Читать книгу Denkwürdigkeiten aus meinem Leben - Caroline Pichler - Страница 4
ОглавлениеDem Ende einer langen Reise nahe, deren letztes Ziel undurchdringliche Wolkenschleier noch vor dem Blicke verbergen, steht der Wanderer atemholend still, überdenkt den weiten Raum, welchen er schon zurückgelegt, den kleinen Rest, welcher noch zu durchlaufen ist, erwartet diesen, er mag nun länger oder kürzer sein, vertrauensvoll aus Gottes Hand, und erlaubt sich, die einzelnen Punkte jener langen Bahn, vom Anfange her, so getreu es sein Gedächtnis gestattet, sich zurückzurufen. Manche Erinnerung wird ihn beschämen, einige werden ihn erfreuen, alle aber sollen dazu dienen, ihn zum Danke gegen die Vorsicht, die ihn mit väterlicher Huld geleitet, anzuregen, und dann den nächsten Lieben, welche er noch in Mitte ihrer Bahn zurückläßt, ein Andenken an den vorausgegangenen Waller zu werden.
Erwarte ja niemand in diesen Blättern merkwürdige Vorfälle, sonderbare Schicksale, oder hervorragende Punkte der allgemeinen Geschichte des Vaterlandes zu finden, an welche das Leben der einzelnen sich oft kettet und, von jenen mächtigen Fittichen getragen, der Erinnerung ferner Zeiten zueilt. Mein Leben war höchst einfach, und Gellerts Vers:
– er ward geboren,
Er lebte, nahm ein Weib, und starb;
umschreibt im eigentlichsten Sinne den ganzen Kreislauf meiner Schicksale. Diese Armut an jedem hochwichtigen Ereignisse, an jeder bedeutenden äußeren Bewegung ist mir nie lästig oder als eine Ungunst des Schicksals vorgekommen, vielmehr habe ich von jeher mein wahrstes Glück in der Stetigkeit und Gleichförmigkeit meiner Verhältnisse gefunden.
Darum auch können diese Blätter nicht leicht durch den Druck bekannt gemacht werden, denn erstens würde die Lesewelt, welche Unterhaltung und Aufregung sucht, von der Einfachheit der Erzählung ermüdet werden, und zweitens ist es der eigentliche Zweck dieser Schrift, wahr zu sein und meinen nächsten Geliebten zu zeigen, wie ich das geworden, was ich war, durch welche Einwirkungen, Umgebungen, Belehrungen, Irrtümer und Hindernisse mein Geist und Gemüt die Richtung erhalten haben, die ihnen jetzt eigen ist. Bei diesen Auseinandersetzungen müssen Personen, Bücher, Zeitumstände und vor allem Zeitgeister geschildert und deutlich gemacht werden, von denen aufrichtig und nach gerechter Würdigung zu reden, jetzt nicht mehr erlaubt ist. Ein Büchelchen, das die Zeiten Kaiser Josefs II. und der Begriffe, welche in jenem merkwürdigen Dezennium in Österreich gang und gäbe geworden sind, mit Wahrheit, wenn auch nicht mit durchgängiger Billigung erwähnen und die Wirkung schildern will, die jene Zeit auf ein junges, lebhaftes Gemüt ausübte, dessen geistige Entwicklung von 10 bis 20 Jahren gerade in jene Periode fiel, ein solches Buch darf keine Hoffnung nähren, wie harmlos es übrigens sein möge, jetzt in Österreich gedruckt zu werden. Auch ist mein Selbstbekenntnis zunächst nur für meine Familie bestimmt. Sollten bis zu meinem Tode die Umstände im Vaterlande sich ändern und wieder einige Gedanken und Preßfreiheit bis dahin in Österreich möglich sein, so steht es der Willkür meiner hinterlassenen Lieben frei, welchen Gebrauch sie von dieser Arbeit machen wollen, die ihnen gewidmet ist.
Noch eine Absicht habe ich mit dieser Wiederholung meines Lebens. Sie soll mir, und wenn sie andere lesen, auch diesen dienen, den Gang zu beobachten, welchen die göttliche Gnade mit einem irrenden Geschöpf genommen, um es durch unmerkliche und unzuberechnende Einwirkungen und Erleuchtungen allmählich von den Pfaden der Welt und des beginnenden Unglaubens zum Heil zurückzuführen. Je mehr ich diesen Fügungen nachsinne, je mehr erfüllen sie mich mit Dank gegen Gott und mit Verwunderung, wie ein schwacher Glaubensfunke sich inmitten einer ganz irreligiösen Zeit und Umgebung in mir erhalten, nach und nach an geringen und scheinbar zufälligen Ereignissen verstärken, entzünden, und allmählich zu einem wohltätigen Lichte erweitern konnte, welches nicht allein mein Inneres jetzt beglückend erleuchtet, sondern mit Gottes Hilfe auch den Rest meines Lebensweges erhellen und mir das dunkle Tal des Todes minder furchtbar machen soll.
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Wenn je eine Art von Ahnenstolz nicht bloß erlaubt, sondern geziemend ist, so ist es der auf die Tugenden, die Rechtlichkeit und nützlichen Leistungen seiner Voreltern und Eltern, und in dieser Hinsicht wird man es mir zugute halten, wenn ich am Eingange meines eigenen Lebenslaufes etwas weitläufiger von meinen Eltern spreche. Da es ohnehin die Bestimmung dieser Blätter hauptsächlich ist, zu zeigen, wie ich durch Umgebung, Umstände und eigene Anlagen die Bildung erhalten, die jetzt meine Persönlichkeit ausmacht, so stehen hier wie überall die Eltern billig obenan; denn ihre Denk- und Handlungsweise hat ja den ersten und bleibendsten Einfluß auf alles, was Kinder sind und werden.
Meines Vaters Eltern waren wohlhabende Personen des Mittelstandes. Der Großvater, der ein kräftiger, kluger Mann gewesen sein muß, liebte die Kunst, und verwendete den Überschuß seiner Einkünfte und seiner Muße (er war Beamter des Stadtmagistrats) auf eine Sammlung von gar nicht unbedeutenden Gemälden, der er in seinem eigenen Hause ein geziemendes Lokal baute und einrichtete, und die ich noch wohl gekannt habe. Einige der besten Stücke wurden später in die k.k. Bildergallerie verkauft, wo sie noch zu sehen sind. Dieser Großvater starb aber in der Blüte seiner Jahre, als mein Vater ein halberwachsener Knabe war, und die Witwe, eine rasche, tätige Frau, erzog den Sohn nun allein. Sie verstand Latein, und war überhaupt für jene Zeit gebildet genug, so daß auch des Sohnes vorzüglicher Geist sich unter ihrer Leitung glücklich entfalten konnte. Die Liebhaberei des Großvaters war in gewisser Hinsicht auf seinen Sohn übergegangen, nur daß sie bei dem lebhaften Gefühle meines Vaters sich noch reger und als ausübende Kunst entfaltete; denn er zeichnete und malte fast ohne alle Anleitung sehr artig. Zugleich erwachte der Geist der Poesie in ihm, und die Musik ward seine Lieblingsunterhaltung. So von allen schönen Künsten angezogen, mit ihren damaligen Leistungen vertraut, zeichnete er sich ebenfalls in seinen Studien aus, und gern hätten die Patres der Jesuiten, unter denen er, wie damals alle jungen Leute, studierte, und welche ihre Zöglinge sehr wohl zu würdigen verstanden, ihn beredet, in ihren Orden zu treten. Dazu aber bezeigte mein Vater keine Lust, das Leben lächelte ihm zu freundlich im Geleite der Musen, und im Besitz eines unabhängigen, wenn auch nicht großen Vermögens. Er studierte die Rechte, und wurde bei der Böhmischen Hofstelle angestellt, deren Chef, der damalige Oberstkanzler Graf Rudolf von Chotek, den eben so geschickten als sittlichen jungen Mann, den heitern, gebildeten Gesellschafter bald auszeichnete und mit vorzüglicher Achtung behandelte.
