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TEIL I DER PATIENT BRANDON

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Kanada: nicht nur ein eigenständiger Staat in Amerika. Es ist ein Land voller Gegensätze. Riesige Waldgebiete mit herrlichen, großen, blauen, aber eiskalten Seen. Heiße, kurze Sommer, lange, sehr kalte Winter, manchmal auch mit schweren Schneestürmen in den Bergen. Ein wunderschönes Land, in das man sich sofort verlieben kann. Hohe schneebedeckte Berge blicken hinab auf ein überschwängliches Maß an Vegetation im Sommer. In den geschützten Tierparks gibt es viele seltene Tiere zu bewundern, deswegen verzeichnet dieses Land jedes Jahr auch eine große Zahl an Touristen.

Der April neigte sich dem Ende zu. Dr. Gordon Spencer, von Beruf Kinderarzt, dreiunddreißig Jahre alt, fuhr mit seinem Auto in Richtung eines alten Klosters. Von Gestalt aus schlank und groß musste er sich etwas in seinen kleinen Wagen hineinzwängen. Das dichte, dunkelbraune Haar hatte ein Eigenleben, denn es ließ sich kaum in irgendeine Richtung bändigen. Mit sorgenvollem Gesicht blickte er durch die Windschutzscheibe seines Fahrzeugs. Zurzeit besaß er keinen festen Arbeitsplatz. Seine gute Stellung in einer Kinderklinik in Vancouver hatte er gekündigt, da er seinem Freund beistehen wollte, der an Leukämie erkrankt war. Von dort kam er gerade. Er konnte es nicht mehr mit ansehen, wie schnell er verfiel. Der junge Mann befand sich bereits im Endstadium. Keine Pflegekraft wollte bei ihm bleiben. Im Moment bemühte sich eine ältere Pflegerin um ihn, in der Reihenfolge die achte. Aber diese Frauen sahen alle nur das Geld, das sie dort verdienten und er konnte ihnen gar nicht schnell genug sterben, denn nach seinem Tod stand eine große Summe für die letzte Pflegekraft aus. Der Freund hatte von seiner Familie eine Bank mit sechs Filialen und viele Millionen seines Stiefvaters nach dessen Tod geerbt. Die Pflegekräfte spekulierten alle ausschließlich auf das Geld, doch pflegen wollten sie ihn nur wenig. Da den meisten sein Ableben nicht schnell genug ging, blieben sie nicht lange und gaben sich praktisch die Klinke in die Hand. Am Abend zuvor hatte Gordon seinen Freund besucht. Er kam direkt aus Vancouver. Zufällig fiel ihm ein Vertrag von einer Pflegekraft in die Hände. Er überflog ihn und platzte dann los: „Brandon, bist du noch richtig im Kopf? Ich dachte, ich hätte mich verlesen bei dem Vertrag der freien Pflegekräfte. Du versprichst der letzten Pflegerin hier ein extra hohes Honorar? Kein Wunder, dass sie dich so schlecht behandeln. Sie wollen deinen Tod alle nur beschleunigen, denn jede will die Letzte sein und dann das Geld einstreichen. Verzeih’ mir, mein Freund, aber das ist schlichtweg einfach idiotisch von dir.“

„Vielleicht will ich ja schnell sterben. Dieses Leben ist sowieso nur noch ein Dahinvegetieren“, gab er ihm leise zu verstehen. „Es wird gewiss nicht mehr lange dauern. Mein Testament habe ich gemacht. Alles ist geregelt.“

Gordon wälzte sich schlaflos in seinem Bett herum. Doch in dieser Nacht kam ihm plötzlich eine Idee. Deshalb machte er sich am nächsten Tag sofort auf den Weg zu dem Kloster „Heilig Geist.“ Eine Nonne musste es sein. Sie besaß nichts und bekam auch nichts. Sie lebte in Armut, Keuschheit und Demut, nur für Gott. Sie würde bestimmt nicht auf sein Geld aus sein, dachte er sich. Seine Tante regierte dort als Mutter Oberin. Sie wollte er um Hilfe bitten. Gordon hielt den Wagen an, weil seine Augen vor ungeweinten Tränen brannten. Er legte den Kopf auf seine Hände, die das Steuerrad umklammerten und ließ ihnen endlich freien Lauf. Brandon galt als sein bester Freund. Schon als Kinder spielten sie zusammen. Später trafen sie sich auf der Universität wieder. Gordon studierte Medizin, speziell für Kinder, und Brandon studierte Veterinärmedizin. Im Grunde hätte er das gar nicht nötig gehabt, bei den vielen Millionen. Er hätte bequem von den Zinsen leben können und bräuchte sich trotz allem bei nichts einzuschränken. Dennoch wählte er einen Beruf, weil er der Meinung war, sein Leben nicht einfach so sinnlos zu vertrödeln mit Nichtstun und langweiligen Partys. Außerdem liebte er als Kind bereits besonders die Tiere. So empfand er seinen Beruf mehr als ein Hobby. Kamen arme Leute mit einem kranken Tier zu ihm, erließ er ihnen meist die Kosten. Seine Eltern und sein sechs Jahre älterer Bruder verließen ihn sehr früh nach einem tödlichen Autounfall. Brandon zählte damals erst dreizehn Jahre. Das Hausmeisterehepaar kümmerte sich weiter um ihn, da sonst kaum Verwandte zu finden waren, oder sie wollten kein Kuckucksei großziehen. So wurde er zum Alleinerben des ganzen Bankenimperiums seines Stiefvaters. Eigentlich war er gar nicht vorgesehen dafür. Brandon wuchs zu einem anständigen und bescheidenen jungen Mann heran. Seine Körpergröße überstieg die seines Vaters um mehrere Zentimeter. Er maß über eins neunzig. An seiner Figur gab es nichts auszusetzen. Er war etwas breitschultrig, schlank und gut durchtrainiert. Die pigmentreiche Haut hatte er von seiner Mutter geerbt, die nur wenige Stunden in der Sonne bleiben musste, um braun zu werden. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar schimmerte bei speziellem Lichteinfall manchmal beinahe schwarz. Nur seine Augen trugen ein strahlendes Blau, das er manchmal unter den langen, dunklen Wimpern verbarg. Warum ausgerechnet er, warum musste er an dieser tückischen Leukämie erkranken? Ich werde meinen besten Freund, den ich bereits aus Kindertagen kenne, verlieren, dachte Gordon. Was wird dann wohl aus dem Banken- Imperium, wenn er nicht mehr ist? Aus den entfernten Familienangehörigen wird es wohl keiner bekommen, wenn sie es auch vielleicht gern möchten. Am Ende zersplittern die einzelnen Filialbanken und werden von der Hauptbank, der Rose-Bud-Bank getrennt. Oder die sechs Banken werden vielleicht zu einer zusammengelegt? Dann würden viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Er schüttelte seinen Kopf, wischte sich die Tränen ab und startete den Wagen neu. Die Nachmittagssonne schien heute besonders heiß vom Himmel. Sie heizte dem Kinderarzt in dem kleinen, alten klapprigen Fahrzeug ganz schön ein. Weit voraus, doch immer in Sichtweite, begleiteten ihn die schneebedeckten Berge. Gordon fuhr bereits seit dem Mittag, denn das Kloster lag sechzig Kilometer weit ab von Brandons Haus. Außerdem kam er von Vancouver her, machte nur schnell eine Nacht Zwischenstation bei Brandon, um dann seinen Entschluss mit dem Kloster durchzusetzen. Erzählt hatte er Brandon nichts von seinem Vorhaben, denn der Freund hielt nichts von der Kirche und von Betschwestern schon gleich gar nicht. Gegen Abend erreichte er endlich sein Ziel. Dass er so lange brauchte, lag an seinem alten Auto.

Schon lange hatte er seine Tante nicht mehr besucht. Sie würde sich bestimmt wundern, was er auf einmal bei ihr wollte.

Er stieg aus seinem Auto, streckte und reckte sich erst einmal und stand vor einem großen, schweren, doppelwandigen, rundbogigen Eichentor. Die grauen Mauern aus ungleichen Steinen wurden rötlich von der Abendsonne beschienen. Er betätigte den alten, eisernen Türklopfer. Sogleich öffnete ihm eine ältere Nonne, die ihn freundlich unaufgefordert, als ob sie wüsste, was er wolle, zur Mutter Oberin führte.

Diese saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus dunkler Eiche. Als Gordon eintrat, nahm sie die Brille ab, erhob sich und eilte um den Schreibtisch herum.

„Gordon, wenn ich alles erwartet hätte, aber dich am allerwenigsten!“, rief sie erfreut.

Sie umarmten sich.

„Ja Tante, ich habe dich schon eine Ewigkeit nicht mehr besucht. Aber dieses Kloster liegt auch weit ab von meinem Tätigkeitskreis. Heute komme ich mit einem Problem zu dir, das mir fast das Herz erdrückt. Ich weiß einfach nicht mehr aus noch ein. Vielleicht kannst du mir helfen?“, begann er.

„Setz dich, bitte.“ Die Oberin bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. Sie besaß einen schlanken Körper und ihre Größe bewegte sich in den mittleren Maßen. Ihr Alter mochte zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren liegen. Sie trug eine schneeweiße Tracht. Das blonde Haar verbarg sie vollkommen unter dem Schleier. Ihr Gesicht wies eine gewisse Strenge auf, doch wenn man sie näher kannte, wusste man, dass sie viel lieber lachte als tadelte. Jeder konnte mit seinen Sorgen oder manchmal auch Fehltritten zu ihr kommen. Aus ihrer Stimme fühlte und hörte man immer das große Verständnis für die dargelegten Probleme und die Güte mitschwingen. Obwohl sie hier als Oberin regierte, tat sie es nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Herzen. Deshalb wurde sie auch von all ihren Untergebenen geliebt und nicht gefürchtet oder gehasst. Diese Nonnen hatten das besondere Glück, eine Oberin mit eigenen, schlimmen Erfahrungen zu haben, deswegen vor allem mit viel Gefühl. Da sie eben dies erlebt hatte, bereits in sehr jungen Jahren, regierte sie hier oft ziemlich nachsichtig und milde, statt mit Strenge und Strafe. Sie wurde auch nach den vielen Jahren, die sie als Oberin im Heilig Geist Kloster diente keine Beißzange, wie so viele andere in dieser Stellung. Sie half ihren Untergebenen mit Rat und Tat und fand praktisch für jedes Problem einen Ausweg.

„Nun, dann pack’ deine Sorgen und deinen Kummer hier aus“, forderte sie ihren Neffen lächelnd auf und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

Gordon faltete seine Hände über dem Knie und begann: „Mein bester Freund ist an Leukämie erkrankt. Ich betreue ihn im Moment: Er bekommt jedoch nicht die geeignete Pflegekraft. Alle sehen nur das Geld, das sie dabei verdienen, denn mein Freund ist mehrfacher Millionär, und er ist nicht kleinlich bei der Bezahlung. Ich habe die Pflegekräfte lange genug beobachtet, doch ich bemerke nicht viel von der Pflege. Das Bett wird nicht frisch bezogen, es wird ihm beim Essen nicht geholfen, die Körperpflege lässt auch zu wünschen übrig und was ich am allerschlimmsten finde ist, dass sie sehr ungeduldig und lieblos mit ihm umgehen.“

Die Oberin überlegte eine Weile, ehe sie antwortete. „Wie heißt dein Freund?“, erkundigte sie sich.

„Brandon Stonewall. Ich nehme an, du hast von ihm schon gehört“, antwortete Gordon.

„Ja, natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er ist der oberste Chef der Rose-Bud-Bank und ihrer sechs Zweigstellen in ganz Kanada“, bestätigte sie. „Er ist der einzige Überlebende seiner Familie und nun liegt er selbst todkrank da? Ich vermute, du suchst bei mir eine geeignete Pflegekraft für ihn?“, informierte sie sich.

„Ja, wenn es möglich wäre und du eine deiner Schwestern entbehren könntest, würde mich das gewiss um einiges entlasten“, antwortete er und blickte sie mit großen Sorgenfalten auf der Stirn an.

Die Oberin zog ihre Stirn ebenfalls in Falten. Dann entspannte sich ihr Gesicht und ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund.

„Ich glaube, ich habe da eine sehr gute Pflegekraft für deinen Freund. Sie heißt Schwester Christin und ist eine meiner besten Kräfte, speziell in der Krebspflege. Sie kommt zwar heute Abend erst von einem ihrer Patienten zurück aber ich denke, dass sie die Aufgabe, deinen Freund zu pflegen, annehmen wird.“

„Er hat bereits das Endstadium erreicht“, klärte er vorsichtig die Tante auf.

Dann legte er noch eine Mappe auf ihren Schreibtisch, die ein kurzes Dossier über seinen Freund enthielt.

Die Oberin griff zum Telefon, um sich zu informieren, ob Schwester Christin bereits im Haus sei. Es dauerte auch gar nicht lange, da öffnete sich hinter Gordon eine Türe. Er drehte sich um und sah sich einer sehr kleinen, überaus zierlichen jungen Nonne in einer völlig schwarzen Tracht gegenüber. Es gab keinen noch so kleinen Flecken weißen Stoff an ihr, jedoch ihre Gestalt und ihre strahlenden, dunklen Augen ließen diese tiefschwarze Tracht vergessen.

Die Oberin erhob sich. „Darf ich vorstellen? Das ist Schwester Christin. Christin, das ist Doktor Gordon Spencer, mein Neffe. Er ist von Beruf Kinderarzt“, stellte sie die beiden einander vor. Christin machte einen kleinen Knicks, während Gordon eine Verbeugung andeutete. Mit einem Seitenblick auf die Nonne meinte er: „Entschuldigung, aber hast du dich da nicht etwas vertan? Wie soll sie das allein bewältigen? Ich bin ja schon eins achtzig groß und mein Freund misst um die eins neunzig.“

„Keine Sorge, mein Junge. Christin beherrscht ihr Handwerk vollkommen, ob große oder kleine Patienten“, erklärte die Oberin mit einem nachsichtigem Lächeln. Dann wandte sie sich direkt an die kleine Nonne.

„Christin, ich weiß, dass Sie eben von einem Patienten zurückkommen. Aber ich hätte einen dringenden und eventuell auch etwas langwierigen Fall für Sie. Natürlich ist es Ihr gutes Recht abzulehnen, mit der Begründung, dass Sie sich erst etwas ausruhen möchten …“

„Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Wenn ich so dringend gebraucht werde, gehe ich natürlich sofort zu dem Patienten. Bis morgen früh bin ich auf jeden Fall wieder fit“, fiel ihr die Nonne in die Rede.

„Dann ist ja alles geregelt“, freute sich die Oberin. „Gordon, du kannst hier bei uns übernachten. Morgen früh darfst du Schwester Christin dann mitnehmen.“

Abschließend drückte sie der kleinen Nonne das Dossier in die Hände.

Diese schlug die erste Seite auf und sah dort ein Bild von ihrem neuen Patienten Brandon Stonewall. Sie erblickte einen großen, schlanken, jungen Mann, gutaussehend, dunkelhaarig, mit strahlend blauen Augen und kleinen Lachfältchen im Gesicht. Sie fühlte sich so angerührt von diesem Foto, dass sie sich setzen musste. Unentwegt starrte sie auf das Bild, als die Mutter Oberin sie fragte: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Christin? Sie sehen ja auf einmal so blass aus.“

„Nein, Mutter, es ist nichts“, antwortete sie lächelnd, schlug die Mappe zu und erhob sich.

„Ich lese es in meinem Zimmer zu Ende“, teilte sie ihr mit und verabschiedete sich.

„Ich wusste gar nicht, dass du so junge Schwestern hier als Nonnen hast“, wunderte sich Gordon.

„Sie war ein Findelkind. Sie lag einst zu Weihnachten, in der Heiligen Nacht, in der Krippe unserer Kapelle. Ein Neugeborenes, nur in ein Badetuch gehüllt. Unsere Kapelle wurde zu dieser Zeit noch nicht beheizt, deshalb war es sehr kalt dort und das Kind erkrankte anschließend sehr schwer, so dass keiner mehr glaubte, dass es überleben würde. Aber, wie durch ein Wunder, wurde sie gesund. Sie ist hier im Waisenhaus aufgewachsen und hat sich dann mit fünfzehn Jahren entschieden Nonne zu werden. Christin hat fleißig gelernt und ist eine meiner besten Pflegekräfte, was die Krebspflege betrifft. Deshalb erlaube ich ihr auch über Nacht und, wenn es sein muss, über mehrere Monate bei schwerkranken Patienten zu bleiben. Ich kann ihr fest vertrauen, wenn sie eine Tätigkeit über lange Zeit außerhalb der Klostermauern beansprucht, denn sie ist vor allem äußerst stark im Glauben“, erklärte die Oberin.

Die Tante und der Neffe hatten sich lange nicht gesehen und so blieben sie noch eine Zeitlang zusammen, um Erlebnisse auszutauschen. Dadurch erfuhr die Tante, dass Gordon im Moment keine Anstellung hatte. Er hatte seine Stelle als Kinderarzt in einer Vancouver Kinderklinik gekündigt, um seinem Freund beizustehen. Sie rechnete ihm das hoch an. Da kam ihr eine Idee.

„Du hast keine Arbeit, sagtest du?“, forschte sie nach.

„Ja, die Entfernung von meinem Arbeitsplatz in Vancouver bis zu Brandon betrug viele Meilen, die ich nicht ständig fahren konnte“, antwortete Gordon.

„Nun, ich könnte gerade einen Kinderarzt brauchen. Unser langjähriger Kinderarzt ist krank und schon siebzig Jahre alt. Er sollte in den Ruhestand gehen und nicht mehr arbeiten. Wenn du möchtest, kannst du dir die Kinderklinik gleich einmal ansehen“, machte sie es ihm schmackhaft.

„Wenn das möglich wäre“, überlegte er. „Dann würde ich auch nicht allzu weit entfernt von meinem Freund sein.“

Die Oberin rief eine Schwester auf der Kinderstation an. „Gleich wird dir Schwester Melissa, die Stationsschwester, die Klinik zeigen“, lächelte sie ihrem Gast zu.

Kurze Zeit später öffnete sich die Türe und die Schwester im völlig schwarzen Habit trat ein.

Gordon erhob sich, um sie zu begrüßen. Da traf es ihn wie ein Stromschlag, als er sie erblickte. Groß gewachsen, schlank, jung, ein unwahrscheinlich liebliches Gesicht und eine Hautfarbe wie heller Milchkaffee, denn sie war ein Mischling zwischen schwarz und weiß. Gordons Verbeugung fiel etwas ungelenk aus, während die Oberin Melissa den Wunsch ihres Gastes mitteilte.

„Oh ja, natürlich führe ich Sie gern durch die Kinderklinik“, bestätigte sie mit einer angenehm leisen Stimme und einem Lächeln.

„Kommen Sie mit mir“, forderte sie Gordon auf.

Ja, dachte er. Mit dir würde ich überall hingehen. Ich muss diese Stelle hier bekommen. Damit ich immer in deiner Nähe sein kann.

Mit einem frohen Lächeln auf den Lippen führte sie ihn herum. Man sah und fühlte, dass sie ihre Arbeit sehr gern, mit Herz und viel Liebe bei den kleinen Patienten verrichtete. Gordon bemerkte auch, dass die kranken Kinder sie sehr gern hatten. Melissa stellte Gordon auch den alten Kinderarzt Dr. Henry Clark vor. Dieser reagierte allerdings etwas griesgrämig.

„So, Kinderarzt sind Sie? Wollen mir wohl meinen Platz hier streitig machen, weil ich nicht mehr der Jüngste bin? Deshalb gehöre ich noch lange nicht zum alten Eisen. Ich habe dafür nämlich viel mehr Erfahrung als ihr jungen Hüpfer“, gab er ihm gleich zu verstehen, dass er nicht vorhatte so schnell das Feld zu räumen.

Er schob seine Brille auf seine Stirnglatze und besah sich Gordon ganz genau. Ein Kranz weißer Haare umrundete seinen Hinterkopf und die Seiten. Den weißen Arztmantel trug er offen, denn sein dicker Bauch sprengte alle Knöpfe.

„Streitig machen möchte ich Ihren Platz auf keinen Fall. Aber ich hätte da einen anderen Vorschlag: Wir könnten uns die Arbeit teilen. Dann wird keiner überbelastet und zusätzlich kann einer vom anderen noch lernen. Ich bringe Ihnen die Neuerungen und Sie mir Ihre Erfahrungen. So könnten wir uns toll ergänzen“, bot Gordon an.

„Von den neuen Errungenschaften in der Kinderheilkunde halte ich nicht viel.“ Der alte Arzt machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die alten haben sich immer noch am besten bewährt.“

Während der Unterhaltung beobachtete Gordon, wie dem alten Arzt die Hände zitterten. Nachdem sie sich verabschiedet und sich ein Stück von ihm entfernt hatten, blieb er stehen und wandte sich an die Ordensschwester.

„Trifft er eigentlich noch eine Vene, mit seinen zittrigen Händen?“, erkundigte er sich leise.

„Selten, meistens legen wir die Infusionen und geben die intravenösen Spritzen. Es wäre sehr schön, wenn Sie bei uns arbeiten würden. Dann müssten wir nicht täglich sein griesgrämiges Gesicht sehen und seine Launen ertragen. Ich glaube nicht, dass er noch lange bleibt“, antwortete Melissa.

„Dr. Clark hat Parkinson?“, hinterfragte Gordon vorsichtig.

„Ja, Sie haben es richtig erkannt, aber er will es nicht wahrhaben.“ Dabei sah sie ihn mit strahlenden, dunklen Augen an. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Warum muss dieses Geschöpf ausgerechnet eine Nonne sein, wenn ich mich schon einmal verliebe? dachte er. Denn dass er sich in sie verliebt hatte, wurde ihm sofort klar.

Melissa brachte den Arzt zur Oberin zurück. Sie verabschiedete sich und verschwand ebenso leise, wie sie gekommen war. Bevor sie jedoch die Türe hinter sich schloss, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu.

„Und, Gordon? Hast du dich schon entschieden?“, riss die Tante ihren Neffen aus seinen Gedanken.

Ihre Augen erspähten bereits das sanfte Lächeln auf seinen Lippen und ebenso den besonderen Glanz in seinen Augen.

„Ja, ich werde dein Angebot annehmen. Wenn Schwester Christin Brandon betreut, braucht er mich nicht mehr so oft. Ich würde mich dann nur langweilen“, antwortete er. „Möchtest du meine Zeugnisse sehen?“, bot er ihr an.

„Nein, das muss nicht sein. Ich glaube, du bist auch so ein guter Kinderarzt. Wenn du willst, kannst du sie ja beim nächsten Mal mitbringen. Solange du die Kinderklinik besichtigt hast, habe ich mir erlaubt bei deiner letzten Arbeitsstelle Erkundigungen über dich einzuholen. Sie waren alle voll des Lobes über dich und sie bedauern es sehr, dass du so plötzlich gekündigt hast“, erklärte ihm die Oberin.

„Na, na, Tante, übertreib mal nicht“, wehrte Gordon ab.

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Sie wollten dir demnächst den Chefarztposten anbieten und den bekommt man bestimmt nicht so ohne weiteres in deinem Alter. Tja“, sie zuckte mit den Achseln. „Gerade da hast du deinen Hut genommen“, berichtete sie weiter.

„Das habe ich nicht gewusst“, antwortete er völlig tonlos.

„Hättest du dann nicht gekündigt?“, wollte die Tante gespannt wissen.

Der Arzt überlegte kurz. „Doch, ich hätte es trotzdem getan. Ich wollte meinem Freund beistehen. Mir ist der Mensch wichtiger, als das Geld, das ich dann mehr bekommen hätte“, bestätigte er voller Ehrlichkeit. „Mein Freund ist vier Jahre jünger als ich und wir kennen uns seit Kindertagen. Mir graut vor dem Tag, an dem er mich verlässt.“ Beim letzten Satz wurde er immer leiser.

„Siehst du? Genau das wollte ich von dir hören“, atmete sie erleichtert auf. Sie war sich sicher, dass sie den richtigen Mann gefunden hatte für ihre Kinderklinik.

„Gut, dann werde ich den alten Clark mal langsam aus dem Verkehr ziehen“, überlegte die Oberin.

„Nein, Tante Rose, das würde ich nicht tun“, wehrte Gordon ab. „Lass ihn solange er möchte seine Arbeit verrichten. Ich habe das Gefühl, er braucht es, auch wenn er ziemlich tatterig ist. Eines Tages wird er es selbst begreifen, wenn es nicht mehr geht.“

„Schön, wenn du meinst mit ihm klarzukommen? In manchen Dingen ist er nämlich ganz schön bockbeinig und er kann zu einem richtigen Kotzbrocken werden“, warnte sie ihn.

„Keine Sorge, ich mach’ das schon“, beruhigte er sie.

„So, und jetzt komm, mein Junge. Es ist schon spät. Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.“ Somit erhob sich die Oberin und schritt Gordon voran durch einen dunklen Gang. An dessen Ende öffnete sie eine Türe und schaltete das Licht ein, das von einer einfachen, weißen, runden Lampe an der Decke kam.

„Hier kannst du dich ausschlafen. Es ist vollkommen egal, wann du morgen früh aufstehst oder soll ich dich wecken?“ erkundigte sie sich.

„Das wäre mir sogar lieber. Sagen wir so gegen sieben Uhr?“, bat er sie.

„Gut, dann klopfe ich Morgen an deine Türe. Toiletten und Dusche sind zwei Türen weiter hier auf dem Gang. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Sie schloss die Türe. Während sie sich entfernte, dachte sie über ihn nach. Ich wusste gar nicht, dass ich einen so attraktiven, gutaussehenden Neffen habe. Der wird einen ganz schönen Wirbel hier im Kloster unter meinen Ordensschwestern auslösen.

Gordon sah sich um. Er stand in einem äußerst spartanisch eingerichteten Zimmer. Dieses bestand aus einem Bett an der Wand, einem schmalen Schrank, denn Nonnen besaßen nicht viel Kleidung, einem kleinen, dreibeinigen Tisch mit einem verblichenen Stoffsessel und einem Waschbecken. Ein kleines Fenster wäre noch erwähnenswert gewesen, allerdings ohne Gardine. Ein großes Holzkreuz hing dem Bett gegenüber. Es nahm beinahe die ganze Breite und Höhe der gesamten Wand ein.

So also leben die Ordensfrauen hier, dachte er bei sich. Verblüfft stellte er fest, dass es keinen Spiegel über dem Waschbecken gab. Wie sollte er sich am nächsten Morgen rasieren? Und vor allem mit was? Er trug weder Rasierzeug, noch Wäsche zum Wechseln bei sich. Wer hätte denn auch ahnen können, dass er zum Schlafen eingeladen wurde? So ging er zwei Türen weiter in den Duschraum.

Wenigstens den Schweiß des heißen Tages abspülen, dachte er. Als er zurück kam lag auf dem kleinen Tischchen ein Apfel und daneben stand ein Glas mit einer Flasche Mineralwasser. Das Obst aß er sofort und spülte alles mit einem Glas Wasser hinunter. Danach legte er sich nur mit der Unterwäsche bekleidet auf das Bett. Das Fenster öffnete er weit, denn die Luft stand förmlich im Zimmer. Er rief sich Melissas liebliches Gesicht in Erinnerung und schlief damit ein.

Während Gordon von der hübschen Nonne träumte, saß Christin an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und las die Lebensgeschichte von Brandon Stonewall, ihrem nächsten Patienten.

„Brandon Stonewall, Beruf Tierarzt, neunundzwanzig Jahre alt. Zweiter und außerehelicher Sohn des Ehepaares Stonewall. Er verlor mit dreizehn Jahren seine gesamte Familie bei einem schweren Autounfall. Da nur wenige weit entfernte Verwandte gefunden wurden, die ihn nicht haben wollten, übernahm das Hausmeisterehepaar, in Absprache mit dem Jugendamt, die weitere Erziehung. Mit achtzehn Jahren trat er das Erbe seiner Familie an. Er übernahm die Rose-Bud-Bank mit sechs Filialen und mehreren Millionen Dollar.“ Sie überlegte kurz: Rose-Bud-Bank? Das heißt Rosenknospe. Eigentlich ein seltsamer Name für eine Bank.

Sie las weiter: „Anschließend studierte er Veterinärmedizin. Die Praxis befindet sich im Kellergeschoss seines Hauses. Vor einem Jahr Ausbruch der Leukämie. Er bekam mehrfach Chemotherapie und Bestrahlungen, die jedoch keine Besserung erzielten. Durch die körperliche Schwäche bedingt, stürzte er vor einem halben Jahr die Treppe im Haus hinunter und verletzte sich dabei das Rückgrat. Wegen seines schlechten Allgemeinzustandes konnte keine Operation stattfinden. Danach bewegte er sich im Rollstuhl fort. Seit zwei Monaten kann er das Bett nicht mehr verlassen. Er bekommt Morphium intravenös zur Schmerzbehandlung und weitere Medikamente gegen das Zellwachstum der Krebszellen. Nebenbei trinkt er viel Alkohol ( Whiskey ), um die Wirkung des Morphiums zu verstärken. In der Zwischenzeit wurde viermal die Lunge punktiert, um gestautes Wasser abzuleiten. Zuweilen wird er sehr ausfällig. Unter Umständen kann es geschehen, dass er alles Essen an die Wand wirft oder es der Pflegekraft über den Kopf stülpt, wenn es ihm nicht passt. Dazwischen hat er schwere, depressive Phasen. Voraussichtliche Lebensdauer noch ungefähr zwei Monate.“

Christin ließ das Dossier sinken. Nur noch zwei Monate gaben die Ärzte ihm? Sie schüttelte energisch ihren Kopf. Nein, die letzten beiden Patienten waren ihr gestorben. Dieser hier musste leben. Das machte sie sich zum Ziel, obwohl er sich bereits im Endstadium befand. Christin war eine sehr ehrgeizige Schwester. Was sie sich vornahm, führte sie auch aus. Noch einmal sah sie sich das Bild von ihm an. So wie hier würde er auf keinen Fall mehr aussehen. Sie stellte ihn sich ohne Haare und sehr untergewichtig vor. Auch die Lachfältchen würden nicht mehr vorhanden sein. Schade, ein Jammer, was diese furchtbare Krankheit aus den Menschen machte. Christin schloss die Mappe. Dann ging sie duschen, betete ein Nachtgebet und begab sich zu Bett.

Gordon glaubte gerade erst eingeschlafen zu sein, da klopfte es an seiner Türe. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es Punkt sieben Uhr war. Das hieß für ihn aufzustehen. Mit kaltem Wasser wusch er sich rasch Gesicht und Hände und fuhr sich mit den nassen Fingern durch das Haar. So, das musste für heute genügen. Hätte er einen Spiegel gehabt, dann würde er wohl gesehen haben, dass er auf seinem Kopf ein noch viel größeres Chaos angerichtet hatte als es ohnehin schon war. Jedenfalls sah es jetzt so aus, als sei er gerade unter der Bettdecke hervorgekrochen. Normalerweise trug er sein Haar etwas nach vorn gekämmt, doch die Natur machte was sie wollte, noch dazu wenn seine Frisur nass wurde. Vor seiner Türe empfing ihn die Tante und wünschte ihm einen „Guten Morgen.“ Er folgte ihr zum Frühstück. In diesem Raum befanden sich beinahe alle Nonnen des Klosters, außer den Nachtwachen und den Außendiensthabenden. So viele hatte er eigentlich nicht erwartet. Er wünschte allen einen „Guten Morgen“, doch wurde ihm etwas unbehaglich zu Mute, als einziger Mann unter beinahe zweihundert Ordensfrauen. Außerdem wurde ihm überhaupt nicht bewusst, wie heiß er mit seinem Drei-Tage-Bart und dem Wirrwarr seiner Haare auf die Anwesenden wirkte: nämlich unheimlich jung, sympathisch und voller Tatendrang.

Die Mutter Oberin blieb stehen und klopfte mit dem Löffel an ihre Kaffeetasse, um die Aufmerksamkeit ihrer Ordensfrauen zu gewinnen.

„Liebe Schwestern, wir haben ein neues Mitglied in unserer Mitte. Doktor Gordon Spencer ist der neue Oberarzt der Kinderklinik“, erklärte sie ihnen.

Die Nonnen klatschten alle Beifall und dem Arzt wurde es immer ungemütlicher. Feuchter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. „Du beförderst mich gleich zum Oberarzt?“, zischte er ihr ins Ohr. „Ist das wirklich klug von dir?“

Er erhob sich und verbeugte sich kurz. „Ich danke Ihnen. Ab der nächsten Woche werde ich mich für die kleinen Patienten der Kinderklinik einsetzen. Vielen Dank im Voraus für die Mitarbeit der Schwestern, die in der Kinderklinik in der nächsten Zeit mit mir zusammenarbeiten.“

„Ich muss dich gleich zum Oberarzt befördern, denn wenn Dr. Clark schlapp macht, bist du der Chef hier. Es macht sich nicht gut vom einfachen Arzt zum Chefarzt katapultiert zu werden“, ließ sie ihn leise wissen.

Während seines Frühstücks suchten seine Augen fieberhaft nach Melissa, doch sie befand sich nicht unter den vielen schwarzgekleideten Nonnen. Rasch beendete er seine Mahlzeit und verließ regelrecht fluchtartig den Frühstücksraum. Aus der Klosterküche bekam er noch ein Lunchpaket und eine Flasche Quellwasser als Proviant mit. Er verabschiedete sich von seiner Tante und versicherte ihr nochmals, am kommenden Montag seinen Dienst anzutreten.

Draußen vor der Türe wartete bereits Christin mit zwei Koffern. Einem kleinen für Unterwäsche, Nachtwäsche, Morgenmantel und Reservetracht und einem größeren mit Medikamenten aus Gottes reicher Natur. Viele dieser Kräuter wurden im Klostergarten angebaut.

Gordon verstaute die beiden Koffer hinten im Kofferraum. Dann hielt er der kleinen Nonne die Wagentüre auf und ließ sie einsteigen. Mit einem leichten Kopfnicken bedankte sie sich. Er lenkte das Fahrzeug auf die Straße und begann Fahrt aufzunehmen. Nicht lange und er kurbelte sein Fenster ganz hinunter, denn die Wärme staute sich im Auto, trotz der frühen Morgenstunde. Neben ihm saß ein sehr schweigsamer Gast. Christin betete im Stillen aus ihrem kleinen Gebetbuch. Der Fahrtwind ließ ihren schwarzen Schleier nach hinten wehen. Mit einem Seitenblick beäugte der Kinderarzt sie. Ihm fiel ihr sanftes, liebliches, ebenmäßiges Gesicht auf. Eine kleine Nase und leicht geschwungene Lippen. Eigentlich fand er sie viel zu hübsch für eine Nonne. Ihr Haar und seine Farbe konnte er nicht sehen, denn es verschwand vollständig unter dem Schleier. Außerdem schien sie ihm noch sehr jung zu sein. Warum mussten die hübschesten Frauen der Welt Ordensschwestern sein? ging es ihm durch den Kopf. Sie befuhren eine einsame Strecke. Äußerst selten begegnete ihnen ein anderes Auto. Wer wollte auch schon ins Kloster fahren? Sie wussten ja schließlich nicht, was es dort für Schätze zu entdecken gab.

Zur Mittagszeit wurde es fast unerträglich heiß und sie machten Rast. Unter einem Baum mit ausladenden, schattenspendenden Zweigen, packten sie ihr Menü aus. Christin schenkte das Wasser in die Becher und bot Gordon ein Sandwich an. Das Wasser schmeckte ziemlich fade, denn erstens war es lauwarm und zweitens ohne Kohlensäure. Gordon schüttelte es innerlich ab. Doch was tat man nicht alles, wenn einen der Durst quälte. Er kippte das Wasser im Becher mit ein paar großen Schlucken hinunter ohne Luft zu holen.

Anschließend fuhren sie weiter. Ab und zu warf er einen Blick zu der kleinen, stillen Nonne. Wie alt mochte sie wohl sein? Allerhöchstens zwanzig Jahre, schätzte er. Aber wie konnte sie dann schon eine dreijährige Krankenpflegeausbildung mit anschließender Spezialausbildung haben? Irgendetwas passte da nicht zusammen, überlegte er. Ab und zu fasste er sich an sein Kinn, um zu prüfen, wie schnell sich sein Bart verlängerte. Gordon besaß einen sehr intensiven Bartwuchs. Er rasierte sich am Morgen und sollte er am Abend noch etwas vorhaben, musste er die ganze Prozedur wiederholen. Seine Barthaare fühlten sich nicht borstig, sondern angenehm weich an, im Gegensatz zu vielen anderen Männern.

