lüge mit dir geredet«, brach es wie ein Sturzbach aus Tonio heraus.

»Die kleine Lüge?«, hielt sie ihm kopfschüttelnd entgegen.

»Julia, was ist so schlimm daran, dass ich Tonio Manolo bin?«, fing Tonio anstatt einer Antwort von Neuem an. »Sag es mir. Dein Cousin und Sina …«

Weiter kam Tonio nicht, denn Julia machte auf dem Absatz kehrt und rannte davon.

Sie rannte und rannte, bis die kalte Abendluft in ihren Lungen brannte und sie vollkommen außer Puste war.

»Was war das denn? Willst du ihr nicht hinterher?« Rainer musterte Tonio mit einem Blick voller Unverständnis. »Wenn ich nicht vollkommen blind bin, ist sie deine Freundin. Und sie scheint etwas missverstanden zu haben. Du kannst sie doch nicht einfach gehen lassen, Tonio.« Rainer schüttelte ungläubig den Kopf.

»Vergiss es, Rainer.« Tonio winkte resigniert ab.

»Vergessen? Aber du …«

»Wenn ich vergessen sage, meine ich das auch so«, gab Tonio zurück. »Es ist alles schiefgelaufen, was schieflaufen konnte. Wirklich alles. Manchmal ist das eben so im Leben. Aber jetzt ist da nichts mehr, was geradezubiegen oder rückgängig zu machen wäre.«

Tonio spürte einen Druck in der Kehle, als müsste er weinen.

Unwillkürlich fragte er sich, wann er das letzte Mal geweint hatte.

*

Julia stand am Strand und schaute aufs Meer hinaus. Gedankenverloren betrachtete sie die tiefblauen Wellen, die weiße Schaumkronen herantrugen und sie in den Sand des Ufers rauschen ließen.

Plötzlich bückte sie sich und schöpfte feinkörnigen Sand in ihre Hände, nur um ihn dann verträumt durch ihre Finger wieder zu Boden rieseln zu lassen.

Ihre Blicke schweiften zu den Felsen, die sich da und dort aus dem Meer erhoben, dann wandte sie sich um und nahm die Silhouette von Girona im Abendlicht wahr.

Sie hatte in der kurzen Zeit in München und in der Zeit ihrer Krankheit fast vergessen, wie schön es hier war!

In tiefen Atemzügen sog Julia die salzige Meeresluft ein.

Sie bereute es nicht, dass sie ohne zu zögern mit ihrer älteren Schwester Linda nach Hause gefahren war. Auch Alex hatte ihr spontan dazu geraten, aber es hätte seines Rats nicht einmal bedurft.

Während Julia noch die Stimmung der Uferlandschaft in sich aufnahm, tauchte vor ihrem geistigen Auge wieder das Krankenzimmer ihres Vaters auf.

Sie besuchte ihn, seit sie wieder zurück war, in regelmäßigen Abständen und freute sich über die kleinen, aber kontinuierlichen Fortschritte, die seine Genesung machte.

Zu Julias großer Überraschung hatte er sie bisher noch mit keinem einzigen Wort gebeten, wieder dauerhaft nach Spanien zurückzukehren und den Weg zu gehen, auf den er sie noch vor einem halben Jahr auch gegen ihren Willen hatte leiten wollen.

Je weniger ihr Vater sie bedrängte, desto öfter fragte Julia sich aus freien Stücken, ob sie wieder nach München zurückkehren oder doch lieber in Girona bleiben sollte.

Julia fand eine Muschel im Sand und steckte sie ein, dann ging sie langsam weiter den um diese Jahreszeit fast menschenleeren Strand entlang.

Mit einem Mal fand sie sich an der Stelle in der kleinen Bucht wieder, an der Ronaldo und sie sich in einer verzauberten Sommernacht unter dem sternenübersäten Himmel zum ersten Mal geliebt hatten.

Julia wunderte sich, dass sie bei der Erinnerung an die Stunden ihres Liebesglücks mit Ronaldo keine Wehmut mehr empfand.

Erstaunt grub Julia in sich nach den alten Gefühlen, aber sie blieben verschollen.

Da war auch keine Wut mehr, kein Hass.

Da war einfach nichts.

Stattdessen kam ihr mit einem Mal Tonio Manolo in den Sinn.