Von meiner Mutter Eltern weiß ich nur wenig. Ihr Vater war aus dem Hannoveranischen gebürtig und Offizier im k.k. Regiment Wolfenbüttel. Wahrscheinlich war seine Frau bei der Geburt dieses Kindes oder bald darnach gestorben. Meine Mutter hatte sie nie gesehen und erinnerte sich auch keines andern Geschwisters. Der Vater hatte das kleine, kaum fünfjährige Mädchen bei sich, zog mit ihm und dem Regimente – mühsam genug, wie man denken kann – auf ungarischen Dörfern umher, und kam zuletzt, da das Regiment in Wien Garnisonsdienste tun sollte, mit demselben nach Wien. Hier erkrankte er schwer und starb nach kurzer Zeit, das unmündige Kind unter lauter fremden Menschen, fremden Glaubens (denn mein Großvater war protestantisch), im fremden Lande zurücklassend. »Du armes Kind, was wird aus dir werden!« waren seine letzten schmerzlichen Worte zu der kleinen Charlotte (so hieß meine Mutter) gewesen, die sich ihrem kindischen Gedächtnis unauslöschlich eingeprägt hatten. Aber die Vatersorge und des Vaters Gebet hatte seinen Weg zu Gottes Thron gefunden, und der allgemeine Vater unser aller bewies sich auch als solcher an der verlassenen Waise. Er bereitete ihr auf wunderbare Weise ein Los, wie sie es bei Lebzeiten ihrer Eltern kaum hätte hoffen dürfen.
Eine Kammerdienerin oder Kammerfrau der verstorbenen, hochseligen Kaiserin Maria Theresia – Tochter Karls VI. – befand sich abends in einer Gesellschaft zu Wien, in welcher auch einer oder einige Offiziere des kürzlich eingerückten Infanterieregiments waren. Zufälligerweise kam die Rede auf dasselbe, und der eine Offizier sagte, daß sie bereits das Unglück gehabt, einen aus ihrer Zahl – den Oberleutnant Hieronymus – zu verlieren, und daß er nichts als ein fünfjähriges, ganz hilfloses Mädchen hinterlassen habe, für das einstweilen seine Kameraden Sorge tragen müßten.
Als die Kammerfrau abends ihre Gebieterin auskleiden half, und die gütige Monarchin sich herablassend nach den Tagesbegebenheiten ihrer Frauen erkundigte, erzählte jene das Gespräch mit dem Offizier von Wolfenbüttel1. Die Kaiserin hörte aufmerksam zu, ihr menschenfreundliches Herz wurde in Mitleid für das verlassene Kind gerührt: Ich will das Mädchen holen lassen, sagte sie, – sorgt dafür, daß sie mir gebracht werde.
Meine Mutter war im protestantischen Glauben geboren worden, dem auch die meisten Offiziere des Regiments zugetan waren. Der Befehl der Kaiserin ließ sie nichts anders erwarten, als daß das Kind, dessen sie sich annehmen wollte, in der katholischen Religion erzogen werden würde. Trotz der gerühmten Toleranz ihrer Konfession suchten sie aus allen Kräften dies zu verhindern, und verbargen das Mädchen mehrere Tage lang vor den Nachsuchungen, welche die Leute der Monarchin nach demselben anstellten. Endlich fand man es auf, in einem Hause einer Vorstadt Wiens; es wurde nach Hof gebracht, dort unter Aufsicht eines alten, aber sehr würdigen Fräuleins von spanischer Herkunft, Isabellas Düplessis, in den wenigen Fertigkeiten unterrichtet, die man dazumal von einem Mädchen forderte, und mit noch einigen Fräulein zum persönlichen Dienst bei der Kaiserin bestimmt.
Meiner Mutter ungewöhnlich lebhafter und durchdringender Geist fühlte bald die Schranken, welche die Beschränktheit ihrer Umgebungen demselben anlegte. Sie dürstete nach Kenntnissen, nach gründlichen Erklärungen der Dinge oder Begebenheiten, die sie um sich sah, und sie benutzte die Besuche einiger älterer, gebildeter Männer, welche in das Haus ihrer Erzieherin kamen, um von ihnen Antwort auf die Fragen zu erhalten, welche sich ihr während der Zeit aufgedrängt, und die sie sich deshalb aufzuschreiben pflegte. So strebte ihr Geist weit über ihre Lage, über ihre Gefährtinnen hinaus, und bildete sich meist aus sich selbst.
In diesem Alter war sie auch oft die Spielgefährtin der kaiserlichen Prinzessinnen und lernte in diesem ungezwungenen Beisammensein jene nahe und genau kennen, welche einst die ersten Throne Europas einzunehmen bestimmt waren. Etwas später, da man die ungewöhnlichen Fähigkeiten dieses Kindes beurteilen lernte, wurde sie zur künftigen Vorleserin der Kaiserin bestimmt, und zu dem Ende der Obersthofmeisterin Gräfin Fuchs (nach dem Brauch jener Zeit Gräfin Füchsin genannt) übergeben, bei welcher sie sich im Lesen von Druck- sowohl als Handschriften üben mußte.
Als sie ihr dreizehntes Jahr erreicht hatte, fand man sie geschickt und klug genug, um ihren nicht leichten Dienst anzutreten, und schon dies bürgt für ihre hohe Geisteskraft und Fähigkeit. Sie hatte in dieser Stelle teils mit andern Fräulein ihres Ranges, welche insgesamt den Titel kaiserlicher Kammerdienerinnen trugen, die Toilette und persönliche Bedienung ihrer Gebieterin zu besorgen, teils allein das Amt, der Regentin vorzulesen. Diese Lektüre bestand aber nicht in Romanen oder Unterhaltungsbüchern; es waren Geschäftsschriften, Berichte, Depeschen, kurz Staatsangelegenheiten, über welche die Monarchin selbst entschied, und in denen sie mit unermüdlicher Anstrengung täglich viele Stunden arbeitete, wobei meine Mutter ihr vorlas und überhaupt oft Sekretärsdienste verrichtete.
Natürlich waren wichtige Geheimnisse in den Händen des jungen Mädchens, aber ein frühreifer Geist, bei dem vielleicht die einsame Stellung, ohne Blutsverwandte, ohne Freunde, auf einer Höhe, die von vielen beneidet ward, noch die angeborne Urteilskraft vermehrte und den Beobachtungssinn schärfte, dieser wahrhaft männliche Geist gab meiner Mutter die Kraft, die Verschwiegenheit, die ganze würdige Haltung, welche ihr Platz forderte, und welche ihr das Vertrauen der Fürstin bis an deren Tod sicherte.