Christin beobachtete ihn und schmunzelte. Er sah sie leicht verunsichert mit einem fragenden Blick an.

„Sie brauchen sich nicht zu genieren. Ihnen steht ein Bart sehr gut. Sie wirken damit sogar jünger. Ein richtig gepflegter Bart würde Sie sogar außergewöhnlich attraktiv erscheinen lassen“, machte sie ihm ein Kompliment.

„Oho, und das aus dem Mund einer Ordensfrau?“, grinste er verwundert. So eine Bewunderung hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht bekommen. Und das jetzt ausgerechnet von einer Nonne.

Ein schüchternes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ansehen und die Menschen vergleichen ist uns erlaubt“, klärte sie ihn auf.

Gordon lachte lauthals und schüttelte dabei den Kopf. Er staunte über diese kleine, zierliche Ordensfrau.

Neugierig geworden schaute er nun öfter zu der jungen Nonne hinüber. Eine außergewöhnlich hübsche junge Frau, registrierte er. Zwei große, strahlende dunkelbraune Augen mit sehr dichten überlangen Wimpern und leicht geschwungene Lippen, die so rosig wie leicht geschminkt wirkten. Die Hautfarbe wirkte frisch, wie eine taubenetzte Rosenknospe. Ihre schlanken Hände mit den kurzgehaltenen Fingernägeln, die oval geschnitten waren, sahen gepflegt aus. Sie passten eigentlich gar nicht zu einer Nonne, die viel und schwer mit Kranken arbeitete. Die ständig ihre Hände waschen und desinfizieren musste. Was sie für eine Haarfarbe hatte, konnte er nur erraten, denn der Schleier saß fest um ihren Kopf und ließ kein einziges Härchen hervorlugen. Den dunklen, ausgeprägten Augenbrauen zu schließen, besaß sie wohl dunkle Haare, vermutete er.

Wieder musste Gordon schmunzeln. Ich glaube, ich habe die beiden hübschesten Nonnen des Klosters erwischt, ging es durch seinen Kopf.

Am Nachmittag begann sich der Himmel mit drohenden, schwarzen Wolken zu beziehen. Kaum dass ein Lüftchen wehte. Es wurde zum Ersticken schwül.

„Können Sie nicht etwas schneller fahren? Ich glaube, dass sich da ein schweres Unwetter zusammenbraut“, forderte ihn Christin mit sorgenvollen Gesicht auf.

„Tut mir leid, Lady, aber die Kiste hier ist schon achtzehn Jahre alt. Sie fährt leider nicht schneller“, antwortete Gordon mit einem entschuldigenden Lächeln.

„Oh, Verzeihung. Das wusste ich nicht“, entschuldigte sie sich ihrerseits.

„Wie sollten Sie das auch wissen, wenn Sie heute das erste Mal darin fahren?“, lächelte er.

Es wurde so finster, dass man meinte, die Nacht sei schon angebrochen. Und dann brach es über sie herein. Es begann zu wehen, immer stärker, so dass Gordon Mühe hatte, das Fahrzeug auf der Straße zu halten. Eilig kurbelte er sein Fenster hoch, denn mit einem Mal kam der Regen und zwar so gewaltig, dass man meinte, alle Schleusen wären im Himmel geöffnet worden. Die Scheibenwischer schafften keine freie Sicht mehr und er fuhr nur noch vertrauend auf sein Gefühl. Grelle Blitze beleuchteten kurz die Landschaft, doch sie verzerrten auch vieles. Momentan verlor Gordon vollkommen die Orientierung. Seinem Gefühl nach jedoch konnte es nicht mehr weit bis zum Anwesen seines Freundes sein.

„Es muss hier sein, ganz nah“, rief er laut, um die tosenden Elemente draußen zu übertönen.

„Aber ich sehe noch kein Haus“, erwiderte Christin, die angestrengt aus dem Fenster blickte.

„Ich auch nicht“, murmelte er bedrückt. Gordon schaltete das Fernlicht ein, aber das prallte nur gegen eine Mauer aus Regenwasser. Er fuhr ganz langsam und trotzdem gab es plötzlich ein unangenehmes, lautes Geräusch und das Vorderteil des Autos sackte langsam, beinahe in Zeitlupe, nach vorn unten ein. Die kleine Nonne saß mit ihrem Begleiter und dessen Auto in einem ausgespülten Loch fest. Vor Schreck hielt sie sich die Hand vor den Mund, aber sie schrie nicht laut auf. Beide sahen sich an und mussten trotz allem lachen. Sie nahmen es mit Humor. Er gab etwas Gas, doch das Fahrzeug wühlte sich mit den Vorderreifen nur noch tiefer in das Schlammloch. Gordon schaltete den Motor und das Licht aus und lehnte sich in seinem Sitz zurück.

„Endstation, wir stecken fest“, stellte er fest.

Doch so schnell wie der Regen begann, hörte er auch wieder auf. Es fiel nur noch ein leichter Nieselregen wie ein hauchdünner Schleier. Gordon und Christin wagten sich vorsichtig aus dem schiefstehenden Wagen heraus. Sicherheitshalber zog sie ihre Schuhe aus und lief barfuß weiter. Durch den dichten, aufsteigenden Dunst erblickte sie ein großes, weiß gestrichenes Haus, noch im Stil der Kolonialzeit, das allein auf weiter Flur stand. Es gab keine anderen Bauten in der näheren Umgebung. Vor wenigen Jahren war es renoviert worden, jedoch mehr die Innenräume als die Fassade. Dort sah sie nur neue Fenster und eine glasverzierte Haustüre eingesetzt. Über dem Eingang gab es einen ausladenden, runden Überbau, der bis über die Straße zur anderen Seite reichte und von vier weißen Säulen gestützt wurde. So konnten die Gäste vom Auto aus trockenen Fußes ins Haus gehen. Sie wusste nicht, dass dieses alte Haus vor drei Jahrzehnten nach hinten hinaus einen großen Anbau mit Wintergarten bekommen hatte, denn man konnte es von vorn nicht sehen.

Gordon hängte Christin sein Jackett über die schmalen Schultern. Er holte die zwei Koffer aus dem Gepäckraum des gestrandeten Autos und bewegte sich mit ihr auf das Haus zu.

„Sie befinden sich hier in „Twenty-Two-Oaks“, erklärte er ihr. „Dieses Anwesen trägt seinen Namen seit seiner Gründung vor mehreren Generationen der Stonewalls. Der erste Bewohner, der dieses Haus baute, ließ zweiundzwanzig Eichen pflanzen, nach denen er das Herrenhaus benannte.“

Christin sah sich um und gewahrte rechts und links der breiten Auffahrt eine Menge großer, alter Eichenbäume. Auf jeder Seite zählte sie elf Stück. Ein leichtes Rascheln war zu hören. Die vielen, dichten Blätter der alten Bäume entledigten sich der Wassertropfen und gaben sie nach unten auf den Boden ab. Sie wandte sich wieder dem Haus zu. In verschiedenen Räumen brannte Licht, welches hinaus auf den weißen Kiesweg leuchtete. Es gab nur ein oberes Stockwerk, dafür zog sich der Bau rechts und links des Eingangs sehr weit hin. Den vielen Fenstern nach zu urteilen, gab es sicher eine große Anzahl von Räumen, stellte sie fest. Hier musste eine Menge an Personal leben und arbeiten, glaubte sie. Plötzlich wurde die Haustüre ziemlich grob aufgerissen und eine ältere Pflegekraft stürzte mit angeekeltem Gesichtsausdruck aus dem Haus. Die Haare, die Schürze, bis hinunter zu den Schuhen voll Nudeln und Tomatensoße bekleckert.

„Nein, also wirklich, das muss ich mir auch von einem so stinkreichen Kerl wie ihm nicht gefallen lassen! Ich kündige auf der Stelle! Sofort! Suchen sie sich eine andere Dumme!“ Damit verließ Pflegekraft Nummer acht den Patienten. Sie stieg in ihren roten Cadillac, der seitlich der Auffahrt geparkt stand und fuhr davon.

„Sehen Sie? Ein sehr schwieriger Patient, den Sie sich da ausgesucht haben, meine ich“, warnte Gordon die kleine Nonne mit einem verschmitzten Lächeln vor.

„Mit Gottes Hilfe gelingt einem alles“, erwiderte Christin fest davon überzeugt und ging auf das Haus zu. Der Nebel nahm an Stärke zu, so dass das ehemals herrschaftliche Gebäude fast wie unwirklich in einem Traum erschien.

„Sie hat Mut, die kleine Ordensfrau“, murmelte Gordon vor sich hin.

In der offenen Türe stand der Hausmeister. Ein großgewachsener, schlanker Mann, um die fünfundsechzig Jahre alt. Sein Haar wies nur einen leichten Grauschimmer auf, während das seiner kleinen, leicht rundlichen Frau bereits gänzlich schneeweiß leuchtete. Sie war etwas jünger als ihr Mann. Doreen, eine äußerst ängstliche Natur, die immer gleich das Schlimmste befürchtete, hielt sich die Schürze vor das Gesicht, um die Tränen zu trockenen.

Gordon stellte die neue Pflegekraft vor: „Doreen, Richard, das ist Schwester Christin aus dem Heilig Geist Kloster: Christin, das ist das Hausmeisterehepaar, das damals Brandons Erziehung übernahm. Richard und Doreen Miller.“

Richard begutachtete die kleine Nonne äußerst genau. Dabei dachte er: Sie gleicht einer Elfe, doch nein. Er blickte ihr ins Gesicht. Sie wirkt so wunderschön, wie eine seltene Rose, die aus dem Nebel heraustritt und zu uns kommt.

Doreen schluchzte immer noch vor sich hin. Spontan ging Christin auf sie zu, nahm sie in den Arm, sie hatten beinahe die gleiche Größe, und geleitete die Frau ins Haus hinein. Sie befanden sich nun in der großen Eingangshalle.

„Machen Sie sich keine Sorgen. Es wird schon alles gut werden“, tröstete sie die ältere Frau.

Seltsam, dachte diese. Das hat noch keine Pflegerin getan und mich tröstend in den Arm genommen.

„Wo bleibt der Rest der Bewohner?“, wunderte sich die kleine Nonne.

„Außer dem kranken Hausherrn gibt es hier niemanden weiter. Als er erkrankte, entließ er das gesamte Personal“, klärte sie Gordon auf. Christin nickte verstehend.

Kaum setzten sie ein paar Schritte in das Haus, hörten sie vom oberen Stockwerk Schmerzensschreie und zwar so entsetzlich klagend, dass Doreen erneut in Tränen ausbrach.

„Ich werde gleich mal nach ihm sehen“, beruhigte Christin das ältere Paar.

Sie nahm Gordons Jacke ab, hängte sie über eine Stuhllehne und griff nach dem großen Koffer mit den Medikamenten. Je eine leicht geschwungene Treppe aus dunklem Eichenholz führte rechts und links von der Halle aus in das obere Stockwerk. Christin folgte dem Geschrei und wählte die linke Treppe. Oben fand sie eine Türe offen stehen. Sie trat in den fast völlig dunklen Raum, in dem nur eine ganz kleine Nachtlampe mit schwacher Birne brannte. Die Vorhänge und die Rollos hielten die Fenstern fest verschlossen. Langsam betrat sie den Raum. Nach mehreren Schritten auf hellem Parkettboden stand sie direkt vor dem Bett, das mitten im Zimmer platziert stand. Sie ging zurück zur Tür und schaltete die große Deckenbeleuchtung ein.

Sofort begann Brandon erneut zu schreien. „Machen Sie sofort das Licht aus! Es blendet mich! Welcher Idiot hat es angeschaltet?“ Es sollte energisch klingen, doch die Kraft fehlte beinahe gänzlich in seiner Stimme, so dass es nur sehr leise und matt wirkte.

Christin ignorierte seine Befehle und sah sich um. Sie gewahrte den vor Schmerzen gequälten Mann in einem vollkommen mit Essensresten verdreckten Bett. Sie stellte ihren Koffer ab und öffnete ihn.

„Entschuldigung, Mr. Stonewall, ich will Ihnen helfen, aber ohne Licht sehe ich sonst nichts. Machen Sie doch bitte die Augen zu“, bat sie ihn freundlich.

„Sie können mich gar nicht verfehlen, auch im dunklen nicht: Ich bin der, der so schmerzvoll schreit und lamentiert“, antwortete er.

Während sie verschiedene Medikamente in einer Spritze aufzog, jammerte ihr Patient pausenlos weiter vor sich hin.

„Was habe ich nur verbrochen, dass mich alle so schlecht behandeln? Ich habe doch niemandem etwas getan.“ Er begann haltlos zu weinen.

Dann drehte er den Kopf zur Seite und erkannte die Umrisse von Christin in ihrer Nonnentracht und ihre nackten Füße. „Oh nein! Nein! Gordon, warum tust du mir das an? Du bist doch mein bester Freund. Nimm diese Nebelkrähe und bringe sie dahin zurück, wo sie herkommt. Ist es denn schon so weit mit mir, dass man mir Gottes rechte Hand schickt? Dann könnt ihr ja schon mal ein Loch im Garten graben, wo ihr mich dann hineinwerfen könnt.“ Sein Sarkasmus war unüberhörbar. Erneut krümmte er sich vor Schmerzen zusammen.

„Ich will meine Morphiumspritze haben!“, bettelte er. „Ich kann nicht mehr. Ach, wenn ich doch nur endlich sterben könnte. Keine Schmerzen haben, mehr will ich doch nicht“, jammerte er weiter.

Christin zog als erstes das Morphium in einer Spritze auf, jedoch nur dreiviertel der Ampulle, und mischte ihm noch ein pflanzliches Schmerzmedikament dazu. Jeden Tag etwas weniger vom Morphium, so bekommt er eventuell keine Entzugserscheinungen, überlegte sie. Sie wusste nicht wie stark er schon von dieser Droge abhängig war. In seinem Zustand jedoch wahrscheinlich schon sehr lange. Anschließend suchte sie nach einer Vene bei ihm, doch beide Arme sahen so zerstochen aus, dass sie beinahe kein brauchbares Blutgefäß mehr fand, um ihm das Medikament zu spritzen. Die Pflegerin vor ihr musste eine miserable Venentechnik gehabt haben. Endlich fand sie eine.

„Wo bleibt denn das Morphium?“ Brandon wurde ungeduldig und seine Stimme überschlug sich.

„Ich habe es Ihnen bereits gespritzt“, antwortete Christin.

„Seltsam, ich habe gar keinen Einstich gefühlt“, wunderte er sich.

Da sie nur diese eine gute Vene zur Verfügung hatte, legte sie ihm gleich einen intravenösen Zugang und hängte ihm eine Infusion mit verschiedenen pflanzlichen Medikamenten an den Infusionsständer.

„Warum martert ihr mich denn so? Lasst mich doch endlich in Ruhe sterben“, weinte er wieder.

„Habe ich Sie denn heute schon gemartert?“, entgegnete die Nonne.

Er dachte kurz nach und blinzelte in ihre Richtung. Seine Augen allerdings sahen sie nur durch einen undeutlichen Tränenschleier.

„Nein, eigentlich nicht, aber es wird noch kommen, wie immer, fürchte ich“, antwortete er. „Da bin ich mir ganz sicher.“

„Warten Sie’s doch einfach ab“, meinte Christin mit leiser Stimme.

„Gordon!“, rief er dann wieder. „Gordon, ich will keine Nebelkrähe. Du kannst sie gleich wieder mitnehmen. Solche alten Pinguine gehen mir auf die Nerven. Tu mir das nicht an oder ich werde sie genauso hinausekeln, wie die anderen Pflegekräfte auch.“

Doch der Freund lachte nur, als er an seinem Zimmer vorbeiging, und gab ihm keine Antwort.

Langsam wurde Brandon sichtbar ruhiger. Er entkrampfte sich und schloss seine Augen. Sein letzter Gedanke drehte sich um die nackten Füße der Pflegerin, die äußerst klein waren, jedoch wohlgeformt, die sich so gut wie lautlos über seinen Parkett-Fußboden bewegten.

Sie betrachtete ihn, wie er so dalag. Vollkommen abgemagert bis auf die Knochen. Die Haut fast durchsichtig weiß und mit tiefen, dunklen Rändern unter den Augen. Von der angeborenen Bräune keine Spur mehr. Die Wangen eingefallen und die Lippen blutig aufgesprungen. Seine dunkelblaue Schirmmütze saß verrutscht auf seinem Kopf, so dass man einen leichten dunkelbraunen Flaum sehen konnte. Anscheinend bekam er schon längere Zeit keine Chemotherapie mehr, denn sonst würden die Haare nicht so lustig sprießen. Man hat ihn also aufgegeben, ging es ihr durch den Kopf. Ebenso wuchs ein dichter, langer, dunkler Vollbart. Er stand im krassen Gegensatz zu der sehr hellen Haut. Keine der vorherigen Pflegerinnen hatte es für nötig gefunden, ihn zu rasieren. Natürlich, wozu dieser Aufwand auch? Er starb ja sowieso. Christin konnte keine Lachfältchen mehr entdecken. Brandon schlief jetzt tief und zwar einmal ganz ohne Schmerzen.

Sie band sich eine weiße Schürze um und machte sich an die Arbeit. Sie füllte eine Schüssel mit warmem Wasser, stellte sie auf das Nachtschränkchen und bewaffnete sich mit mehreren Handtüchern und Waschlappen, die sie aus dem Schrank an der Wand nahm. Als erstes bezog sie das Bett frisch, denn auf dem Bezug lagen die Nudeln und die Tomatensoße. Dabei entdeckte sie, dass die Füße ihres Patienten bereits eine leichte Spitzfußstellung bekamen. So wie es aussah, achtete keine der Pflegekräfte darauf. Wie wollte er sonst jemals wieder laufen können? Oder dachten sie, der überlebt das sowieso nicht? Sie zog seinen Körper so weit nach unten, dass die Fußsohlen das Brett am Ende des Bettes berührten. Links oben am Oberkörper stellte sie eine Narbe fest. Hier hatte man ihm wohl einen Port (Gefäßzugang) gelegt, um die Chemo-Infusionen und die vielen Medikamente in eine herznahe Vene zu spritzen. So brauchten die Ärzte oder Schwestern nicht immer neue Venensysteme zu legen. Sie hatten ihn entfernt, da sie ihn aufgegeben hatten. Dann wurde sie beinahe geschockt: Oh, du meine Güte. Diese dünnen Beine, schoss es ihr durch den Kopf. Du dumme Kuh, wurde sie gerügt von ihrem inneren ich. Du tust gerade so als hättest du das noch niemals gesehen. Dass Abmagern gehört schließlich zum Krebs. Als sie ihn vorsichtig etwas zur Seite drehte, entdeckte sie einen riesigen Dekubitus (Druckgeschwür durch langes Liegen auf gleicher Stelle) auf beiden Po-Seiten, der sich schon tief in das Gewebe fraß. Außerdem lag er in seinen Exkrementen, dass dem Dekubitus auch nicht sehr förderlich war. Es musste schon längere Zeit geschehen sein, doch die letzte Pflegekraft hielt es scheinbar nicht für nötig ihn zu säubern. Vor allem gehörte sich hier ein drehbares Bett hin, sonst würde dieser Dekubitus niemals abheilen. Um so ein Spezialbett muss ich mich danach sofort kümmern, merkte sie in Gedanken an.

Christin tat ihre Arbeit ohne mit der Wimper zu zucken. Sie entfernte die Exkremente, säuberte ihn mit warmen Wasser, entfernte die abgestorbenen Hautfetzen mit einer Pinzette und sprühte ein Eisgel auf die aufgelegenen Stellen. Dann brachte sie eine pflanzliche Salbe, von der Konsistenz ähnlich wie Gelee, mittels eines Spatels auf den Dekubitus auf und deckte alles mit einer großen Silberkompresse ab. Sie legte eine wasserundurchlässige Vorlage darunter und ein weiches Kissen, rollte ihren Patienten ein klein wenig zur anderen Seite, zog das alte Laken heraus und das neue gleich nach. Anschließend bettete sie ihn ebenso vorsichtig auf den Rücken wie zuvor. Sie zog ihm den bekleckerten Schlafanzug aus, wusch ihn von Kopf bis Fuß und cremte seine trockene Haut, Gesicht und Lippen ein. Außerdem legte sie ein weiches Fersenpolster an seine Füße an, denn die Haut dort bekam auch hier bereits bedrohlich, rote Stellen vom Aufliegen.

Christin bemerkte während ihrer Arbeit nicht, dass Gordon in der Tür stand und sie beobachtete.

Ja, dachte er. Das ist wirklich die richtige Pflegekraft für ihn. Ich kann ihn beruhigt allein mit ihr lassen.

Nachdem sie ihn frisch angekleidet und mit einer Windel versehen hatte, stellte sie sich hinter sein Bett. Sie umfasste seinen Kopf mit ihren Händen und sprach im Stillen ein Gebet. Das Gleiche tat sie auf seiner Brust, dem Bauch und den Beinen. Dies war eine Art Reiki, nur dass sie es zusätzlich durch ein Gebet verstärkte. Als sie ihre Arbeit beendet hatte, lag ihr Patient vollkommen entspannt, schmerzfrei und sauber in seinem Bett. Auch der verkrampfte Zug um seinen Mund schien verschwunden zu sein. Es sah beinahe so aus, als ob er sogar etwas lächeln würde. Abschließend drückte sie ihm noch die Glocke in die Hand, damit er sie rufen konnte, wenn er sie brauchte.

Leise trat Doreen ins Zimmer. Sie konnte kaum glauben, dass Brandon so ruhig schlief. Staunen lag über ihrem Gesicht.

„Möchten Sie etwas zu Abend essen, Schwester? Ich bereite Ihnen gern etwas zu“, informierte sie sich flüsternd, um den Schlafenden nicht zu wecken.

„Ich habe abends nicht viel Hunger. Ein Joghurt reicht vollkommen aus“, antwortete Christin.

„Ach, da wäre noch etwas“, die Haushälterin blieb draußen auf dem Flur stehen. „Welches Zimmer möchten Sie denn gern? Hier auf dem Gang gibt es mehrere Gästezimmer.“

Die Nonne zählte sechs Zimmer. „Wenn es möglich ist, möchte ich bitte das Zimmer gleich neben Mr. Stonewall. Ich glaube, ich habe da auch eine Verbindungstür zu seinem Zimmer gesehen, damit ich gleich bei ihm sein kann, wenn er mich braucht“, bat sie.

Seltsam, die anderen Pflegekräfte wählten immer das letzte Zimmer, so weit wie möglich vom Patienten weg“, wunderte sich Doreen. Sie scheint wirklich ganz anders zu sein.

Die Haushälterin öffnete die Verbindungstüre und ließ die Ordensschwester eintreten.

Christin brachte nur noch ein „Oh“, zustande, denn mit so etwas hatte sie nicht gerechnet. Ein Raum mit einer Einrichtung, wie sie eigentlich nur im Märchen vorkam. Sie würde heute Nacht in einem Himmelbett mit weißer und fliederfarbener Bettwäsche schlafen. An den vier Pfosten des Bettes hingen jeweils geraffte, beinahe durchsichtige fliederfarbene Schals, die sogar zugezogen werden konnten. Alle Möbel, Bett, Kommode, Schrank und zwei Nachtkästchen bestanden aus Holz mit weißem Schleiflacküberzug. Die Wände waren ebenfalls mit einem Hauch von Flieder gestrichen.

Nachdem Christin ihre Sprache wieder gefunden hatte, drehte sie sich zu Doreen um.

„Wem gehörte dieses Zimmer ursprünglich?“, erkundigte sie sich.

„Niemandem. Mr. und Mrs. Stonewall hofften wohl auf eine Tochter, doch sie bekamen zwei Söhne“, antwortete sie mit leicht traurigem Unterton in der Stimme. „Dieses Zimmer wurde noch niemals bewohnt, auch nicht von den Sommergästen, die früher hier übernachteten. Mrs. und Mr. Stonewall hielten es stets verschlossen. Sie sind der erste Gast in diesem Zimmer. Ich wünsche Ihnen eine ruhige Nacht.“ Damit verabschiedete sich die Haushälterin und verließ rückwärtsgehend den Raum.

Brandon schlief zum ersten Mal seit vielen Wochen wieder eine Nacht durch. Als er am nächsten Tag erwachte, fühlte er sich ganz leicht und wohl. Es schien ihm wie ein Wunder. Er glaubte, seine Krankheit nur geträumt zu haben. Mit Schwung wollte er aufstehen, denn er meinte völlig gesund zu sein, doch seine Beine reagierten nicht. Tief enttäuscht registrierte er, dass er doch noch ebenso krank wie am Tag zuvor an das Bett gefesselt lag. Er bemerkte, dass er die Glocke in der Hand hielt. Noch ein Wunder. Schon lange Zeit bekam er sie nicht mehr. Die Pflegerinnen nahmen sie ihm weg, damit er sie nicht dauernd nachts störte. Er wusste nicht, wie spät es war und nahm an, es wäre mitten in der Nacht. Doch da hörte er leise Schritte. Christin zog die Rollos hoch. Anschließend beförderte sie die Vorhänge an die Seiten der Wände. Gleißendes Sonnenlicht strömte ins Zimmer und direkt auf Brandon. Er stöhnte auf, denn es tat ihm unwahrscheinlich weh in den Augen.

„Oh Verzeihung, das war dumm von mir“, entschuldigte sie sich und zog den einen Vorhang rasch wieder zu, so dass die Sonne nicht direkt auf sein Gesicht schien.

„Schließen Sie die Rollos sofort wieder!“, befahl er. „Außerdem sehe ich dann die schwarzen Krähen nicht. Ich weiß ja, dass ich nicht mehr viel Zeit habe auf dieser Erde. Eines Tages in absehbarer Zeit werden sie mich holen, diese Boten des Todes. Es reicht ja schon, wenn ich sie hören muss.“

„Schwarze Krähen sind doch keine Todesboten. Wer hat Ihnen denn dieses Märchen aufgetischt? Es sind Vögel, wie andere auch und sie sind sogar recht klug“, wandte die Pflegerin ein.

„Aber sie sind schwarz wie der Tod. Wenn ich diese Vögel mit ihrem hässlichen Geschrei in den Baumwipfeln der alten Eichen sehe und höre, läuft es mir eiskalt den Buckel herunter. Sie machen mir entsetzliche Angst. Deswegen lasse ich die Rollos auch bei Tag schließen.“

„Nein, das finde ich gar nicht gut, Mr. Stonewall. Sie sind depressiv und depressive Patienten brauchen viel Licht, wissen Sie das nicht? Es gibt sogar extra Lichttherapien für diese Patienten. Das Märchen von den Krähen hat Sie sehr verunsichert und außerdem schenken Sie diesen Lügen auch noch Glauben“, klärte sie ihn auf. „Sehen Sie nicht, wie schön es draußen ist? Das schlimme Gewitter von gestern ist vorbei.“

Brandon brummelte nur etwas Unverständliches vor sich hin.

Christin nahm ungefähr fünfzig schwarze Krähen in den Baumwipfeln wahr. Einer der Vögel löste sich gerade von den anderen und nahm Kurs auf das Fensterbrett, wo er sich zielsicher niederließ. Er blickte ins Zimmer zu Brandon hinein.

„Jetzt kommen sie schon an das Fenster“, murmelte Brandon fassungslos und verschwand völlig unter seiner Bettdecke.

Die Krähe hielt ihren Kopf leicht schräg, dann schlug sie heftig mit den Flügeln und machte sich wieder davon.

Vorsichtig lugte er unter seiner Decke hervor. Ist sie weg?“, informierte er sich.

„Ja, sie ist weggeflogen“, antwortete sie ihm.

Er sah seine neue Pflegerin in ihrem schwarzen Habit von hinten. „Aus welchem mittelalterlichen Kloster sind Sie denn herausgekrochen?“, fragte er neugierig geworden und zog die Decke langsam ganz von seinem Gesicht herunter. Mit dieser Frage wollte er auch das Thema wechseln.

„Aus dem Heilig Geist Kloster“, antwortete sie.

„Und wer hat Sie angefordert?“, wollte er wissen.

„Dr. Spencer“, informierte sie ihn.

„Dem fällt auch schon nichts mehr Gescheites ein“, murmelte er leise und schloss seine Augen.

Sie begann sein Bett zu machen. Als sie ringsum das Laken richtete, kam sie dabei seinem Gesicht ziemlich nahe und er atmete plötzlich den Duft von Cyclamen ein. Er lernte diese Blumen, es waren Alpenveilchen in Miniaturgröße, kennen, als er einmal mit seiner Mutter in den deutschen Alpen, genauer gesagt in Bad Reichenhall zur Kur musste. Sie wuchsen dort an kleinen Bächen im Hochwald. Diesen Duft vergaß er nie mehr, denn er war so intensiv, frisch und lebendig. Erinnerungen wurden in ihm wach. Unbeschwerte, schöne Tage mit der Mutter während seiner Kindheit. Er besaß schon als Kind keine stabile Infektabwehr. Jede noch so kleine Erkältung, die in der Schule ausbrach, bekam er hundertprozentig ab. Einmal, mit zehn Jahren zog er sich deswegen eine Lungenentzündung zu. Es dauerte sehr lange, bis sie ausheilte, doch der Husten wollte absolut nicht weichen. Deshalb schickte ihn der Arzt mit seiner Mutter nach Deutschland. Die Salinen in Bad Reichenhall waren weltbekannt. Man spazierte dort langsam durch hohe, offene Hallen, an deren inneren Wänden schuppenartig Tannenreisig angebracht war, das mit Sole berieselt wurde. Der feine, salzhaltige Nebel, der durch das Abtropfen und Verdunsten entstand, drang beim tiefen Luftholen in die Bronchien ein. Er heilte die Atmungsorgane und erleichterte gleichzeitig das Atmen und das Abhusten. Langsam kehrte er mit seinen Gedanken in die Gegenwart zurück. Brandon blieb nichts anderes übrig, als seine Augen zu öffnen, wenn er wissen wollte, wem dieser herrliche Duft gehörte. Er tat es und blickte in ein so zauberhaftes, junges Gesicht mit zwei großen, dunkelbraunen, leuchtenden Augen, dass es ihm den Atem verschlug. Ein drittes Wunder. Sollte das etwa seine neue Pflegerin sein, die Nonne? Und wahrhaftig, sie trug die schwarze Tracht und den Schleier. Sein Blick wanderte nach unten. Oh, heute trägt sie schwarze Schuhe, ging es durch seinen Kopf. Als sie sich aufrichtete, bemerkte er, dass sie über ihrem schwarzen Habit eine weiße Schürze trug, die ihre überaus schlanke Figur zum Vorschein brachte, jedoch ausgestattet mit allen Rundungen an den richtigen Stellen. Eine noch sehr junge Ordensschwester. Er schätzte sie kaum über zwanzig Jahre. Gestern noch meinte er, es wäre bestimmt eine ältere Frau, nur die Stimme passte nicht ganz dazu. Doch diese hier strahlte eine überraschende Schönheit aus, wie ein junger Tag im Frühling.

„Guten Morgen, Mr. Stonewall“, begrüßte sie ihn freundlich lächelnd. „Ich bin Schwester Christin.“

„G … G … Guten Morgen“, stotterte Brandon total verwirrt.

Gleich darauf kam sie mit einer Serviette, die sie ihm umband, und einem kleinen Tischchen, dass sie ihm ins Bett stellte. Sie erhöhte den Rückenteil seines Bettes ganz leicht, nur wenige Millimeter, um ihm das Essen zu erleichtern. Auf das Tischchen schob sie ihm ein Tablett. Da gab es Tee, Saft, Obst und ein Butterbrot, das bereits geschmiert und in kleine Teile zerschnitten war.

„Marmelade oder Honig?“, ließ sie ihn wählen.

„Nur ein Butterbrot, bitte“, antwortete Brandon völlig perplex. Hier geschah ein Wunder nach dem anderen.

So etwas kannte er überhaupt nicht. Man ließ ihn mit dem Essen immer allein. Wie sollte er im Liegen schneiden und essen? Niemand stellte seine Rückenlehne ein klein wenig höher. Da er vor Schwäche nicht schmieren und schneiden konnte, räumte man das Tablett meist unberührt wieder ab. Danach plagte den Patienten nach jeder Mahlzeit der Hunger. So magerte er noch schneller ab als von der Krankheit allein.

Er versuchte ein Stück Brot zu nehmen, aber er zitterte so sehr, dass es ihm aus den Fingern glitt.

Christin bemerkte es. Sie setzte sich auf den Bettrand und fütterte ihn. Die Tasse mit dem Tee reichte sie ihm mit einem Strohhalm hin. Wenn er auch nur drei kleine Stückchen Brot essen konnte, so freute sie sich doch, dass er überhaupt etwas zu sich nahm. Morgen wollte sie es mit vier Stückchen versuchen und das Ganze jeden Tag steigern.

Christin bedachte ihn mit einem Lächeln. Und dieses Lächeln wirkte so zauberhaft, dass er ganz schnell seine Augen schließen musste. Ein seltsames Kribbeln machte sich unter seiner Kopfhaut bemerkbar. Muss ich mich auf meine letzten Tage auch noch verlieben? Noch dazu in eine Nonne, die für mich unerreichbar ist? So eine Ironie des Schicksals, grollte er in Gedanken. Er verzog sein Gesicht zu einer grimmigen Maske.

Sie dagegen blieb direkt an seinen blauen Augen hängen. Leider leuchteten sie nicht mehr so strahlend, wie auf dem Bild in ihrer Mappe. Sie wirkten matt und blass, als wenn ihnen die herrliche blaue Farbe ausgegangen wäre.

Brandon lag erschöpft in seinen Kissen. Doch die kleine Nonne ließ ihm noch keine Ruhe.

„So, Mr. Stonewall, heute werden wir mit der Blasen- und Darmkontrolle beginnen“, setzte sie ihn in Kenntnis.

„Muss das heute noch sein?“, maulte er.

„Aber natürlich. Hat das denn noch niemand mit Ihnen gemacht?“, wunderte sie sich.

„Nein, wozu, ich sterbe bald. Zuviel Mühe und Aufwand“, antwortete er mürrisch.

„Nein, das glaube ich nicht. Sie sterben noch nicht. Sie werden leben und deshalb mache ich mir auch die Mühe“, ließ sie ihn voller Überzeugung wissen.

„Ah“, stöhnte er. „Verschwenden Sie nicht Ihre kostbare Zeit mit mir“, entgegnete er unwirsch. „Nehmen Sie sich einen zehn Groschenroman und verziehen Sie sich.“

„Wollen Sie weiterhin immer unter sich machen? Sich von mir ausputzen lassen?“ Sie wurde langsam energisch. Mit in den Hüften gestemmten Fäusten stand sie vor ihm.

Oh ja, das wirkte, denn diese Peinlichkeit wollte er sich und ihr doch ersparen. Wäre es eine alte Nonne, so würde es ihm wohl egal gewesen sein, doch sie hier zählte nur ein paar Jahre weniger als er. Bei ihr fühlte er sich jedoch recht beschämt dabei. Doch gleich darauf gewann die depressive Seite wieder die Oberhand.

„Lassen Sie es doch sein. Die anderen mühten sich auch nicht damit ab“, schlug er ihren besonderen Einsatz aus.

„Ja, das glaube ich. Deswegen haben Sie auch einen dermaßen großen Dekubitus bekommen, denn umgelagert wurden Sie auch nicht.“

Er wollte ihr ins Wort fallen, aber sie sprach sogleich weiter. „Ich weiß, dass das wegen Ihrer Rückenverletzung nicht möglich ist, doch ein Spezialbett zum Drehen hat auch niemand beantragt. Ich verstehe das nicht. Auch wenn es Ihre Privatkrankenkasse nicht bewilligt hätte, so wären Sie doch gewiss in der Lage gewesen, es selbst zu bezahlten. Ein Multimillionär, so unwahrscheinlich reich wie Sie und bekommt die miserabelsten Pflegekräfte zugeteilt, die es überhaupt in ganz Kanada gibt“, schimpfte sie jetzt. „Wer sucht diese Kräfte überhaupt aus?“, erkundigte sie sich.