Sie sah ihn wieder vor sich in seinem Schneemannkostüm mit dem Zylinder, dachte daran, wie sie zuerst nach der Musik der Band getanzt hatten und dann …

Von einer Sekunde auf die andere wurde Julias Wunsch, seine Arme wieder um sich zu spüren und ihm nah zu sein, beinahe übermächtig.

Wenn Tonio jetzt hier wäre, zusammen mit ihr am Strand …

Der Schrei eines Wasservogels riss Julia aus ihrer Versunkenheit.

Sie hatte Tonio nie wiedersehen wollen, weil er sie genauso belogen und betrogen hatte wie Ronaldo, wenn auch auf eine ganz andere Art. Trotzdem war und blieb eine Lüge eine Lüge.

Wie hatte sie das vergessen können?

Es war ihre maßlose Enttäuschung über Tonio gewesen, die ihr die Entscheidung, längere Zeit bei ihrem kranken Vater in Spanien zu bleiben, leicht gemacht hatte.

Julia warf noch einen letzten Blick auf das Meer hinaus, dann wandte sie sich wieder den Häusern von Girona zu. Sie wollte nach Hause, sie sehnte sich nach dem Gefühl von Ankommen und Geborgenheit.

Und in Girona war sie doch zu Hause, oder?

Hier war ihre Familie, hier war sie aufgewachsen …

Als Julia ein paar Tage später ihren Vater wieder im Krankenhaus besuchte, fand sie ihn nicht in seinem Zimmer. Sie erschrak, doch die freundliche Schwester, bei der sie sich nach ihm erkundigte, konnte Julia beruhigen.

Miguel Sanchez saß zu Julias freudiger Überraschung angezogen im Krankenhauspark auf einer Bank und hielt sein Gesicht in die Sonne.

»Papa!« Mit weit ausgebreiteten Armen lief Julia auf ihren Vater zu und zog ihn sanft an sich. »Ich bin so froh, dass es dir schon wieder so gut geht.«

»Und ich erst«, erwiderte Miguel Sanchez und strahlte seine jüngere Tochter an. »In drei Wochen werde ich entlassen. Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich den Winter schon wieder zu Hause verbringen würde!«

»Du wirst wirklich entlassen? In drei Wochen? Und das ist kein Scherz?«, vergewisserte Julia sich.

»Mit solchen Dingen scherze ich nicht«, gab Miguel zurück. »Aber ich kann verstehen, dass es nicht nur für mich, sondern auch für euch eine Riesenüberraschung ist. Alexander zumindest war ebenfalls ganz erstaunt, als ich es ihm heute Morgen am Telefon erzählt habe.«

»Alex? Du hast mit Alex telefoniert?«, sprudelte es aus Julia heraus. »Was gibt es Neues von ihm?«

Julia wartete neugierig, was ihr Vater wohl von Alex zu berichten wusste, doch Miguel schwieg.

Stattdessen hatte Julia das Gefühl, sein Blick würde mit einem Mal besonders aufmerksam auf ihr ruhen. Fast so, als wartete er darauf, dass sie sich jeden Moment anschickte, ihm etwas anzuvertrauen.

»Hast du mir nichts zu sagen?«, wollte Miguel denn auch prompt wissen.

»Ich … kei… keine Ahnung. Was willst du denn wissen?« Julia wurde unsicher und kam ins Stottern.

»Du willst, statt in die Schule zurückzugehen und Abitur zu machen, eine Lehre als Köchin beginnen?«, half Miguel Sanchez seiner Tochter auf die Sprünge.

Julias rechtes Bein fing an, nervös auf und ab zu wippen, als hätte es plötzlich ein Eigenleben.

»Ja«, sagte sie nach einer kurzen Pause. »Aber … Aber vielleicht …«

»Willst du oder willst du nicht?«, forschte Miguel beinahe so streng, wie Julia es aus alten Zeiten von ihm gewohnt war.

»Ja, natürlich will ich«, räumte Julia ein, »aber …«

»Bin ich so ein Unmensch, dass du nicht gewagt hast, mit mir darüber zu reden?«, fragte Miguel.

»Nein … nein«, stammelte Julia. »Es ist nur … Du und Mama, ihr hattet euch irgendwie als fixe Idee in den Kopf gesetzt, dass ich genau wie Linda …«

Fast ängstlich schaute Julia ihren Vater an, konnte aber keine Spur auch nur der geringsten Regung von Zorn oder Wut entdecken.