Maria Theresia führte ein äußerst tätiges und sehr regelmäßiges Leben. Um fünf Uhr im Sommer, im Winter wahrscheinlich später, stand sie täglich auf, und eine Klingel rief ihren Zofen. Es war Etikette, daß keine anders als frisiert, im seidenen Kleide (man kannte damals unsere Perkals, englische Leinwand usw. nicht), ja selbst im Reifrocke, der aber zum Negligée nur von kleinem Umfang war und Hanserl genannt wurde, vor der Fürstin erscheinen durfte. Dies machte sehr frühes Aufstehen auch den Kammerdienerinnen, wenigstens denen, welche für diesen Tag im Dienste waren, notwendig. Die Toilette der Kaiserin war der mühsamste, wie der unbelohnendste Teil des Dienstes, den meine Mutter zu versehen hatte. Da sie ihn aber mit ebensoviel Geschmack als Schnelle und Geschicklichkeit versah, so ward ihr die Pflicht, ihre Monarchin täglich zu frisieren, dahingegen die andern Fräulein im Dienste abwechselten und manchen Tag ganz frei hatten. Diese ganz freien Tage wurden auch meiner Mutter nach ihrer Tour, nur daß das Frisieren am Morgen und das Vorlesen auf die Nacht jeden Tag ihr ausschließendes Geschäft blieb, in welchem keine andere sie ablösen konnte, weil keine es so zu verrichten verstand wie sie.
Dieses Frisieren und die Verfertigung des Kopfputzes war denn aber auch für meine Mutter eine nur zu ergiebige Quelle von Verdruß und Kränkungen. Man kennt das Wort, welches über Elisabeth von England gesprochen wurde: »Selbst die größte Königin ist doch eine Frau.« Dieses Wort, obgleich Maria Theresia, ihren moralischen Eigenschaften nach, als Frau weit über Elisabeth stand, traf sie doch auch, und sie unterlag dem allgemeinen Los unsers Geschlechtes. Ihre Gestalt, die aber wirklich von höchster Schönheit war, und die Ausschmückung derselben durch vorteilhaften Putz beschäftigte sie etwas mehr, als man gemeinhin von einer Frau, die mit so vielem Geist, mit so viel männlichem Starkmut so weite Länderstrecken zu beherrschen verstand, hätte vermuten sollen. Nur muß man zur Steuer der Wahrheit hinzusetzen, daß diese Freude an ihrer Schönheit, und die Zeit, die sie ihr widmete, nie ihren wichtigeren Pflichten Eintrag tat; noch viel weniger aber Gefallsucht oder eine größere Aufmerksamkeit für das andere Geschlecht zur Quelle hatte. Maria Theresia stand in dieser Rücksicht fleckenlos vor ihrem Zeitalter, und, was noch weit mehr sagen will, auch vor ihrer Umgebung, ihren dienenden Frauen, im höchsten Glanz frommsittlicher Würde und ehelicher Treue da. Wie ein Mädchen aus den mittleren Ständen, bei denen mehr das Herz als eigennützige Rücksichten die Wahl des Gatten bestimmt, und man für sich und nicht für seine Väter liebt (wie Haller sagt), hatte sie den Gemahl gewählt, den schönen, liebenswürdigen Jüngling, der mit ihr erzogen worden oder sich doch während seiner Jugend am Hofe ihres Vaters aufgehalten hatte. Weder Landesmacht noch große Vorteile brachte ihr in politischer Hinsicht die Ehe mit dem Prinzen Franz von Lothringen, der später das Großherzogtum Toskana erhielt. Aber er und sein Bruder Karl lebten am Hofe Kaiser Karls VI., und seine zwei Töchter, Maria Theresia und Marianna, neigten sich in Liebe zu den beiden Brüdern. Theresia teilte den Thron ihrer reichen Erbstaaten mit Franz von Lothringen, und Marianna brachte ihrem Gemahl das Gouvernement der Niederlande. Nie hat Maria Theresia je einen andern Mann schön oder anziehend gefunden, und meine Mutter, eine Frau von so vielem Geiste, daß ich keine in dieser Rücksicht mit ihr zu vergleichen weiß, eine Frau, die in ihrer ganzen Denkart so weit von blindem Enthusiasmus als Schmeichelei und Schranzenwesen entfernt war, die die Fehler und Schwächen ihrer Gebieterin wohl sah und sehen mußte, weil sie dreizehn Jahre um sie lebte, hat in Rücksicht weiblicher Würde und ehelicher Treue Marien Theresien immer als das Vorbild ihres Geschlechtes gepriesen.
Ihre trübsten Stunden hatte meine Mutter also bei der Toilette der Kaiserin oder bei der Verfertigung ihres Putzes, denn dazumal wußte man nicht so viel von Marchandes de mode, und die Fräulein, welche die Monarchin bedienten, waren auch größtenteils ihre Putzmacherinnen. Oft – sehr oft mußte eine Haube vier- bis fünfmal anders gesteckt werden, bis sie nach dem Geschmacke der Gebieterin war, und wer diese Art von Arbeit zu beurteilen versteht, wird wissen, daß ein öfteres Auf- und Andersmachen der Sache gar nicht förderlich ist, ja meistens die Schönheit der Stoffe und des Zubehörs ganz zerstört. Ebenso ging es mit der Frisur. Auch an dieser zupfte, rupfte, änderte die hohe Frau so viel und so lange, bis sie verdorben war und neu gemacht werden mußte, was denn bei der damaligen Art des Haarputzes gemeiniglich dahin führte, daß der ganze Bau zerstört, die Haare ausgekämmt und nicht selten neu in Papilloten gewickelt und gekräuselt werden mußten. Daß die Gebieterin dabei übellaunig wurde, daß die Zofen das entgelten mußten, ist ebenso natürlich – und die Erinnerung an alle die trüben Stunden, welche Putz und Toilette ihr gemacht hatten, mag wohl schuld gewesen sein, daß meine Mutter selbst in den Jahren, wo sie noch wohl Freude daran hätte haben können, sich vorteilhaft und ihrer sehr niedlichen Figur gemäß anzuziehen, sich schon ganz matronenhaft, und, wie ich mich aus den Bildern meiner Kindheit wohl entsinne, beinahe altfränkisch kleidete. Auch auf mich hatten jene Erinnerungen Einfluß, denn ich mußte wie in allem, so besonders bei meiner Toilette sehr hurtig zu sein lernen, und es wurde mir für die damalige mühsame Art des Anzuges und der Frisur ungemein wenig Zeit gegönnt, um beides an mir zu bewerkstelligen.
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Eine viel minder verdrießliche, wenn gleich auch anstrengende Art des Dienstes, war das Vorlesen der Geschäftsschriften in den verschiedenen Sprachen, welche in den weiten Provinzen der Erbstaaten geredet wurden; deutsch, italienisch, französisch (in den Niederlanden) und lateinisch (in Ungarn). Da Französisch damals noch viel mehr als jetzt die Sprache der höhern Stände, ja der gebildeten Welt überhaupt war, so war sie denn auch an Maria Theresias Hof die herrschende, zumal da ihr Gemahl, Kaiser Franz I., als geborner Lothringer kaum Deutsch verstand und es nie sprach, auch seinetwegen viele Personen in den Hofdiensten Lothringer oder Niederländer waren. Meine Mutter hatte das Französische daher von ihrer Kindheit an wie eine zweite Muttersprache, ja wie ihre eigentliche gelernt und sprach und schrieb es mit gleicher Fertigkeit. Auch das Italienische war ihr geläufig. Damals wurde es überhaupt viel am Hofe und in Wien gesprochen, und der Dichter des Hofes war stets ein Italiener; früher unter Kaiser Leopold, Apostolo Zeno, später der hochberühmte Metastasio, eigentlich Trapassi genannt, den ich noch persönlich gekannt habe. Alle Schauspiele, welche dem Hofe zu Ehren oder bei feierlichen Gelegenheiten gegeben wurden, waren italienische Opern, an deren Schlusse jedesmal in einer kleinen Strophe, welche den Namen Licenza führte, ein Kompliment angebracht war, welches den Inhalt der Oper mit einer schmeichelhaften Anwendung auf die gegenwärtige Feierlichkeit verband.