„Meine Krankenkasse. Wahrscheinlich werde ich ihr mit der Zeit zu teuer. Deshalb schicken sie mir die am schlechtesten qualifiziertesten Pflegerinnen, die sie zur Verfügung haben. Ich bekomme die teuersten Medikamente und Anwendungen, Pflegekräfte für Tag und Nacht. Solche Patienten möchte die Kasse schnellstens loswerden“, erklärte Brandon. „Deshalb habe ich freie Pflegekräfte angefordert, doch die waren noch viel schlechter“, erklärte er ihr.

„Nun, zur Not könnten Sie das selbst finanzieren“, entgegnete Christin. „Auf jeden Fall haben Sie die Pflegekräfte, die nicht von der Krankenkasse kamen, nur für ihre Faulheit und ihr Unwissen extra bezahlt.“

„Und Sie können es besser?“ Brandon bedachte sie mit einem schrägen Blick.

„Oh ja“, erwiderte Christin ganz selbstbewusst. „Ich kann es besser, sehr viel besser sogar“, bestätigte sie ruhig. „Ich werde es Ihnen beweisen. Ich bin vor allem nicht faul und ich habe eine Spezialausbildung für solche schweren Fälle wie Sie. Und Sie werden leben!“, beharrte sie.

„Ha, das hier soll Leben sein?“, machte er sich lustig. Seine Stimmungen wechselten ständig zwischen depressiv, sarkastisch, beleidigender und negativer Lustigkeit.

„Sie werden Ihr Dasein wieder lebenswert finden, glauben Sie mir das.“ Energisch schlug sie seine Bettdecke zurück. „So, und nun beginnen wir mit unserer Arbeit.“

So leitete sie ihn mit dieser speziellen Therapie an, nicht mehr unter sich zu machen. Auch Atemübungen machte sie mit ihm, damit die Lunge ihr Volumen wieder vergrößerte.

„Das hat bisher keiner mit mir gemacht“, staunte er.

„Dann wird es aber höchste Zeit“, erwiderte Christin.

Nach dem ersten tiefen Atemzug jedoch beließ er es dabei.

„Ja weiter atmen, meinen Sie mit einem einzigen tiefen Atemzug ist es getan?“, forderte sie ihn auf.

Sie war ein erstaunliches Ding, diese kleine Nonne. Er wunderte sich immer mehr. Und so atmete er weiter tief ein und aus. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig, als ihrer Anleitung mit leiser angenehmer Stimme zu folgen.

Während einer Pause erzählte ihr Brandon von den anderen Pflegerinnen.

„Alle meine vorherigen Pflegekräfte haben kaum ein Wort mit mir gewechselt. Dabei verrichteten sie nur das Nötigste und oft nicht einmal das. Sie nahmen mir die Glocke weg, um nachts ungestört schlafen zu können. Sie reden wenigstens mit mir und lassen mir die Glocke. Sie kommen sofort, wenn ich nach Ihnen klingele.“

Ein Plus für mich, dachte sie.

„Aber bilden Sie sich ja nichts darauf ein, Sie schwarzer Vogel“, knurrte er und dämpfte damit ihr kleines Glücksgefühl wieder.

Das nächste Mal kam sie mit Rasierschaum und einem Rasiermesser zu ihm.

„Was haben Sie mit dem Messer vor?“, erkundigte sich Brandon argwöhnisch. „Kartoffelschälen gewiss nicht.“

„Ich will Sie rasieren, was sonst?“, entgegnete Christin ganz harmlos. „Wollen Sie mich umbringen? Mir etwa die Kehle durchschneiden?“, rief er entsetzt.

„Ach, Sie wollen doch noch ein wenig leben?“, gab sie sich überrascht. „Gestern wollten Sie nur noch sterben.“ Die Nonne rührte den Schaum mit dem Rasierpinsel an.

„Ich will nicht ermordet werden. Ich möchte eines natürlichen Todes sterben“, informierte er sie.

Christin musste lachen. „Haben Sie keine Angst, Mr. Stonewall. Ich habe das schon oft gemacht. Ich werde Sie nicht umbringen und auch keinesfalls verletzen.“

Als sie sich ihm näherte und auf der Bettkante Platz nahm, begann Brandon ernsthaft zu zetern. „Nein, gehen Sie weg damit! Fassen Sie mich nicht an! Die anderen haben mich auch nicht rasiert!“ Er zog die Bettdecke bis zu seinen Augen hoch.

„Das sehe ich, dass Sie keiner von ihrem Bart befreit hat“, lächelte sie. „Mr. Stonewall, wollen Sie denn den Rauschebart, wie Santa Claus, behalten? Wenn er auch nicht weiß ist, so ist er doch ganz schön lang geworden. Außerdem, wie sieht es aus, wenn sich die Nudeln aus der Suppe darin verfangen?“

Langsam rutschte die Bettdecke nach unten und er ertastete mit seinen dünnen Fingern den Bart. Sie hatte Recht: sein Bart hatte bereits eine erstaunliche Länge erreicht, seit der letzten Chemotherapie. Immer noch misstrauisch sah er sie an.

„Und Sie meinen wirklich, dass Sie das beherrschen?“, hinterfragte er.

Christin lachte ihm in die Augen: „Ja, natürlich. Sie sind nicht mein erster Patient mit Bart.“

Dieses Lachen löste bei ihm die Angst. Es klang sicher, vertrauensvoll und heiter.

„Na gut, rasieren Sie mich. Mein Testament habe ich ja Gott sei Dank schon gemacht“, gab er sein Einverständnis.

Sie seifte ihn gründlich ein, schnitt den langen unteren Teil bis zu seinem Kinn mit einer Schere ab und begann sehr vorsichtig, jedoch mit geübter Hand ihn von seinem Vollbart zu befreien. Nachdem sie ihn mit einem Handtuch abgetrocknet und mit einem Rasierwasser behandelt hatte, das unerwartet frisch und aromatisch duftete, wandte sich Brandon an sie. „Haben Sie einen Spiegel?“

Christin brachte ihm einen Handspiegel. Kritisch betrachtete er sich darin. „Sieht ganz ordentlich aus. Gut, Sie dürfen das jetzt jeden Tag tun“, erlaubte er ihr.

„Danke, Mr. Stonewall, das werde ich so lange tun, bis Sie es selbst wieder können“, antwortete sie und verschwand im Bad.

Kurz darauf kam sie mit einer Schüssel voll warmem Wasser zurück. Sie ging zum Schrank, um frische Wäsche zu holen.

„Finger weg von meinem Schrank! Das ist mein Eigentum!“, warnte er sie.

„Stellen Sie sich vor, ich habe mich gestern bereits an Ihrem Schrank vergriffen. Aber seien Sie unbesorgt. Ich stehle Ihnen nichts. Ich habe alles, was ich brauche. Ich bin mit dem zufrieden, was ich habe. Mein kleines Zimmer mit vier Einrichtungsgegenständen im Kloster. Und sogar die sind nur geliehen. Sie gehören nicht wirklich mir. Wozu sich mit viel Eigentum beladen. Man kann es am Ende nicht mitnehmen, denn wir gehen so, wie wir einst kamen, ohne alles. Sie werden es mir kaum glauben, aber ich habe bereits in Abstellkammern gelebt, während eines Einsatzes, weil sie kein extra Zimmer für mich erübrigen konnten. Das hier bei Ihnen ist im Gegensatz dazu direkt königlich, komfortabel. Dieses Zimmer hier nebenan ist der reinste Luxus“, berichtete sie ihm.

Unter seinen langen Augenwimpern verfolgte er alle Bewegungen der Schwester, wie bei jedem Schritt, den sie tat, ihr bodenlanges Kleid um ihren schlanken Körper schwang und wie ihre kleinen, feingliedrigen Hände ruhig die Arbeit verrichteten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht gewusst, dass dieses alte Kloster so junge, hübsche Schwestern beherbergte. Er glaubte irrtümlich immer, dass dort nur alte, runzelige und bissige Nonnen hausten.

Sie öffnete den Schrank und nahm sich Handtücher, Waschlappen und frische Wäsche für ihn heraus.

„Ich werde Sie jetzt waschen“, informierte sie ihn und krempelte ihre Ärmel hoch.

„Dürfen Sie das überhaupt als Nonne?“, erkundigte er sich leicht belustigt.

„Ich bin über achtzehn Jahre alt, habe eine Ausbildung als Krankenschwester und eine Spezialausbildung für Krebspatienten abgelegt“, erklärte sie. „Sonst noch irgendwelche Einwände?“

Da er nichts mehr erwiderte, zog sie die Bettdecke zurück und begann die Knöpfe seines Schlafanzugs zu öffnen. Sie half ihm aus dem Oberteil heraus und begann ihn schweigend zu waschen. Rechter Arm, linker Arm, Brust, Bauch und sehr vorsichtig den Rücken. Danach cremte sie die Haut wieder sorgfältig ein. Auch etwas Neues für Brandon. Als sie sich anschickte ihm seine Unterhose auszuziehen, entriss er ihr den Waschhandschuh.

„Her mit dem Lappen! Das mach’ ich schon alleine!“, grollte er mit finsterem Gesicht.

Sie braucht mein armes Würmchen nicht zu sehen, dachte er bei sich.

Die Pflegerin ließ ihn allein und zog sich in ihr Zimmer zurück. Dort hörte sie ihn ächzen und stöhnen, da er Schwierigkeiten bekam mit dem Waschlappen dorthin zu kommen, wo er hinwollte. Er versuchte anschließend seine alte Unterhose anzuziehen, doch er konnte sich weder aufsetzen, noch seine gefühllosen Beine anziehen. Er fluchte immer lauter vor sich hin, bis er schließlich kapitulierte.

„Schwester? Können Sie mir bitte helfen?“, rief er dann doch nach einer halben Stunde nach ihr. Vorsichtshalber legte er das Handtuch über seinen entblößten Unterleib.

Sogleich stand sie neben seinem Bett und half ihm schweigend aus der alten Hose und anschließend in die frische Unterhose und entfernte das Handtuch. Sie legte es sich über den Arm und schmunzelte.

„Sie brauchen sich gar nicht genieren vor mir. Ich habe nämlich schon viele Männer von Kopf bis Fuß gewaschen. Mir ist absolut nichts fremd an Ihnen.“

Damit schickte sie sich an die Waschutensilien wegzuräumen. Als sie zurückkam, lag er da mit geschlossenen Augen. Ihn hielt eine unendliche Müdigkeit gefangen. Kein Wunder nach dieser anstrengenden Arbeit. Christin zog die Bettdecke über ihn und gönnte ihm erst einmal etwas Ruhe. Er verwendete heute zum ersten Mal das Wort „Bitte.“ Christin dachte schon, dass so ein Wort in seinem Sprachvokabular gar nicht vorkam.

Im Laufe des Vormittags bekam Brandon Durst und zwar verlangte es ihn nach einem Whiskey.

Dass er ein Alkoholproblem hatte, wusste die Nonne.

Christin schenkte ihm ein halbes Glas ein und vermischte es mit Wasser. Nach dem ersten Schluck spie er alles zurück ins Glas.

„Pfui Teufel! Können Sie mir nicht einen ordentlichen Whiskey geben, statt so ein Wassergepansche?“, beschwerte er sich und ließ das Glas samt Inhalt angewidert auf den Boden fallen.

Sie jedoch machte sich nichts daraus.

Schade, dachte sie. Er hat den Unterschied geschmeckt. Sie schenkte ihm ein neues Glas Whiskey ein, nur dass sie noch fünf Tropfen einer wässerigen, pflanzlichen Substanz hinzufügte, die durch keinerlei Geschmack auffiel, dafür aber große Wirkung zeigte.

Brandon trank das Glas in einem Zug aus. Es dauerte eine knappe viertel Stunde und er rief nach seiner Pflegerin. Er krümmte sich vor Bauchschmerzen und dazu wurde ihm furchtbar übel. Christin brachte vorsichtshalber gleich den Eimer mit und da passierte es auch gleich: ihr Patient musste sich übergeben und das nicht nur einmal, nein fünfmal, bis nur noch der reine Magensaft kam. Danach legte er sich erschöpft von der Seite zurück auf den Rücken.

„Schwester, ich glaube, jetzt könnte ich noch ein Glas davon gebrauchen“, bat er und japste nach Luft.

Christin tat, wie ihr geheißen, und mischte ihm die gleiche Portion Tropfen bei wie zuvor. Kurze Zeit später übergab er sich aufs Neue.

„Ich glaube, der Whiskey verträgt sich nicht mit Ihren Medikamenten“, erwähnte sie in ganz ruhigem Ton und völlig unschuldig. Dabei runzelte sie die Stirn.

„Quatsch, vorher hat sich auch alles miteinander vertragen“, widersprach er.

„Das kann sich später auch erst entwickeln“, antwortete sie ungerührt.

„Na ja, vielleicht haben Sie ja doch Recht“, gab er nachträglich zu.

Er zitterte am ganzen Körper. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, die ihm seine Pflegerin mit einem warmen, feuchten Tuch abwischte.

„Ich lasse Ihnen die Whiskey-Flasche hier, falls Sie doch noch mal einen trinken möchten“, teilte sie ihm mit, da er die Augen geschlossen hielt. „Wenn es Ihnen recht ist, gieße ich noch ein Glas ein. Sie brauchen nur nach mir zu klingeln.“

Sie stellte die geöffnete Flasche mit den beigemischten Tropfen absichtlich neben sein Bett auf den Nachttisch. Brandon stieg der Geruch des Alkohols aus der Flasche in die Nase und sofort würgte es ihn wieder.

„Schwester!“, rief er gequält.

Christin wollte das Zimmer verlassen und erreichte gerade die Türe.

„Schwester, nehmen Sie die Flasche mit, ich kann das Zeug nicht mehr riechen, ohne dass mir übel wird“, erklärte er ihr angeekelt.

Sie nahm die Flasche und ging nach unten in die Küche.

So, wieder einen geheilt vom Alkohol, dachte sie und grinste vor sich hin.

In der Küche stellte sie die Flasche auf einen Seitenschrank, als Doreen nach ihr rief.

„Schwester, ich fahre heute einkaufen. Soll ich irgendwas Besonderes mitbringen?“, wollte sie wissen.

„Oh ja.“ Christin wollte ihren Patienten umstellen auf Vollwertkost. Das hieß, nicht so viel Fleisch, dafür mehr Gemüse, Salat, Fisch, Obst und Vollkornprodukte. So schrieb Doreen auf, was ihr die Nonne alles diktierte.

„Wie soll ich das zubereiten? Ich kenne mich da gar nicht aus“, rief die Haushälterin etwas erschrocken.

„Keine Sorge. Ich koche sein Menü selbst. Sie brauchen sich nur um Ihren Mann zu kümmern“, beruhigte sie Christin.

Sie vergaß die Whiskey-Flasche, die sie eigentlich ausleeren wollte und ging nach oben.

Da betrat Richard die Küche. „Ich gehe hinaus, um nach Gordons Auto zu sehen“, informierte er seine Frau. Da sah er die Flasche stehen.

„Oh, eine aus Brandons Sammlung? Und sogar noch halb voll. Den muss ich mal probieren“, sagte er mehr zu sich selbst.

Er schenkte sich nicht gerade ein kleines Glas ein und kippte den Inhalt mit einem Mal hinunter.

„Hm, nicht schlecht. Der Junge hat einen guten Geschmack“, stellte er fest.

Doreen suchte währenddessen alle Sachen zusammen, die sie für den Einkauf benötigte. Sie hatte noch nicht alles in den Korb gepackt, da stürmte Richard ins Haus. Er ging gebückt, hielt sich vor Schmerzen den Bauch und rannte so schnell es sein Zustand erlaubte auf die Toilette. Was sich dann dort entlud, hätte einem echten Gewitter wahre Konkurrenz gemacht.

Christin kehrte in die Küche zurück, da ihr die Flasche einfiel.

„Meinem Mann geht es auch nicht gut“, äußerte sich die Haushälterin besorgt der Schwester gegenüber.

„Hat er etwa von dem Whiskey getrunken?“, informierte sie sich.

„Ja, ich glaube schon“, antwortete Doreen.

Da lachte Christin. „Halb so schlimm, das geht gleich vorbei. Das ist nur eine Abschreckung vor Alkohol. Sie können ihn hinterher nicht mehr riechen. Aber das müssen die Männer ja nicht wissen. Es ist unser Geheimnis, Doreen.“ Damit leerte sie den Inhalt der Flasche ins Waschbecken aus.

„Ich habe ein Destillat aus Brechwurz hineingegeben. Das ist völlig geschmacks- und geruchsneutral. Dafür räumt es einem aber hinterher gründlich den Magen aus“, erklärte ihr die Nonne.

Jetzt schmunzelte auch Doreen. „Haben Sie zufällig auch ein Mittel gegen Dummheit? Immer wenn mein Mann mir helfen soll, stellt er sich dabei so ungeschickt an, dass ich es am Ende selbst mache“, forschte die Haushälterin.

„Dummheit? Ich glaube, dagegen muss erst noch ein Kraut wachsen“, erwiderte Christin lachend.

Sogar Doreen lachte mit, wo sie doch seit vielen Wochen nur weinte und gar nicht mehr lachte. Aber diese Schwester konnte so herzlich lachen und besaß ein so fröhliches Wesen, trotz der vielen schwerkranken Patienten, dass man selbst von seinem Kummer abgelenkt wurde. Sie brachte frischen Wind, Frohsinn und eine positive Stimmung in das Haus, die alle Bewohner mitriss.

„Sie verrichten Ihre Arbeit mit so viel Kraft und Freude. Üben Sie diese Tätigkeit wirklich so gern aus?“, fragte sie die Schwester.

„Natürlich, denn ohne Freude profitiert der Kranke nicht davon. Wenn ich dann feststelle, dem Patienten geht es besser, beflügelt mich das umso mehr“, erklärte Christin.

„Das also ist Ihr Geheimnis“, stellte Doreen fest.

„Kein Geheimnis, Gott gibt mir die Kraft dazu“, ließ sie die Frau wissen.

Sie mochten einander, obwohl ein beträchtlicher Altersunterschied bestand. Die Haushälterin schloss sie sofort in ihr Herz und Christin erging es ebenso. Sie mochte das Hausmeisterehepaar vom ersten Moment an. Beide besaßen Herz und Gefühl. Vor allem, was den Patienten anbelangte. Sie fühlten wie richtige Eltern, denen ein Kind schwerkrank wurde, obwohl es nicht ihr eigenes war. Sie selbst bekamen keine Kinder und so hängten sie ihr Herz an Brandon.

Als es dem Patienten wieder besser ging, sprach Christin ihn auf sein Alkoholproblem an.

„Waren Sie vorher schon alkoholabhängig?“, wollte sie von ihm rundheraus wissen.

„Was geht Sie das eigentlich an?“, schnaufte er genervt. Nach einer kurzen Pause sprach er doch weiter: „Nein, ich habe höchstens mal ein Glas Wein getrunken. Erst als die Schmerzen kamen und unerträglich wurden, habe ich versucht sie mit Alkohol zu betäuben. Anfangs ohne Medikamente, später mit. Im Grunde hasse ich Whiskey. Ich würde ihn niemals so trinken“, gestand er ihr. Er hatte den Kopf etwas angehoben, um sie sehen zu können, denn sie stand am Ende des Bettes.

Er sah sie an, doch ihr Gesicht verschwamm vor seinen Augen. Sein Kopf fiel nach hinten in das Kopfkissen und er trat wieder weg.

Christin seufzte. Das wird nicht leicht werden, denn er hat nicht nur ein Alkoholsondern auch ein Drogenproblem, überlegte sie. Das ergab jedenfalls wohl doch massive Entzugserscheinungen. Obwohl sie das Morphium schrittweise reduzierte und meinte, sie könne ihm so weit wie möglich diese fürchterlichen Nebenerscheinungen ersparen, brachen sie voll aus.

Die folgende Woche kam Christin beinahe Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Brandon tobte, er schrie und schlug heftig um sich.

Doreen hielt sich nachts das Kopfkissen über den Kopf. Sie konnte sein Geschrei, das durch das gesamte Haus hallte, kaum noch ertragen.

„Was tut diese Pflegerin nur mit ihm? Schlägt sie ihn? Oder lässt sie ihn verhungern und verdursten? Wenn das noch länger dauert, ziehe ich aus“, jammerte sie ihrem Mann vor.

Nach einer Woche wagte sich das Ehepaar vorsichtig zum ersten Mal wieder in das erste Stockwerk. Sie fanden die Nonne vor Brandons geschlossener Zimmertüre auf dem Fußboden sitzen, neben sich ein Gebetbuch aufgeschlagen liegen. Die Beine hatte sie angezogen und mit den Armen umschlang sie ihre Knie. In ihrem völlig übernächtigten Gesicht fanden sie Tränenspuren. Es herrschte tiefe Stille. Eine beängstigende Stille.

„Was ist geschehen? Ist er gestorben?“, erkundigte sich Richard mit vor Schreck geweiteten Augen.

„Nein, um Himmels willen“, antwortete die Nonne. „Ich denke, er hat den schlimmsten Teil der Entzugserscheinungen hinter sich, bis vielleicht noch auf einzelne, kleinere Ausbrüche.“

„Haben Sie so etwas schon öfter tun müssen?“, informierte sich der Hausmeister.

„Nur einmal bisher aber das hier übersteigt sogar meine Kräfte. Ein Glück, dass er nicht aufstehen kann, sonst wäre er gewiss aus dem Fenster gesprungen. Jetzt ist er etwas ruhiger geworden. Ich hoffe, die Krise ist vorüber. Er wird nun lange schlafen, denn diese Tobsuchtsanfälle verlangten ihm alle Energie ab, die er noch in seinem Zustand zur Verfügung hatte.

An diesem Tag wurde endlich das Spezialbett geliefert, das Christin vom Kloster anforderte. Von nun an brauchte sie nur auf einen Knopf zu drücken und das obere Teil des Bettes senkte sich auf das untere und drehte sich mitsamt dem Patienten und dem Bettzeug um. So schonte sie ihren Rücken und seinen ebenfalls.

Tatsächlich wurde Brandon ab jetzt wieder ruhiger. Christin lagerte ihren Patienten Tag und Nacht in seinem Bett um, damit der Dekubitus abheilte. Nach einer Woche endlich kam der sichtbare Erfolg. Man sah, dass sich die Wunde schloss und abheilte. Nur sein Allgemeinzustand gefiel ihr nicht. Er aß wieder weniger, schlief sehr viel und die Schmerzen kehrten wieder heftig in seinen Körper zurück.

Trotzdem servierte ihm die Pflegerin immer wieder kleine Mahlzeiten. Er jedoch schob den Teller zurück. „Ich habe keinen Hunger. Bitte nehmen Sie es wieder mit“, bat Brandon matt.

„Wenn Sie gesund werden möchten, brauchen sie Kraft, um die bösartigen Zellen zu besiegen“, widersprach Christin.

„Ich werde nicht mehr gesund, ich sterbe“, entgegnete er, fest davon überzeugt. „Hören Sie das Geschrei da draußen? Da sind sie wieder, die schwarzen Krähen. Diese Vögel kommen immer noch jeden Tag. Sie kreisen um die alten Eichen und warten auf meinen Tod.“

Ein Vogel setzte sich wieder auf das Fensterblech und klopfte mit dem Schnabel gegen das Fenster. Ob es wohl der gleiche war wie neulich?

„Sehen Sie? Jetzt klopft er schon an, um mich zu holen“, machte er ihr begreiflich. Sein Gesicht glänzte vor kaltem Schweiß und er zitterte am ganzen Körper.

„Aber nein, Mr. Stonewall. Der Vogel hat sich nur verirrt. Er will Sie gewiss nicht holen. Er testet das Glas nur, ob er hindurch fliegen kann. Er will schließlich keinen Genickbruch riskieren“, lächelte sie milde. „Warum? Warum sterben? Haben Sie noch Schmerzen im Moment?“, wollte sie wissen. „Ich nehme Ihnen die Schmerzen und solange meine Medikamente noch anschlagen, ist es noch nicht zu spät. Sie torpedieren meine ganze Arbeit! Etwas müssen Sie auch dazu leisten! Essen Sie wenigstens die frischen Himbeeren. Der Krebs mag keine Himbeeren, wissen Sie das nicht?“, versuchte sie ihn zu ermuntern.

Sehr zaghaft und mit langsamen Bewegungen nahm er eine Beere nach der anderen und schob sie sich unter ihrer Aufsicht in den Mund. Sie blieb so lange bei ihm stehen, bis er die letzte Himbeere gegessen hatte.

„Sind Sie jetzt zufrieden?“, murrte er.

„Ja, heute bekommen Sie sogar ein Lob von mir“, gab sie lächelnd zur Antwort.

Als der behandelnde Arzt ihn am nächsten Tag nach langen Wochen wieder einmal besuchte, nahm er Blut ab, um es untersuchen zu lassen. Die Zeitabstände, in denen er bei Brandon erschien, wurden auch immer länger. Er klopfte Brandons Rücken ab und hörte die Lunge mit dem Stethoskop ab. Er tat das sehr genau und intensiv. Dann richtete er sich auf, legte sich das Instrument um den Nacken und stemmte seine Fäuste in die Hüften.

„Zum Teufel! Wo in aller Welt ist das ganze Wasser in der Lunge hin? Ich höre nichts mehr“, wunderte sich der Arzt. Er sah auf und entdeckte eine steile Falte auf der Stirn der Nonne stehen.

„Oh, Verzeihung Schwester“, entschuldigte er sich.

„Ist wohl verdampft“, murmelte Brandon in sein Kissen, denn er lag auf dem Bauch.

„Ich kann mir das nicht erklären. Normalerweise wird es nach jeder Punktion etwas mehr“, er schüttelte den Kopf. Nachdenklich packte er sein Stethoskop wieder weg. Dann richtete er sich auf und wandte sich an Christin: „Schwester, Sie wissen sicher, dass der Patient Wunschkost bekommt?“

Sie öffnete ihren Mund, um ihm von ihrer Vollwertkost zu berichten: „Ich gebe …“, doch weiter kam sie nicht, da fiel ihr Brandon ins Wort. „Ich will keine Wunschkost.“

„Nicht?“, wunderte sich der Professor. „Meinen Sie das Manna dort oben im Himmel schmeckt besser?“, amüsierte er sich.

„Das weiß ich nicht. Auf jeden Fall möchte ich die spezielle Kost, die mir Schwester Christin persönlich zubereitet, weiterhin behalten. Ihre Gerichte schmecken vorzüglich, denn sie kocht sehr gut und ich habe das Gefühl, dass sie mich stärken und aufbauen“, ließ ihn Brandon wissen.

„Dann sind Sie also zufrieden mit Ihrer Pflegekraft? Wenn Sie allerdings keine Nonne haben wollen und eine freie Schwester vorziehen, kann ich Ihnen auch eine aus meiner Klinik besorgen“, bot er ihm an.

„Nein, danke. Das hätten Sie bereits früher tun sollen. Von den anderen Pflegekräften habe ich die Schnauze gründlich voll. Schwester Christin entspricht allem, was eine exzellente Pflegekraft ausmacht. Ich bin absolut zufrieden mit ihr“, antwortete Brandon.

„Das freut mich zu hören“, entgegnete der Arzt.

Beschämt über so viel Lob senkte sie ihre Augen und schenkte dem Arzt ein schüchternes Lächeln, das so bezaubernd ausfiel, dass der Professor schmunzelnd zur Antwort gab: „Ja, bei diesem Lächeln müssten sogar die Krebszellen kapitulieren.“ Er packte seine Tasche ein. „Ich komme in zwei Tagen wieder und werde Ihnen dann das Blutergebnis mitteilen.“ Er hielt sich diesmal länger bei Brandon auf, als er eigentlich wollte. Auf der Rückfahrt jedoch ging ihm das verschwundene Wasser nicht aus dem Kopf.

„Haben Sie etwas mit dem Wasser zu tun?“, informierte sich Brandon bei seiner Pflegerin und blinzelte sie schräg an.

„Sie bekommen dreimal täglich einen speziellen Krebs-Tee von mir. Es könnte sein, dass er dafür verantwortlich ist. Er ist neu in unserer Apotheke. Ich konnte ihn vorher noch nicht testen“, erklärte sie ihm.

„Ach ja? Dann bin ich also Ihr Versuchskaninchen?“, beschwerte sich Brandon wütend.

„Nein, nein, unsere Apotheke verkaufte ihn schon drei Wochen lang. Er wurde im Labor lange Zeit getestet. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass er Ihnen schaden könnte. Im Gegenteil, er hat Ihnen doch jetzt die Punktion erspart“, beschwichtigte sie ihn.

Zwei Tage später erschien der Arzt wieder und teilte ihm schonungslos das niederschmetternde Ergebnis mit: „Die Krebszellen haben sich enorm vermehrt. Wir machen morgen gleich nochmal eine Chemotherapie“, ordnete er an.

„Wieso das denn auf einmal? Ich dachte, ich bin im Endstadium und Sie hätten mich aufgegeben“, wunderte sich Brandon.

„Nun, seit dem Sie kein Wasser mehr in der Lunge haben, denke ich, dass wir vielleicht noch eine kleine Chance haben“, erklärte ihm der Professor.

Nachdem der Arzt das Haus verlassen hatte, brach Brandon in Tränen aus.

„Noch einmal diese Tortur? Wie oft denn noch? Es hilft doch sowieso nichts! Ich ertrage das nicht mehr“, jammerte er. „Ob mit oder ohne Wasser in der Lunge, diese Chemo hat noch nie bei mir gefruchtet.“

Christin kam zu ihm. Er tat ihr unendlich leid. Sie wusste, dass sie sich da auf etwas einließ, dass sie nicht tun sollte, nämlich körperlich und seelisch mit dem Patienten zu fühlen. Es kam so plötzlich über sie, dass es ihr unmöglich wurde, sich dagegen zu wehren.

Nach dieser Diagnose konnte sie den ganzen Tag nichts mehr mit ihm anfangen. Er gab nur noch einsilbige Antworten. Selbst ein einfaches Gespräch kam nicht mehr in Gang.

Wegen der bevorstehenden Chemotherapie konnte er die ganze Nacht kein Auge zumachen.

Am nächsten Morgen das gleiche Dilemma. Auch das liebevoll hergerichtete Frühstück rührte er nicht an.

Christin setzte sich auf die Bettkante und nahm seine großen, schlanken Hände in die ihren. „Kommen Sie, Mr. Stonewall, lassen Sie uns ein Gebet sprechen“, versuchte sie ihn zu ermuntern.

Doch da kam sie bei Brandon gerade an die falsche Adresse. Ruckartig entzog er ihr seine Hände.

„Beten! Beten! Etwas anderes könnt ihr Ordensschwestern ja nicht! Ihr meint, alle Krankheiten lassen sich heilen und alle Probleme mit einem Gebet regeln! Ein kleines, kurzes Gebet und alles wird wieder gut, ja? Mich hat Gott schon lange verlassen, deshalb glaube und bete ich auch nicht mehr!“, brach es aus ihm heraus.

Christin zog sich leicht irritiert zurück. Mit diesem Ausbruch hatte sie nicht gerechnet. Aber er war jetzt leicht verwundbar durch die erneuten Schmerzen und die Chemotherapie, die ihn erwartete. Deshalb verzieh sie es ihm. Sie betete im Stillen für sich und trotzdem auch für ihn.

Der Krankenwagen fuhr vor. Zwei Sanitäter kamen mit einer Trage. Sie hoben den Patienten mitsamt dem Bettlaken darauf, um die Wirbelsäule so wenig wie möglich in ihrer Lage zu verändern. Er wurde festgeschnallt und ins Auto gebracht. Christin folgte bis zum Rettungswagen.

„Habt Ihr noch einen Platz für mich frei?“, erkundigte sie sich.

„Sie wollen mitfahren?“ Die Sanitäter sahen sich etwas überrascht an. Das tat bis jetzt keine häusliche Pflegekraft.

„Ich lasse meine Patienten nie allein“, erläuterte sie den beiden jungen Männern mit festem Blick.

Rasch machten sie neben der Trage einen Notsitz für sie frei. Sie stieg ein, setzte sich und schnallte sich an.

„Machen Sie das wirklich immer?“, hinterfragte Brandon neugierig.

Sie sah ihn mit großen, ehrlichen Augen an und bestätigte: „Ja, das tue ich, weil ich der Meinung bin, dass alle meine Patienten, ob groß oder klein, gerade in dieser Situation, in der Sie sich jetzt im Moment auch befinden, Beistand brauchen. Sie fühlen sich sonst total verlassen und dem Ganzen hilflos ausgeliefert, auch wenn sie erwachsen sind.“

Brandon staunte wieder einmal mehr über diese kleine Nonne.

In der Krebsklinik angekommen, brachte man ihn sofort in einen Vorbereitungsraum. Christin bekam einen grünen Kittel übergestülpt. Man verkabelte Brandon inzwischen mit verschiedenen Überwachungsgeräten und legte ihn wieder mittels des Lakens auf eine Art Operationstisch. Sie schoben ihn in den angrenzenden Raum, wo ihn der Professor erwartete.

„Guten Morgen, Mr. Stonewall“, begrüßte er ihn.

Brandon murmelte etwas Undeutliches, denn für ihn würde es kein guter Morgen werden.

„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen“, begann der Arzt. „Da Sie so einen aggressiven Blutkrebs haben, will ich Ihnen eine neue Therapie anbieten. Und zwar geben wir Ihnen die Chemo-Medikamente direkt zwischen die Wirbel. Normalerweise verabreicht man das Medikament zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel. Bei Ihnen ist das leider nicht möglich, da Ihre Lendenwirbelsäule verletzt ist. Also werden wir zwei Wirbel weiter oben eindringen. Auf jeden Fall hat sich diese neue Methode am effektivsten erwiesen.“

„Wenn Sie meinen, dass es etwas bringt?“, brummte Brandon. „Aber fangen Sie bitte endlich an. Ich will es so schnell wie möglich hinter mich bringen.“ Ihm war so ziemlich alles egal.

Man lagerte ihn vorsichtig auf die rechte Seite. Das Behandlungsgebiet wurde großflächig desinfiziert. Ein Pfleger erhöhte den Tisch, so dass der Professor das besagte Gebiet direkt vor seinem Gesicht hatte. Er bekam sterile Handschuhe von einer Schwester übergestreift. Dann griff er zu einer Spezialkanüle, die auf dem hergerichteten Instrumententisch lag.

„Mr. Stonewall, ist alles in Ordnung?“, fragte er sicherheitshalber seinen Patienten. „Es gibt jetzt einen kurzen Stich. Bitte erschrecken Sie nicht.“

Als er die Kanüle einstach, biss Brandon seine Zähne fest aufeinander. Er klammerte sich vor Schmerz an Christin, die vor ihm am Kopfende des Tisches stand, und zwar krallte er sich mit seinen Fingern so fest er konnte um ihre Taille. Vor Schreck blieb ihr die Luft weg. Noch nie berührte sie hier ein Mann.

„Bleiben Sie jetzt bitte ganz ruhig liegen“, ermahnte ihn der Professor. „Ich schließe jetzt den Perfusor (ein Gerät, das gleichmäßig die Tropfen abgibt) an.“

Man stützte und fixierte ihn mit Sandsäcken, damit er nicht nach hinten auf den Rücken rollen konnte und deckte ihn leicht zu.

Langsam ebbte der Schmerz in Brandons Rücken ab. Erst jetzt bemerkte er, dass er seine Pflegerin fest umschlungen hielt. Erschrocken ließ er sie los.

„Ich bitte vielmals um Entschuldigung“, murmelte er betreten. „Habe ich Ihnen wehgetan?“

„Nein, es ist schon in Ordnung“, antwortete Christin und atmete befreit auf. Doch so unangenehm fühlte sich die Berührung gar nicht an. Im Gegenteil, dort wo seine Hände sie umfangen hatten, kribbelte es jetzt und eine angenehme Wärme breitete sich in ihrem Körper aus. Ein leichtes Schwächegefühl in ihren Beinen machte sich zusätzlich bemerkbar. Sie konnte damit nichts anfangen, es auch nirgends einordnen. Christin hatte diese Gefühle zum ersten Mal und sie bemerkte bei sich eine große Unsicherheit. Wie sollte sie damit umgehen?