Stattdessen nahm er Julias Hand und streichelte mit seinen welk und fleckig gewordenen Fingern darüber.

»Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, Julia«, sagte er. »Mama und ich, wir wollten in der Tat, dass du in Lindas Fußstapfen trittst. Wir wollten nur dein Bestes, das musst du mir glauben. Auch wenn du uns manchmal vielleicht doch irgendwie als Unmenschen empfunden hast. Aber, wie Alex heute Morgen ganz richtig gesagt hat, du musst selbst wissen, was für dich das Beste ist. Das kann dir niemand sagen. Nur dein eigenes Herz.« Miguel schwieg einen Moment und räusperte sich, dann setzte er hinzu: »Im Übrigen, wenn ich mir vorstelle, was für ein großartiges Menü eine Köchin in der Familie zu meinem hundertsten Geburtstag und zu Mamas und meinem achtzigsten Hochzeitstag zaubern wird …«

Lachend zog Julia an der Baskenmütze, mit der Miguel sein schütteres Haar bedeckte.

*

Tonio fuhr schnell, obwohl er gegen die grellen Sonnenstrahlen anblinzeln musste, die sich durch das Seitenfenster seines Wagens stahlen und ihm direkt ins Gesicht leuchteten.

Was Julia wohl sagen würde, wenn er in Girona auftauchte und urplötzlich vor ihr stand?

Es war nicht ganz leicht gewesen herauszufinden, wo sie nun lebte.

Nun war er jedenfalls fast am Ziel.

Er hatte die Reise nach Spanien einfach antreten müssen, denn Julia war ihm nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Wenn Tonio an jenen verzauberten Abend dachte, stahl sich noch immer ein Lächeln auf seine Lippen, und es wurde ihm ganz warm ums Herz.

Warum in aller Welt hatte das Glück, das er schon so nahe geglaubt hatte, sich bei diesem unseligen Spaziergang im Englischen Garten so urplötzlich wieder aus dem Staub gemacht?

Und alles Licht und allen Glanz mit sich genommen?

Tonio legte eine neue CD ein. Die Musik, die aus der auf volle Lautstärke gedrehten Stereoanlage seines Autos kam, beruhigte ihn und lenkte ihn von der Bangigkeit ab, die ihm das Wiedersehen mit Julia verursachte.

Vielleicht erhoffte er sich viel zu viel davon. Julia wusste schließlich nicht einmal, dass er ihr nachreiste und schon fast am Ziel war.

Tonio beschloss spontan, sobald er Girona endlich erreicht hatte, nicht sofort nach dem Haus der Familie Sanchez zu suchen, sondern zuerst an den Strand zu fahren.

Vielleicht, wenn er dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen zuhörte, kam ihm ja eine Idee, wie er wieder einen Zugang zu Julias Herz und zu ihren Gefühlen finden konnte.

Das Gespräch mit ihrem Vater hatte Julia stärker aufgewühlt, als sie zunächst geglaubt hatte. Obwohl es ganz anders verlaufen war als die Gespräche von früher, bei denen Alex ihr oft hatte zu Hilfe eilen müssen, damit sie es halbwegs schaffte, gegen den starken Willen ihres Vaters zu bestehen.

Julia beschloss, noch einmal hinunter an den Strand zu gehen, wo sie seit ihrer Rückkehr nach Spanien schon so oft gewesen war. Allerdings wollte sie diesmal nicht wieder die Stelle aufsuchen, die sie unwillkürlich mit der Erinnerung an Ronaldo verband.

Stattdessen wollte sie in die andere Richtung gehen, bis sie zu den Felsen kam. Vor allem zu dem einen Felsen, an dem sie als Kind so gern gespielt hatte. Und an dem sie, wenn sie Kummer gehabt hatte, immer dem Meeresrauschen zugehört hatte.

Das Auto, das bei dem jetzt im Winter geschlossenen Strandimbiss geparkt hatte, nahm sie nur am Rande wahr. Achtlos lief sie daran vorbei, ohne das Kennzeichen auch nur eines Blickes zu würdigen.

Nichtsahnend ließ Julia sich neben dem Felsen in den Sand fallen.

Er war nicht warm wie im Sommer, und auch der Himmel über dem Meer passte an diesem Abend zum Beginn der winterlichen Jahreszeit.