Diese beiden Sprachen waren meiner Mutter also sehr geläufig, und sie redete sie wahrscheinlich zierlicher und korrekter als ihre Muttersprache; denn damals galt noch von den meisten Einwohnern Wiens in den höheren Ständen, was ein Dichter von sich sagt:
Ich spreche Wälsch wie Dante,
Wie Cicero Lateinisch,
Wie Pope und Thomson Englisch,
Wie Demosthenes Griechisch,
Wie Diderot Französisch
Und Deutsch – wie meine Amme.
Selbst die Kaiserin bediente sich des ganz gemeinen österreichischen Jargons, und folgende zwei Anekdoten, die ich oft aus dem Mund meiner seligen Mutter hörte, werden dienen, jene Zeit zu charakterisieren, von der ich spreche. Ein Fräulein aus Sachsen wurde als Kammerdienerin bei der Kaiserin angestellt, und meine Mutter, welche ihr damals schon mehrere Jahre gedient hatte, bekam den Auftrag, die Neue, so hieß jede Letzteingetretene unter den Fräulein, zum Dienst abzurichten. Das sächsische Fräulein nahm also in zweifelhaften Fällen immer ihre Zuflucht zu meiner Mutter, als ihrer Lehrerin. Eines Tages kam sie ganz verlegen und ängstlich zu ihr, und bat sie, ihr zu sagen, was sie zu tun habe. Ihre Majestät die Kaiserin habe das Blabe Buich verlangt. – Meine Mutter mußte lächeln, sie gab der Sächsin ein blaues Buch, in welchem die Kaiserin eben zu lesen pflegte, mit dem Bedeuten, es der Monarchin zu überreichen. Lange wollte die andere es nicht glauben, daß mit jener Bezeichnung ein blaues Buch gemeint sein sollte; – indes meine Mutter beharrte darauf, Fräulein M** übergab das Buch, und sieh! – es war das rechte. Diese Anekdote erklärt hinreichend, warum in den glänzenden Zirkeln Französisch oder Italienisch und nie Deutsch gesprochen wurde.
Kurz vor der Geburt einer ihrer jüngsten Prinzessinnen stritt die hochselige Kaiserin mit einem Grafen Dietrichstein scherzhaft darüber, ob das zu erwartende Kind ein Prinz oder eine Prinzessin sein würde. Der Graf behauptete das erste, die Kaiserin das zweite. Es wurde eine Wette eingegangen; – die Kaiserin behielt recht, das Kind war eine Erzherzogin, und Graf Dietrichstein mußte bezahlen. Da half er nun, im Geschmacke jener Zeit, sich mit einer sehr artigen Galanterie. Er ließ sein Bild in kniender Stellung von Porzellan verfertigen, und diese Gestalt reicht mit der einen Hand der Kaiserin ein Blatt, worauf folgende Verse Metastasios standen:
Perdo, è ver, l'augusta figlia
A pagar m'ha condannato,
Ma s'è ver che a te somiglia,
Tutto il mondo ha guadagnato.
Die ganze Idee, welche vermutlich von Metastasio herrührte, ist ebenso zart als schmeichelhaft, und macht seiner Erfindungskraft Ehre; dennoch kann man nicht umhin, wenn man sich jenes Geschenk lebhaft vergegenwärtigt, das porzellanene Figürchen, aller Wahrscheinlichkeit nach, weil es Porträt war, mit Staatskleid, Perücke und Degen, welches da kniend ein beschriebenes Blatt überreicht, komisch zu finden. Doch das Ganze zeigt den Geschmack und Ton jener Zeit, wo die schöne deutsche Literatur sich kaum mit ihren ersten Strahlen in Norddeutschland zu zeigen anfing, bis zu uns aber noch nicht gedrungen war, und alles, was las und Sinn für Bildung hatte, bloß französische oder italienische Literatur kannte.
Latein war die vierte Sprache, welche in den Geschäftspapieren, die meine Mutter ihrer Monarchin vorlesen mußte, vorkam. Die Kaiserin verstand sie vollkommen, redete sie vielleicht auch mit ihren ungarischen Magnaten und rief ihnen in diesen Akzenten jenen unvergeßlichen Tag zurück, an dem sie, von den Mächten von halb Europa bekriegt und mit dem Verlust aller ihrer, von eben jenen Mächten garantierten Staaten bedroht, die schöne, junge, unglückliche Fürstin, den königlichen Säugling auf dem Arm, auf dem Reichstag ihrer treuen Ungarn erschien, sie zum Beistand aufforderte, und solchen Enthusiasmus in ihnen erregte, daß Greise und Helden begeistert und gerührt die Säbel zogen, und einstimmig, alle für ihren König Maria Theresia zu sterben, schwuren. Gar gern erinnerte sich die große Frau jenes Tages, wo sie den dreifachen Triumph: der verfolgten Tugend, des rechtmäßigen Königtums und der Schönheit gefeiert hatte. Immer blieb sie der ungarischen Nation vorzüglich gewogen, und jener Anstrengungen, die sie damals machte, um ihr den Thron ihrer Väter zu erhalten, dankbar eingedenk.
In dieser Sprache nun (im Latein) gab die Kaiserin selbst meiner Mutter die notdürftigste Anleitung, damit diese ihr verständlich vorlesen konnte. Vieles begriff meine Mutter durch das verwandte Französisch und Italienisch, das übrige erklärte ihr, soweit es nötig war, ihre Gebieterin. So las sie denn derselben viele Stunden und Stunden, besonders abends und nach dem sehr mäßigen Nachtessen, welches die Kaiserin in ihren Zimmern allein zu sich nahm, die Geschäftspapiere ihrer verschiedenen Staaten vor. Diese Lektüre dauerte fort, nachdem die Monarchin sich schon entkleiden lassen und zu Bette gelegt hatte, und selbst dann noch, bis der Schlaf sie überwältigte. Dann erst bekam meine Mutter die Erlaubnis, sich zu entfernen.