Der Tisch wurde wieder auf normale Höhe gebracht. Die Nonne holte sich einen Stuhl, setzte sich neben ihren Patienten und nahm seine rechte Hand in die ihre.

Bis das Medikament vollständig infundiert war, wurde es Nachmittag. Die Kanüle wurde herausgezogen und Brandon mit einem Druckverband auf den Rücken gelagert. Jetzt musste er drei Stunden so liegen bleiben. Er fühlte sich müde und wollte schlafen, aber ein starkes Übelkeitsgefühl hielt ihn davon ab. Verzweifelt versuchte er es zu unterdrücken, doch leider ließ es sich nicht aufhalten. Brandon erbrach beinahe pausenlos, ihm schmerzte der Magen und rasende Kopfschmerzen stellten sich ein. Christin hielt ihm die Brechschale. Sie fand es einfach grauenhaft, dass schwerkranke Patienten mit diesen Medikamenten auch noch belastet wurden. Doch im Moment gab es noch nichts Besseres auf dem Markt. Die Ordensschwester kämpfte mit den Tränen, etwas, das ihr noch niemals widerfahren war während einer Betreuung. Verstohlen wischte sie sie mit dem Handrücken weg, denn er sollte sie nicht sehen. Warum nur fühle ich mich ausgerechnet bei diesem Patienten so schwach? wunderte sie sich. In der Ausbildung wurde ich gelehrt, die Patienten mit Herz zu pflegen, jedoch den Schmerz und das Leid nicht an sich herankommen zu lassen. Geschieht es wirklich einmal, so ist das eigene Herz und der Glaube an Gott gefährdet. In solchen Situationen sollte man immer mit einem passenden Bibelspruch reagieren, um das Unheil abzuwenden, rief sie sich in ihre Erinnerung zurück. Und so betete sie lautlos in ihren Gedanken: „Denn worin er, Jesus Christus, selber gelitten hat und versucht worden ist, kann er helfen denen, die versucht werden.

Erst als die Sonne unterging wurden Brandon und seine Pflegerin nach Hause gefahren.

Christin kam ihr Patient heute noch schwächer als je zuvor vor. Er atmete so flach, dass sie schon genau hinsehen musste, ob er überhaupt noch Luft holte. Sie blieb die ganze Nacht an seinem Bett, vor allem auch, weil ihm immer wieder übel wurde. Nur von seinen Kopfschmerzen konnte sie ihn mit ihren Händen befreien. Auch die Infusion legte sie wieder, so dass er keine Schmerzen verspürte.

Eine ganze Woche besserte sich sein Zustand kaum. Christin stand wieder am Anfang ihrer Therapie.

„Ich glaube, ich muss mein ganzes restliches Leben im Bett verbringen“, gab Brandon eines Abends ganz unvermittelt von sich.

Christin gab es einen Riss, denn sie döste neben ihm leicht ein.

„Das glaube ich nicht“, widersprach sie sogleich.

„Sie wollen es nur nicht glauben“, entgegnete er trübsinnig. Das Wort „wollen“ betonte er extra.

„Nein, ich glaube fest, dass diese neue Chemotherapie greift. Sind die Krebszellen dann auf dem Rückzug, können Sie doch operiert werden“, versicherte sie ihm.

„Gut, dann sitze ich eben im Rollstuhl für den Rest, der mir noch bleibt. Ich hasse dieses Ding!“, brach es aus ihm heraus.

„Wer sagt Ihnen, dass Sie im Rollstuhl bleiben müssen? Erst muss ja wohl geklärt werden, was im Einzelnen bei Ihrer Wirbelsäule verletzt ist. Und durchgebrochen ist sie auch nicht, sonst wären Sie entweder schon längst tot, oder zumindest querschnittsgelähmt“, ereiferte sich Christin.

„Schon, aber ich fühle meine Beine und Füße nicht. Folglich bin ich querschnittsgelähmt“, beharrte Brandon.

„Das ist überhaupt nicht sicher. Beim Waschen habe ich zum Beispiel bemerkt, dass Sie ab und zu die Füße und die Beine ein wenig bewegt haben. Mr. Stonewall, warum sehen Sie denn alles so negativ?“, wollte sie wissen.

„Weil mein ganzes Leben bisher nur negativ verlaufen ist, sogar meine Kinderzeit und Jugendzeit“, antwortete er. „Seit ich so krank bin, fühle ich mich oft wie ein Baum ohne Blätter, dessen nackte, sturmgepeitschte Äste sich im dichten, kalten Nebel um Hilfe flehend dem Himmel entgegenstrecken.“

„Ich will nicht neugierig sein, Mr. Stonewall, aber würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das bitte etwas näher zu erklären?“ Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand.

„Mr. Stonewall, der da draußen im Park in einem Mausoleum begraben liegt, ist nicht mein richtiger Vater. Meine Mutter wurde als sehr junges Mädchen zu dieser Vernunftehe gezwungen. Das klingt zwar wie im Mittelalter, doch bei meinen Eltern wurde es leider so arrangiert. Die Liebe blieb aus. Trotzdem kam ein Jahr nach der Hochzeit mein Bruder Henry auf die Welt. Sechs Jahre später fuhr meine Mutter allein in den Urlaub. Mein Stiefvater musste zur gleichen Zeit eine längere Geschäftsreise antreten. Als meine Mutter nach Hause kam, konnte sie dummerweise später nicht mehr sagen, dass das Kind, das sie erwartete, von ihrem Mann stammte, denn man sah ihr die Schwangerschaft bereits an. Eine Abtreibung stand bei ihr niemals zur Debatte. Sie wollte das Kind auf jeden Fall bekommen. Über meinen leiblichen Vater sprach sie niemals. So flog der Seitensprung auf. Mein Stiefvater ließ sich jedoch nicht scheiden, schon wegen des Geredes der Leute. Er stand als Chef mehreren Banken vor. Da machte sich eine Trennung nicht gut. Aber er verbannte meine Mutter und mich aus dem gemeinsamen Schlafzimmer. Nur wenn es etwas zu repräsentieren gab und die Presse anrückte, mussten sie und ich an seiner Seite erscheinen. Ihnen wollte er der Welt seine heile Familie präsentieren, die in Wirklichkeit überhaupt nicht existierte. Mein Vater hielt viele Gartenpartys ab, die sich bis in die später Nacht, manchmal bis zum frühen Morgen hinauszogen. Es kamen Männer und Frauen von Welt und vor allem von anderen großen Banken. Deshalb auch die vielen Schlafzimmer im Haus, wenn die Gäste so spät und mit Alkohol im Blut nicht nach Hause fahren konnten. Mich übersah er sowieso komplett. Mich gab es so gut wie gar nicht für ihn. Mein Bruder wurde als Haupterbe eingesetzt. In der Schule glänzte er nicht gerade. Am schwersten tat er sich im Fach Mathematik. Gerade das Fach, welches er später am dringendsten benötigte. Ich sollte nur das Wohnrecht bekommen. Mein Bruder entwickelte sich zum Spieler und Trinker. Häufig steckte er in Spielschulden, aus denen mein Stiefvater ihn auslösen musste. Doch er sah darüber hinweg. Er meinte: er solle sich erst die Hörner abschlagen. Das gehöre schließlich zur Jugend. Trotzdem sollte er der Erbe seines Imperiums werden. Er sah ihn als seinen einzigen, leiblichen Sohn, der nach seinem Tod die sieben Banken mit Erfolg weiterführen sollte. Sein Stolz auf ihn kannte keine Grenzen.“ Brandon machte eine kurze Pause.

„Als ich dreizehn Jahre alt wurde, fuhren meine Eltern mit meinem Bruder zu einer Gartenparty. Auf dem Weg dorthin verunglückten sie. Alle drei verstarben noch an der Unfallstelle. Mein Stiefvater besaß keine weiteren Verwandten, soviel ich weiß und von Mutters Seiten wollte mich keiner haben, weil ich ein Kuckucksei war.“

Sein Blick wurde starr.

„Gott nahm mir meine gesamte Familie, wenn es auch nie eine richtige war. Vor allem aber hat er mir meine Mutter genommen, die sich als einzige wirklich liebevoll um mich kümmerte bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr. Ab da übernahmen Doreen und Richard meine Erziehung. Bei ihnen konnte ich mich auch nicht beklagen, denn sie liebten mich wie einen eigenen Sohn. Und sie tun es heute immer noch. Mit achtzehn Jahren bekam ich die Banken übertragen. Plötzlich wurde ich, das Kind, das immer auf die Seite geschoben wurde, zum Multimillionär. Ein Glück, dass mein Stiefvater so gut ausgebildete Manager besaß, die alles in seinem Sinn weiterführten, bis ich alt genug war, sein Imperium zu übernehmen. Nur, ich hatte keine Ahnung vom Bankwesen. Ich wurde ja gar nicht als Erbe vorgesehen. Notgedrungen musste ich eine Kurzausbildung machen, so dass ich im groben Umfang verstand, um was es ging. Doch die Hauptaufgaben übernahmen immer noch die Manager. Trotzdem glaube ich sagen zu können, dass ich heute mehr davon verstehe, als mein Bruder damals. Doch mit Zahlen allein wollte ich mein Leben nicht zubringen und so studierte ich Veterinärmedizin zum Ausgleich.“ Erschöpft schloss er für kurze Zeit seine Augen.

„So, nun wissen Sie, warum ich nicht mehr bete. Gott hat mir alles genommen, was ich besaß. Und jetzt kann ich nicht mehr laufen und habe außerdem noch diese abscheuliche Leukämie am Hals. Für was alles bestraft er mich denn noch? Die vielen Millionen bedeuten mir nichts. Lieber wäre ich arm, aber gesund“, murmelte er kaum hörbar die letzten Sätze und schloss die Augen, doch er schlief nicht.

Eine große Stille trat ein. Nach einer Weile erkundigte sich Christin ganz leise: „Wie oft haben Sie das Grab Ihrer Familie besucht?“

„Nur bei der Trauerfeier“, knurrte Brandon und drehte sein Gesicht weg von ihr seitlich ins Kopfkissen hinein.

„Ich glaube nicht, dass Gott Sie verlassen hat, sondern Sie haben ihn verlassen, wenn Sie nicht mal mehr die Gräber besucht haben, um zu beten“, ließ sie ihn wissen.

Brandon holte tief Luft und wollte ihr heftig entgegnen, doch plötzlich erkannte er den Sinn ihrer Rede. Er stieß die Luft wieder aus. Seine Augen hielt er geschlossen. Lange Zeit dachte er darüber nach, als Christin flüsterte: „Ich habe meinen Bogen in den Himmel gesetzt, zum Bündnis der Menschen mit mir.“ Sie wandelte den Spruch etwas ab, damit er es besser verstand. Sanft nahm sie seine Hand in ihre.

„Gott ist immer da, auch bei Ihnen, selbst wenn Sie es nicht wissen. Er leitet eines jeden Menschen Wege, gute und weniger gute. Nur er weiß, dass alles seinen Sinn hat.“ Die Nonne erhob sich.

Da hielt sie Brandon an der Hand zurück. „Habe ich denn alles falsch gemacht?“, flüsterte er.

„Vielleicht nicht alles, wohl aber vieles. Doch ist es nie zu spät zur Umkehr“, antwortete sie. „Gott wird Ihnen verzeihen, weil er ein Gott der Liebe ist.“ Damit ging sie durch die Verbindungstür in ihr Zimmer.

Wie kann man nur so einen unerschütterlichen Glauben haben, dachte er.

Gordons Auto hatte sich so tief in den Schlamm und den Sand der Auffahrt gewühlt, dass Richard zwei Monteure von der nächsten Autowerkstatt anfordern musste. Sie teilten dem Arzt gleichzeitig mit, dass eine Reparatur Unsummen kosten würde und für ein achtzehn Jahre altes Auto nicht mehr rentabel sei. Wo jetzt so schnell ein neues oder auch gebrauchtes Auto herbekommen? Da übergab ihm Brandon einige Schlüssel zu seinen eigenen Autos. Er besaß mehrere davon.

„Du kannst eines von meinen Autos haben. Suche dir eines aus. In der Garage stehen genug herum. Ich werde sowieso nicht mehr damit fahren können“, bot er ihm an.

Gordons Freund stach schon immer heraus als ein Mensch, der gern andere beschenkte oder ihnen kostenlos seine Hilfe anbot. So auch jetzt wieder.

Gordon fuhr am Sonntagmittag los, in Richtung Kloster Heilig Geist. Er brauchte jetzt nur mehr die halbe Zeit, da dieses Fahrzeug viel mehr PS und eine moderne Ausstattung besaß.

Bei seiner Tante unterschrieb er den Arbeitsvertrag und trat am Montagmorgen seinen Dienst an. Melissa hatte bereits alle intravenösen Spritzen und Infusionen bereitgelegt, denn jetzt übernahm Gordon diese Tätigkeit. Während der Visite kamen sie auf ihrem Rundgang in ein Zimmer, in dem drei kleine Mädchen lagen. Allesamt krebskrank. Die kleine Anne mochte kaum sechs Jahre alt sein. Ihr fehlten in der oberen Zahnreihe zwei Zähne und so lispelte sie etwas, wenn sie sprach. Als sie den großen Arzt mit der Spritze in der Hand sah, verließ sie aller Mut.

„Gibst du mir jetzt die Spritze? Bei Melissa hat es gar nicht wehgetan“, erklärte sie ihm gleich. In ihr sträubte sich alles. Am liebsten hätte sie verlangt, dass Melissa, wie immer, die Spritze verabreichte. Ihr kleines Gesichtchen wirkte ängstlich und abweisend.

„So, so, und du glaubst ich kann das nicht genauso gut?“, entgegnete der Kinderarzt.

Doch Gordon benutzte da seine eigene Ablenkungstherapie. Aus der Tasche seines weißen Arztmantels holte er ein kleines, kuscheliges Stoffeichhörnchen hervor. Er setzte sich auf den Bettrand und begann eine lustige Geschichte vom Eichhörnchen „Marlina“ zu erzählen, die er sich gerade ausgedacht hatte. Nebenbei spritzte er das Medikament, ohne dass die Kleine etwas bemerkte.

„So, wir sind schon fertig“, lächelte Gordon und erhob sich.

„Es hat überhaupt nicht wehgetan!“, rief das Kind. „Der neue Doktor kann das genauso toll wie Melissa“, informierte sie sofort ihre zwei Zimmergefährtinnen.

Die Ordensschwester widmete sich jetzt mehr dem Stationsdienst, um nur ja jede Minute mit Gordon auszukosten. Beinahe kam ihre Schreibarbeit als Stationsschwester zu kurz und deshalb musste sie so manches Mal länger in der Klinik bleiben, um alles aufzuarbeiten. Die Mutter Oberin behielt das Ganze eine Weile im Auge und sie war eine sehr scharfe Beobachterin. Jetzt erkannte sie auch, warum ihr Neffe so schnell zugesagt hatte. Der Grund konnte nur Melissa sein.

Sie, ein Mischlingskind, kam im Alter von fünf Jahren zu ihnen ins Waisenhaus. Ein Autounfall, die Eltern starben, Melissa trug nur einen Armbruch davon. Da sie keiner in der Verwandtschaft aufnehmen wollte, wegen ihrer dunklen Hautfarbe, blieb sie im Kloster. Die Familie schämte sich ihrer. Das trug sich damals im Herbst zu. Drei Monate später fand das Mädchen am Heiligen Abend dann die kleine Christin in der Weihnachtskrippe der Kapelle. Sie lag dort nur in ein dünnes Badetuch gehüllt. Melissa nahm sie auf wie eine kleine Schwester. Sie betreute sie auch, als sie anschließend sehr krank wurde und keiner mehr einen Pfifferling für ihr Überleben gab. Niemand wusste, wie lange das Neugeborene dort in der Krippe lag und draußen wütete in dieser Nacht ein heftiger Schneesturm. Seit dieser Zeit hingen die beiden zusammen wie Pech und Schwefel.

Christin wuchs im Kinderheim auf und wurde stark vom Kloster geprägt, während Melissa davor bereits ein anderes Leben kennengelernt hatte. Sie stand dem Weltlichen offener gegenüber als dem Kirchlichen, obwohl sie sich dann doch für ein Leben als Nonne entschied. Allerdings galt das für sie noch nicht als endgültig. Der Mutter Oberin gegenüber erwähnte sie allerdings nichts davon. Sie lernte ab ihrem achtzehnten Lebensjahr Kinderkrankenpflege. An dieses Kloster schlossen sich eine Kinderkrankenpflegeschule und eine Krankenpflegeschule an mit einigen Spezialausbildungen. Ebenfalls dazu gehörten eine Kinderklinik und ein Krankenhaus. Melissa wartete, bis Christin fünfzehn Jahre wurde, dann legten sie gemeinsam das Gelübde ab und wurden Ordensschwestern. Irgendwie meinte die Mutter Oberin plötzlich das Gefühl zu haben, Melissa zu verlieren. Und sogar bei Christin beschlich sie eine seltsame Ahnung. Sie würde vielleicht sogar beide verlieren. Es lag sozusagen in der Luft, denn beide zeichnete eine überdurchschnittliche Schönheit aus.

„Lassen wir den Dingen ihren Lauf, so wie du es willst, Herr“, redete sie vor sich hin und holte die Nachtwachen-Berichte hervor.

An diesem Vormittag wurde Melissa dringend zu der kleinen Anne gerufen, da sie ganz plötzlich Nasenbluten bekam. Doch dieses Nasenbluten schien kein gewöhnliches zu sein. Das Blut kam beinahe fingerdick heraus. Die Schwester griff sich das nächstbeste Handtuch, um die Flut aufzufangen.

„Ich muss mal Pipi machen“, flüsterte die Kleine.

Melissa schob ihr den Schieber darunter. Dabei bemerkte sie zu ihrem großen Schreck, dass auch hier nur noch das blanke Blut kam.

Schnell rief sie über ihr Handy Gordon zu Hilfe. „Schnell, Dr. Spencer, kommen Sie zu Anne. Sie verblutet sonst.“

Der Arzt eilte sofort zu dem Kind. Rasch richtete er eine Infusion her. Melissa stellte einen Sichtschirm vor Annes Bett, damit die anderen beiden Kinder im Zimmer nicht allzu viel davon mitbekamen. Als Gordon die Infusion legen wollte, glitt Annes Kopf jedoch zur Seite und sie hörte auf zu atmen. Die Schwester legte ihre Hand auf Gordons und schob sie sachte von dem Arm des Kindes weg.

„Es ist vorbei. Sie brauchen keine Infusion mehr zu legen“, flüsterte sie.

Dieses Kind starb so rasend schnell. Keiner konnte ihm mehr helfen. Gordon fühlte sich tief betroffen. Er übte seinen Beruf als Kinderarzt mit Leib und Seele aus, doch wenn ein Kind verstarb, meinte er immer, es sei eines seiner eigenen Kinder, die er jedoch nicht vorweisen konnte, das der Tod ihm stahl.

Die Ordensschwester kniete nieder und sprach noch leise ein kurzes Gebet an Annes Bett, dann drückte sie dem Kind sein grünes Krokodil in den Arm, deckte es gut zu, so dass es aussah, als ob es schliefe. Zusammen mit dem Arzt schob sie das Bett aus dem Zimmer.

„Anne muss jetzt viel schlafen“, wandte sie sich im Hinausgehen an die beiden anderen Kinder, denn die reckten neugierig die Hälse.

Kurz danach kehrte Melissa nochmal zu den beiden Kindern zurück. Sie wusste, sie bekamen mehr mit, als sie sollten.

„Anne ist gestorben, stimmt das?“, fragte eines der Kinder sie direkt mit erschrockenen großen Augen.

„Ja, leider war sie so schwer krank und schwach, dass sie nicht weiterleben konnte. Sie besaß keine Kraft mehr, gegen diese Krankheit anzukämpfen. Deshalb hat sie Gott zu sich geholt, damit sie nicht noch mehr Schmerzen erleiden muss“, erklärte sie ihnen.

Sie setzte sich auf einen Bettrand und die beiden Mädchen kuschelten sich rechts und links neben sie.

„Aber ihr beide seid stark. Ihr werdet die Krankheit niederkämpfen. Deshalb glaube ich auch fest daran, dass ihr wieder gesund werdet“, machte sie ihnen Mut.

Gordon stand in der Türe und lauschte den Worten Melissas. Das wäre die richtige Frau für mich und unsere Kinder. Sie weiß mit ihnen umzugehen. Sie belügt die Kinder nicht. Sie erklärt ihnen wie es wirklich ist. Das Leben ist nun mal kein Märchen, überlegte er.

Anschließend ging die Ordensschwester in die kleine Kapelle. Gordon folgte ihr wenig später und fand sie dort vor dem Altar knien und beten. Leise ließ er sich neben ihr nieder und betete ebenfalls. Er ließ eine Weile verstreichen, dann begann er: „Es ist schlimm, wenn so ein junges Leben gehen muss. Sie hat so gut wie noch gar nichts erlebt oder von der Welt gesehen. Da endete ihr Leben schon.“

„Wir wissen nicht, warum das so ist, aber Gott weiß es“, antwortete sie leise.

Gemeinsam verließen sie die Kapelle. Sie arbeiteten nun schon zweieinhalb Wochen zusammen und Gordon bekam drei freie Tage.

„Ich fahre heute Nachmittag nach „Twenty-Two-Oaks“ zu meinem Freund“, ließ er die Schwester so nebenbei wissen, während er seine Eintragungen in der Medikamentenliste machte.

„Dort, wo Christin arbeitet?“, erkundigte sich Melissa interessiert.

„Ja“, und er hoffte im Geheimen, dass sie mitfahren wollte.

„Ich habe auch ab heute Mittag frei. Darf ich mitkommen?“, bat sie, zu Gordons großer Freude.

„Aber natürlich nehme ich Sie gerne mit“, strahlten seine Augen sie an.

„Ich muss nur noch die Erlaubnis von der Mutter Oberin einholen“, rief sie und rannte lachend davon, wie ein übermütiges Kind, obwohl sie bereits achtundzwanzig Jahre zählte.

Die Oberin erlaubte ihr die kleine Reise, aber sie gab ihr einen Satz mit auf die Fahrt: „Passen Sie gut auf sich auf“, und bedachte sie mit einem lange ernsten Blick.

Vom Himmel strahlte wieder eine heiße Sonne, als sie losfuhren. Trotz der Klimaanlage im Auto machte Gordon eine Pause zwischen der einen Fahrstunde. Er parkte das Fahrzeug nahe einem der großen Fischteiche, die es in dieser Gegend reichlich gab. Sie suchten sich einen Baum mit einer ausladenden Blätterkrone, unter dem sie eine Decke ausbreiteten und ihr Lunchpaket auspackten. Anfangs saßen sie sich noch etwas scheu gegenüber, doch mit der Zeit rückte Gordon immer näher zu seiner Begleitung hin.

„Wir arbeiten tagtäglich zusammen, könnten wir das Sie nicht weglassen und zum Du übergehen?“, wagte er einen kleinen Vorstoß.

„Von mir aus schon“, stimmte Melissa zu. „Aber“, warnte sie ihn. „Lass es die Oberin nicht wissen und auf Station sollten wir das auch vermeiden, denn dort gibt es zu viele Ohren, die es der Mutter melden könnten.“

„Die Oberin ist meine Tante“, informierte er sie.

„Oh, das wusste ich nicht“, antwortete sie und es bildeten sich ein paar kleine, argwöhnische Falten auf ihrer Stirn.

„Keine Angst, ich will dich nicht verpfeifen, weil du so bereitwillig das Du anwenden willst“, lächelte er.

Er schenkte ihr noch etwas Wasser in den Becher. Inzwischen saß er ihr so nahe, dass er sie hätte berühren können.

„Also.“ Er hob seinen Wasserbecher. „Dann Prost, auf das Du“, lachte Gordon und küsste sie sanft auf die Wange. Hm, dachte er, eine Haut wie Seide. Das verlangt nach mehr.

Er stand auf und packte die leeren Schüsseln ins Auto, als er bemerkte, dass Melissa plötzlich wie wild um sich schlug. Da sah er eine dunkle Wolke vom Baum herunterkommen.

„Hornissen!“ Mit einem Schlag erkannte er die großen Insekten. Er rannte zu ihr, packte sie etwas unsanft am Arm und riss sie mit sich.

„Komm! Schnell! Ins Wasser!“, schrie er.

Zusammen sprangen sie in den Teich, wo sie untertauchten. Unter Wasser verlor er ihre Hand. Gordon zählte fünf Sekunden, dann tauchte er vorsichtig auf und entdeckte die Insektenwolke bereits am anderen Ufer. Nur Melissa blieb verschwunden.

„Mein Gott, sag bloß, sie kann nicht schwimmen“, murmelte er vor sich hin, um gleich darauf hinab zu tauchen. Im trüben Wasser des Fischteichs fand er sie bewegungslos am Grund liegen. Er nahm sie an den Armen und holte sie zur Oberfläche. Mit einigen Schwimmstößen brachte er sie ans Ufer. Leblos lag sie auf dem Gras. Er zählte drei Hornissenstiche im Gesicht, einen am Hals und zwei an der rechten Hand. Mit geübten Griffen pumpte er ihr das verschluckte Wasser heraus, doch es kam kaum etwas.

„Melissa, komm, wach auf!“, rief er voller Verzweiflung und klopfte ihre Wangen. Er fühlte ihren Puls, der nur so dahin raste. Die Stiche schwollen enorm an, besonders am Hals und über dem Auge. Plötzlich kam ihm die Erkenntnis: Insektengiftunverträglichkeit.

Er nahm sie auf seine Arme und brachte sie so schnell er konnte zum Auto. Er legte sie daneben ins Gras. Aus seinem Notfallkoffer holte er ein Gegenmittel und spritzte es ihr.

Sogar der Hals begann innen anzuschwellen, so dass sie nur schwer Luft bekam. Nach zwanzig Minuten öffnete sie endlich ihre Augen.

„Oh, Melissa, hast du mir einen Schreck eingejagt. Ich dachte, es wäre alles zu spät. Hast du die Insektengiftallergie schon länger?“, informierte er sich.

„Ja, eigentlich schon solange ich mich zurückerinnern kann. Ich glaube mit fünf Jahren begann es“, antwortete sie leicht undeutlich. Ihr fiel es schwer zu denken, da sie sich wie nach einer Narkose fühlte.

„Und dann wirst du auch gleich noch von sechs Hornissen gestochen. Mich haben nur zwei erwischt, wahrscheinlich schmecke ich ihnen nicht“, lachte der Arzt erleichtert. „Du wirst jetzt sehr müde werden auf das Medikament, dass ich dir gespritzt habe, Melissa, aber das macht nichts. Überlass’ ruhig alles mir.“

Sie bekam nur noch die Hälfte mit, denn sie schlief sofort ein.

So, was als nächstes? überlegte er. Ja, natürlich, sie mussten schleunigst aus den nassen Sachen heraus, denn an ihrer beider Kleidung hatten sich über und über grüne Algen aus dem Fischteich geheftet. So konnten sie beide nicht ins Auto steigen. Brandons nobles Fahrzeug würde für immer verdorben sein und vor allem nach Fisch stinken.

Etwas umständlich entkleidete er sie. Er kannte sich schließlich nicht aus mit der Nonnentracht. Anschließend wühlte er in ihrem kleinen Koffer, in dem nur der Ersatz-Habit, etwas Unterwäsche und ein Nachthemd zu finden waren. Er entschied sich für das Nachthemd. Die Tracht erschien ihm zu kompliziert. Bei der ganzen Prozedur bemühte er sich, nicht so genau ihren Körper zu betrachten, doch er konnte sich einfach nicht beherrschen. Es war ihm unmöglich seine Augen von diesem schlanken und doch wohlgerundeten Körper abzuwenden. Als er ihr den Schleier abnahm, quollen eine Menge krauser Locken heraus, die bis zu den Schulterblättern reichten. Nanu, überlegte er, ich dachte immer den Nonnen werden die Haare ganz kurz geschnitten. Eilig hüllte er sie in das Nachthemd, um nicht länger der Versuchung zu erliegen sie dauernd anzusehen. Im Kofferraum des Wagens fand er zwei Decken. Diese breitete er auf die beiden Vordersitze. Dann packte er sie auf den Beifahrersitz, schnallte sie fest und kippte den Sitz nach hinten, damit sie halbwegs zum Liegen kam. Nun bemühte er sich aus seinen eigenen, nassen Sachen zu kommen. Leider hatte er keine andere kurze Reservehose dabei, nur eine lange und in der würde er nur schwitzen. Gordon wählte eine Unterhose und ein Unterhemd. Das musste einstweilen genügen. Über sein Handy rief er Christin an und teilte ihr die Situation mit.

Dann setzte er sich ans Steuer und fuhr so schnell er konnte nach „Twenty-Two-Oaks.“

Dort wurde er bereits erwartet. Vorsichtig trug er Melissa hinein. Doreen zeigte ihm ein Gästezimmer. Er brachte sie hinein und bettete sie auf die rechte Seite eines Doppelbettes. Christin legte ihr sofort eine Infusion, die sie mit verschiedenen pflanzlichen Wirkstoffen versah. Melissa zitterte am ganzen Körper. Außerdem fühlte sie sich sehr heiß an. Das Fieber stieg bis zur Nacht auf 40°C. Während Gordon ihr nochmals ein Histamin spritzte, legte Christin kleine Blättchen eines speziellen Strauches, gemischt mit kaltem Quark auf die dick geschwollenen Stiche, damit die Entzündung aus dem Körper gezogen wurde. Auch Gordon bekam von ihr zwei Stück auf seine Stiche aufgelegt.

„Ihr zwei seht aus, als wenn ihr aus dem Bett kommt?“, scherzte sie.

„Ja, kann man so sagen, aber mir fehlte die Zeit mich mit komplizierten Nonnentrachten aufzuhalten. Ich musste mich beeilen. Es ist schon sehr seltsam. Jedes Mal, wenn ich eine Nonne im Auto transportiere, geschieht etwas Unvorhergesehenes“, überlegte Gordon.

„Es ist ja alles gut ausgegangen“, beruhigte die Pflegerin ihn.

Sie deckte ihre Freundin mit einer leichten Bettdecke zu.

„Gehen Sie nach unten und essen Sie zu Abend. Doreen hat schon etwas für Sie hergerichtet. Ich bleibe solange bei ihr“, bot sie an.

„Ich weiß nicht, ob ich jetzt essen kann. Der Schock sitzt noch ziemlich fest in mir“, gestand er ihr.

„Aber es geht ihr doch schon viel besser“, entgegnete Christin. Warum nur macht er sich solche Sorgen um sie? überlegte sie. Ihr Blick schweifte zu seinen Augen und da erkannte sie den Grund. Ach du meine Güte, auch das noch. Wenn sie nicht stark genug ist, werde ich meine beste Freundin verlieren, denn dann wird sie wohl eine freie Schwester werden, dachte sie traurig.

Ein anderer Gedanke schob sich davor, denn was tat sie eigentlich mit Brandon? Nämlich ganz genau das Gleiche. Sie fühlte sich auch sehr zu ihm hingezogen, mehr als ihr erlaubt war. Aber ich muss standhaft bleiben, sagte sie sich. Wenn das jede Ordensschwester so machen würde, wäre wohl bald keine Klosterschwester mehr übrig.

Da riss sie Gordon aus ihren Gedanken. „Wie geht es Brandon?“

„Noch nicht so gut. Er bekam eine neue Chemotherapie am Anfang der Woche, die ihm arg zusetzte. Die ganze Zeit konnte er vor Übelkeit nichts essen. Ich habe ihm so viel ich konnte an Infusionen gegeben. Er ist sehr schwach“, berichtete sie ihm.

Sie begleitete ihn in das Zimmer seines Freundes. Dann ließ sie die beiden Männer allein und kehrte nochmals zu Melissa zurück.

„Hallo Brandon? Du bist ja wach?“, freute sich Gordon.

„Diese entsetzliche Chemotherapie zieht mir ständig die Augen zu“, jammerte der Freund. Dann begann er zu schnuppern. „Ich weiß nicht, aber hier riecht es plötzlich so streng nach Fisch. Bist du das, Gordon? Und warum hast du nur die Unterwäsche an?“, forschte er.

Der lachte nur. „Das kann gut sein. Ich war in einem Fischteich baden und zwar mit einer Nonne zusammen.“

„Wie hast du denn das fertiggebracht? Ist sie freiwillig mitgegangen? Und warum habt ihr ausgerechnet einen Fischteich ausgewählt?“, überhäufte ihn Brandon mit Fragen.

„Weil uns ein Hornissenschwarm dazu zwang, blieb uns keine andere Wahl“, erklärte Gordon.

„Dann ist ja alles klar“, antwortete er trocken.

„Nur, sie konnte nicht schwimmen und wäre mir beinahe ertrunken und dann kam das Schlimmste noch. Sie reagierte auf die Stiche allergisch“, erläuterte der Freund die Situation.

„Also kein romantisches Bad? Wie schade. Aber weißt du, was du tun könntest?“, lockte ihn Brandon.

„Was denn?“ Gordon glaubte an einen Tipp, wie er schneller mit Melissa zusammenkam. Neugierig neigte er seinen Kopf ihm zu.

„Du könntest dich mal duschen. Du stinkst wie ein ganzer Fischkutter“, kam die Antwort.

„Ja, da hast du allerdings auch Recht“, lachte er. „Vielleicht wäre es ja möglich mit diesem Gestank deine Krebszellen abzutöten. Dann würde ich mit Vergnügen täglich in die Brühe springen.“

Brandon rang sich ein Lächeln ab. „Das wäre perfekt. Ich würde den Fischgestank vorziehen und auf die Chemotherapie verzichten, denn kotzen muss ich auf beide. Nur der Fischgestank ruiniert meine inneren Organe nicht. Gordon!“, es klang sehr dringlich. „Den Eimer bitte!“, bat er seinen Freund. Schnell hielt er ihm den Eimer vor sein Gesicht.

„Bin ich das jetzt mit dem Fisch oder immer noch deine Chemotherapie?“, vergewisserte er sich.

„Ich fürchte beides“, antwortete Brandon ihm.

Als es ihm etwas besser ging und der Patient erschöpft in seinen Kissen lag, entsorgte Gordon den Inhalt des Eimers und begab sich anschließend ins Bad um zu duschen.

Nach der Dusche kam der Freund zu ihm zurück. Brandon lag erschöpft in den Kissen. Gordon erhob sich und wollte sich leise aus dem Zimmer schleichen. Doch da rief ihn Brandon plötzlich zurück.

„Gordon, warte noch einen Moment. Ich muss dir noch etwas sagen: Sollte ich in den nächsten Tagen sterben, dann musst du die Rose-Bud-Bank und ihre sechs Filialen übernehmen. Ich möchte nicht, dass sie zersplittert werden. Ich habe dich als alleinigen Haupterben in meinem Testament einge…“

Weiter kam er nicht. Da fiel ihm der Freund ins Wort. „Bist du verrückt geworden? Ich habe noch niemals etwas mit einer Bank zu tun gehabt, außer, wenn ich jeden Monat mein Gehalt abgehoben habe. Wie kommst du darauf, dass ich sie übernehmen soll? Ich habe keinen blassen Schimmer von Bankgeschäften. Wie soll ich das machen?“

„Du bekommst die Hilfe von zwei Managern“, entgegnete Brandon ganz gelassen. „Und was du sonst noch tun musst, steht alles im Testament. Ich musste mich damals auch da hinein arbeiten. Ich war ja auch nicht als Erbe vorgesehen. Und so, wie ich dich kenne, schaffst du das genauso. So, und jetzt lass mich etwas schlafen. Ich bin ziemlich erschöpft“, verabschiedete er ihn.

Melissa öffnete die Augen, als Christin zurückkam.

„Wie geht es dir?“, erkundigte sich die Freundin.

„Es ist schon wieder besser“, antwortete Melissa.

„Puh, du stinkst abartig, wie ein altes Fischweib“, stellte Christin fest.

„Ich habe ja auch in einem Fischteich gebadet“, klärte sie sie auf.

„Und darauf bist du stolz? Komm, ich lasse dir ein Bad ein. Dort kannst du auch deine Haare waschen.“ Schon verschwand sie im Nebenzimmer.