Große Wolken trieben heran, die mit Sicherheit Regen, wenn nicht gar ein Gewitter bringen würden.

Eine Weile sah Julia dem Spiel der Wolken zu, als sie mit einem Mal ein Geräusch vernahm, das nichts mit der sie umgebenden Natur zu tun hatte.

Verwirrt blickte Julia auf und schaute in Tonios Gesicht.

Das … das konnte doch nicht sein! Das gab es einfach nicht!

Einen Moment lang glaubte Julia an ein Trugbild, das die Nixen für sie gezaubert hatten, um ihr eine Botschaft zu überbringen, schalt sich aber im nächsten Augenblick eine Närrin.

»Julia!« Tonio trat einige Schritte näher und streckte die Hände nach ihr aus.

Julia wollte rückwärts gehen, ihm ausweichen, aber sie konnte nicht. Es war, als strahlte von seinen Händen eine Kraft aus, der sie nicht widerstehen konnte, selbst wenn sie ihre ganze Willensstärke zusammennahm. Wie ohnmächtig legte sie ihre Hände in seine und fühlte sofort einen pulsierenden Energiestrom, der aus seinen Händen in ihren Körper floss, als würde er ihn mit tausend Lichtblitzen fluten.

Sie gab sich dieser Empfindung hin und hörte gleichzeitig mit halbem Ohr, wie Tonio ihr erklärte, warum er so gern der Schneemann für sie geblieben war. Wie glücklich es ihn gemacht hatte, endlich einmal um seiner selbst willen geliebt zu werden.

Julia schüttelte den Kopf.

»Aber du bist nun einmal Tonio Manolo«, sagte Julia. »Egal, als was ich dich kennengelernt habe. Dein Reichtum … ändert doch nichts an dir, an dem Menschen, der du bist. Und er ändert vor allem nichts an dem Gefühl …«

Ein Donnergrollen erstickte Julias nächste Worte.

Hand in Hand schauten Julia und Tonio auf das Meer hinaus, dessen Melodie mit einem Mal aufgeregter und wilder wurde. Die Wellenkämme wurden höher, schienen das Ufer in Besitz nehmen zu wollen und benetzten Julias und Tonios Füße, als wollten sie die beiden vertreiben.

Gleichzeitig setzte Regen ein.

Julia überlegte einen Moment, dann zog sie an Tonios Hand.

So wie er sie im Garten der Manolo-Villa zum Pavillon geführt hatte, führte nun sie ihn zu einem Felsvorsprung, der sich wie ein Dach über einem kleinen geschützten Fleckchen Ufer wölbte.

Sie hörten das Meer toben, aber es konnte ihnen nichts anhaben. Genau wie der Regen, der sich über den Felsvorsprung in den Sand ergoss, sie beide aber unbehelligt lassen musste.

Tonio legte seine Arme um Julia und zog sie dicht an seinen Körper. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, und fühlte sich sicher und behütet. Die Berührung mit Tonio weckte Verlangen in ihr, aber da war noch mehr.

Da war eine Verbindung, die über das Verlangen hinausging.

Da war plötzlich die unumstößliche Gewissheit, dass sie an Tonios Seite nicht nur diesen Gewittersturm, sondern auch alle Stürme und Winter des Lebens überstehen würde. Ohne auch nur einen Moment zu frieren oder Angst zu haben.

»Wirst du mit mir nach München zurückkehren?«, fragte Tonio plötzlich ganz dicht an Julias Ohr. »Wir werden deine Familie immer wieder besuchen. Das verspreche ich dir. Und sie können auch uns besuchen. Ich … will dir schließlich nichts wegnehmen, Julia.« Er küsste sie lange und liebevoll. »Aber ich will dir so viel schenken.«

Julia erwiderte seine Küsse mit Leidenschaft und Hingabe, schob zärtlich ihre Hände unter seine Jacke und ließ sie liebkosend über seinen durchtrainierten, muskulösen Oberkörper gleiten.

»Natürlich komme ich mit dir zurück nach München«, sagte sie.

Tonio atmete erleichtert auf. »Gut zu wissen«, sagte er und umschlang Julia noch fester. »Ich glaube, wenn du Nein gesagt hättest, hätte ich dich einfach entführt.«

Der junge Norden Staffel 1 – Arztroman

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