Wohl umgaben Glanz und Herrlichkeiten meine Mutter in ihrer Jugend, aber ihr Dienst war, wie man aus dem obigen sieht, nichts weniger als leicht, und manche Angewöhnungen der Monarchin machten ihn noch beschwerlicher. So z.B. konnte diese, als eine große, starkgebaute Frau, gar keine Wärme vertragen, wie sie denn überhaupt, trotz ihrer hohen Geburt und des königlichen Glanzes, der schon ihre Wiege umgab, in Rücksicht ihres Körpers nichts weniger als weichlich oder in ihren Gelüsten fordernd war. Geheizt durfte bei ihr fast gar nicht werden, die Furcht vor Zugluft kannte sie nicht, sie wußte nicht, was ein Rheumatismus sei, und selbst im Winter stand oft ein Fenster neben ihrem Schreibtisch offen, durch das der Wind meiner Mutter den Schnee auf das Papier warf, aus welchem sie vorlas. Eine Anekdote mag zum Belege des hier Gesagten dienen. Die Kaiserin, welche wirklich fromm und eine Christin im edelsten Sinne des Wortes war, ging, solange es ihr körperliches Befinden erlaubte, jährlich mit der Frohnleichnamsprozession. An einem solchen Tage, als sie zu dem Ende von Schönbrunn nach der Stadt gefahren war, kam sie gegen Mittag, furchtbar erhitzt und ermüdet von dem heißen Juniustage, von der Schwere und Größe ihrer Person und dem langen, meist der Sonne ausgesetzten Gange durch die halbe Stadt, nach Schönbrunn zurück. Sie ließ sich sogleich ganz entkleiden – und setzte sich dann in der Mitte eines Kabinetts nieder, in welchem Fenster und Türen geöffnet werden mußten, mit nichts als einem Mieder, Rock und Pudermantel bekleidet, trank Limonade, aß Erdbeeren in Eis gekühlt und ließ sich von meiner Mutter die Haare auskämmen, die so naß waren, daß meine Mutter mehr als einmal ihre Hände trocknen mußte. Das alles schadete der kräftigen, noch immer blühenden Frau nicht im geringsten, aber es machte auch, daß sie sehr wenig Rücksicht auf Bedürfnisse oder Wünsche solcher Art bei ihrer dienenden Umgebung nahm, und Abhärtung, Nichtachtung seiner selbst und Unempfindlichkeit gegen schädliche Einwirkungen, welche sie, die kaiserliche Frau, besaß, bei dem dienenden Personale teils voraussetzte, teils forderte. Und so wie sie, hart gegen sich selbst, jede körperliche Verweichlichung oder Schwächlichkeit haßte, war ihr auch jede sittliche Schwäche und übergroße Weichheit zuwider. Ihrer eigenen Kraft und so mancher Gelegenheit sich bewußt, wo sie durch diese und durch ihren Mut sich aus gefährlichen Lagen gerissen und schwere Leiden mit Selbstverleugnung getragen hatte, forderte sie Ähnliches von ihren Umgebungen und mochte kein weinerliches Wesen und keine zu große Empfindlichkeit um sich leiden.
So bildete sich im steten Umgang mit dieser wahrhaft großen Frau, von ihrer Zufriedenheit oder ihrem Tadel geleitet, von ihrem Beispiele ermutigt, meiner Mutter von Natur kräftiger Geist und gesunder Körper auf eine Weise aus, der sie noch in ihren hohen Jahren zum Gegenstand der allgemeinen Achtung und des Erstaunens für viele machte. Bei einem schlanken, zierlichen Körperbau, von mittelmäßiger Größe, besaß meine Mutter eine ungewöhnliche Fülle von Lebenskraft und Gesundheit, welche wohl das Erzeugnis einer unverdorbenen Natur, einer abhärtenden Erziehung und ihrer eigenen Behutsamkeit und strengen Mäßigkeit war, so daß sie für den Einfluß der Witterung, der Zugluft, veränderter oder unverdaulicher Speise ganz und gar unempfindlich war, und bis in ein sehr hohes Alter, ihre Sehkraft ausgenommen, welche gegen das Ende ihres Lebens sehr schwach wurde, alle ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten unvermindert erhielt.
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Maria Theresia forderte viel von ihren Dienerinnen; doch umgab sie sie dafür auch mit Glanz, Wohlstand und Ansehen, wodurch die einzelnen sich nicht bloß geehrt und nach Maßgabe ihrer Denkart auch beglückt fühlten, sondern wodurch ihnen auch ein Begriff ihrer eigenen Würde eingeflößt wurde, der vielleicht besser als die strengsten Verhaltungsbefehle dazu diente, sie vor fremder Zudringlichkeit und eigener Vernachlässigung zu bewahren. Sie standen unter einer Art von häuslicher, ja mütterlicher Aufsicht, mußten es melden, wenn sie ausgehen wollten und bemerken, wohin; dann wurde ihnen eine Hofequipage zu diesem Behuf angespannt oder irgendeine angesehene Frau, die aber dazu eigens bei der Monarchin die Erlaubnis nachsuchen mußte, durfte das Fräulein in ihrer eigenen Equipage abholen und mußte sie auch wieder ebenso zurückführen. Auf andere Art oder in einem Fiaker war durchaus den Kammerdienerinnen nicht erlaubt, auf den Straßen zu erscheinen. In früherer Zeit wurden sie sogar mit sechs Pferden geführt, späterhin nur mit zweien. In Gesellschaften gebührte ihnen der Rang einer Hofrätin, und wenn keine solche gegenwärtig war, nahm das Fräulein vom Hofe vor den übrigen verheirateten Damen den Ehrenplatz auf dem Kanapee ein.
Ihren Tisch hatten sie vom Hofe, ihre Besoldungen waren mäßig, aber die Freigebigkeit der Monarchin, die vielen Teilungen ihrer Garderobe ersetzten ihnen das reichlich, und sie fanden bei Ordnungsliebe und Sparsamkeit stets die Mittel, sehr geschmackvoll und glänzend angezogen zu sein und doch etwas zurückzulegen. An den Tagen, an welchen sie den Dienst nicht hatten, war es ihnen auch vergönnt, auf ihren Zimmern Bekannte, selbst Männer, nicht bloß vom Hofe, sondern auch aus der Stadt, zu sehen, nur mußte die Kaiserin davon benachrichtigt und dies Personen von unbescholtenem Rufe sein.
Auf diese Art entspannen sich denn manche Bekanntschaften, und auch die mit meinem Vater. Es war in der traurigen Zeit des Siebenjährigen Krieges, als Schrecken, Angst und Siegesruhm so oft in Wien und in der kaiserlichen Burg wechselten. Wohl erinnere ich mich noch an ein paar Züge, welche meine Mutter mir aus jener Zeit erzählt hat. Als König Friedrich mit seinen glücklichen Waffen immer weiter vorwärts drang, bereits in Mähren stand und Olmütz zu belagern anfing, da war am kaiserlichen Hofe eben die Zeit gekommen, auf eines der Lustschlösser zu ziehen. Es wurde also in den Kammern gepackt und zur Landfahrt zugerüstet. Meine Mutter war an den Koffern beschäftigt, um die Garderobe und täglichen Bedürfnisse ihrer Gebieterin einzupacken. Eben vorher war die Schreckensnachricht von jener Belagerung gekommen. Ohne zu klagen, ohne sich weiter zu äußern, sagte die Monarchin, indem sie, durchs Zimmer gehend, die Reiseanstalten betrachtete, zu meiner Mutter: »Nimm etwas mehr mit, vielleicht gehen wir weiter«.
Der Kurier von der Schlacht bei Hochkirch traf am Theresiatage, den 15. Oktober, hier ein, abends ziemlich spät, als schon die Prinzen und Prinzessinnen des kaiserlichen Hofes sich nach der Cour und Assemblée bei der Monarchin in ihre Zimmer zurückgezogen und angefangen hatten, sich auszukleiden. Die frohe Siegesbotschaft wurde schnell von der Kaiserin in alle Kammern ihrer Kinder gesendet und wunderlich geputzt, – – jene Erzherzogin mit den Edelsteinen im Haare, aber im Nachtkleide, diese im Reifrocke und Galakleide mit zerstörter Frisur; Prinzen halb in Uniform, halb im Hausrocke, kamen sie eiligst wieder in den Zimmern ihrer erlauchten Mutter zusammen, um ihr, nach der Feier des Namenstages, noch zu der Feier des Sieges Glück zu wünschen.