Während Melissa in der Wanne saß, bezog Christin das Bett frisch und legte ihr ein Nachthemd von sich auf das Kopfkissen. Anschließend riss sie die Fenster auf, um den ekelhaften Geruch nach altem Fisch aus dem Zimmer zu vertreiben. „Ich komme mir vor wie auf dem Fischmarkt“, murmelte sie vor sich hin.

Nachdem Melissa wieder im Bett lag, wollte Christin wissen, wie sich das Ganze zugetragen hatte, vor allem konnte sie sich keinen Reim auf die seltsame Bekleidung machen.

„Wir mussten vor einem Hornissenschwarm flüchten und sprangen in unserer Not mitsamt unserer Kleidung in einen Fischteich und auf dem schwammen obenauf eine Menge Algen. Außerdem weißt du ja, dass ich nicht schwimmen kann. Wenn mich Gordon nicht herausgeholt hätte, wäre ich entweder ertrunken oder von den Insekten zu Tode gestochen worden“, erklärte ihr die Freundin. Dabei rutschte ihr der Vorname ihres Oberarztes unbewusst heraus.

Aha, sie nennen sich bereits beim Vornamen, registrierte Christin. Wenn das mal gut geht!

„Ach ja, mein Habit befindet sich noch im Auto. Wenn du ihn vielleicht waschen könntest?“, bat Melissa sie. „Aber Vorsicht, er stinkt genauso.“

„Aber ja, das mache ich doch gern für dich. Hauptsache du wirst wieder gesund“, versicherte ihr die Freundin. Sie reichte ihr ein Glas kaltes Wasser.

„Eines würde mich schon interessieren“, begann Christin vorsichtig. „Wer hat dich in das Nachthemd gekleidet?“

„Der Oberarzt hat mir ein Gegenmittel gespritzt, worauf ich sehr müde wurde.“ Sie kehrte wieder zu der konventionellen Anrede zurück. „Ich kann dir nur sagen, ich weiß von gar nichts mehr. Ich hatte einen regelrechten Filmriss. Aber da wir nur zu zweit unterwegs waren, kann es nur er gewesen sein. Aber ich denke, dass ich ihm vertrauen kann. Schließlich lag hier ein Notfall vor. Er arbeitet seit zwei Wochen bei mir in der Kinderklinik als Oberarzt. Alle Kinder lieben ihn und das nach so kurzer Zeit.“ Energisch rubbelte sie mit dem Handtuch ihre Haare trocken.

„Was meinte der Oberarzt vorhin, als er sagte: „Immer wenn ich eine Nonne im Auto habe, geschieht etwas?“, wollte Melissa wissen. „Ich habe das so im Halbschlaf mitbekommen.“

„Als er mich hierher fuhr, landeten wir während eines schweren Gewitters in einem Schlammloch und zwar so, dass sein Auto nur noch Schrottwert hatte“, erklärte Christin lachend.

Gordon ging doch noch in die Küche hinunter zu dem Hausmeisterehepaar.

„Was möchtest du essen?“, ermunterte ihn Doreen.

„Ein Apfel genügt mir“, antwortete er und nahm sich einen vom Obstteller.

„Du bringst uns lauter hübsche Mädchen ins Haus“, sprach ihn Richard an. „Nur dumm, dass alle Ordensschwestern sind.“

„Ich glaube kaum, dass sich das als ein großes Problem herausstellt, wenn sie mal angebissen haben“, erwiderte Gordon und versenkte seine Zähne herzhaft im Apfel.

„Deine Tante wird nicht so sonderlich begeistert sein, wenn du ihr die besten Schwestern wegnimmst. Am Ende entlässt sie dich wieder“, gab der Hausmeister zu bedenken.

„Ich will nicht alle, Richard. Eine genügt mir voll und ganz. Vor allem, wenn es die richtige ist“, antwortete er.

„Und welche von den beiden ist es? Die weiße oder die hellbraune?“, erkundigte sich der Hausmeister neugierig.

„Die Hellbraune“, ließ Gordon ihn uneingeschränkt wissen.

„Hab ich es mir doch gedacht. Wer nichts essen kann, der ist verliebt“, bestätigte Richard und lachte in sich hinein. „Na, dann halt dich mal ran, Junge. Du bist schließlich schon dreiunddreißig Jahre alt und eine Nonne aus ihrem Kloster loszueisen wird bestimmt nicht so einfach sein“, lachend klopfte er Gordon auf die Schulter. „Nicht, dass du dann schon graue Haare hast, bis es dir gelungen ist, sie davon zu überzeugen, dass ein Liebesleben besser ist als das Klosterleben.“

Das Hausmeisterehepaar und Brandons Freund kannten sich bereits seit vielen Jahren. Schon als Kinder spielten sie bei ihnen in der Küche. Gordon war ein gerngesehener Gast. Er gab sich zu jeder Zeit rücksichtsvoll und wohlerzogen, wurde nie ausfällig oder hinterhältig. Außerdem war er sehr hilfsbereit.

Er wünschte allen eine Gute Nacht und begab sich nach oben in sein Bett. Doreen dachte ihm das Nebenzimmer von Melissa zu, das ebenfalls mit einer Verbindungstür ausgestattet war. Er fühlte sich nach der Aufregung heute am Tag todmüde und schlief auch sofort ein.

Doch nach einer halben Stunde wurde er von Melissas unruhigem Schlaf geweckt. Ihre Schreie drangen zu ihm, da die Türe offen stand. Leise schlich er sich in den angrenzenden Raum und machte das Nachtlicht an.. Sie musste wohl einen Alptraum haben, weil sie so wild um sich schlug. Er beugte sich über sie und bekam prompt eine Ohrfeige ab. „Au!“, rief er und schüttelte seinen Kopf, während er ihre Hände einfing. Leise redete er sie an. „Melissa, Melissa, wach auf. Du hast einen Alptraum. Sei still, du weckst ja das ganze Haus auf.“

Sie schlug die Augen auf und ließ ihre Hände fallen. Mit einem Mal flossen die Tränen.

„Dieser Traum kommt immer wieder. Ich habe ihn heute wohl schon zum vierten Mal geträumt. Die Hornissen greifen mich pausenlos an. Ich höre sogar ihr Brummen“, erklärte sie ihm völlig aufgelöst. „Sag, habe ich dich vorhin etwa geschlagen?“, wollte sie wissen und blickte ihn mit großen erschrockenen Augen an.

„Das war nicht schlimm. Wie du siehst, sitzt mein Kopf noch auf den Schultern“, scherzte er. „Soll ich bei dir bleiben?“, begann er vorsichtig.

„Ja, bitte, bleib bei mir“, schluchzte sie. „Und wenn ich dich wieder schlage?“, warnte sie ihn.

„Dann werfe ich dich aus dem Bett!“, drohte er ihr.

Rasch schlüpfte er unter die Decke des linken freien Bettes. Er nahm ihre Hände in die seinen und wartete, bis sie sich beruhigt hatte. Mit der Zeit verebbten die Tränen und sie hörte auf zu schluchzen. Sie fühlte die Wärme seiner Hände und seines Körpers. Vorsichtig zog er sie in seine Arme. Sie hörte sein Herz im gleichmäßigen Takt schlagen und legte ihren Kopf vertrauensvoll an seine Schulter. Mit einem Handgriff machte er das Nachtlicht aus. So schliefen sie beide ein. In dieser Nacht kehrte kein Alptraum mehr zurück. Sie fühlte sich bei ihrem Lebensretter vollkommen sicher und geborgen.

Am nächsten Morgen, als sich alle am Frühstückstisch versammelt hatten, schlug Gordon vor: „Ich bleibe heute bis Mittag bei Brandon, damit Christin auch ein paar Stunden für Melissa Zeit hat.“ Er wandte sich an die Ordensschwester. „Geht es dir auch wirklich wieder gut, Melissa?“ In diesem Moment achtete er gar nicht auf die Anrede „Schwester.“

„Mir geht es sehr gut“, antwortete sie lachend und ihre Augen glänzten, als sie ihn ansah.

Christin versorgte zuerst ihren Patienten und brachte ihm sein Frühstück. Während sie ihm beim Essen half, blinzelte er sie von der Seite her an. „Wo kommen denn plötzlich all die Klosterschwestern her? Ist hier irgendwo ein Nest?“, erkundigte er sich.

„Ja, im Heilig Geist Kloster. Dort finden Sie mindestens noch weitere zweihundert ihrer Art“, antwortete die Pflegerin.

„Zweihundert? Was tun die alle dort?“, wunderte er sich.

„Sie arbeiten und beten“, klärte ihn Christin auf. „Sie betätigen sich im Krankenhaus, in der Kinderklinik, in der Apotheke, im Waisenhaus, in der Küche, in der Wäscherei und sie pflegen die alten Menschen.“

„Ich habe mir noch nie um dieses Kloster Gedanken gemacht. Sind dort alle Schwestern so jung und hübsch wie Sie?“, musste er unbedingt erfahren.

Christin musste schlucken. Ein Kompliment von ihm? wunderte sie sich. „Nein, wir sind ein gemischter Haufen von Ordensschwestern von achtzehn bis siebzig Jahren, wobei letztere nicht mehr zum Dienst eingeteilt werden“, teilte sie ihm mit.

„Die bringen Sie aber bitte nicht alle hierher“, forderte er.

„Nein, natürlich nicht. Ich werde nur Melissa ab und zu treffen. Sie ist meine beste Freundin, seit ich geboren wurde“, ließ sie ihn wissen.

Erschöpft schloss er die Augen. Damit beendete er sein Frühstück.

Ich weiß jetzt, dass nicht alle so jung und so wunderschön sind in diesem Kloster. Aber ich habe die hübscheste und intelligenteste Pflegerin des Vereins bekommen, überlegte er lächelnd.

Kurz danach lenkte Christin ihre Schritte mit der Freundin in den Park der Stonewalls. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel und der Wind spielte leicht in den Zweigen der Weiden und Trauerbirken. Tulpen und Narzissen blühten überall und verteilten verschwenderisch ihren Duft.

„Wie geht es voran bei dir?“, erkundigte sich Melissa.

„Noch nicht so recht. Die letzte Chemotherapie hat ihn wieder weit zurückgeworfen. Wir stehen praktisch wieder am Anfang. Er ist sehr negativ gestimmt und möchte am liebsten sterben. Es ist schwer ihn umzustimmen. Ununterbrochen im Bett zu liegen ist ja auch nicht gerade aufbauend“, berichtete Christin.

„Meinst du, er schafft es?“, wollte die Freundin wissen.

„Ich hoffe es zumindest. Meine letzten beiden Patienten sind gestorben. Ich möchte auch wieder einmal ein Erfolgserlebnis verbuchen. Ich tue was ich kann, damit er überlebt“, erklärte sie. „Er hat allerdings eine äußerst aggressive Leukämie, der man mit den herkömmlichen Medikamenten schlecht beikommt.“

„Aber wenn Gott nicht will?“, gab Melissa zu bedenken.

„Ja, dann kann ich ihm nicht helfen“, antwortete Christin traurig. „Dann hat der Herr wohl anders entschieden.“

Langsam überquerten sie eine kleine steinerne Brücke.

„Ich bewundere dich. Wie hältst du es nur bei ihm aus? Ich habe gehört, dass er mehrere Pflegekräfte regelrecht vergrault hat“, erkundigte sich die Freundin.

„Ich kann nicht klagen. Bei mir hat er sich nur am Anfang etwas daneben benommen. Er nannte mich Pinguin und Nebelkrähe.“ Sie musste lächeln in der Erinnerung. „Aber diese anderen Pflegerinnen haben ihn nicht im Mindesten gepflegt. Sie nahmen ihm die Glocke weg, damit er nachts ihre Ruhe nicht störte. Dann ließen sie ihn nur auf dem Rücken liegen, so dass sich bei ihm ein sehr tiefer Dekubitus entwickelte. Kein Spezialbett wurde beantragt. Sie lagerten seine Füße nicht und ließen ihn in seinen Exkrementen stundenlang liegen. Auch das Essen schnitten sie ihm nicht. Niemand half ihm bei den Mahlzeiten. Sie ließen ihn im Dunkeln liegen und warteten praktisch nur auf seinen Tod“, erklärte Christin aufgebracht.

„Das ist ja furchtbar“, entrüstete sich Melissa.

„Jedenfalls wirft er bei mir keine Teller mit Essen an die Wand oder spuckt mir ins Gesicht“, bestätigte die Pflegerin.

„Das glaube ich dir. Du gehst mit deinen Patienten ja auch ganz anders um. Du bist Tag und Nacht immer für sie da. Habe ich Recht?“ Melissa bedachte sie mit einem Seitenblick.

„Ja, und so soll es auch sein“, bestätigte Christin.

„Und du selbst? Fühlst du dich hier wohl?“, wollte die Freundin wissen.

„Ja, das tue ich. Das Hausmeisterehepaar hilft mir, wo es nur geht. Es sind zwei nette und liebenswerte Menschen, die auch sehr an Mr. Stonewall hängen. Sie haben ihn nach dem Tod seiner Familie mit dreizehn Jahren aufgenommen wie ein eigenes Kind. Deshalb ist es auch für sie eine schlimme Sache ihn so dahinvegetieren zu sehen“, erzählte sie ihr.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. „Oh, es ist schon spät. Ich muss zurück“, erklärte sie.

„Aber es ist doch erst elf Uhr. Du hast noch eine Stunde Zeit. Gordon ist doch bei ihm. Er hilft ihm, wenn er etwas braucht. Er hat ihn zuvor doch auch schon manchmal versorgt“, widersprach Melissa.

Sie folgten einem kleinen Rinnsal, das sich durch große und kleine Steine schlängelte, bis es als Miniaturwasserfall über einen großen Findelstein hinabstürzte und als kleines Bächlein weiter plätscherte. Überall im Park wuchsen Blumen in voller Blüte, die einen betörenden Duft verbreiteten. Wer diesen Park anlegte, musste viel Fantasie gehabt haben.

„Du magst ihn sehr gern, deinen Oberarzt, oder?“, erkundigte sich Christin vorsichtig und schlug den Rückweg ein.

Die Freundin atmete tief auf. „Ja, ich weiß auch nicht, wie es geschehen konnte. Die Mutter Oberin teilte ihn mir als Oberarzt zu. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, fühlte ich mich sofort zu ihm hingezogen. So, als würde ich ihn schon mein halbes Leben kennen. Er wirkte so vertraut. Mein Herz kam ganz aus dem Takt. Er ist so sanft, so liebevoll. Ich habe so etwas noch nie zuvor erlebt. Dieses Gefühl ist einfach wunderbar. Man möchte mehr davon. Es ist wie eine Droge. Ich kann mich nicht dagegen wehren und ehrlich gesagt, will ich es auch gar nicht“, schwärmte sie und lachte befreit, dass sie wenigstens einem Menschen ihre Gefühle anvertrauen konnte, ohne befürchten zu müssen, bei der Mutter verraten zu werden. „Ich weiß, dass ich gegen alle Regeln verstoße und ich eines Tages vor der Entscheidung stehen werde: er oder der Orden“, sprudelte es aus ihr heraus.

Sie blieb stehen und Christin sah sie mit großen Augen an, die völliges Nichtverstehen vermittelten. Ich muss äußerst vorsichtig sein, sonst ende ich genauso wie Melissa, ging es durch ihren Kopf.

„So, wie es im Moment aussieht, werde ich wohl aus dem Orden austreten. Ich möchte Gordon keinesfalls verlieren. Außerdem glaube ich, wenn Gott es nicht gewollt hätte, dann wären wir uns wohl nie begegnet“, erläuterte sie.

„Es kann aber auch eine Prüfung sein. Gott will deinen Glauben testen, wie fest du zu ihm stehst“, gab die Freundin zu bedenken.

Melissa schüttelte jedoch nur energisch den Kopf. „Nein, das kann ich nicht glauben. Dieses Gefühl ist einfach zu intensiv.“

Langsam folgten sie dem Weg zurück zum Haus.

„Dieser Park ist voll von Blumen und es duftet herrlich. Jede Blume entwickelt ihr eigenes Parfüm und doch passen sie am Ende alle zusammen. Hier eine halbe Stunde jeden Tag spazieren gehen wirkt gewiss wie eine Kur“, stellte Melissa fest. „Jetzt weiß ich, warum es dir hier so gut gefällt.“

Derweil saß Gordon bei Brandon am Bett in einem großen Schaukelstuhl und vertrieb ihm die Langeweile.

„Ich muss sagen, du siehst wirklich zum Gotterbarmen aus“, sprach ihn der Freund an.

„Das weiß ich selbst. Das brauchst du mir nicht auch noch zu sagen“, brummte Brandon. „Die Schwester hält mir schon gar keinen Spiegel mehr vor.“

„Da bringe ich dir die beste Pflegekraft meiner Tante und …“

„Schwester Christin kann nichts dafür, dass es mir so miserabel geht“, fiel er ihm ins Wort. „Es ist die Chemotherapie, die mir so zusetzt. Ich habe die ganze Woche über nur gekotzt. Die Schwester, die du mir gebracht hast, ist vollkommen anders. Ihre Pflege ist erste Klasse. Sie schimpft auch nicht, wenn mir mal ein Malheur passiert. Stell dir vor, sie füttert mich sogar, wenn ich nicht kann. Und zur Chemotherapie in die Klinik hat sie mich auch begleitet.“

„Du trinkst gar keinen Alkohol mehr? Ich sehe keine leeren Flaschen stehen“, wunderte sich Gordon.

„Mir wurde letzthin furchtbar übel darauf, verbunden mit wahrhaft tierischen Bauchschmerzen. Wahrscheinlich haben sich die Medikamente mit dem Whiskey auf Dauer nicht vertragen“, erklärte er ihm. „Du wirst staunen, Morphium bekomme ich auch kaum mehr. Sie hat eine viel bessere Medizin, eine die nicht abhängig macht und trotzdem den Schmerz nimmt. Mein Kopf ist wieder ganz frei. Ich kann wieder denken.“

Der Freund lachte. „Brandon, du schwärmst ja geradezu von ihr.“

„Das musst ausgerechnet du sagen? So viel ich mitbekommen habe, hast du deiner Stationsschwester innerhalb von nur zweieinhalb Wochen Stationsdienst den Kopf völlig verdreht“, warf er ein. „Ich weiß, dass du wieder arbeitest und zwar im Kloster Heilig Geist. Deine Tante hat dir den Job als Oberarzt verschafft, doch ich glaube, ihr unterlief hier ein Kardinalfehler, denn sie packte dich in die Kinderklinik zu Schwester Melissa.“

„So? Ist das schon bis zu dir in dein Zimmer vorgedrungen?“, wunderte sich Gordon.

„Der Wind, der Wind ist schneller als die Gedanken“, scherzte Brandon.

„Ja, du hast Recht. Ich habe mich sofort in sie verliebt und ich glaube, ihr erging es ebenso. Es ist einfach so geschehen. Plötzlich wusste ich mit Sicherheit, dass sie die Frau meines Lebens ist“, bestätigte der Freund ernst.

„Deine Tante vermutete wohl nicht, dass du gleich bei der ersten Nonne schwach werden würdest?“, machte sich Brandon lustig. „Ich freue mich für dich, dass du wieder Arbeit hast. Dann kommst du wenigstens auf andere Gedanken und musst dich nicht mehr um mich sorgen. Ich danke dir, dass du mir diese Nonne gebracht hast, wenn ich auch am Anfang darüber geschimpft habe.“

„Danke nicht mir, sondern meiner Tante. Sie hat sie für dich ausgewählt“, berichtigte er ihn.

„Schon wieder die Tante? Spielt sie die Vorsehung? Dann braucht sie sich aber nicht wundern, wenn hinterher ein paar Schwestern fehlen“, lachte er seinen Freund matt an.

Das Gespräch ermüdete ihn, aber er wollte ihn nicht schon wieder fortschicken. Er seufzte tief. „Schau, wie schön die Sonne scheint. Es ist warm draußen und es riecht nach Frühling. Wie viele Blumen müssen wohl jetzt in meinem Garten blühen? Ich kann sie nicht einmal sehen oder ihren herrlichen Duft wahrnehmen. Immerzu hier im Bett zu liegen, zu jedem Umdrehen jemanden brauchen, der den Knopf an meiner Liegestätte betätigt, ist furchtbar. Außerdem ist es entsetzlich langweilig. Nicht mal ein Buch kann ich lesen, ohne dass mir die Arme einschlafen, weil ich es so hoch halten muss. Schwester Christin liest mir zwar abends manchmal vor, aber sie hat auch nicht immer Zeit. So liege ich hier und meine Gedanken kreisen ununterbrochen in meinem Kopf“, klagte Brandon sein Leid, doch es klang anders als vor einigen Wochen. Das fiel Gordon sofort auf. Er bekam wieder Interesse an seinem Garten.

„Hey, Brandon, das hört sich ja ganz anders an als vor drei Wochen. Wenn ich mich recht entsinne, wolltest du zu dieser Zeit nur noch sterben. Du willst wieder lesen?“, staunte der Freund.

„Ja, und Musik hören würde ich vor allem sehr gern wieder“, unterbrach er ihn. „Und da ist noch etwas: Ich erzählte dir einmal, dass ich mich wie ein Baum ohne Blätter im kalten Nebel fühle. Jetzt ist eine rote Rose dazugekommen, die mir neue Kraft und Hoffnung gibt. Sie blüht dort trotz Kälte und Nebel vor den kahlen Bäumen. Ich glaube, dass es Christin ist und ich nenne sie die Rose aus dem Nebel.“

Gerade in diesem Augenblick, als die beiden Freunde sich so angeregt unterhielten, kam Christin von ihrem Spaziergang zurück. Die Türe zum Zimmer ihres Patienten stand offen und so bekam sie das Gespräch ungewollt mit. Somit hörte sie auch das mit den Blumen. Ja, das ist es. Ihm eine kleine Freude bereiten, um ihn aus seiner trüben Phase herauszuholen, ging es ihr durch den Kopf. Rasch lief sie die Treppe hinunter, zur Haustüre hinaus, um das Haus herum, in den blühenden Garten. Hier wuchsen tatsächlich eine Unmenge bunter Blumen. Sie zögerte. Welche sollte sie nehmen? Die Bienen umschwirrten sie fleißig und ein schwerer, beinahe betäubender Duft lag in der Luft. Allerdings stellte sie fest: Der Garten sah reichlich verwildert aus, da Brandon den Gärtner entließ. Der Hausmeister schaffte es nicht allein, dem Unkraut Herr zu werden, denn er musste auch noch andere Arbeiten im Haus verrichten. Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg zu einer japanischen Teerose. Sie bückte sich und brach die Blume ganz unten am Stiel ab. Ein herrlicher Duft stieg ihr in die Nase. Die Blütenblätter leuchteten in einem kräftigen Pink. Sie richtete sich auf und gewahrte einen wunderschönen, großen Wintergarten, in dem ebenfalls viele Pflanzen wuchsen. Sie wusste nicht, dass ein solcher überhaupt existierte, denn vom Hausinneren führte kein Weg zu ihm. Das dachte sie jedenfalls. Ebenfalls erst jetzt erkannte sie, dass das Haus einen moderneren Anbau bekam und das altertümliche Haupthaus um einiges vergrößerte. Wie mag man wohl dorthin kommen? überlegte sie. Es müssen praktisch zwei Häuser sein, die miteinander verbunden wurden. Dann entdeckte sie einen runden Pavillon, der früher wohl einmal weiß gewesen war. Jetzt sah er grau und etwas baufällig aus. Wenn man dorthin gelangen wollte, musste man an vielen Rosenbeeten vorbei. Es gab hier Rosen in Hülle und Fülle und in allen Farben, viele bereits erblüht, manche noch als Knospe, und jede verströmte einen anderen intensiven Duft. Jetzt wusste sie, dass Brandon ein Rosen-Fan war, denn diese Blumen blühten nicht nur im Garten, sondern im gesamten Park. Sie gewahrte ein kleines Rinnsal, welches verschlungen durch den ganzen Park plätscherte und alle zwanzig Meter führten noch mehr kleine steinerne Brücken darüber. Am Wegesrand, der nun wild überwuchert wurde, fand sie versteckt zwischen den Blumen Solar-Lampen. Hier in lauschigen Sommernächten spazieren zu gehen müsste ein Traum sein, dachte sie. Sie wollte schon ins Haus zurückkehren, da entdeckte sie eine riesige, Trauerweide und sie schien ihr sogar zuzurufen: „Komm’ doch mal her.“ Langsamen Schrittes ging Christin auf den Baum zu und verschwand unter den langen, dichten Blätterzweigen, die bis auf den Boden reichten. Ihre Füße standen auf knorrigen Wurzeln. Ein dicker Stamm lud sie zu einer Umarmung ein. Die Rinde besaß sogar ein Gesicht, wenn man genau hinsah. Zwei Augen mit halb geschlossenen Lidern, eine breite Nase und ein gütig lächelnder Mund. Seine Zweige schlossen sich rechts und links hinter ihr, wenn sie sich ganz nah am Stamm befand und sie schienen Christin das Gefühl von Schutz zu vermitteln. Der Wind raschelte in den Blättern. Sie blickte hinauf in die Krone der Weide. Die Sonne blitzte dazwischen hindurch. Etwas geblendet schloss sie die Augen. Da meinte sie ein leises Wispern in den Zweigen zu hören, das von uralten Zeiten erzählte. Von heiterem Kinderlachen, strengen Befehlen und unzähligen Tränen eines kleinen Jungen. An einer kleinen Stelle der Rinde trat Harz aus, das wie eine Träne geformt aussah. Hatte hier der kleine Junge geweint? Oder empfand der Baum so wie das Kind und vergoss ebenfalls eine Träne? Sie fühlte sich so verzaubert, dass sie beinahe vergaß, wo sie sich befand. Nur widerwillig löste sie sich von diesem geheimnisvollen alten Baum. Sie beugte sich nach vorn, teilte die Zweige mit ihren Händen und trat darunter hervor. Ihr kam es vor, als würde sie aus einem Traum erwachen. Als sie ins Haus zurückkehrte, hatten sich Gordon und Melissa bereits verabschiedet und befanden sich auf der Rückfahrt. Sie stellte die Blume in eine Vase, füllte frisches Wasser ein und ging damit zu ihrem Patienten. Dieser lag matt, mit geschlossenen Augen, in den Kissen. Leise näherte sie sich seinem Bett und hielt ihm die Blume unter die Nase. Langsam öffnete er seine Augen.

„Christin, können Sie etwa Gedanken lesen?“, äußerte er sich erstaunt und sog den frischen Duft ein.

„Nein“, lächelte sie. „Aber die Türe zu meinem Zimmer stand offen. Verzeihen Sie mir, dass ich gelauscht habe?“

„Nein, ich verzeihe es Ihnen nicht“, grinste er. „Im Gegenteil, ich bin sogar glücklich darüber, dass Sie es getan haben. Zur Strafe aber, weil Sie gelauscht haben, verpflichte ich Sie dazu, mich bis in alle Ewigkeit zu duzen. Mir geht das „Sie“ auf den Wecker, wenn man tagtäglich zusammen ist“, verlangte er von ihr. Mal sehen, ob ich das auch so schnell fertigbringe wie Gordon mit Melissa, dachte er.

„Es ist uns leider nicht erlaubt unsere Patienten mit „Du“ anzureden“, erklärte sie.

„Ach, hat das vielleicht auch die Mutter Oberin vorgeschrieben?“ Er bedachte sie mit einem lauernden Blick.

„Ja, sie meint, das „Du“ würde zu vertraulich klingen“, versuchte sie ihm zu erläutern. „Der Respekt ginge zwischen dem Patienten und der Pflegeperson verloren.“

„Vertraulich? Respekt? Papperlapapp! Sage deiner Oberin, ein todkranker Mann hat darum gebeten, dessen Tage sowieso gezählt sind. Einen solchen Wunsch kann sie nicht abschlagen, wenn sie ein Herz besitzt.“ Brandon öffnete seine Augen einen Spalt und beobachtete die Nonne genau. Er erkannte, dass sie Zweifel bekam und mit sich rang, ob sie das Gebot der Oberin brechen durfte oder nicht. Eine Weile später atmete sie tief auf.

„Na gut, aber nur hier unter uns“, willigte sie ein. Sie wusste allerdings nicht, dass das kleine Wort „Du“ sie noch näher an ihn kettete.

„Ich danke dir. Du kannst es auch in Gegenwart von Richard und Doreen tun. Sie werden ganz gewiss nichts verraten“, versicherte er ihr mit einem kleinen Lächeln. „Außerdem ist die Mutter Oberin weit weg von hier.“

Das erste Lächeln, das sie bei ihm sah, seit sie ihn betreute. Sie deutete es als einen Fortschritt, als einen Aufwärtstrend, einen Meilenstein in seiner Krankheit. Und wenn ihm das „Du“ dabei weiterhalf, dann sollte es eben so sein.

„Ich werde dir immer Respekt zollen, weil deine Pflege mit Herz, Verstand und Liebe geschieht. Du setzt deine ganze Kraft dafür ein, deine Patienten gesunden zu lassen. Das hat bisher keine der anderen Pflegerinnen getan, denn denen wäre es lieber gewesen, ich wäre so schnell wie möglich abgekratzt. Dafür bin ich dir aufrichtig dankbar. Du schätzt die Würde des Menschen noch“, bestätigte er ihr.

Das hatte bisher noch kein Patient zu ihr gesagt und sie wurde schlichtweg einfach rot vor Verlegenheit.

„Ach, da wäre noch etwas, Christin. Verzeihst du mir die Nebelkrähe und den Pinguin?“, bat er sie zaghaft.

„Das habe ich doch schon längst vergessen“, versicherte sie ihm.

Tatsächlich ging es die nächsten Tage mit ihm etwas bergauf. Brandon nahm wieder kleine Portionen Nahrung zu sich. Christin entfernte die Infusion. Jeden Tag erhöhte sie die Brotmenge um ein kleines Stück mehr.

Ganz behutsam begann sie ihn auf Vollwertkost umzustellen. Frisches Gemüse und saftiges Obst kam mehr und mehr auf seinen Menüteller. Er bekam mehrere kleine Portionen Salat über den Tag verteilt. Jeden dritten Tag gab es eine Fleischmahlzeit, bestehend aus Hühnchen, Pute, Fisch oder zartem Rinderfilet. Christin war mehr als überrascht, als Brandon ihre Speisen lobte, ja sogar mit Appetit verzehrte. Er begrüßte es geradezu, dass von nun an weniger Fleisch auf dem Teller lag. Vor allem gab es dieses ekelhafte, fette Schweinefleisch nicht mehr, das all die anderen Pflegerinnen ihm immer wieder vorgesetzt hatten. Als ob es nichts anderes zu kaufen gäbe. Nach vier Wochen konnte er zum ersten Mal wieder eine gefüllte Tasse zum Mund führen, ohne dabei zu zittern und die Hälfte davon auf das Bett zu verschütten.

„Du bist schon viel kräftiger geworden in den letzten Wochen“, freute sich Christin. „Noch zwei, drei Monate und du bist stark genug eine Wirbeloperation zu überstehen“, ermutigte sie ihn.

„Vorausgesetzt, die Blutwerte bessern sich bis dahin“, wandte er ein.

Tatsächlich trat ein Stillstand der wachsenden Krebszellen ein. Brandon fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr und vor allem vollkommen schmerzfrei. Die Müdigkeit wich einem unbändigen Tatendrang. Er hätte sonst etwas unternommen, wäre da nicht die Rückenverletzung gewesen, die ihn an das Bett fesselte. Doch dazwischen holte ihn trotzdem manchmal eine bleierne Müdigkeit ein. Und wenn er ihr dann nachgab, schlief er sehr tief und fest, was allerdings seiner Gesundung diente.

Einmal während dieser tiefen Schlafphasen ging Christin hinunter in die Halle und suchte nach einer Türe, die in den angrenzenden Anbau führen musste. Eigentlich durfte sie das gar nicht tun. Eine Ordensfrau durfte nicht neugierig sein. Neugierde fiel mit unter die zehn größten Vergehen einer Nonne. Dessen war sie sich voll bewusst, doch in diesem Augenblick überwog der Wissensdurst. Erregt, von Erwartung getrieben, setzte sie leise einen Fuß vor den anderen. Da bemerkte sie einen leichten Luftzug, der ganz hinten unter den beiden Treppen hervorkam. Vorsichtig schlich sie dahinter und fand eine geöffnete Türe genau unter den beiden Treppen, die in den ersten Stock führten. Sie kam in einen Vorraum, wo sich Winterstiefel und Wintergarderobe befanden. Eine weitere Türe stand offen und sie kam zu einer geschwungenen Treppe, die ebenfalls nach oben führte. Noch ein Stück weiter stand sie plötzlich in einem großen, hellen Wohnzimmer mit nur wenigen Möbeln, die mit weißen Tüchern abgedeckt waren. Geradeaus entdeckte sie den Wintergarten, den sie vom Garten draußen gesehen hatte. Dort erblickte sie Doreen, die mit einer Gießkanne die Blumen goss. Die Frau drehte sich um, da sie fertig war und sah Christin im Wohnzimmer stehen.

„Oh, Entschuldigung bitte, Doreen. Ich bin wieder viel zu neugierig gewesen“, gestand die kleine Nonne und drehte sich auf dem Absatz um.

„Nein, nein, bleib doch hier, Christin!“, rief sie. „Du tust nichts Verbotenes. Dieses Haus ist im Grunde ein Doppelhaus und gleichzeitig sind es auch zwei eigenständige Häuser.“ Die Haushälterin ging ohne Umschweife zum persönlichen „Du“ über.

„Ich wollte eigentlich nur wissen, wie man in den Wintergarten kommt, den man vom Garten aus sieht“, erklärte sie ihr ungehöriges Vordringen.

„Komm doch herein in den Wintergarten“, forderte Doreen sie auf.

Langsam betrat Christin den gläsernen Raum. Sie entdeckte dort eine Sitzgruppe aus hellem Rattan mit einem ebensolchen Tisch. Die Frau hatte alle großen Fenster und Schiebetüren geöffnet, um die sehr warme Luft, die sich im Raum staute, auszutauschen. Hier wuchsen Palmen und Orchideen in großen Kübeln, Kletterpflanzen, die bis hinauf zur gläsernen Decke rankten. Ein intensiver Duft von den vielen verschiedenen Blüten umgab die beiden.

„Warum steht das Gebäude leer?“, wunderte sich Christin.

„Nun ja, in der Ehe von Brandons Eltern gab es keine große Liebe. Die Eltern der jungen Leute arrangierten diese Verbindung. Dabei ging es vorrangig um die Banken und sehr viel Geld. Vor dem Personal wurde zwar nie darüber gesprochen, aber wir besaßen auch Augen und Ohren. Mr. Stonewall musste für mehrere Wochen auf Geschäftsreise gehen. Der Sohn hielt sich in einem Ferienlager auf. Mrs. Stonewall fuhr deshalb in die Berge, da ihr allein zu Hause langweilig wurde. Sie kam nach ein paar Wochen zurück und wir alle stellten fest, dass sie sehr glücklich wirkte. Einige Monate später, bemerkte man, dass Mrs. Stonewall ein Baby erwartete. In Windeseile wurde auf Befehl des Hausherrn das Herrenhaus vergrößert. Wir wunderten uns damals auch darüber, denn das alte Haus bot noch genügend ungenutzte Räume, wo man ein weiteres Kind hätte unterbringen können. Doch kaum brachte Mrs. Stonewall das Kind Brandon auf die Welt, gab es einen riesengroßen Krach zwischen den beiden Eheleuten und der Hausherr verbannte seine Frau mitsamt dem Baby regelrecht in den angebauten Teil des Hauses. Sie lebten dort sehr abgeschieden. Nur zu Tagen, an denen die Presse kam, oder zu Gartenpartys durften sie erscheinen. So wollte Mr. Stonewall der Welt eine heile Familie vorspielen. Scheiden ließ er sich nicht von seiner Frau und das Stiefkind existierte in seinen Augen so gut wie gar nicht. Denn sein eigenes Kind konnte es ja nicht sein. Schließlich konnten wir auch rechnen und wussten, wer wann im Haus zusammenkam. Mrs. Stonewalls Baby war ein Mitbringsel aus dem Urlaub in den Bergen. Doch was da geschah, das weiß bis heute keiner. Man bemerkte allerdings den Unterschied. Dieses Kind musste aus einer großen Liebe entstanden sein. Brandon hing mit der gleichen Liebe an seiner Mutter wie sie an ihm und es traf ihn sehr schwer, als sie bei diesem Autounfall starb“, erzählte ihr Doreen. „Auf jeden Fall wurde dieser Junge mit sehr viel Liebe von seiner Mutter aufgezogen. Der überstrenge Vater hatte keinen Einfluss auf ihn. Er tendierte später nicht zum Spieler und Trinker wie sein Halbbruder, denn der wollte sich nur Freiraum beschaffen, um seinem Vater zu beweisen, dass er auch anders sein konnte. Nämlich genau das Gegenteil von brav, gut und fleißig. Für den Vater tat sich hier ein tiefer Abgrund auf. Dennoch ließ er ihn nicht fallen und setzte ihn als Haupterben ein. Brandon dagegen lernte fleißig in der Schule und beendete sie mit einem sehr guten Abschluss. Nachdem er volljährig war übernahm er das Erbe seines Stiefvaters. Doch das erlebte seine Mutter leider nicht mehr. Er ist ein sehr sparsamer Mensch geblieben und finanzierte alles mit seinem Beruf als Tierarzt und den Zinsen, die ihm zustanden, bis die Krankheit bei ihm ausbrach. Er tastete nichts von den ererbten Konten an, obwohl ihm mehrere Millionen zur freien Verfügung standen. Dann entließ er alle Dienstboten bis auf uns. Er meinte wohl, es würde sich nicht mehr groß rentieren, wenn er nicht mehr lange zu leben hätte. Das Wenige, was wir jetzt zu tun haben, dazu brauchen wir keine große Dienstbotenschar.“

„Na ja, den Gärtner hätte er vielleicht doch behalten sollen. Die Gehwege sind alle vergrast und das Unkraut wuchert überall“, entgegnete Christin.