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Während dieser und ähnlicher abwechselnden Szenen entspann sich das zärtliche Verhältnis meiner Eltern. Mein Vater hatte unterdes die Stelle eines Sekretärs bei der böhmisch-österreichischen Kanzlei erlangt, er durfte allerdings als Freier auftreten, aber ans Ziel seiner Wünsche zu gelangen, wollte ihm noch immer nicht gelingen. Schon sehr oft war die Hand meiner Mutter von glänzenden und auch von minder bedeutenden Freiern gesucht worden. Außer den persönlichen Annehmlichkeiten einer sehr zierlichen Gestalt, anmutiger Gebärden und eines ausgezeichneten Geistes, war auch die Aussicht auf besondere Gunst und Unterstützung von Seite der Monarchin, welche ihrer geschätzten Dienerin und Vorleserin, und um ihretwillen auch dem künftigen Gemahl nicht wohl fehlen konnte, ein Hauptreiz, welche Freier lockte. Aber sie alle, welche bei der Monarchin selbst, die in so vielem und würdigem Sinn Mutterstelle bei ihren Untergebenen vertrat, ihr Gesuch anbringen mußten, sahen sich bisher abgewiesen. Bei den meisten, ja fast bei allen, war meiner Mutter Herz gleichgültig geblieben. Nur einer, ein geborner Ungar, dessen Porträt sie noch lange Jahre nachher besaß, und dessen in Rousseaus Konfessionen als eines höchst interessanten und liebenswürdigen jungen Mannes erwähnt wird – hatte ihr Herz tiefer gerührt. Nicht bloß der Wille der Monarchin, auch ungünstige Verhältnisse in der Familie des jungen Ungars zerrissen das Bündnis. – Er starb bald darauf; meine Mutter gedachte seiner nie ohne Rührung. Bei meinem Vater, der ihre ganze Achtung und innige Neigung erworben hatte, fürchtete sie ebenfalls, die Einwilligung der Kaiserin nicht zu erhalten. Diese hatte gegen jede Verbindung, welche meine Mutter eingehen sollte, etwas einzuwenden. Freilich ist wohl kein Bündnis, kein Verhältnis in der Welt jedem Wunsche und jeder Forderung so ganz gemäß, daß sich nicht mit mehr oder minderem Anschein etwas dagegen aufbringen ließe. Bei der Monarchin aber mag wohl die Abneigung, sich von der so geschickten, so verschwiegenen und verständigen Dienerin zu trennen, deren Stelle nur schwer zu ersetzen gewesen sein würde, jenen abschlägigen Antworten zu Grunde gelegen haben. Meine Eltern mußten sich in Geduld fassen.
Im Jahre 1765 reiste der Hof nach Innsbruck, um die Vermählung des zweiten Prinzen, des nachmaligen Kaisers Leopold II., mit einer spanischen Prinzessin zu feiern. Für meine Mutter war diese Reise in ein gebirgiges Land eine ganz neue und sehr willkommene Begebenheit. Sie freute sich der ihr fremden, wilden Natur, und manches romantische Plätzchen, manche schöne Einsamkeit regte in ihrer, allmählich des Hoflebens müden Seele, den Wunsch auf, an einer solchen Stelle sich selbst und ihren geheimen Neigungen leben zu können. – Der Kaiser Franz, ein noch kräftiger, blühender Mann, fand für seine Wißbegierde und Liebe zur Altertumskunde viel interessanten Stoff an so vielen geschichtlichen und archäologischen Schätzen, welche Innsbruck, noch mehr aber das Bergschloß Ambras enthielt, woselbst sich damals noch die ganze merkwürdige Sammlung befand, welche dem Erzherzoge Ferdinand, dem Gemahl der schönen Welserin, ihr Entstehen verdankt und welche später, als Tirol auf kurze Zeit einer fremden Macht geräumt werden mußte (1805, hierher nach Wien transportiert und seitdem im k.k. Belvedere aufgestellt wurde.
Vorzüglich erfreute das Münz- und Antikenkabinett sich der Vorsorge und Aufmerksamkeit des Monarchen, der einen sehr tüchtigen und der ganzen Welt rühmlich bekannten Gelehrten, Herrn Duval, zum Vorsteher desselben ernannt hatte. Duval habe ich noch gekannt und erinnere mich des langen, hagern, alten Franzosen recht wohl, der meine Eltern öfters besuchte, von ihnen mit großer Achtung und Liebe behandelt wurde und gegen uns Kinder so freundlich war. Er war aber selbst im hohen Alter noch eine kindliche Natur, und er, der arme Hirtenknabe, der hinter seinen Schafen einhergehend und Bücher lesend, die er sich von seinem sauer ersparten Lohn kaufte, so von Kaiser Franzens Vater, dem Herzog von Lothringen, auf der Jagd gefunden, befragt und aufgenommen wurde, den der Herzog dann studieren ließ, weil er dessen ungemeine Fähigkeiten erkannte – behielt noch bis ins späte Alter die ungetrübte Heiterkeit des Geistes, die unerschöpfliche Gutmütigkeit seiner Kindheit und Jugend bei. Meine Mutter liebte er väterlich, nannte sie seine »Bibi« und unterzeichnete seine Briefe an sie immer mit dem, auf ein französisches Sprichwort (que 99 moutons et un Champagnard font 100 bêtes) gegründeten Ausdruck: le suplément des 99 moutons. – Er war aus der Champagne gebürtig.
Um diesem, seinem lieben Duval, nun auch eine Ausbeute von seiner Reise mitzubringen und das Wiener Münzkabinett zu bereichern, ließ sich Kaiser Franz die Schätze des Innsbrucker zeigen, und beschloß, die Dubletten desselben mitzunehmen und dafür von Wien zu senden, was dem Innsbrucker fehlte. Aber damit war der damalige Direktor des Kabinettes in Innsbruck nicht zufrieden (seinen Namen zu nennen, wäre unbescheiden, aber die Anekdoten sind zu hübsch, um vergessen zu werden). – Mit nichten, antwortete er dem Kaiser, ich habe die Münzen auf meinem Inventar, ich muß dafür haften. Vergebens suchte ihn der Kaiser auf den wissenschaftlichen Standpunkt zu stellen, von dem aus er einen solchen Tausch zu betrachten hätte – der gute Direktor hielt sich an sein Inventarium, bis endlich der Monarch, der merkte, mit welchem Manne er es zu tun habe, ihm vorschlug, die auszutauschenden Münzen zu wägen und dem Innsbrucker Münzkabinette indes so viele (neugeprägte) Dukaten dazulassen, als jene Goldgewicht hätten, bis sie durch die aus Wien zu sendenden ausgelöst werden würden. Das beruhigte den Direktor; er gab Goldgewicht für Goldgewicht und war nun überzeugt, seine Pflicht gegen die ihm anvertrauten Schätze vollkommen erfüllt zu haben. Eine zweite Antwort, die derselbe gelehrte Mann meiner Mutter gab, dient zum Beleg jener ersten. Im Antikenkabinett, welches die Fräulein der Kaiserin auch zu besehen gekommen waren, fiel meiner Mutter ein Stück auf, das ihr nicht echt, keine wirkliche Antike zu sein schien. Sie äußerte diesen Zweifel gegen den gelehrten Herrn Direktor. O, mein Fräulein! erwiderte dieser, dies Stück ist gewiß antik – ich bin nun schon vierzig Jahre in diesem Kabinett angestellt und habe es bereits vorgefunden.
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Das Beilager wurde gehalten, die Feierlichkeiten waren vorüber, der Hof dachte an seine Rückreise nach Wien, da ging am 18. August der Kaiser, von seinem ältesten Sohne, dem Erzherzog Josef, damals schon römischem König, abends aus seiner Loge im Theater, um in seine Gemächer zurückzukehren. Auf dem Gange hinter den Logen rührte ihn plötzlich ein Schlagfluß. Er sank in die Arme seines Sohnes und gab auf der Stelle seinen Geist auf. Dieser Sohn mußte der Überbringer der schrecklichen Nachricht an seine Mutter, an seinen Bruder sein, der einer Unpäßlichkeit wegen sich in seinen Zimmern gehalten hatte. Hier zeigte sich's, wie meine Mutter sagte, welche tiefe, innige Liebe Maria Theresia für ihren Gemahl hatte. Sie war ganz vernichtet, sie fand keine Tränen und ein krampfhaftes, gewaltsames Schluchzen, welches die ganze Nacht durch währte, erfüllte ihre Umgebung mit der lebhaftesten Sorge für die Gesundheit und das Leben der hohen Frau. Erst gegen Morgen, nach einer Aderlaß, welche der Arzt verordnete, brach ihr tiefer, großer Schmerz in erleichternde Tränen aus. – Eine ihrer ersten Handlungen aber war, meiner Mutter zu befehlen, daß sie ihr die Haare abschneide. – Von diesem Augenblicke an, als ihr Gemahl sich ihrer, trotz ihres reiferen Alters, noch immer großen Schönheit nicht mehr erfreuen konnte, freute auch sie sich ihrer Gestalt nicht mehr. Sie legte allen bunten Putz und alles Geschmeide ab, teilte ihre Garderobe unter ihre Frauen, ließ ihr Schlafzimmer mit grauer Seide ausschlagen, ihr einsames Lager mit grauen Vorhängen umgeben und zeigte so auch in ihrem Äußern, daß das Leben und die Welt für sie ihren Reiz verloren haben. An jedem 18. des Augusts, dem Todestage ihres Gatten, besuchte sie seine Grabstätte, schloß sich dann in ihr Zimmer ein, beichtete, fastete und brachte den Tag in schmerzlichen Erinnerungen und frommen Gebeten zu. Rührend ist das Grabmal, welches sie ihrem Gemahl nach seinem Tode und sich selbst im voraus in der kaiserlichen Gruft bei den Kapuzinern errichten ließ, und wo sie mit dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer Liebe, auf einer Art von Paradebette ruhend, vorgestellt ist. Die Wahrheit solcher Gefühle, welche allein ihren Wert ausmacht, zeigt sich am siegreichsten und überzeugendsten vor den nächsten und beständigen Umgebungen. Sind diese von der Wirklichkeit und Tiefe des Schmerzes überzeugt, so ist wohl kaum mehr daran zu zweifeln.
So steht Maria Theresia, welche als Regentin einen der ersten Plätze in der Reihe der großen Monarchen einnimmt, als Frau nicht minder groß und erhaben vor uns. Schön, wie wenige ihres Geschlechts, Erbin großer Staaten, liebenswürdige Frau, mit tausend Talenten, unter andern auch mit einer wunderlieblichen Stimme begabt, die sie im Gesange oft zur Freude des Hofes hören ließ – und dem ersten und einzigen Gegenstand ihrer jugendlichen Zärtlichkeit treu bis in den Tod. – Es war mir auch eine sehr werte und erfreuliche Erscheinung, diese Regentin von der Feder einer weiblichen und liebevollen Hand, der Mistreß Jameson in ihrem Buche: The Female Sovereigns, ganz nach ihrem wahren Wert erkannt und geschildert zu sehen, so daß sich ihr Bild weit über Katharina II. und sogar über Elisabeth von England erhebt.
Diese Treue und Liebe wird noch herrlicher, wenn man weiß, daß die erste bei weitem nicht in dem Maß vergolten wurde, in welchem sie es verdient hätte. Kaiser Franz hatte verschiedene Liebschaften, die man teils kannte, teils nicht. – Seine Gemahlin wußte wohl darum, sie zog die eine davon an ihren Spieltisch; – sie litt dadurch, aber sie liebte den Wankelmütigen nichtsdestoweniger mit gleicher Glut bis an seinen Tod. Ein Wort, das sie einst zu meiner Mutter sprach, mag wohl aus der tiefen, innern Überzeugung entstanden sein, daß ihres Gemahls Standpunkt und Verhältnis zu ihr und seinen Staaten nicht das eigentlich rechte und vielleicht die Quelle manches Mißtones zwischen ihnen war. »Laß dich warnen,« sagte sie einst, »und heirate ja nie einen Mann, der nichts zu tun hat«.
War es, daß die Haare der Monarchin den Manen ihres Gemahls und ihrem Schmerz zum Opfer gefallen waren und ihre Toilette nicht mehr so viel Sorgfalt erforderte; war es die eigene Vereinsamung, die ihr Herz für das Traurige eines solchen Geschickes bei andern empfindlicher machte – kurz, noch während des Trauerjahres erhielt meine Mutter die Erlaubnis, mit ihrer Hand zu schalten, und mein Vater erreichte das Ziel seiner heißen und lange genährten Wünsche. Als meine Mutter ihren Bräutigam der Monarchin vorstellte, war diese erstaunt, in meinem Vater einen zwar noch jungen (er zählte 35 Jahre, meine Mutter 26), aber sehr gesetzten, einfachen und wahrhaft deutschen Mann zu finden. Ich glaubte immer, äußerte sie hernach zu meiner Mutter, du würdest dir so einen galanten Herrn, einen Chevalier aussuchen. – Demnach gewann dieser einfache Mann späterhin durch seine erkannte Rechtlichkeit, seinen Diensteifer und seine vorzüglichen Geistesgaben die ausgezeichnete Huld seiner Monarchin, wovon diese Blätter unzweifelhafte Proben aufzeigen werden.
Die Heirat meiner Mutter war also beschlossen und wurde mit aller, damals am Hofe üblichen Feierlichkeit vollzogen. Die Verlöbnisse bestanden damals noch; – jenes meiner Mutter wurde acht Tage vor der Trauung gehalten. – Während dieser Zeit legte sie die Trauer ab, welche sie mit dem ganzen Hof noch um den verstorbenen Kaiser trug, und ging bunt. Am Tage der Hochzeit mußte sie sich in ihrem Brautstaat vor der Kaiserin zeigen, welche zu dem eigenen, nicht unbedeutenden Geschmeide, womit meine Mutter geschmückt war, einige Geschenke fügte und ihr dann noch eine Perlenschnur von unschätzbarem Werte um den Hals band, die jedoch die Braut nach der Feierlichkeit der Trauung wieder zurückgeben mußte, da sie unter das Geschmeide der k.k. Schatzkammer gehörte und nur bei solchen Gelegenheiten gebraucht wurde. In der sogenannten Kammerkapelle wurde die Zeremonie vollzogen, die Obersthofmeisterin der Kaiserin führte als Brautmutter die Braut an den Altar und nahm während der Trauung in einem Betstuhl Platz. Als der Geistliche an die Stelle kam, wo er die Braut auffordert, das ja auszusprechen, mußte diese (so gebot es die Etikette), ehe sie antwortete, sich mit einer Verneigung gegen die Obersthofmeisterin wenden, sie gleichsam um die Erlaubnis dazu ersuchen. – Die Obersthofmeisterin erhob sich, drehte sich gegen das Oratorium, in welchem sich die Monarchin befand, und wiederholte die Verbeugung und die stumme Anfrage. Hierauf nickte die Kaiserin bejahend, die Obersthofmeisterin überlieferte durch ein ebensolches Zeichen die Einwilligung der, Mutterstelle vertretenden, hohen Frau, die Braut verbeugte sich dankbar, wendete sich dann gegen den Priester und sprach ihr Ja aus.