„Seitdem er nicht mehr laufen und seinen geliebten Rosengarten nicht mehr erreichen kann, ist ihm alles egal geworden“, teilte die Haushälterin ihr betrübt mit.

Langsam gingen sie wieder in das ältere Haus zurück und die Pflegerin sah gleich nach ihrem Patienten, der inzwischen ausgeschlafen hatte.

„Christin, hast du es schon bemerkt?“, überfiel er sie, als sie den Raum betrat. Er blickte sie von der Seite her an. „Die schwarzen Krähen sind fort. Sie müssen bemerkt haben, dass es mir wieder besser geht. Eine haben sie allerdings vergessen“, ließ er sie raten.

Die Ordensschwester sah aus dem Fenster, doch sie konnte keinen einzigen Vogel mehr sehen. „Wen haben sie denn vergessen?“, wollte sie wissen.

„Dich“, lachte Brandon.

„Nur weil ich einen schwarzen Habit trage, ist das noch lange kein Grund mich mit den Krähen zu vergleichen“, entgegnete sie etwas scharf.

„Verzeihung, Christin, das sollte nur ein Witz sein. Bitte sei nicht beleidigt. Ich bin sehr froh, dass du hier bist, sonst hätten mich die schwarzen Vögel schon längst mitgenommen.“ Beim letzten Satz wurde seine Stimme immer leiser.

„Du bringst diesen Aberglauben wohl nie mehr aus deinem Kopf heraus? Wer hat dir das überhaupt erzählt?“, erkundigte sie sich.

„Mein Stiefbruder“, antwortete er. „Der wusste eine ganze Menge solcher Lügen. Ich war damals noch sehr klein und ich glaubte ihm einfach alles.“

Christin versuchte ihm die Langeweile mit Würfel- und Kartenspielen zu vertreiben. Vor allem jedoch wollte sie ihn auch von den schwarzen Krähen ablenken, denn sie beobachtete ihn dabei, dass sein erster Blick frühmorgens immer dem Fenster galt, mit der bangen Frage im Gesicht: Sind sie etwa wieder zurückgekehrt? In den nächsten Tagen ließ sie ihm einen hängenden Fernseher über dem Bettende installieren und seine Stereoanlage im Zimmer anschließen. Über die Fernbedienung konnte er so ziemlich alles regeln. Endlich wusste er wieder, was draußen in der Welt vor sich ging. Auch konnte er seine geliebte Musik wieder hören. Das Interesse daran erlosch völlig bei den starken Schmerzen. Nur sie beherrschten nun sein Leben.

Christin ordnete die CDs in seinen Nachtschrank ein und bemerkte, dass sich viele klassische Musikstücke darunter befanden. Auch moderne Klassik fand sie. Brandon beobachtete sie, als sie eine CD nach der anderen umdrehte, um die angegebenen Musikstücke zu lesen. Da sie neben seinem Bett kniete, war sie ihm somit sehr nahe. So nahe, dass er den Duft von Cyclamen wieder einatmete, der ihr anhaftete. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und wünschte sich nichts sehnlicher, als sie einfach in seine Arme zu schließen. So ein bezauberndes Geschöpf konnte und durfte doch nicht ein Leben lang als Nonne in einem Kloster leben, ging es ihm durch den Kopf. Etwas regte sich in ihm, wofür es sich wieder zu leben lohnte. Er überließ sich jetzt nicht mehr seinen Schmerzen und der aussichtslosen Situation, in der er sich befand. Er kämpfte plötzlich intensiv gegen diese heimtückische Krankheit von sich aus an. Das Gefühl für Christin wurde von Tag zu Tag stärker in ihm. Doch was konnte er ihr schon groß bieten, außer seinen Millionen, die sie nicht nehmen würde und auch nicht behalten durfte. Er wollte sich selbst geben, aber er lag hier beinahe gelähmt im Bett und kämpfte tagtäglich gegen diese Leukämiezellen an. Er musste gesund werden, wenn er sie für sich gewinnen wollte. Doch wie das bewerkstelligen? Und vor allem stand ein noch viel größeres Problem vor ihm: Wollte sie sich überhaupt von ihm gewinnen lassen, für immer? Als er seine Augen wieder öffnete, saß Christin bei ihm auf der Bettkante. Sie wollte ihm gerade die Kopfhörer abnehmen, da sie glaubte, er sei eingeschlafen. Erschrocken zuckte sie zurück.

„Oh, Verzeihung, ich dachte du wärst eingeschlafen“, entschuldigte sie sich.

Dabei sah sie ihm direkt in seine blauen Augen, die sie mit einem seltsamen, heißen Begehren ansahen. Völlig verstört sprang sie auf. Dieser Blick ging ihr etwas zu tief unter die Haut. Doch da war es auch schon vorbei. Brandon rief sich schnellstens zur Ordnung. „Christin! Bleib doch hier. Möchtest du vielleicht auch etwas Musik hören?“, versuchte er sie abzulenken.

Zögernd setzte sie sich wieder auf die Bettkante, jedoch bereit jederzeit wieder aufzuspringen und zu fliehen.

Er nahm die Kopfhörer ab und setzte sie ihr auf. Staunend hörte sie fantastische Klänge. Interessiert beobachtete er sie. Ihr Gesichtsausdruck ließ auf Begeisterung schließen.

„Das ist herrlich. Solche Musik habe ich noch nie gehört“, gestand sie ihm begeistert. „Man könnte dabei direkt träumen.“

Vorsichtig nahm sie die Kopfhörer ab und gab sie ihm zurück.

„Außer Kirchenmusik hören wir im Kloster nichts anderes“, teilte sie ihm mit.

„Was? Ach, ihr armen Schweine. Ihr tut mir wirklich leid. Das muss doch langweilig sein“, warf Brandon ein.

„Nein, solange man nichts anderes kennt, nicht“, antwortete sie.

„Was ist schon viel anders an einer Symphonie, dass ihr sie nicht hören dürft?“, informierte er sich.

„Sie ist weltlich“, erklärte sie.

„Wie oft werden Symphonien in Kirchen gespielt?“, gab er ihr zu verstehen.

„Das mag schon sein. Aber nicht bei uns, nicht in unserem Kloster“, ließ sie ihn wissen.

„Aber jetzt kennst du diese andere Musik“, forschte er weiter. „Und wie ich feststellen konnte, gefällt sie dir sogar.“

„Ja, du hast Recht. Wahrscheinlich sehne ich mich ab jetzt immer nach ihr“, gab sie versonnen zu.

Das ist schon die zweite Regel, die ich gebrochen habe, dachte sie.

„Ist das eine große Sünde?“, interessierte sich Brandon.

„Ich glaube nicht, dass es ein so großes Vergehen ist“, überlegte Christin mit einem Lächeln.

Er musste schnell die Augen schließen. Dieses Lächeln brachte ihn total durcheinander. Nie hätte er sich träumen lassen, noch einmal zu solchen Gefühlen fähig zu sein. Vor allem zu so intensiven, tiefen Empfindungen, die er noch niemals je zuvor wahrgenommen hatte. Auf keinen Fall durfte Christin vorläufig davon erfahren. Sie würde ihn wohl auf der Stelle verlassen. Er würde äußerst behutsam damit umgehen müssen.

„Ich gehe in die Küche und koche dir deinen Tee“, informierte sie ihn und verließ das Zimmer. Mit leisen Schritten ging sie die Treppe hinunter. Es war später Nachmittag. Draußen hingen schwere, dunkle Wolken am Himmel und es regnete.

Hoffentlich ist niemand in der Küche, dachte Christin bei sich. Doch als sie die Türe öffnete stand da Doreen, die gerade Orangen auspresste.

„Hallo, Christin“, rief sie erfreut. „Was macht Brandon?“

„Er hört klassische Musik“, berichtete sie ihr, nahm eine kleine Teekanne vom Regal und stellte sich an das Spülbecken mit dem Rücken zu Doreen.

„Das ist gut. Er hat schon so lange seine geliebte Musik nicht mehr gehört“, redete die Haushälterin weiter.

Christin drehte den Wasserhahn auf und ließ Wasser in die Kanne laufen. Dabei zitterten ihre Hände so sehr, dass sie das Gefäß mit beiden Händen festhalten musste.

Was ist nur los mit mir? fragte sie sich im Stillen. Habe ich mich tatsächlich in ihn verliebt? Wenn das Liebe ist, dann ist es aber seltsam, dass ich dabei so sehr zittere und ganz durcheinander bin. Mir wurde erzählt, es sei etwas Wundervolles und Schönes. Dieses Gefühl in mir macht mir eher Angst. Oder ist tatsächlich nur dieses Wörtchen „Du“ daran schuld? Verzweifelt betete sie wieder still: „Wer auf sein Herz vertraut, der ist ein Tor.“

Vorsichtig stellte sie die Kanne mit dem Wasser auf den Tisch und verschüttete trotzdem einen Teil davon. In der Küche herrschte eine gewisse Düsternis durch das Regenwetter, das begrüßte die Schwester. Auch dankte sie Doreen im Geheimen, dass sie noch kein Licht machte. Doch im nächsten Augenblick tat sie es und sah natürlich die ganze Bescherung. Hastig versuchte Christin das verschüttete Wasser aufzuwischen, da entglitt ihr auch noch der Lappen. In ihrer Aufregung stieß sie an die Teekanne und beförderte sie zu Boden. Sie zerbrach in tausend Scherben. Doreen kam ihr zu Hilfe und bemerkte ihre bebenden Hände.

„Christin, was hast du denn? Du wirst uns doch nicht krank werden?“, stellte sie besorgt fest. „Na, ein Wunder wäre es nicht. Tag und Nacht bist du bei Brandon. Du musst auch einmal eine Pause einlegen.“

Die Haushälterin ergriff die Hände der Schwester und führte sie zu einem Stuhl. „So, hier setz dich.“ „Doreen“, begann Christin mit schwankender Stimme. „Ich würde gern drei bis vier Tage ins Kloster gehen. Aber ich habe Angst, dass es ihm während meiner Abwesenheit wieder schlechter gehen könnte“, äußerte sie ihren Wunsch.

„Ach, Christin! Richard und ich sind doch auch noch da. Gehe ruhig die paar Tage ins Kloster und tanke wieder Kraft. Ich weiß, wie schwer deine Arbeit hier ist mit ihm. Irgendwann musst du auch mal ausspannen. Mach dir nur keine Sorgen. Das geht schon in Ordnung. Morgen früh wird dich mein Mann hinfahren“, zerstreute Doreen ihre Bedenken.

Die Schwester nickte leicht. „Danke, Doreen. Ihr beide seid wirklich ganz liebe Menschen“, lobte sie die Frau und ihren Mann.

Die Haushälterin stand auf, kehrte die Scherben zusammen, wischte das Wasser weg und kochte nun ihrerseits einen Beruhigungstee für die Pflegerin. Nachdem diese ihn getrunken hatte, schickte sie die kleine Nonne ins Bett. Dann begab sich Doreen zu Brandon.

„So, Junge, heute bekommst du deinen Tee von mir serviert. Christin geht es nicht gut. Ich glaube, sie muss sich ein paar Tage ausruhen, sonst wird sie uns noch krank“, informierte sie ihn.

„Was fehlt ihr denn?“, erschrocken blickte Brandon Doreen an.

„Ich nehme an, sie ist überarbeitet. Du bist nämlich kein einfacher Patient, wenn ich das mal bemerken darf“, erklärte sie.

„Kann ich ihr irgendwie helfen?“, flehte er.

„Ja, indem du sie für vier Tage ins Kloster gehen lässt. Vielleicht bekam sie auch etwas Heimweh nach ihrer vertrauten Umgebung. Auf jeden Fall werden ihr das Kloster und die Ruhe im Gebet gut tun“, meinte die Haushälterin.

„Meinst du?“, forschte er unsicher in ihrem Gesicht und auch gleichzeitig etwas enttäuscht nach. Jetzt wird sie schon selbst krank, dachte er. Sicher kann sie es nicht mehr mit mir ertragen, dachte er.

Er lässt sie ungern gehen, bemerkte Doreen. Aber dieses Mädchen hat ein Recht auf eine Pause, wenn auch nur eine kleine. Kam sie ja sofort nach einer Pflege zu ihm, ohne sich auszuruhen. Schließlich arbeitete sie jetzt schon wieder beinahe dreieinhalb Monate hier. Und sie bewirkte Unglaubliches bei ihrem Patienten.

Der August neigte sich dem Ende zu. Brandon verbrachte eine sehr unruhige Nacht. Des Öfteren wachte er auf mit der entsetzlichen Angst, Christin könnte ihn verlassen und zwar für immer. Man konnte ihm jederzeit eine andere Pflegerin zuteilen und dann wahrscheinlich eine alte, unansehnliche Ordensfrau, die nicht so liebevoll mit ihm umging. Das quälte ihn unentwegt. Dann wieder machte er sich selbst Vorwürfe. Hatte sie vielleicht seine Gefühle für sie erkannt? Oder waren ihre Wurzeln zu sehr mit dem Kloster verwachsen? So dass sie gar keine Liebe zu anderen empfinden konnte? Aber nein, sagte er sich wieder. Wenn ich mich nicht ganz getäuscht habe, sah ich die Liebe bereits in ihren Augen. Denn oft, wenn sie sich unbeobachtet glaubte, ruhten eben diese wunderschönen großen dunkelbraunen Augen auf ihm, so sanft und liebevoll. Sie kann kein Mensch ohne jegliches Gefühl sein. Habe ich sie durcheinander gebracht? Sucht sie am Ende Halt und Kraft im Kloster? Vielleicht sogar für immer? Diese Überlegungen kreisten ununterbrochen in seinem Kopf und belasteten ihn ungemein.

Die Hitze stand regelrecht in seinem Zimmer, obwohl die Fenster offen standen. Ein Gewitter lag in der Luft, doch es kam nicht richtig zum Ausbruch. Es regnete nur leicht und brachte zu der Wärme auch noch eine Portion Feuchtigkeit. Brandon schwitzte sehr stark. Das Wasser lief regelrecht an seinem Körper hinab. Er nahm die Glocke zur Hand und wog sie hin und her. Er hätte gern nach seiner Pflegerin geläutet, aber dann verzichtete er darauf. Er wollte sie nicht aufwecken. Sollte sie ruhig schlafen, wenn es ihr nicht gut ging. Wie gerne hätte er sie jetzt getröstet. Aber er kam von diesem Bett nicht los. Voller Wut hieb er seine Fäuste in die Matratze. Was konnte er schon tun? Diese verfluchte Krankheit und der Unfall ketteten ihn an dieses verdammte Bett. Wenn er den Rollstuhl auch hasste, jetzt wäre er dankbar dafür gewesen, wenn er wenigstens darin hätte sitzen können. Soll denn so mein übriges Leben aussehen? Bis ans Ende so zu liegen, in diesem Bett? Ohne Freude, ohne ein wenig Liebe? überlegte er. Wider Willen stieg ihm das Wasser in die Augen. Wer kann mir helfen? Die Ärzte stehen macht- und ratlos meiner Leukämie gegenüber. Nur einmal möchte ich die reine, tiefe Liebe erleben. Nur einmal noch in diesem Leben glücklich sein. Ist das denn zu viel verlangt? flehte er, während ihm die Tränen über sein Gesicht liefen. So begann er doch tatsächlich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder zu beten und bat den Herrn darum, dass man ihm doch bitte Christin wieder zurückschicken möge. Er liebte ihre kleinen, zierlichen Hände, die so sanft mit ihm umgingen, so dass er immer glaubte gestreichelt zu werden, wenn er seine Augen schloss. Er seufzte tief auf. Sie ging auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse ein. Keinesfalls wollte er sie gegen eine andere Pflegekraft eintauschen. Ein Gedicht kam ihm in den Sinn, das genau seine und ihre Situation widerspiegelte.

Du bist die einzige, an die ich den ganzen Tag denke.

Du bist die einzige, die mich in meinen Träumen zärtlich küsst.

Und du, du bist die einzige, die das nicht weiß!

Bei diesem Gedicht ersetzte er das der durch die.

Der neue Morgen brachte dicken Nebel, als Richard mit Christin zum Kloster aufbrach. Die Fahrt verlief sehr schweigsam. Die kleine Nonne sah die meiste Zeit der Fahrt aus dem Fenster. Somit stellte der Hausmeister fest, dass die Pflegerin wohl doch ernstere Probleme wälzte, als sie zugeben wollte. Denn nach einer banalen Erschöpfung sah ihm das bei weitem nicht aus. Was hat der Junge denn nun wieder angestellt? fragte er sich. Oder hat sie etwas ganz Schlimmes verbrochen?

Am Zielort angekommen, nahm die Nonne ihren kleinen Koffer mit der Reservetracht, dankte Richard mit einem abwesenden Lächeln und steuerte sogleich auf die Kapelle zu. Am Eingang stellte sie ihr Gepäck ab und schritt zielstrebig zum Altar. Lange sah sie mit gefalteten Händen empor zum Kreuz. Dann warf sie sich mit dem Gesicht nach unten auf den Läufer vor dem Altar und breitete die Arme zu beiden Seiten aus. Während sie dies tat, betrat die Mutter Oberin die Kapelle. Sie wartete, bis Christin wieder aufstand und sich in eine Bank setzte. Beinahe geräuschlos glitt die Mutter neben sie. Nach einer schweigsamen Zeit erkundigte sie sich leise: „Ist es wirklich so schlimm mit Mr. Stonewall? Soll ich Sie ablösen lassen?“

„Nein, nein“, wehrte Christin beinahe ein wenig zu schnell ab. „Es ist nicht mehr so schlimm, wie es am Anfang aussah. Er hat jetzt sogar eine stabile Phase erreicht.“

„Mir wurde berichtet, er sei sehr schwierig, werfe mit Essen um sich und terrorisiere das ganze Haus“, erkundigte sich die Oberin.

„Nein, ganz so ist es nicht. Er war nur eben vollkommen am Ende, fühlte sich von allen total allein gelassen und war mit sich, Gott und der Welt im Unreinen. Mir hat er jedenfalls noch nie einen Teller voll Essen über den Kopf gestülpt, wie meiner Vorgängerin. Ich habe es gesehen, als ich ankam. Mit ihm hatte und habe ich keine Schwierigkeiten. Im Gegenteil, mir machte es Freude als er die Talsohle durchschritten hatte und nach und nach die Lebensfreude und die Energie wieder zu ihm zurückkehrten“, berichtete sie ihr.

Die Oberin beobachtete ihren Schützling genau. Während Christin berichtete, nahm sie eine feine Röte auf ihren Wangen wahr und auch die Augen bekamen einen besonderen Glanz.

„Wenn Sie keine Schwierigkeiten haben, weshalb sind Sie dann hier?“, wollte die Mutter wissen.

„Ich vermisse die Stille beim Gebet, die ich hier in dieser Kapelle finde. Ich fühle mich an diesem Ort Gott viel näher. Um dieses Gefühl wieder zu vertiefen bin ich gekommen“, erklärte sie.

„Haben Sie sonst noch etwas auf dem Herzen?“ Die Mutter Oberin sah sie scharf von der Seite an.

Christin zögerte etwas. Doch dann antwortete sie mit fester Überzeugung: „Nein, sonst gibt es nichts, Mutter.“

„Gut, dann lasse ich Sie jetzt allein.“ Mit diesen Worten erhob sich die Oberin und verließ die Kapelle.

Irgendetwas schwelt im Untergrund, sagte sie sich. Ich habe ein sehr ausgeprägtes Gefühl für solche Sachen. Es wäre wohl nicht das erste Mal, dass sich eine Ordensschwester verliebt hätte. Und sei es sogar in den eigenen Patienten. Dass es hier ein strenges Verbot gab, wussten alle, aber danach fragt die Liebe eben nicht. Sie kommt und geht, wie es ihr beliebt.

In diesen dreieinhalb Monaten lief in der Kinderklinik alles seinen gewohnten Gang. Außer Melissas Überstunden. Die störten natürlich die Mutter Oberin. So kam es, dass sie eines Abends, Anfang Mai, plötzlich bei der Stationsschwester auftauchte.

„Was müssen Sie so spät noch arbeiten?“, forschte sie.

Melissa bekam einen heftigen Schreck, der ihr direkt in die Beine fuhr, und sie war darüber froh, auf einem Stuhl zu sitzen. „Ich muss die Eintragungen in die Kurven noch nachholen. Wir hatten heute einen sehr hektischen Tag auf Station, so dass ich noch nicht dazugekommen bin“, erklärte die Schwester ausweichend.

„Dann müsste es die letzten zwei Wochen jeden Tag hektisch gewesen sein. Ich habe Sie beobachtet, Schwester. Es ist nicht die Hektik, sondern Ihre Arbeitsweise.“ Die Stimme der Oberin wurde immer schärfer und Melissas Gesicht immer blasser.

„Verrichten Sie in Zukunft Ihren schriftlichen Stationsdienst und anschließend die schwerkranken Kinder, wie sonst auch immer. Für die übrigen Arbeiten, wie Infusionen legen, Blutabnehmen und dergleichen müssen Sie nicht unbedingt anwesend sein. Dafür ist ja genügend anderes Pflegepersonal da. Die wissen sonst gar nicht mehr, was sie tun sollen, wenn Sie ihnen die ganze Arbeit abnehmen. Ich wünsche, dass meine Anordnungen ab sofort befolgt werden.“ Die Oberin drehte sich um und verließ die Station.

„Jawohl, Mutter“, hauchte Melissa.

Sie saß ganz zusammengesunken an ihrem Schreibtisch Es hieß, die Mutter Oberin habe ihre Augen überall. So wie es aussah, stimmte das auch. Die Stationsschwester richtete sich auf und drängte die aufsteigenden Tränen zurück. Somit gab es in Zukunft keine lustige Stationsarbeit mit dem Oberarzt mehr. Kaum konnte sie noch die Zeilen auf den Kinderkurven erkennen, so blind vor Tränen waren ihre Augen. Mit Mühe beendete sie ihre Arbeit und begab sich anschließend in die Kapelle zum Abendgebet. Dort schüttete sie ihr Herz dem Herrn dort oben am Kreuz aus. Unter anderem kam die Bitte: „Herr, kannst du mir verzeihen?“ Es trat eine Pause ein, ehe sie losplatzte. „Aber ich habe den Oberarzt so gern. Ich weiß, dass ich das nicht darf, sondern nur dich allein lieben soll. Doch bei ihm ist das ganz anders. Zu ihm fühle ich mich so sehr hingezogen. Wenn du nicht willst, dass ich einen anderen liebe, warum schickst du ihn dann zu mir? Ich bin nur ein schwacher Mensch, eine Nonne, und die hat auch Gefühle. Wenn du das nicht gewollt hättest, müsstest du alle Nonnen ohne diese Gefühle ausgestattet haben.“ Diese Bitte war ein regelrechter Aufschrei ihrer Empfindungen.

Damit stand sie auf und verließ schnellen Schrittes die Kapelle.

Am nächsten Tag verkroch sich Melissa sofort im Stationszimmer. Die Visite machte sie wie gewohnt mit, doch dann blieb sie bei ihren Kurven, um die neuen Anordnungen sofort einzutragen. Dazwischen und auch nachmittags kümmerte sie sich um die schwerkranken Kinder. Am Ende des Tages verließ sie pünktlich die Kinderklinik.

„Heute bin ich zur richtigen Zeit fertig geworden. Hoffentlich registriert sie das auch“, grollte sie der Oberin und ging absichtlich an ihrem Fenster vorbei.

Sie begab sich in ihr Zimmer, holte sich ein Badetuch und schlenderte hinunter zum See. Dort gab es einen halbrunden Platz, der dicht mit Bäumen und Sträuchern bewachsen war. Auf dem Boden lag feiner, weißer Sand. Niemand konnte diese Stelle einsehen. An diesen einsamen Ort zog sich Melissa immer zurück, wenn sie nachdenken wollte über Ängste und Sorgen, denn sie meinte, es sei der ideale Platz. Oder wie zum Beispiel heute, einem heißen Tag, das Nachdenken mit einem willkommenen Bad zur Abkühlung zu verbinden. Die tiefste Stelle des Sees maß nur eineinhalb Meter. Hier konnte sie unbeobachtet und sicher im Wasser baden. Rasch zog sie hinter einem Busch ihren Habit aus und legte ordentlich darüber ihren Schleier. Langsam schritt sie auf das Wasser zu. Es fühlte sich im ersten Moment kühl an, doch nachdem sie bis zum Bauch eingetaucht war, glaubte sie es wäre angenehm warm. Es war immer nur der Anfang. Wenn man von der heißen Außenluft sich ins Wasser begab. Als sie gerade so richtig entspannt im Wasser saß, hörte sie plötzlich Schritte im Sand. Erschrocken tauchte sie unter, so dass nur noch ihr Kopf herausschaute. Vorsichtig drehte sie sich um.

„Hier bist du also. Ich habe dich schon überall gesucht“, redete sie Gordon an.

Der Schreck fuhr in die Beine.

„Wie … hast du … mich gefunden?“, stotterte sie überrascht.

„Durch Zufall. Ich habe einen Spaziergang gemacht und bin hier unten gelandet“, erklärte er.

Er nahm das Handtuch und hielt es ihr geöffnet hin, damit sie aus dem Wasser steigen konnte.

„Nein, nein!“, rief sie da entsetzt. „Lege das Handtuch bitte wieder hin und drehe dich um“, verlangte sie.

„Was soll ich?“ Gordon lachte. „Hör mal, ich weiß genau, wie du ohne Kleidung aussiehst. Ich habe dich doch vor den Hornissen gerettet. Ich kann mich noch genau erinnern, dass du tropfnass aus dem Wasser kamst und ich dich abtrocknen und in ein Nachthemd hüllen musste. Also, mach kein solches Drama daraus. Komm heraus. Ich mache auch die Augen zu. Versprochen“, forderte er sie auf.

Nur widerstrebend verließ sie das Wasser. Gordon hüllte sie in ihr Badetuch. Er wollte sie festhalten, aber sie riss sich mit einem energischen Ruck von ihm los.

„Lass mich! Ich muss mich anziehen“, rief sie etwas unwirsch.

Sie trat hinter den dichten, grünen Blätterbusch und zog eilig ihre Tracht an. Als sie wieder hervortrat, fand sie Gordon im Sand sitzen, den Blick hinaus auf den See gerichtet. Mit einem kleinen Abstand zu ihm setzte sie sich neben ihn in den Sand. Der Arzt registrierte den Platz, den sie absichtlich zwischen ihnen freiließ und versuchte ihre gegenwärtige Gereiztheit zu deuten. Er streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus, doch sie wich mit ihrem Kopf zur Seite aus.

„Hey, ich will dir doch nichts tun. Dein Schleier sitzt nur etwas schief. Darf ich ihn richten? Sonst vermutet jemand sonst noch etwas“, lachte er leise.

So ließ sie ihn mit geschlossenen Augen gewähren.

„Sag, was ist geschehen? Du gehst mir heute schon den ganzen Tag aus dem Weg und verschanzt dich in deinem Stationszimmer. Stehe ich etwa nicht mehr auf deiner Bestsellerliste? Habe ich dich vielleicht beleidigt oder verärgert? Bitte Melissa, sag’ mir den Grund. Ich kann sonst nicht schlafen heute Nacht“, bat er die Nonne, während seine dunklen Augen sie anbettelten.

Es dauerte eine Weile, bis sie langsam und stockend erzählte, was vorgefallen war. Abschließend bestätigte sie: „Die Mutter muss etwas bemerkt haben.“

Gordon grinste. „Nun, dann müssen wir auf Station eben so tun, als wäre an der Sache nichts dran. Wir können uns ja hier am See abends treffen und schwimmen gehen“, überlegte er.

„Du weißt schon, dass ich nicht schwimmen kann?“, erinnerte sie ihn und blickte nach unten in den feinen Sand.

„Dann bringe ich es dir bei“, erbot er sich.

Unmerklich rutschte er ein wenig näher zu ihr. Er konnte die Lücke zwischen ihnen einfach nicht akzeptieren.

„Du würdest mir Schwimmen beibringen?“ Sie bedachte ihn mit einem etwas ungläubigen Blick.

„Ja, warum denn nicht?“ Gordon sah ihr direkt in die Augen.

„Nein, das geht nicht. Ich habe keinen Badeanzug“, gestand sie ihm leise und sah voller Scham nach unten auf ihre Hände.

Daraufhin bekam er einen Lachanfall. „Wenn es nur an dem liegt! Ich kann dir einen besorgen“, versprach er.

Sie blieben auf der kleinen Sandbank, bis es dunkel wurde. Dann ging jeder einen anderen Weg zu seinem Zimmer im Kloster zurück.

Einige Tage später trafen sie sich wieder an ihrem geheimen Ort. Gordon brachte eine Badehose und ein Badetuch für sich und einen zauberhaften Badeanzug in pink-weiß für Melissa mit.

„Du hast das wirklich ernst gemeint?“, stellte sie leicht unsicher fest.

„Aber natürlich“, bestätigte er. „Ein Mann, ein Wort, eine Tat. Sonst muss ich ja bei jeder Pfütze Angst haben, du gehst unter.“

Hinter den dichten Büschen zogen sie sich um. Kichernd, wie zwei kleine Kinder, die etwas Verbotenes taten, rannten sie ins Wasser hinein, dass es nur so spritzte. An der tiefsten Stelle hob er sie hoch und legte sie flach auf das Wasser.

„Ich habe Angst, Gordon! Ich gehe unter!“ In wilder Panik wollte sie um sich schlagen, aber er ergriff ihre Hände und zog sie langsam durch die warmen Fluten.

„Keine Angst, Melissa. Ich halte dich fest“, beruhigte er sie. „Ich lasse dich nicht untergehen. Du atmest jetzt schön gleichmäßig und lässt dich einfach von mir führen.“

Mit der Zeit bekam sie ein Gefühl für das Element Wasser. Sie bemerkte außerdem, wenn sie Luft holte und sie anhielt, dass sie an der Wasseroberfläche blieb. Er zeigte und übte mit ihr die Schwimmbewegungen, die Atemtechnik und tatsächlich schaffte sie es nach einer Woche täglichen Trainings allein zu schwimmen.

„Ha, das macht Spaß!“, rief sie. „Schade, dass Christin nicht hier ist!“

„Wie ich vermute, kann sie auch nicht schwimmen“, stellte er fest.

Er begab sich an Land und griff nach seinem Badetuch.

„Natürlich nicht“, antwortete sie.

„Ich könnte es ihr doch auch beibringen?“, schlug er etwas belustigt vor.

„Ja, natürlich, du machst hier eine Schwimmschule für Nonnen auf. Sei vorsichtig, sie werden bestimmt alle Schlange stehen.“ Melissa bekam sich kaum mehr ein vor Lachen, als sie es sich bildlich vorstellte.

Inzwischen hatte sie auch das Wasser verlassen. Gordon hüllte sie in das Badetuch und drehte sie zu sich herum.

„Du hast hart gearbeitet in dieser Woche und dir eine Belohnung verdient“, machte er sie neugierig.

Sie sah ihn fragend mit großen, dunklen Augen an. Im nächsten Augenblick senkte er seinen Kopf zu ihr und küsste sie zärtlich auf die Lippen.

„Ich liebe dich“, murmelte er anschließend in ihr Haar hinein.

„Vorsicht, ich bin das Kind, das keiner in meiner Familie haben wollte“, warnte sie ihn leise.

„Wahrscheinlich nur wegen deiner Hautfarbe. Aber ich will dich und zwar für immer, weil ich dich so sehr liebe, gerade mit dieser anderen Hautfarbe“, bestätigte er.

Doch statt dass sie vor ihm zurückwich, schlang sie ihre Arme um ihn und hielt ihn fest. Nach dieser Aufforderung blieb es nicht bei diesem einen Kuss. Zusammen mit ihren Badetüchern sanken sie in den Sand. Gordon schob die Träger ihres Badeanzugs herunter und streichelte ihre vollen Brüste. Sie brauchten keine Worte weiter. Es gab kein Halten mehr zwischen ihnen. Nur der Mond und die Sterne sahen zu, als sie sich auf der kleinen Sandbank liebten. Die Luft war lau und ihre Körper heiß vor Verlangen. Lange danach lagen sie noch eng umschlungen auf dem warmen Sand.

„Tut es dir jetzt leid?“, flüsterte er.

„Nein, ich wollte es ja auch“, antwortete Melissa ebenso leise.

„Aber du bist jetzt keine Nonne mehr. Du hast dein Gelübde gebrochen“, gab er zu bedenken.

„Das macht nichts. Ich kann damit leben, weil ich dich auch liebe. Meinen Herrn habe ich davon schon letzte Woche unterrichtet. Wenn er mir so etwas wie dich vor die Nase setzt, muss er damit rechnen, dass ich ihm untreu werde“, erklärte sie ihm.

„Also, du bist mir ja eine! Ich hoffe, du wirst mir nicht auch eines Tages untreu?“, ließ er sie seinerseits verunsichert wissen.

„Nein“, antwortete sie ernst. „Dafür ist meine Liebe zu dir viel zu stark und außerdem kann ich dich sehen, riechen und vor allem fühlen, Gott jedoch nicht. Dich werde ich mein ganzes Leben lieben“, versprach sie ihm. „Beten werde ich weiterhin zu ihm. Ich möchte nicht völlig mit ihm brechen.“

Gordon bedachte ihren gesamten Körper mit Küssen und Melissa erschauerte immer wieder vor diesem intensiven Gefühl auf ihrer Haut. Seine Lippen und seine Hände erweckten erst so richtig ihre Sinne. Weit nach Mitternacht, es wurde sogar schon bald Morgen, da stahlen sich die beiden zurück ins Kloster.

Von Mitte Mai bis in den August hinein ging es in der Kinderklinik wirklich sehr hektisch zu. Sie betreuten ständig eine Menge Kinder mit schweren Durchfallerkrankungen und mehrere Fälle mit Hirnhautentzündung auf der Station. Melissa musste viele Schwestern als Sitzwachen bei den schwerkranken Kindern einsetzen. Sogar sie selbst übernahm Wachen in der Nacht. Tage und Nächte kämpften sie um deren Überleben. Die Stationsschwester kam kaum zum Essen, aber sie hatte überhaupt kein Verlangen danach. Ein seltsames Mißempfinden befiel ihren gesamten Körper. Sie fühlte sich nicht wohl und dauernd kam eine Welle von Übelkeit in ihr hoch. Auch musste sie sich des Öfteren übergeben. Sie glaubte schon, sich bei einem Kind infiziert zu haben. Doch die Übelkeit nahm an Intensität zu. Zusätzlich stellten sich Magenkrämpfe ein. Ebenso behielt sie kaum noch einen Schluck Flüssigkeit bei sich. Ihre wunderschöne, braune Haut nahm einen aschfahlen Ton an und unter den Augen bildeten sich tiefe, dunkle Schatten. Zum Schwimmen und Erholen blieb keine Zeit mehr. So konnte sie sich seit dieser einen letzten Nacht nicht mehr mit Gordon treffen.

Kurz vor der Morgenvisite schleppte sich Melissa in die Stationsküche. Dort stand der Oberarzt mit einer Tasse starken Kaffees in der Hand. Sonst befand sich niemand im Raum.

„Möchtest du auch eine Tasse?“, wandte er sich besorgt an sie. „Du siehst aus, als könntest du einen Muntermacher brauchen.“

Er goss ihr eine Tasse voll und reichte sie ihr. Sie nahm den heißen, dampfenden Kaffee mit zitternden Händen entgegen und sank auf einen Stuhl. Plötzlich meinte sie das Gefühl zu haben, als würde der Küchenschrank rundherum kreisen. Rasch schloss sie die Augen, um dieses unruhige Bild zu verscheuchen.

„Melissa, du siehst vollkommen erschöpft aus. Mach’ eine Pause, sonst rede ich selbst mit meiner Tante“, bot er ihr an.

Sie jedoch schüttelte nur den Kopf und antwortete leise: „Es geht schon gleich wieder.“

Heute war Mitte der Woche und an jedem Mittwoch begleitete die Mutter Oberin persönlich die Visite in der Kinderklinik. Gordon stellte seine leere Tasse in den Abwasch und verließ die Küche mit einem bedenklichen Blick auf die Ordensschwester. Melissa trank nichts von dem Kaffee. Allein schon der strenge Geruch widerte sie regelrecht an und da ging es auch schon wieder los. Ihr Magen drehte sich um und sie flüchtete nur noch auf die nächste Toilette. Vollkommen fertig, mit wackeligen Beinen sah sie auf die Uhr. Die Visite hatte bereits begonnen. Sie kam zu spät. Das auch noch, gerade heute, dachte sie.

Die Oberin sah auf ihre Uhr. „Nanu, wo bleibt denn Schwester Melissa?“, erkundigte sie sich.

Doch da ging die Türe auf und die Schwester kam völlig aufgelöst herein. Ihr Schleier saß schief und einige ihrer krausen Haare lugten hervor.

„Können wir dann beginnen?“, drängte die Mutter sichtlich ungeduldig und warf der Stationsschwester einen tadelnden Blick zu.

Melissa stand neben Gordon mit Block und Stift, um die neuen Anordnungen zu notieren.

Doch sie schrieb nichts auf. Die Worte des Oberarztes hallten im Krankenzimmer von einer Wand zur anderen. Sie behielt nichts von dem, was er sagte. Die Kinderbetten begannen zu kreisen, immer schneller und schneller. Der Schreibblock glitt ihr aus der Hand und ihre Beine versagten den Dienst. Aus dem Augenwinkel sah Gordon sie fallen. Er warf die Kinderkurve, die er in der Hand hielt, seiner Tante zu. Diese hatte Mühe das Dokument aufzufangen. Gerade noch rechtzeitig fing er die Schwester in seinen Armen auf, bevor sie auf den Boden sank.

In diesem Moment vergaß er alles. Nur die Angst beherrschte ihn.

„Melissa!“, rief er zutiefst erschrocken. Schnell trug er sie in den angrenzenden Untersuchungsraum und legte sie auf eine Liege. Dort schlug sie die Augen wieder auf.

„Melissa, was ist los mit dir? Du gefällst mir gar nicht“, stellte Gordon besorgt fest.

„Mir ist so furchtbar schwindlig und übel“, antwortete sie leise.

Der Arzt schloss die Türe zum Untersuchungsraum, um alle Neugierigen auszusperren. Er zog das Ultraschallgerät zu sich heran.

„Machst du mal bitte deinen Bauch frei?“, forderte er sie auf.

Sie blickte ihn etwas irritiert an. „Nein, nein“, wehrte sie ab. „Ich glaube, ich habe mich bei den Kindern infiziert“, redete die Schwester weiter.

„Das werden wir gleich sehen“, erwiderte er.

Gordon setzte den Ultraschallkopf auf ihren Bauch. Er brauchte auch gar nicht lange zu suchen, als ein Grinsen über sein Gesicht zog.

„Na, da haben wir es ja. Du hast einen Untermieter bei dir einquartiert“, lachte er erleichtert.

„Was habe ich?“ Melissa hob den Kopf und starrte auf den Monitor.

„Du bist schwanger, meine Liebe. Sieh mal, wie munter das kleine Kerlchen ist. Es schlägt laufend Purzelbäume“, amüsierte er sich.

„Um Himmel willen, Gordon“, rief sie aus. Fassungslos fiel ihr Kopf zurück auf die Liege. „Ich bekomme ein Baby? Und es schlägt Purzelbäume? Kein Wunder, dass mir so schlecht ist.“

Doch dann sah sie ihn entsetzt an. „Was jetzt? Ich kann der Mutter Oberin schlecht sagen, dass ich es vom heiligen Geist empfangen hätte“, gab sie zu bedenken.

„Das stimmt, weil es ganz eindeutig mein Kind ist. Das ist doch sonnenklar. Aber du brauchst dir keine Sorgen machen. Ich liebe dich. Ich lasse dich nicht im Stich, wenn es das ist, was du befürchtest.“ Damit küsste er sie auf ihre blassen Lippen.

„Doch jetzt müssen wir dringend etwas für dich tun, sonst verlierst du unser Kind“, ordnete er an. Er legte ihr sofort eine Infusion und ließ ein Bett für sie bringen.

„Auf die Entbindungsstation“, sagte er zu der verdutzt dreinschauenden Schwester.

„Haben Sie sich da nicht vertan?“, wunderte sich diese.

„Nein, absolut nicht“, bestätigte der Arzt schmunzelnd. „Und Sie halten den Mund!“, gab er der Schwester mit auf den Weg. Seine Stimme klang streng und sein Gesicht wirkte ernst.

Melissa bekam ein schönes, helles Einzelzimmer, damit nicht alle gleich mitbekamen, dass die Stationsschwester von der Kinderklinik ein Baby bekam. Dieser Umstand würde noch schnell genug die Runde im gesamten Kloster machen.

„Absolute Ruhe, viel Flüssigkeit und wenn sie wieder Appetit bekommt, leichte Kost“, ordnete der Oberarzt der Entbindungsstation an. Er lachte Melissa schelmisch an. „Aber Schwester, haben Sie etwa von den verbotenen Früchten genascht?“

„Es ist zwar selten, aber es kommt eben doch mal vor, Herr Oberarzt. Adam und Eva konnten sich auch nicht zurückhalten“, antwortete sie.

Gordon kam gerade die Treppe herunter, als ihm die Tante in den Weg lief.

Diese fiel aus allen Wolken, als sie vor wenigen Minuten von der Schwangerschaft ihrer Stationsschwester erfuhr. Da Melissa jetzt die ganze Zeit über brav ihren Dienst wie immer verrichtete, meinte sie die Phase der Schwärmerei für den Kinderarzt sei vorbei. Doch dass es solche Ausmaße annahm, ahnte sie nicht im Mindesten.

„Gordon, mit dir muss ich sofort ein ernstes Wort reden!“, befahl sie in strengem Ton.

Grinsend folgte er ihr in das Büro.

„Was ist los? Warum liegt Schwester Melissa auf der Entbindungsstation?“, bombardierte sie ihren Neffen erbarmungslos mit Fragen.

„Nun, warum wohl? Weil sie ein Baby bekommt“, antwortete er rundheraus.

„Und das sagst du mir einfach so ins Gesicht? Melissa, ein Baby? Von wem? Wer ist der Vater?“, überfiel sie ihn höchst nervös mit weiteren Fragen, obwohl sie es bereits ahnte.

„Ich“, gab er schlicht mit einem charmanten Lächeln zu.

„Da gibt es gar nichts zu lachen! Du bist dir absolut sicher?“, wollte sie eine Bestätigung und durchbohrte ihn dabei mit ihren Augen.

„Ja, ich bin mir vollkommen sicher, weil ich der erste Mann in ihrem Leben war“, bestätigte er wahrheitsgemäß. „Und danach kam keiner mehr, denn in der Kinderklinik war der Teufel los“, fügte er noch hinzu.

„Gordon, wie kannst du es wagen, dich an meinen Nonnen zu vergreifen!“ Die Oberin wurde immer lauter.

„Verzeihung, liebe Tante, ich habe mich nur an einer einzigen Nonne vergriffen. Bitte nicht die Mehrzahl verwenden. Und diese Ordensschwester liebe ich von ganzem Herzen, genauso wie sie mich liebt“, bekannte er. „Ich habe mich sofort in sie verliebt. Schon bei der ersten Begegnung, als sie mir die Kinderklinik zeigte.“

„Das habe ich befürchtet“, stöhnte die Oberin. „Euch Männern ist wirklich nichts heilig. Für dich sollte eine Nonne unantastbar sein und was tust du? Du verführst sie einfach. Das hätte ich nicht von dir gedacht“, zürnte sie ihm mit strengem Gesicht.

„Es ist eben einfach so geschehen. Ich konnte nicht dagegen ankämpfen und ehrlich gesagt, wollte ich es auch nicht“, gestand ihr der Neffe in ruhigem Ton.

„Ja, nun ist das Kind in den Brunnen gefallen. Jetzt müssen wir für Schadensbegrenzung sorgen. Was gedenkst du zu tun?“ Wieder durchbohrte die Tante Gordon mit ihren Augen beinahe.

„Ich werde sie so schnell wie möglich heiraten, liebe Tante, weil ich es ohne sie nicht lange aushalte. Es sei denn, du hältst sie weiterhin gefangen in deinen Mauern. Aber du wirst keine Chance haben. Ich hole sie auf jeden Fall hier heraus“, bestätigte er ihr. „Um eines bitte ich dich noch, Tante Rose: Gehe nicht zu hart ins Gericht mit ihr. Sie ist ein wunderbarer Mensch.“

„Das weiß ich und kaum bist du ein Vierteljahr hier, nimmst du sie mir weg“, grollte sie. „Nun gut. Ich werde Melissa aus dem kirchlichen Dienst als Nonne entlassen, sobald es ihr besser geht. Mir bleibt gar nichts anderes übrig“, resignierte sie und entließ ihren Oberarzt.

Na so etwas, er lebte noch? Der Drache hatte ihn nicht gefressen oder mit seinem Feuer verbrannt. Er fühlte sich nach dieser Unterredung ganz frei und leicht. Er hätte singen und tanzen können vor Freude, dass Melissa nun frei für ihn war.

„Ich habe bald eine kleine Familie“, sang er leise vor sich hin.

So glücklich fühlte er sich noch nie in seinem Leben. Melissa war seine erste große Liebe und er wollte sie lieben bis zum Ende.

Zwei Tage später ging es besagter Ordensschwester schon deutlich besser. Da erschien die Mutter Oberin bei ihr.

„Wie geht es Ihnen?“, erkundigte sie sich.

„Schon wieder besser. Nächste Woche kann ich bestimmt wieder arbeiten“, versicherte ihr die Schwester.

„Nein, Sie werden solange nicht mehr arbeiten, bis die vielen Fälle von Salmonellen und Meningitis verschwunden sind. Sie waren so schlecht beieinander, dass Sie sich schonen sollten“, trug ihr die Mutter auf.

„Mutter Oberin, ich habe Ihnen etwas zu beichten.“ Melissa schlug die Augen nieder. „Ich bekomme ein Baby.“ So, nun hatte sie es gesagt. Sie holte tief Luft und sah ihre Vorgesetzte flehentlich an.

Es entstand erst einmal eine Pause. Dann erkundigte sich die Mutter: „Stehst du zu dieser Schwangerschaft?“ Mit einem Mal duzte sie ihre Untergebene.

„Ja, auf jeden Fall. Ich könnte kein Kind abtreiben.“ Die Augen der Schwester strahlten. „Ich liebe Gordon über alles. Dieses Baby ist die Krönung unserer Liebe. Wegen meines Fehltritts habe ich bereits mit Gott gesprochen. Ich glaube fest, dass er mir vergibt, sonst hätte er mir nicht dieses besondere Geschenk eines neuen Lebens gemacht.“

„Wenn Gott dir schon vergeben hat, muss ich dir wohl auch vergeben.“ Die Oberin lächelte ihr zu. „Noch dazu, wenn du in meine Familie einheiratest. Jedenfalls darf ich dich behalten. Ab jetzt bin ich für dich Tante Rose.“ Die Mutter umarmte Melissa freundschaftlich. „Bis zur Hochzeit kannst du hier bleiben und deinen Habit tragen. Dann allerdings musst du gehen und dir mit deinem Mann eine Wohnung suchen. Wenn du Sehnsucht nach uns bekommst, darfst du jederzeit kommen und uns besuchen. Ich möchte doch euer Baby auch kennenlernen“, machte sie ihrer Ordensschwester Hoffnung.

„Du bist so verständnisvoll, Tante Rose. Eigentlich müsstest du fürchterlich sauer auf mich und Gordon sein“, wunderte sich die Schwester.

„Weißt du, als ich siebzehn Jahre alt war, befand ich mich in einer ähnlichen Situation“, berichtete ihr die Oberin.

„Aber du bist geblieben“, stellte Melissa fest. „Bekamst du auch ein Baby?“

„Ja, und ich musste eine sehr schwere Entscheidung treffen, doch am Ende sollte es gut sein, so wie es kam“, antwortete sie.

„Erzählst du mir deine Geschichte?“, bat die Schwester. „Hast du dein Kind etwa abgetrieben?“

„Nein, aber ich erzähle es dir ein anderes Mal, meine Liebe. Es würde dich im Moment zu sehr aufregen.“ Damit verabschiedete sich die Tante. In diesem Augenblick klingelte ihr Handy. Gordon teilte ihr mit, dass er Dr. Clark soeben in seinem Zimmer tot aufgefunden hatte. Ein tödlicher Herzinfarkt setzte seinen Leben ein Ende. So eilte die Mutter Oberin zum nächsten Problem.

Ein paar Tage später durfte Melissa das Krankenhaus verlassen. Zu dieser Zeit traf Christin im Kloster ein. Nachdem sie viele Gebete in der Kapelle verrichtet hatte, fand sie in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers langsam wieder zu sich selbst und vor allem zur inneren Ruhe. Bevor sie wieder nach „Twenty-Two-Oaks“ ging, musste sie unbedingt ihre Freundin vorher treffen. Sie hatten sich jetzt seit drei Monaten nicht mehr gesehen. Die kleine Nonne klopfte an ihre Türe. Melissa öffnete erst einen Spalt. Doch dann sah sie, wer da stand. Sie riss die Türe ganz auf und zog Christin ins Zimmer.

„Christin, wie schön, dich einmal wieder zu sehen.“ Voller Freude drückte sie die Freundin an sich. Dabei fühlte Christin eine feste Wölbung im Bereich des Bauches. Doch sie schüttelte innerlich den Kopf. Nein, das konnte nicht sein, Melissa war Ordensschwester, wie sie auch. Aber ihre Neugier regte sich und deshalb beobachtete sie ihre Freundin mit Argusaugen.

„Wie geht es in der Kinderklinik?“, erkundigte sie sich.

„Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Ich arbeite zur Zeit nicht“, antwortete die Stationsschwester. „Ich muss dir übrigens etwas verraten“, begann sie und streckte sich, um ein Buch in das Regal zurückzustellen.

In diesem Moment sah Christin die Wölbung des Bauches ganz deutlich. Erschrocken sprang sie vom Stuhl auf. „Du bist schwanger?“, rief sie beinahe entsetzt.

„Ja, genau das wollte ich dir gerade sagen“, bestätigte die Freundin voller Freude.

Christin sank auf den Stuhl und starrte sie fassungslos an.

„Du bekommst ein Baby“, murmelte sie tonlos vor sich hin.

Melissa kniete sich vor sie hin und blickte sie mit großen, strahlenden Augen an.

„Ich bin Anfang des vierten Monats. Ach Christin, ich bin ja so glücklich. Jetzt weiß ich erst, wie schön Liebe ist und was uns hier entgeht“, erklärte sie ihr.

Christin starrte sie nur völlig verständnislos an.

„Weißt du wie das ist? Wie der Himmel auf Erden! Das heißt, wenn du den richtigen Mann hast und den habe ich. Gordon ist so zärtlich und so liebevoll. Er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab“, schwärmte sie ihr vor. „Und er freut sich genauso unbändig auf unser Baby, wie ich auch.“

„Die Mutter Oberin,… weiß sie es schon?“, erkundigte sich Christin.

„Ja, natürlich weiß sie es. Sie ist sehr rücksichtsvoll und verständnisvoll mir gegenüber. Geschimpft hat sie auch nicht. Sie muss früher einmal etwas Ähnliches erlebt haben, das leider nicht so gut ausgegangen ist. Deshalb ist sie im Kloster geblieben. Sie erlaubte mir, bis zur Hochzeit hierzubleiben. Sag, möchtest du gern meine Trauzeugin werden?“ Melissa sah sie erwartungsvoll an.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann?“, zweifelte Christin.

„Ach, das ist gar nicht schwer. Du musst nur eine Unterschrift auf dem Standesamt leisten und bei der Trauung in der Kirche hinter mir stehen“, erklärte die Freundin.

„Gut, das kann ich gerade noch“, erwiderte sie tonlos, ganz ohne innere Regung.

„Du musst keine Angst haben. Ich werde dich oft besuchen. Und wenn das Baby erst da ist, dann wird es so richtig lustig“, versuchte Melissa ihre Freundin aufzuheitern, denn sie bemerkte den Schreck über ihre Schwangerschaft und den Verlust ihrer besten Freundin an ihrem todtraurigen Gesichtsausdruck.

„Ich werde dich vermissen und vielleicht sogar verlieren“, seufzte Christin und starrte ins Leere.

„Nein, ganz gewiss nicht. Gordon und ich werden dich nicht vergessen“, versprach Melissa.

Mit hängenden Schultern begleitete die kleine Nonne ihre Freundin in die Cafeteria. Dort tranken sie zusammen einen Tee und unterhielten sich leise noch über dieses und jenes. Es begann bereits zu dämmern, als sich die beiden trennten. Gordon, inzwischen zum Chefarzt erhoben, erbot sich Christin zu ihrem Patienten zu fahren. Sie fühlte sich wieder stabil und gestärkt, hatte praktisch wieder Boden unter den Füßen gewonnen, so dass sie sich sicher war, keine Panik mehr zu bekommen, wenn sie Brandon in die Augen sah.

Als sie in „Twenty-Two-Oaks“ ankamen, zeigte die Uhr in der Küche dreiundzwanzig Uhr an. Alle Hausbewohner hatten bereits ihre Betten aufgesucht, als Gordons Handy klingelte. Er sprach nur ganz kurz, dann wandte er sich mit sorgenvoller Miene zu Christin.

„Melissa hat vorzeitige Wehen bekommen. Ich muss sofort zurück zu ihr“, unterrichtete er sie.

„Ja, fahr nur zu ihr. Sie braucht dich jetzt am allermeisten. Danke, dass du mich hergefahren hast.“ Christin begleitete ihn noch nach draußen.

Sie sah ihm nach, wie er ins Auto stieg und die lange Auffahrt hinunterfuhr. Sie werden ein schönes Paar abgeben, überlegte sie. Melissa hat bestimmt den richtigen Mann an ihrer Seite. Höflich, gebildet, rücksichtsvoll, kinderlieb und vor allem überaus liebevoll ihr gegenüber. Langsam löste sie sich aus der Erstarrung, dass ihre Freundin nun einen Mann und bald eine Familie haben würde. Wenn sie nach dieser Pflege ins Kloster zurückkehrte konnte es sein, dass es sehr einsam um sie werden könnte, denn mit den anderen Ordensschwestern verkehrte sie nicht in so einem engen Kontakt wie mit Melissa. Immer noch nachdenklich löschte sie das Hauslicht und begab sich leise, um keinen zu wecken, in ihr Zimmer. Bevor sie sich niederlegte, warf sie noch einen Blick auf ihren Patienten. Doch der schlief fest.

Es mochte wohl so zwischen zwei und drei Uhr früh sein, als die Hausbewohner von „Twenty-Two-Oaks“ ziemlich unsanft von lautem Geschrei geweckt wurden. Christin sprang aus dem Bett und warf sich rasch ihren Morgenmantel über. Ihre Schuhe fand sie in der Eile nicht, also ging sie barfuß. Auch zum Schließen des Morgenmantels blieb keine Zeit mehr.

Das Geschrei ging einem durch Mark und Bein. Christin schaltete nur eine kleine Lampe neben ihrem Bett an. Sie stürzte in Brandons Zimmer. Abrupt verstummte das Geschrei.

„Ein Engel“, krächzte er.

Da nur eine Lampe brannte und Christins Gestalt von hinten beleuchtet wurde, sah es tatsächlich so aus, als stünde da ein Engel. Das bodenlange weiße Nachthemd, die weiten Ärmel des Morgenmantels und die dicken, langen, gewellten und teilweise gelockten dunklen Haare, die ihr bis über die Hüften reichten, trugen dazu bei. Und wie alle Engel trug sie auch keine Schuhe an ihren Füßen.

„Was tust du auf dem Fußboden, Brandon?“, erschrak sie.

Er jedoch starrte sie weiter an. „Christin, bist du das? Oder bist du wirklich ein Engel?“, äußerte er sich völlig durcheinander.

„Ich bin schon Christin“, antwortete sie und kam ein paar Schritte näher zu ihm.

„Ich bin aus dem Bett gefallen“, erklärte er.

„Du bist noch nie aus dem Bett gefallen“, wunderte sie sich und kniete sich neben ihn.

„Ich habe in letzter Zeit sehr wilde Träume. Vor allem, seit du mich verlassen hast. Aber jetzt wird alles wieder gut, weil du zurückgekommen bist und bei mir bist.“ Er sprach sehr schnell und beinahe atemlos. Anschließend verzog er schmerzlich sein Gesicht.

„Hast du Schmerzen?“, erkundigte sie sich.

„Ja.“ Er knirschte so sehr mit den Zähnen, dass sie es hören konnte. „Vor allem im Rücken.“

Er lag sehr unglücklich auf dem Bauch, wie ein gestrandeter, breitgetretener Frosch.

„Ich kann dich nicht umdrehen“, ließ ihn Christin wissen. Sie versuchte es ihm etwas bequemer zu machen, indem sie ihm ein Kissen unter den Kopf stopfte. Dann deckte sie ihn mit seiner Bettdecke zu, als er plötzlich nach ihrer Hand griff. Erschrocken hielt sie inne.

„Ich fühle meine Füße“, flüsterte er. „Christin, ich spüre meine Beine. Oh mein Gott, hilf mir, dass dieses Gefühl nicht wieder vergeht. Nein, nein, jetzt wird der Schmerz wieder unerträglich!“, jammerte er und krallte seine Finger in das Kissen.

Sie erhob sich und schaltete zuerst das Licht an. Dann richtete sie eine Infusion mit einem starken Schmerzmedikament her, die sie ihm in die linke Armvene infundierte.

In der Zwischenzeit kamen Richard und Doreen ins Zimmer gehastet, die durch den Lärm geweckt worden waren.

„Brandon, Junge, was ist geschehen?“, rief Richard erschrocken, als er ihn auf den Fußboden liegend vorfand.

Christin antwortete für ihren Patienten, der nur schwer atmend dalag.

„Er ist aus dem Bett gefallen und jetzt hat er sehr starke Schmerzen im Rücken. Wir brauchen dringend einen Notarzt und einen Rettungswagen. Kann den bitte jemand besorgen?“, bat sie.

Richard lief sofort nach unten in die Halle, um zu telefonieren. Es dauerte auch gar nicht lange, bis der Arzt kam. Dieser untersuchte Brandon kurz und meinte: „Ich fürchte eine Einblutung zwischen den Wirbeln. Er muss sofort in ein Krankenhaus.“

Zwei Sanitäter kamen und betteten den großen Mann fachgerecht auf eine Spezialtrage für Querschnittsgelähmte. Christin musste sich beeilen, um in ihre Tracht zu kommen. In Windeseile rannte sie die Treppe hinunter und erreichte den Rettungswagen gerade noch rechtzeitig, um mitzufahren. Die Sanitäter schlossen die Türen und schon ging es los mit Blaulicht. So eine wilde Fahrt erlebte die junge Ordensschwester in ihrem ganzen Leben noch nicht. Selbst der Haltegurt im Wagen schützte sie kaum. Sie wurde so herumgeschleudert, dass sie die blauen Flecken hinterher gewiss nicht mehr alle zählen konnte.

„Hallo!“, rief sie. „Können Sie nicht etwas vorsichtiger fahren? Der Patient hat eine schwere Rückenverletzung, die durch dieses Rütteln noch verstärkt werden könnte. Am Ende ist er dann tatsächlich querschnittsgelähmt!“

„Der Notarzt hat uns befohlen, so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu fahren! Er sagte uns, es eilt! Außerdem sind nicht wir an dieser unruhigen Fahrt schuld, sondern der Straßenbelag!“, rief einer der Sanitäter zurück, um die Sirene auf dem Dach des Fahrzeugs zu übertönen. Christin versuchte währenddessen verzweifelt ihren Patienten mit beiden Armen in der Körpermitte einigermaßen ruhig zu halten und zu stützen. Es war ein sehr mühsames Unterfangen, doch sie gab nicht auf. Unter anderem rutschte auch noch die Infusionsflasche aus der Verankerung und traf Brandon am Kopf. Christin wollte es verhindern, landete jedoch bei dem Gerüttel auf seiner Brust. Ihr Patient stöhnte nur noch vor sich hin.

„Ich habe doch schon genug Kopfschmerzen und jetzt bekomme ich nicht einmal mehr genügend Luft“, schnaufte er.

Haltsuchend hangelte sich Christin zu ihrem Sitz und hängte die Infusion wieder auf. Dazu brauchte sie allerdings drei Versuche. Ein Hubschrauber wäre wohl besser gewesen, als so eine unsanfte Fahrt. Ich hoffe, es schadet seinem Rücken nicht noch mehr, ging es ihr durch den Kopf.

Nach einer Stunde Fahrt erreichten sie schließlich ein Krankenhaus in Vancouver. Man rollte Brandon auf seiner Trage durch endlos lange, beleuchtete Korridore und von einem Aufzug zum anderen. Christin mühte sich ab, den Sanitätern zu folgen. Sie fühlte sich sehr wackelig auf den Beinen nach dieser Höllenfahrt. Schließlich bogen die Sanitäter mit der fahrbaren Trage um eine Ecke und schoben ihn durch eine sich selbst öffnende Glastür in einen Untersuchungsraum. Im Raum öffnete sich eine weitere Türe und ein ziemlich müde wirkender Arzt in einem zerknitterten, weißen Kittel mit zerknautschten schwarzem Haar erschien gähnend. Christin reichte ihm die Papiere, die der Notarzt ausgefüllt hatte. Er setzte eine Brille auf und überflog kurz die Diagnose.

„Hm ja. Eine Wirbelverletzung“, brummte er vor sich hin.

Jetzt endlich stellte er sich vor. „Ich bin Doktor Porter. Ich denke, wir machen erst einmal ein CT (Computertomogramm), um einen Überblick über die Verletzungen zu bekommen.“ Dann begann er ziemlich blöde zu grinsen, als er weiterlas. „Sie sind aus dem Bett gefallen?“

Brandon nickte nur zustimmend.

„Wie geht das, wenn man gelähmt ist?“, erkundigte sich der Arzt und blickte über den Brillenrand. Es schien ihn sehr zu erheitern. Zum Glück hielt er sich so weit zurück, dass er nicht noch in einen Lachanfall ausbrach.

„Keine Ahnung. Aber Sie kennen meine wilden Träume nicht. Jedenfalls lag ich auf einmal auf dem Fußboden“, presste Brandon hervor. Die Schmerzen setzten wieder ein.

Der Arzt warf Christin einen schelmischen Seitenblick zu. „Ja, das ist durchaus nachvollziehbar“, äußerte er sich sehr langsam und wissend.

Diese bekam davon nichts mit, denn sie wälzte gerade andere schwere Probleme. Irgendwie beschlich sie der Verdacht, hier nicht in der richtigen Klinik zu sein, die sich mit Brandons Verletzung auskannte.

„Schwester, Sie können unten in der Halle warten. Dort gibt es auch einen Kaffeeautomaten“, bot ihr der Arzt an.

„Nein, danke. Ich bleibe hier bei meinem Patienten. Ich bin seine Pflegerin“, beharrte Christin.

„Sind Sie sicher? Hier sind schon mehrere Nonnen umgekippt“, warnte er.

„Nein, nein, Sie können ganz beruhigt sein. So zimperlich bin ich nicht“, gab sie lächelnd, jedoch standhaft zurück. „So ein harmloses CT bringt mich nicht um.“

Dr. Porter blickte nochmals in ihr Gesicht und dachte bei sich: Von dieser Schwester würde ich auch gern gepflegt werden. Da würde ich sogar die Querschnittslähmung hinnehmen, wenn ich so ein wunderschönes junges Mädchen an meiner Seite hätte.

Zwei andere Pfleger kamen und brachten Brandon zum CT. Christin eilte ihnen nach. Sie verfolgte die Untersuchung sehr genau. Danach erklärte der Arzt ihr die Bilder im Computer.

„Sehen Sie Schwester, hier sind drei Lendenwirbel. Der vierte, fünfte und sechste. Genau zwischen diesen drei Wirbeln sieht man eine Blutung.“

„Können Sie ihn operieren?“, wollte sie sogleich erfahren.

„Hier kann ich ihn leider nicht operieren“, antwortete Dr. Porter.

„Warum nicht? So etwas muss doch sofort behandelt werden“, widersprach sie.

„Ja, schon“, wand sich der Mediziner. „Ich sehe, Sie kennen sich aus. Aber wir sind für solche komplizierten Operationen nicht ausgestattet.“ Er warf erneut einen Blick auf die Bilder. „Außerdem bemerke ich hier noch eine alte Verletzung, die auch noch nicht behoben wurde. An so etwas wage ich mich nicht heran. Das muss ein sehr guter Spezialist operieren“, erklärte er ihr. Der Arzt bedachte Brandon mit einem bedauernden Blick, wandte sich ab und verschwand in ein angrenzendes Arztzimmer. Christin folgte ihm. Sie wich nicht von seiner Seite.

„So wie ich feststellen muss, sind Sie jedenfalls kein Spezialist. Ich bin froh darüber, dass Sie das zugeben und nicht einfach selbst einen Versuch die Verletzung zu beheben starten, denn dabei könnte mehr Schaden angerichtet werden als dass ihm geholfen würde. Aber Sie können ihn doch nicht einfach so liegen lassen. Bitte, Sie müssen etwas unternehmen“, flehte sie ihn an. „Wenn Sie einen solchen Spezialisten im Haus haben, dann wecken Sie ihn doch oder rufen Sie ihn an, dass er kommt. Diese Verletzung kann nicht auf die lange Bank geschoben werden.“

„Was soll ich tun? Jetzt ist es mitten in der Nacht! Vor heute früh acht Uhr können wir nichts unternehmen“, wich er aus.

„Dann ist es aber zu spät!“, schrie Christin entrüstet. Sie wunderte sich selbst über sich, was sie hier tat.

„Mein Patient sagte mir, dass er seine Beine und Füße wieder spüre. Sollen denn die ganzen Nerven nun vollends zerstört werden?“ Die kleine Nonne war außer sich ob diesem sturen und tatenlos zusehenden Arzt. „Also wissen Sie, ein Buschkrankenhaus ist besser ausgerüstet, als Sie hier mit diesem chirurgischen Krankenhaus in so einer Großstadt!“

Er blickte sie völlig entgeistert an, was sie da von sich gab. „Wie bitte?“

„Ja, legen Sie nur die Ohren an. Ich habe mich erkundigt, denn einst wollte ich in so einem Buschkrankenhaus einmal arbeiten.“, ließ sie ihn wissen.

„Sind Sie jetzt fertig?“, bremste er die aufgebrachte Nonne.

„Vielleicht? Aber vielleicht fällt mir noch etwas ein, worüber ich weitere Kritik üben könnte“, gab sie ihm zur Antwort. Und Gordon kann mir im Moment auch nicht helfen, ging es ihr durch den Kopf. Sie drehte sich um und verließ das Arztzimmer. Sie entfernte sich ein kurzes Stück, dann verhielt sie plötzlich den Schritt. Mit Schwung drehte sie sich um, so dass der Habit um ihre Beine flog. Ja, natürlich, Gordons Bruder, der ist Spezialist für Wirbelsäulenverletzungen und besitzt in Clearwater eine eigene Klinik, die er leitet, erinnerte sie sich.

Dr. Porter nahm gerade den Telefonhörer in die Hand.

„Ich lasse den Patienten einstweilen auf die Chirurgie verlegen“, ließ er sie wissen.

„Halt, nein, das tun Sie bitte nicht!“ Christin drückte seine Hand mit dem Hörer wieder auf die Gabel. „Bitte, helfen Sie ihm“, flehte sie erneut.

„Und wie, liebe Schwester?“, bemerkte er genervt, drehte sich mit dem Drehstuhl zu ihr um und blickte sie über den Brillenrand an.

„Indem Sie ihn mit dem Hubschrauber nach Clearwater fliegen lassen und in das St. Elisabeth Hospital bringen. Dort weiß ich einen Spezialisten, Dr. Kevin Spencer. Er fiel mir gerade ein“, teilte sie ihm mit.

Da der Arzt immer noch zögerte, äußerte sie sich entsetzt: „Jetzt sagen Sie bloß, es gibt hier auch keinen Rettungshubschrauber, oder?“

„Oh, ja, ja, aber natürlich“, beeilte er sich zu antworten. Ihm verschlug es regelrecht die Sprache. Diese kleine Nonne wusste doch ganz genau, was sie wollte.

„Ja, reden Sie nicht lange herum. Tun Sie’s einfach und zwar schnell. Wir haben nur dieses kleine Zeitfenster zur Verfügung!“, brachte sie den Arzt auf Trapp.

Er überlegte kurz, dann richtete er sich auf. „Gut, Schwester, ich werde Dr. Spencer sofort informieren und alles weitere veranlassen. Ist Ihnen das recht so?“, dabei richtete er seinen Blick auf sie.

„Ja, danke, vielen Dank“, hauchte Christin und ging hinaus zu Brandon.

Der hatte natürlich alles mitbekommen. Er streckte ihr seine Hände entgegen.

„Christin, du bist wirklich ein Engel. Danke, tausendfachen Dank für deinen Einsatz. Ich bin so froh, dass du bei mir bist“, gestand er ihr.

„Eigentlich müsste ich das jetzt der Mutter Oberin beichten“, überlegte sie leise.

„Warum? Du hast dich für mich, für mein Leben und meine Gesundheit eingesetzt“, widersprach Brandon.

„Ja, das schon, aber eine Ordensschwester darf nicht so überlegen einem Arzt gegenüber auftreten. Sie hat sich ruhig im Hintergrund zu halten. Ich hätte jetzt bestimmt fünfzig Vaterunser zu beten bekommen“, erklärte sie.

„Die erlasse ich dir. Bete lieber dafür, dass ich noch etwas für meine Schmerzen bekomme, bevor wir starten“, raunte er ihr zu. „Der Arzt ist ein Nachtwächter. Er hätte längst nachsehen können, wo sich eine geeignete Spezialklinik für solche Sachen befindet, wenn er es schon nicht von sich aus weiß“, schimpfte er. „Der würde mich hier glatt verschimmeln lassen.“

Endlich bekam Brandon eine neue Infusion mit Schmerzmedikament. Christin erhielt alle Aufnahmen vom CT und Dr. Porters Diagnose mit Befund. Zwei Pfleger kamen und brachten sie mit dem Aufzug hinauf auf das Dach des Krankenhauses. Dort wartete bereits der Hubschrauber. Die Ordensschwester war noch nie zuvor mit einem solchen Gerät geflogen. Ihr gruselte ein wenig. Tapfer schüttelte sie jedoch ihr Unbehagen ab und stieg mit ein. Der Lärm der Motoren steigerte sich, als der Hubschrauber abhob. Brandon bemerkte Christins Ängste an ihrer steifen Körperhaltung und den starren Gesichtszügen. Er tastete nach ihrer Hand, die sich kalt und feucht anfühlte.

„Engelchen, hab keine Angst. Hubschrauber sind sehr sicher. Ohne ihn würde ich viel zu spät nach Clearwater kommen“, versuchte er sie zu beruhigen.

Beklommen nickte sie.

Sie flogen eine knappe Stunde, dann erreichten sie ihren Zielort. Hier wurden sie gleich von vier Pflegekräften empfangen. Sie brachten Brandon sofort in den Vorbereitungsraum. Dr. Kevin Spencer, ein großgewachsener Mann um die vierzig Jahre, mit bereits grauen Fäden im dunklen Haar und leichtem Bauchansatz, begrüßte seinen neuen Patienten und die Ordensschwester. Er nahm die Papiere entgegen und sah sie anschließend gleich durch. Christin fand Gordons Bruder sehr sympathisch. Sein Gesicht strahlte noch eine erfrischende Jugendlichkeit aus, obwohl er um einige Jahre älter als Gordon war. In dieser Klinik fühlte sich Christin auf seltsame Weise sofort heimisch. Vom Pflegepersonal wurde sie überall herzlich begrüßt. Man bot ihr Kaffee und Essen an. Anscheinend wohl, weil sie so blass und müde wirkte. Der Arzt begutachtete die Aufnahmen vom CT äußerst genau. Christin saß draußen vor dem Operationssaal auf einer schlichten Holzbank. Im spärlich beleuchteten Gang erkannte sie eine von der Decke hängende Uhr, deren Sekundenzeiger bei jeder Fortbewegung ein kleines tickendes Geräusch verursachte. Das lullte sie langsam ein, trotz des Kaffees. Die Uhr zeigte soeben die volle Stunde an: fünf Uhr. In diesem Moment rollten sie Brandon in den Operationssaal. Christin holte ihr Gebetbuch hervor und betete eine Zeitlang. Dann stand sie auf, um sich die Beine etwas zu vertreten. Sie sah zum Flurfenster hinaus und wartete auf den Sonnenaufgang. Doch stattdessen zogen schwarze Wolken auf und es entlud sich ein heftiges Gewitter. Eine wahre Sintflut ergoss sich über das Land. Sie kehrte wieder zu ihrem einsamen Platz auf der Bank zurück. Der Regen, der an das Fenster klatschte und der Sekundenzeiger der Fluruhr sorgten dafür, dass sie schläfrig wurde. Schließlich hatte sie inzwischen seit sechsundzwanzig Stunden nicht mehr geschlafen. Die Augen fielen ihr zu und sie rutschte zur Seite. Die Bank war sehr schmal und Christins Lage dementsprechend unbequem, doch der Schlaf übermannte sie einfach. Dort fand sie um zwölf Uhr mittags der Professor.

Er redete sie leise an und berührte sie vorsichtig an der Schulter. „Schwester Christin, wachen Sie auf. Die Operation ist gut verlaufen.“

Die Ordensschwester erwachte aus tiefstem Schlaf. Sie sprang ein wenig zu heftig von der Bank auf, verlor die Balance und stürzte auf den harten Fliesenboden.

„Mein Gott, haben Sie sich verletzt?“, bemühte sich gleich der Arzt bestürzt um sie.

Noch leicht benommen murmelte sie: „Ich glaube nicht.“

Doch als er ihr beim Aufstehen behilflich sein wollte und sie an ihrem linken Oberarm berührte, entfuhr ihr ein kleiner Schmerzensschrei.

„Kommen Sie, wir werden das gleich einmal röntgen“, entschied der Professor.

„Ach, so schlimm wird es schon nicht sein“, wehrte Christin ab.

„Nein, nein, sicher ist sicher“, bestand er darauf.

Er begleitete sie zur Röntgenabteilung und wartete davor auf sie.

Man röntgte ihre linke Schulter, was weniger, als drei Minuten dauerte. Nachdem sie sich wieder angekleidet hatte, wobei ihr die Röntgenassistentin helfen musste, besah sich der Professor gerade die Bilder im Schaukasten. Die Schwester trat neben ihn.

„Hier, sehen Sie?“ Er deutete mit seinem Zeigefinger auf das Schlüsselbein. „Das hat einen kleinen Riss. Nicht schlimm, es ist nicht komplett durchgebrochen. Aber man sollte es eine Weile schonen und in Ruhestellung bringen“, schlug er vor. „Ich mache Ihnen jetzt einen Rucksackverband und dann tragen Sie noch so ungefähr eine Woche lang eine Schlinge, in der Sie den Arm ruhen lassen können.“

„Aber das geht nicht. Ich muss mich um meinen Patienten kümmern“, widersprach die kleine Nonne.

„Nein, das brauchen Sie jetzt nicht“, widersprach er ihr. „Er bleibt etwas über eine Woche hier bei uns. Wir werden ihn und seine Wunde beobachten und ihn an den Rollstuhl gewöhnen“, erklärte er ihr.

„Wie geht es Mr. Stonewall?“, informierte sich Christin. „Kann ich zu ihm?“

„Alles der Reihe nach, Schwester. Zuerst verbinde ich Sie. Dann gehen wir gemeinsam in die Cafeteria und essen zu Mittag und …“

„Oh, ist es schon so spät?“, entfuhr es ihr.

„Ja, meine Liebe. Die Operation hat sieben Stunden gedauert. Leider mussten wir dann abbrechen, weil der Patient instabil wurde. Ich werde ihn nach ein paar Wochen nochmals operieren und dann schicken wir ihn anschließend in eine Reha-Klinik. Dort wird er dann versuchen wieder auf die Beine zu kommen, um nochmals laufen zu lernen. Im Moment schläft er auf der Intensivstation seinen Narkoserausch aus. Sobald er aufwacht, bringe ich Sie zu ihm“, versprach der Arzt.

Die kleine Ordensschwester hatte Mühe Dr. Spencer zu folgen, denn der machte Riesenschritte mit seinen langen Beinen. Dann fiel ihr ein, dass sie ja gar kein Geld besaß, um sich ein Essen kaufen zu können, und dem Mediziner auf der Tasche liegen wollte sie keinesfalls.

Sie blieb stehen. „Ich habe noch gar keinen Hunger“, erklärte sie ihm.

Abrupt blieb der Arzt stehen, drehte sich um und ging die drei Schritte zu ihr zurück. Er legte den Arm um ihre schmalen Schultern und nötigte sie weiterzugehen.

„Sie werden jetzt auf jeden Fall etwas zu sich nehmen, weil Sie es bitter nötig haben, so wie Sie aussehen“, befahl er ihr leicht genervt. „Sagen Sie, sind Nonnen allgemein so störrisch?“

„Eigentlich eher selten, aber sie sind arm und haben kein Geld“, gab sie leise zur Antwort.

„Also für das Wenige, was Sie zu sich nehmen werden, habe ich gerade noch genügend Geld übrig“, grinste er.

Christin blieb nichts anderes übrig, als mit ihm zu gehen.

Nach dem Mittagessen, welches die Kantine ihr sogar spendierte, begleitete der Professor die Schwester zur Intensivstation. Während er in der Umkleidekabine verschwand, wartete sie draußen. Durch eine Glasscheibe konnte sie Brandon am anderen Ende des Raumes sehen. Er lag vollkommen flach in einem Spezialbett, an mehrere Monitoren und Infusionen, sowie Drainagen angeschlossen. Sie fragte sich, ob er wohl jetzt keine Schmerzen mehr litt? Dr. Spencer beugte sich gerade über ihn und kontrollierte sämtliche Anschlüsse und Daten. Brandon musste aufgewacht sein, denn sie beobachtete, dass der Arzt mit ihm sprach. Christin war so vertieft in ihre Überlegungen, wie es jetzt wohl weitergehen würde, dass sie die Schwester gar nicht wahrnahm, die ihr in einen grünen Kittel hineinhelfen wollte. Erschrocken zuckte sie zusammen.

„Oh, Verzeihung. Ich muss weit weg gewesen sein mit meinen Gedanken“, entschuldigte sie sich.

Die Schwester knöpfte ihr den Mantel hinten auf dem Rücken zu.

„Noch einen Moment, bitte. Der Professor wird Sie gleich hereinholen“, vertröstete sie die kleine Nonne.

„Wie fühlen Sie sich?“, erkundigte sich Dr. Spencer bei seinem Patienten.

„Etwas müde noch“, antwortete der.

„Nein, so etwas. Sie müssten jetzt ausgeschlafen und fit wie ein Turnschuh sein. Sie haben sieben Stunden auf dem OP-Tisch geschlafen“, scherzte der Arzt. „Haben Sie noch Schmerzen?“

„Nein, aber ich würde mich noch besser fühlen, wenn ich nicht so absolut flach liegen müsste“, antwortete Brandon.

„Ja, das glaube ich Ihnen gern. Aber drei Tage müssen Sie diese flache Lage noch ertragen, dann hat die ganze Quälerei ein Ende. Das verspreche ich Ihnen“, erklärte der Professor. „Nach all den vielen Monaten im Liegen, müsste das doch noch auszuhalten sein?“

Brandon nickte. „Oh ja, das ist wohl wahr. Herr Professor, haben Sie mir nicht vielleicht etwas mitgebracht?“ erwartungsvoll sah er den Arzt an.

Der lächelte. „Ach, Sie meinen die kleine Ordensschwester? Ja natürlich. Sie wartet schon sehnsüchtig draußen vor der Tür.“

Damit ging er, öffnete die Türe und bat Christin herein. Der grüne Kittel passte ihr überhaupt nicht. Erstens hätte sie dreimal darin Platz gehabt und zweitens trat sie unten dauernd auf den Saum, weil er ihr viel zu lang war.

Gordons Bruder musste verhalten lachen.

„Christin!“, rief ihr Brandon voller Freude entgegen und streckte die Hände nach ihr aus. Er umarmte sie, soweit er konnte und zog sie zu sich hinab auf seine Brust.

„Das werde ich dir niemals vergessen“, murmelte er leise und küsste sie auf den Schleier genau in der Mitte ihres Kopfes.

Ihr Herz setzte einen Schlag aus und da kam es wieder, dieses seltsame Gefühl, ein Kribbeln, das durch ihren gesamten Körper strömte. Sie glaubte noch vor kurzem es durch die Gebete im Kloster hinter sich gelassen zu haben. Doch nun empfand sie es umso intensiver als vorher. Sie versuchte sich von ihm zu lösen, doch er hielt sie so fest umklammert, dass der Professor eingreifen musste.

„Vorsicht, Mr. Stonewall, Schwester Christin hat eine Verletzung“, informierte er ihn.

„Wie? Was ist dir geschehen?“, erkundigte sich Brandon erschrocken.

„Sie ist vor dem Operationssaal von der Bank gefallen und hat sich das Schlüsselbein angebrochen“, klärte er ihn auf.

„Christin, was machst du für Sachen?“ Brandons Gesicht wirkte ganz verstört.

Aber die Ordensschwester lächelte ihren Patienten nur an.

„Ist gar nicht so schlimm. Mach dir wegen mir keine Sorgen. Nächste Woche ist alles vorbei“, tröstete sie ihn.

Der Professor wandte sich den beiden zu und begann: „Ich möchte jetzt den weiteren Therapieplan erläutern. Mr. Stonewall wird jetzt drei Tage ganz ruhig und flach liegen bleiben. Dann werden wir ihn vorsichtig zum Sitzen bringen und ihm den Umgang mit dem Rollstuhl zeigen. Bei dieser Operation habe ich die Blutung abgeleitet, die alte Verletzung beseitigt und die eingeklemmten Nerven freigelegt.“

Er schlug das untere Teil der Bettdecke zurück und fuhr mit einer Pinzette am Unterschenkel und der Fußsohle seines Patienten entlang. „Fühlen Sie die Berührung?“, erkundigte er sich.

„Ja, und wie stark“, bestätigte der Patient voller Freude.

„Ab dem Augenblick, wo sie sitzen dürfen wird ein Physiotherapeut zweimal täglich mit Ihnen Übungen machen, um die Muskulatur aufzubauen. Ende Oktober werde ich Sie nochmals operieren. Danach gehen Sie für mehrere Wochen in eine Reha-Klinik und lernen dort wieder das Laufen. Ist das in Ordnung so? Das heißt allerdings, dass die Leukämie sich in Grenzen halten muss. Das ist eine Bedingung. Die Blutwerte sind bei der zweiten Operation ausschlaggebend. Diese Operation ist nicht einfach. Der Patient muss absolut stabil sein. Also, kämpft ihr beiden, doch so wie ich das sehe, werdet ihr damit wohl kaum Probleme haben. Ihr habt ja schon so einiges erreicht.“ Der Professor lachte ihnen aufmunternd zu.

„Bleibst du noch etwas bei mir?“, bat Brandon seine Betreuerin.

„Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist, Mr. Stonewall“, kam ihr der Arzt zuvor. „Sie brauchen jetzt Ruhe und Schwester Christin muss sich erst einmal ausschlafen. Die Woche, die Sie hier im Krankenhaus sind, wird sie mein Gast bei meiner Familie sein. Selbstverständlich bringe ich sie immer wieder zu Ihnen.“

Der Arzt ergriff Christins Hand und führte sie aus dem Raum. Dort legten sie ihre Mäntel ab. Erst jetzt bemerkte sie, wie müde sie sich fühlte. Die Anspannung der vielen Stunden während Brandons OP wich nun von ihr. Sie hatte nur noch das Bedürfnis zu schlafen. Wie in Trance folgte sie dem Professor zu seinem Auto in der Tiefgarage. Die Fahrt zu seinem Haus dauerte zum Glück nicht lange. Es wurde bereits Abend. Des Professors Frau öffnete ihnen die Haustüre.

„Hallo Schatz, du bringst einen Gast mit?“, wunderte sie sich, denn ihr Mann hatte sie nicht informiert.

Sie gab ihrem Mann einen Kuss auf die Wange.

„Ja, das ist Schwester Christin aus dem Heilig Geist Kloster in der Nähe von Vancouver. Sie begleitet einen Patienten, der in meiner Klinik liegt. Sie bleibt nur etwa eine Woche lang“, erklärte er ihr.

„Keine Angst, ich bereite Ihnen gewiss keine Umstände“, wandte sich Christin an die Frau.

Mary, so hieß sie mit Namen, nahm sogleich Christins Hand und zog sie ins Haus.

„Kommen Sie, meine Liebe, Sie sind bestimmt schon sehr lange auf den Beinen. Möchten Sie etwas essen?“, erkundigte sie sich bei ihrem Gast.

„Nein danke.“ Die Schwester schüttelte den Kopf. „Ich möchte nur noch schlafen.“

„Das sieht man Ihnen an“, bestätigte Mrs. Spencer.

Mary, eine mittelgroße, leicht füllige Frau mit kleinen, braunen Locken auf dem Kopf, öffnete eine Türe und führte die Schwester in einen mit hellen Möbeln ausgestatteten Raum. Ein großes Fenster mit Schiebetüre ließ den Blick auf eine blumengeschmückte Terrasse frei. Da die gläserne Türe offen stand, wehten die Gardinen leicht im Abendwind.

„Oh, wie schön“, rief die kleine Nonne begeistert aus.

„Darf ich Ihnen beim Auskleiden behilflich sein?“, bot sich Mary an.

Christin blickte an sich hinunter. „Ach ja so, der Verband. An den habe ich gar nicht mehr gedacht“, antwortete sie.

Mit vereinten Kräften legten sie die Tracht ab. Die Gastgeberin sah den Verband und da sie einst Krankenschwester war, wusste sie sogleich wozu man ihn anlegte.

„Haben Sie sich das Schlüsselbein gebrochen?“, vergewisserte sie sich.

„Nicht ganz, nur angebrochen“, antwortete Christin.

„Das ist erst geschehen, sehe ich, denn der Verband ist neu“, stellte Mary fest.

„Ja, ich bin etwas tollpatschig von einer Krankenhausbank gefallen“, lächelte die Ordensfrau beschämt.

„Na so etwas, geht ins Krankenhaus und verletzt sich dort“, Mary schüttelte den Kopf.

Sie drehte sich um und öffnete noch eine Türe. „Hier können Sie sich frisch machen.“ Sie zeigte ihr ein integriertes Bad mit Dusche und WC. Im Schlafzimmer öffnete sie einen Schrank und holte ein Nachthemd heraus, denn sie bemerkte, dass Christin nicht eingerichtet war für eine Woche zu bleiben. Mary lachte ihrem Gast zu und wünschte ihr eine angenehme Ruhe.

Christin schloss das Fenster und zog die Vorhänge zu. Sie wusch sich nur rasch, dann fiel sie ins Bett wie ein zentnerschwerer Sack. Sie schlief sehr tief und fest, wie schon lange nicht mehr. Da sie wusste, dass es Brandon gut ging und er sich in sehr guten Händen befand, konnte sie sich einmal vollkommen entspannen.

Um sieben Uhr stand sie auf. Mary vernahm die Geräusche aus ihrem Zimmer und eilte ihr zu Hilfe.

„Guten Morgen, Schwester. Sie hätten ruhig noch länger schlafen können.“ Auf dem Arm trug sie eine große Auswahl von T-Shirts und Jeanshosen.

„Hier, sehen Sie sich diese Sachen einmal an. Ich glaube, die müssten Ihnen passen. Die Tracht mit dem Verband finde ich einfach zu umständlich und kompliziert. Die acht Tage, die Sie hier sind, können Sie ruhig normale Kleidung tragen“, bot sie ihr an.

Christin öffnete den Mund, um abzulehnen, doch Mary kam ihr lachend zuvor. „Nein, nein, keine Widerrede. Sie können nicht acht Tage lang im gleichen Kleid herumlaufen. Die Mutter Oberin sieht Sie hier gewiss nicht. Außerdem werde ich Sie nicht verpetzen“, grinste sie schelmisch.

„Und an mein schlechtes Gewissen denken Sie überhaupt nicht?“, entgegnete die Ordensschwester.

„Dann beten Sie eben fünf Vater unser zur Vorsorge, wenn Sie das beruhigt“, lachte Mary.

Ihr Lachen steckte auch Christin an und zwar so sehr, dass ihr die Tränen von den Wangen liefen. So hatte sie schon seit vielen Jahren nicht mehr gelacht.

„Christin“, begann Mary. „Wir zwei passen so gut zusammen. Wir sollten uns „duzen“, einverstanden?“, versicherte sie sich.

„Ja, einverstanden“, erklärte die kleine Nonne.

Das ganze Wesen und ihr heiteres Gesicht strahlten eine große Wärme aus. Man musste die Frau des Professors einfach gern haben.

Nachdem sich Christin gewaschen hatte, half ihr Mary in Hose und T-Shirt. Sie bürstete das lange Haar und band es ihr im Nacken mit einer breiten Schleife zusammen. Als sie ihr Werk betrachtete, stellte sie ganz versonnen fest: „Weißt du eigentlich, wie hübsch du bist? Du gehörst absolut nicht in ein Kloster, wenn ich das bemerken darf.“

„Ich weiß nicht, wie ich aussehe. Wir haben keine Spiegel und es ist uns auch verboten in welche zu sehen. Das weckt die Eitelkeit, sagt unsere Mutter Oberin“, erklärte Christin.

„Meine Güte, ihr lebt ja beinahe wie in der Steinzeit.“ Mary schüttelte verständnislos den Kopf. „Man kann es auch übertreiben mit dem Glauben.“

Sie nahm die Ordensfrau bei der Hand und zog sie aus dem Zimmer. „Komm, lass uns frühstücken gehen“, forderte sie die Schwester auf.

Mary führte sie in einen großen, hellen Raum mit einem langen, ovalen Tisch. Dort saßen zwei fast erwachsene Söhne, die sich zum Verwechseln ähnelten. Ihnen gegenüber saßen drei Mädchen und noch ein kleineres Mädchen von ungefähr zwölf Jahren.

„Das sind unsere Kinder“, präsentierte sie die Mutter stolz. „Jeremy, wir nennen ihn auch Jim und neben ihm sein Zwillingsbruder Brad, sind beide zwanzig Jahre alt. Auf der anderen Seite sitzen unsere Drillinge, Kimberley, Angelina und India, alle siebzehn Jahre alt.“

„Wie hältst du sie auseinander?“, wunderte sich Christin und blickte verwirrt von einem Mädchen zum anderen, denn sie ähnelten sich sehr.

Mary lachte. „Angelina hat ein kleines Muttermal rechts unter dem Auge, Kimberley hat es links unter dem Auge und India, das sagt schon der Name, trägt es genau zwischen den Augen.“

„Wenn sie das nicht hätten, würdest du ganz schön Probleme haben“, bemerkte die Schwester.

„Ach wo, ich würde jeder einen anderen Farbstrich ans Ohr gemacht haben“, lachte Mary.

„Ja und das ist unser Nesthäkchen Emily. Sie ist erst zwölf Jahre alt. Eigentlich war sie gar nicht mehr geplant. Aber jetzt haben wir alle unsere Freude an ihr“, bestätigte die Mutter.

Emily, die hübscheste von allen, sah die Ordensschwester mit großen, dunklen Augen an.

„Mom, Schwester Christin sieht genauso aus wie ich. Sie hat die gleichen, dunkelbraunen Locken und Wellen und die gleichen dunklen Augen wie ich. Es ist geradeso, als wenn ich in einen Spiegel sehe. Mom, bist du dir sicher, dass ich nicht auch eine Zwillingsschwester habe?“, versuchte sie zu erfahren.

Schallendes Gelächter brach am Frühstückstisch aus. Nur Christin lachte nicht mit. Sie war regelrecht geschockt, dass sie so hübsch sein sollte wie Emily. Langsam sank sie auf ihren Stuhl. So, nun wusste sie, wie sie aussah. Das allein galt schon als Sünde genug.

Nachdem sich die allgemeine Erheiterung gelegt hatte, antwortete Christin leise: „Es ist purer Zufall, dass wir uns so ähnlich sehen. Eine Zwillingsschwester bin ich garantiert nicht, dafür bin ich um einiges älter als du“, lächelte sie das Kind an. Gleichzeitig fühlte sie sich froh, sich wieder gefangen zu haben. Trotzdem musste sie das Mädchen immer wieder ansehen. Ähnele ich ihr wirklich so sehr? Habe ich tatsächlich das gleiche, schmale Gesicht mit den unbändigen Locken und Wellen und den langen Augenwimpern über den tiefbraunen Augen? Die Grübchen in den Wangen, wenn ich lache? Christin holte tief Luft und schalt sich innerlich eitel zu sein.

Da betrat der Professor den Raum.

„Guten Morgen“, grüßte er und setzte sich an seinen Platz am Tisch.

Er blickte in die Runde. „Haben wir einen neuen Gast, Mary?“, scherzte er.

„Nein, nur dieser Habit ist so kompliziert anzulegen mit dem Verband“, erklärte seine Frau.

„Ja“, sagte er und legte den Kopf auf die Seite. „Diese Sachen stehen Ihnen wirklich gut, Schwester. So etwas sollten Sie öfter tragen.“

Christin musste lachen. „Für mich sind T-Shirt und Jeans eher ungewohnt, denn ich trage seit beinahe sechs Jahren meine Klostertracht.“

„Du bist eine echte Ordensschwester?“, platzte Emily heraus.

Die Schwester nickte.

„Toll.“ Das Mädchen war total begeistert. „Erzähl mir mehr. Was du so machst und wie es in einem echten Kloster wirklich ist.“

„Später.“ Christin dämpfte ihren Enthusiasmus etwas. „Heute Abend kannst du zu mir kommen. Jetzt denke ich, ist es Zeit für die Schule. Sonst kommst du noch zu spät.“

Emily stand auf. „Okay, dann bis heute Abend.” Die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

„Sie weiß noch nicht, was sie einmal werden möchte“, erklärte der Professor und schmierte sich dabei ein Butterbrot. „Aber sie hat ja auch noch Zeit“, bemerkte er in aller Ruhe.

„Alle anderen wissen schon, was für Berufe sie ergreifen wollen?“, informierte sich Christin etwas neugierig.

„Ja, ich werde Knochenklempner, so wie Papa“, grinste Brad. „Ich meine natürlich Chirurg“, verbesserte er sich, als er in das verdüsterte Gesicht seines Vaters sah.

„Hast du schon einmal bei einer Operation etwas assistieren dürfen?“, zeigte sich der Professor mit Namen Kevin interessiert.

„Nein, aber ich durfte zusehen. Ist wirklich sehr aufschlussreich, wie am Ende alles wieder zusammengeflickt wird“, antwortete er.

„Also wirklich Junge, drück’ dich doch bitte etwas ästhetischer aus“, rügte Kevin seinen Sohn.

„Das ist unsere Umgangssprache an der Universität, Dad“, verteidigte sich Brad.

„Stell dir mal vor, ich komme aus dem Operationssaal und sage zu der Frau meines Patienten: Guten Tag, ich bin der Knochenklempner ihres Mannes. Wir haben ihn eben zusammengeflickt. Ja, und gerade als wir den letzten Stich machten, da hat es ihn zerknietscht.“

Allgemeines Gelächter entstand am Frühstückstisch.

„Mensch, Papa, du beherrschst das voll krass“, staunte Brad.

„Vergiss nicht, mein Sohn, ich war auch mal in deinem Alter. Jedenfalls glaube ich, der Frau würden sich alle Haare aufstellen, wenn man mit ihr so sprechen würde. Sie müsste sich ja direkt in die Steinzeit zurückversetzt fühlen, wo die ersten Operationsversuche stattfanden“, ließ der Vater Brad wissen. „Da hört es sich doch viel besser an: Guten Tag, ich bin der Operateur ihres Mannes. Wir haben ihn erfolgreich operiert, nur leider muss ich Ihnen sagen, dass er kurz danach an einem Herzstillstand verstarb. Weißt du, mein Junge, in diesem Beruf muss man sich schon etwas gewählter ausdrücken. Wir sind doch schließlich nicht bei den Holzfällern.“

Christin wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augen. Hier kam man aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Gordons Bruder, wenn er auch ein hochangesehener Professor war, verstand es, seine Kinder zu erziehen und zu berichtigen, ohne sie grob zurechtzuweisen. Er tat das auf eine sehr humorvolle Weise. In dieser Familie musste man sich einfach wohl fühlen. Er und seine Frau Mary hatten ihre sechs Kinder alle im Griff, auf eine ganz besonders liebevolle Art.

„Ich gehe in die Forschung. Neue Medikamente zum Beispiel“, ließ sich Jim hören. „Vielleicht bin ja ich einmal der Erfinder des bahnbrechenden Medikamentes für Krebs.“

„Und ihr?“, wandte sich die Schwester neugierig an die Drillinge. So erfuhr sie, dass Kimberley Erzieherin, Angelina Kinderärztin und India Meeresbiologin werden wollten.

„Das sind sehr interessante Berufe, die ihr gewählt habt“, lobte sie.

„Bist du für deinen Patienten so etwas wie eine Privatschwester?“, wollte Angelina wissen.

„Nein“, lächelte die Ordensschwester. „Ich bin bei ihm, weil er an Leukämie erkrankt ist. Er hatte bereits das Endstadium erreicht, so dass er beinahe gestorben wäre. Doch eine neue Therapie rettete ihm das Leben. Weil er durch seine Rückenverletzung nur liegen kann, wurde ich als Pflegekraft weiter eingesetzt.“

„Was ist, wenn er wieder laufen kann und die Leukämie auf dem Rückzug ist?“, interessierte sich India.

„Dann werde ich zu einem anderen Krebspatienten geschickt“, antwortete Christin wahrheitsgemäß.

„Ist das nicht langweilig?“, überlegte Kimberley.

„Ganz und gar nicht. Krebs gibt es ja in vielen Variationen. Jede Pflege ist unterschiedlich. Einige Patienten überwinden die Krankheit, werden wieder gesund, aber manche sterben auch und meine Hilfe ist umsonst oder kommt vielleicht zu spät“, teilte sie den Drillingen mit.

In diesem Moment sprang ein großer, rot getigerter Kater auf Christins Schoss. Schnurrend schmeichelte er an ihrer Wange.

„Wer bist du denn?“, wollte sie wissen.

„Na, so etwas“, wunderte sich Mary. „Sonst versteckt er sich immer vor Fremden. Seht nur, wie er schmust. Das ist Harry unser Hauskater.“

„Ein hübsches Tier“, bestätigte die Schwester und streichelte ihn sanft. Mit Tieren, insbesondere mit Katzen besaß sie keinerlei Erfahrung. Im Kinderheim durften keine Tiere gehalten werden. Doch dieser Kater hier schien sie offensichtlich sehr zu mögen. Nach seiner ausgiebigen Schmusetour machte er es sich auf ihrem Schoss bequem. Er rollte sich zusammen und schloss seine Augen.

Die Kinder standen auf, verabschiedeten sich und verließen das Haus. Der Professor und die Schwester beendeten ihr Frühstück.

„Liest Ihr Patient gern?“, wandte sich der Arzt an Christin.

„Ja, sehr gern“, bestätigte sie.

„Hier, das können Sie ihm vorlesen, damit ihm nicht zu langweilig wird.“ Er drückte ihr ein Buch in die Hand mit dem Titel: „Der Schlüssel zum Himmel.“

Ein seltsamer Titel, dachte sie und steckte es in ihre Tasche.

Draußen vor dem Haus übergab der Professor Christin einen Umschlag, den er gerade aus dem Postkasten nahm. Anschließend fuhren sie zusammen zur Klinik. Brandon lag noch auf der Intensivstation. Die Schwester schlüpfte in den grünen Kittel und betrat das Zimmer. Brandon wandte seinen Kopf zur Seite, als sich die Tür öffnete und sah sie erstaunt an.

„Du siehst wunderschön aus. Kannst du dein Haar vielleicht immer so tragen?“, äußerte er sich anerkennend.

„Tut mir leid, nein. Das hier ist nur nötig wegen des Verbandes. Und noch eines: Bitte mache mir keine Komplimente mehr. Wir Nonnen sind das nicht gewöhnt“, enttäuschte sie ihn gleich zweimal.

Brandon schluckte trocken. Sie schien wieder meilenweit von ihm entfernt zu sein.

Christin nahm sich einen Stuhl, rückte ihn an Brandons Bett und holte das Buch hervor, um ihm daraus vorzulesen. Während sie das tat, strahlte die Sonne von hinten durch ein Fenster und ließ ihre kleinen Zauslöckchen an Stirn und Schläfen golden leuchten, obwohl sie dunkle Haare hatte. Dieses Bild, das sie abgab, war so bezaubernd, dass Brandon die Augen schließen musste vor so viel Schönheit. Ein Gefühl, wunderbar und doch auch quälend überkam ihn. Warum musste sie ausgerechnet eine Nonne sein? Und warum muss ich so krank sein, dass ich es nicht wagen darf ihr meine Liebe zu gestehen? Sie kommt mir vor, wie eine wundersame Rose mit sehr vielen spitzen Dornen. Er wandte sein Gesicht von ihr ab. Wenn er so nachdachte, verlief sein Leben bisher nicht allzu glücklich. Und so, wie es schien, in allernächster Zukunft wohl auch nicht.

Es klopfte und die Visite trat ein. Sie bestand aus einem Heer von sechs Ärzten, fünf Krankenschwestern und vier Pflegern.

Professor Spencer las den Nachtwachenbericht und kontrollierte die Infusionen sowie die Überwachungsgeräte.

„Wie fühlen Sie sich, Mr. Stonewall? Irgendwelche Schmerzen oder Beschwerden?“, erkundigte er sich.

„Nein, danke, mir geht es gut“, antwortete Brandon. „Beinahe schon sträflich gut.“

„Na, dann machen Sie doch ein fröhlicheres Gesicht, wo Sie so ein zauberhaftes Mädchen an ihrem Bett sitzen haben“, versuchte er seinen Patienten aufzuheitern.

„Ich habe heute Nacht nicht sehr viel geschlafen“, schob er als Begründung vor.

„Ja, das kann ich verstehen, mit so vielen Geräten und Elektroden am Körper. Das ist ungewohnt. Außerdem wird alle paar Minuten eine Pflegekraft hereingekommen sein, um die Infusionen zu überwachen und auszutauschen. Aber Sie haben ja heute am Tag viel Zeit diesen Schlaf nachzuholen“, lachte der Professor aufmunternd. Seinen Ärzten erklärte er, wegen was Mr. Stonewall in seiner Klinik lag. „Ein vorausgegangener Sturz von einer Treppe, der die Wirbelsäule verletzte zwang den Patienten ins Bett für viele Monate. Er hat außerdem eine sehr aggressive Leukämie. Nun, vorgestern Nacht fiel er aus dem Bett und verletzte sich erneut an der Wirbelsäule. Doch er konnte durch den Sturz auch seine Beine und Füße wieder fühlen. Schwester Christin tat das einzig Richtige in diesem Fall: Sie ließ ihren Patienten zu mir in die Klinik fliegen. Ich habe gestern die alte Verletzung und die neue behoben, indem ich ihm eine künstliche Bandscheibe und einen künstlichen Wirbelknochen eingesetzt habe, konnte jedoch noch nicht alles so stabilisieren, wie ich wollte, da der Patient instabil wurde während der Operation. Das heißt, ich muss ihn in ein paar Wochen nochmal einer Operation unterziehen. Ab diesem Moment heißt es dann eifrig laufen üben. Dann ist er so gut wie neu.“

Der Rattenschwanz von Visite verließ den Raum.

„Du kannst weiterlesen“, bat Brandon seine Pflegerin. „Wie heißt denn der Titel des Buches eigentlich?“

„Der Schlüssel zum Himmel“, teilte ihm Christin mit.

Er seufzte. „Ach, auch das noch“, seufzte er.

„Wie bitte?“ Die Pflegerin verstand nicht.

„Ist schon gut. Du kannst lesen“, forderte er sie erneut auf. Und wo ist mein Himmel, sowie der passende Schlüssel dazu? überlegte er.

Christin las ungefähr bis elf Uhr. Sie sah von ihrem Buch auf und bemerkte, dass Brandon eingeschlafen war. Sein Gesicht war gerötet und auf der Stirn bildeten sich kleine Schweißperlen. Auch sein dunkles Haar, inzwischen kräftig nachgewachsen, klebte an seinem Kopf. Christin las die Temperaturanzeige ab, die 39,8 anzeigte. Sie stand auf, legte das Buch zur Seite und ging hinaus auf den Flur, um eine Schwester zu suchen. Zum Glück traf sie den Oberarzt.

„Dr. Miller“, rief sie dem davoneilenden Arzt nach.

Er wandte sich ihr zu.

„Mr. Stonewall hat fast 40 Fieber und er schwitzt sehr stark“, berichtete sie ihm.

Auf der Stelle wechselte er die Richtung und begab sich sofort mit ihr zu Brandon. Er prüfte alle Anzeigen, konnte jedoch weiter nichts Auffälliges finden.

„Wissen Sie, nach so großen Operationen haben die Patienten oft Fieber und außerdem ist es hier drin auch noch sehr warm. Ich werde ihm zur Infektabwehr noch ein Antibiotikum geben“, informierte er sie.

Er ging ins Stationszimmer und es dauerte auch gar nicht lange, bis eine Intensivschwester kam und das Medikament in Form einer neuen Infusion bei Brandon anschloss.

Brandon schlief sehr tief. Von all dem bekam er nichts mit. Christin nahm ihre Tasche und holte den Brief hervor, den ihr der Professor am Morgen gegeben hatte. Sie blickte auf den Absender. Ein Brief aus dem Kloster. Woher weiß die Mutter Oberin in so kurzer Zeit wo ich mich im Moment aufhalte? Sie muss wohl Nachforschungen angestellt haben, überlegte sie. Plötzlich bekam sie ein ungutes Gefühl in der Magengrube. Mit zittrigen Fingern öffnete sie ihn. Es stand nur eine kurze Mitteilung darin.

Sehr geehrte Schwester Christin!

Ihr Patient hat das Schlimmste überstanden. Die Blutwerte sind gut. Er kann sich jetzt nach der Operation allein weiterhelfen, wenn er im Rollstuhl sitzt.

Hiermit beordere ich Sie bis spätestens Morgenmittag zurück ins Kloster Heilig Geist. Es warten bereits drei neue Patienten auf Sie.

Viele Grüße

Mutter Oberin

Schwarze Krähen - Boten des Todes

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