Nach der Trauung folgte meine Mutter ihrem Gemahl in sein Haus, wo indes seine Mutter, bei welcher er wohnte, alle Anstalten zur Mittagstafel und Bewirtung der Hochzeitsgäste getroffen hatte; – und dann ihrer Schnur die Führung des ganzen Hauswesens übergab.
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Hier begann nun für meine Mutter eine ganz neue Lebensweise, ja, sie fand sich eigentlich in einer neuen Welt, nicht bloß durch den bedeutenden Unterschied, den die Verheiratung in das Leben jedes Mädchens bringt, sondern hauptsächlich dadurch, daß sie sich plötzlich aus den glänzenden, geräuschvollen Räumen eines der ersten Höfe Europas und aus der unmittelbaren Nähe einer regierenden Monarchin in die Stille und Dunkelheit einer wohlhabenden, aber im Vergleich mit ihren frühern Gewohnheiten doch sehr beschränkten Haushaltung versetzt sah. Dennoch scheint dies so sehr mit den geheimen und lange genährten Wünschen ihres Herzens übereingestimmt zu haben, daß ich sie nicht allein dieser Epoche nie mit Trauer oder düsterer Erinnerung erwähnen hörte, wie man sonst wohl später sich an trübverlebte Stunden erinnert, sondern sie vielmehr mit Freude von dem Zeitpunkte sprach, wo sie endlich einer glänzenden und von vielen beneideten Sklaverei los ward und sich selbst angehören durfte. Es scheint, habe ich oben gesagt, denn ich war natürlicherweise keine Zeugin jener ersten Jahre der Verheiratung meiner Eltern, indem ich nicht einmal ihr erstes Kind war, und wie ich in die Jahre trat, wo Kinder etwas bemerken und beurteilen können, umgab meine Eltern schon wieder ein großer Glanz und eine Bemerktheit, welche meiner Mutter, wenn sie unmittelbar auf ihre Vermählung gefolgt wären, den Unterschied zwischen ihrem Hof-und häuslichen Leben weniger hätten fühlen lassen müssen.
Ich erblickte das Licht der Welt in einem Jahre mit dem merkwürdigsten Manne unserer Zeit, mit Napoleon, und um drei Wochen später als er. Oft hatte mir meine Mutter in frühern Jahren erzählt, daß damals (1769 ein sehr heißer Sommer gewesen und ein Komet am Himmel gestanden habe, den sie in den warmen Sommernächten, wo ihr beschwerlicher Zustand (sie trug Zwillinge) ihr wenig zu schlafen erlaubte, oft betrachtete. Späterhin erinnerte ich mich dieses Umstandes, und daß dieser Komet, wenn man ja zwischen der Erscheinung dieser himmlischen Körper und unsern irdischen Angelegenheiten einen Zusammenhang annehmen will, gar wohl auf die Geburt jenes furchtbaren Helden gedeutet werden könne. – Meine Mutter hatte, ganz gegen die damalige Sitte der Frauen in ansehnlicheren Familien, beschlossen, ihre Kinder selbst zu nähren und in jedem Sinne ihre Mutterpflichten zu erfüllen. Den ältesten Sohn hatte sie bereits gestillt und sich sehr wohl dabei befunden. Jetzt, wo sie und jedermann glaubte, daß sie zwei Kinder auf einmal haben würde, hatte sie Lust und fühlte sich stark genug, beide zu nähren. Sie kam stets viel nach Hofe und sah oft ihre kaiserliche Gebieterin, diese aber, die ihre ehemalige Dienerin noch immer mit huldreicher Sorgfalt betrachtete, verbot ihr ausdrücklich, mehr als ein Kind zugleich zu stillen, und so überließ meine Mutter die Wahl, welche ihr schwer gewesen sein würde, der Vorsicht, indem sie beschloß, das Erstgeborne selbst zu tränken. Das war nun zu meinem Glücke ich, und obwohl ich, wie man mir später erzählte, so klein und schwach auf die Welt kam, daß man, an meinem Leben verzweifelnd, mir die Nottaufe gab, so gedieh ich doch an meiner Mutter Brust zu einer solchen Fülle von Kraft und Gesundheit, daß ich noch bis jetzt, bereits eine Siebzigerin, von keiner eigentlichen Krankheit weiß und nie, selbst nicht im Wochenbette, länger als 6–7 Tage hintereinander im Bette bleiben mußte. Kein chirurgisches Instrument, nicht einmal eine Lanzette zum Aderlassen, hat meinen Leib berührt, und ich kann, kleine Unpäßlichkeiten und eine außerordentliche Reizbarkeit der Nerven und der Organisation überhaupt ausgenommen, welche sich in spätern Jahren offenbarte und mir große Behutsamkeit und Mäßigkeit zur Pflicht macht, sagen, daß ich stets vollkommen gesund war.
Mein Zwillingsbruder, ein starker, schöner Knabe, bekam eine Amme und starb noch vor dem ersten Jahre; denn die Amme wurde krank und verschwieg es. Auch mein älterer Bruder muß nicht lange nach meinem Erscheinen im elterlichen Hause gestorben sein, denn ich erinnere mich seiner durchaus nicht, obwohl mein Bewußtsein in einzelnen Bildern bis an mein drittes Lebensjahr reicht. Damals lebten jene zwei Kinder nicht mehr, aber ein viertes, auch ein Knabe, Franz Xav. mit Namen, wuchs neben mir empor. Ich wußte später, daß er um drei Jahre jünger sei als ich, und ich erinnere mich wohl, ihn noch auf dem Arm der Wärterin gesehen zu haben. Zwei Szenen aus jener frühen Zeit stehen auch noch einzeln vor mir und haben sich wie dämmernde Punkte in einer dunkeln Vergangenheit erhalten. Eines Morgens, es war ein Sonnabend, saß ich in meiner Eltern Schlafzimmer auf einem Schemelchen zu meiner Mutter Füßen, als mein Vater eintrat und ihr seine Erhebung zur Hofratsstelle ankündigte. Gewiß war dies Ereignis meinen Eltern sehr wichtig, und die Bewegungen, welche es im Hause verursacht haben mag, werden die Ursache sein, warum eine Veränderung unserer Lage, mit der ich damals, im 3. bis 4. Lebensjahre, gar keinen Begriff verbinden konnte, so bleibenden Eindruck auf mich gemacht hat. Das zweite Ereignis war verschiedener Art. – Ich stand im Zimmer meiner Großmutter, welche das Haus bewohnte, das an das unsrige stieß, und deren Wohnung, weil beide Häuser ihr eigentümlich gehörten, durch eine Kommunikationstüre mit der unsrigen zusammenhing; – da trat der Bediente mit erschrockener Miene in das Zimmer der alten Frau (ich sehe sein Gesicht noch, er diente meinem Vater noch viele Jahre darnach) und erzählte, daß er eben von den »obern Jesuiten« käme: Da sieht es aus! rief der alte Jakob, die Aufhebung ist da, die kaiserlichen Kommissarien sind eben gekommen. Diese Nachricht war nun freilich für meine Großmutter, wie für sehr viele Menschen in jener Zeit, ein Donnerschlag; sie hatte einen Jesuiten zum Beichtvater, war überhaupt eine sehr fromme Frau und nach den Begriffen jener Zeit der Geistlichkeit sehr ergeben. Auch bei dieser Begebenheit muß das Betragen der Umstehenden den Eindruck auf mich gemacht haben, den eine Nachricht an sich nicht hätte hervorbringen können, von deren Wichtigkeit ich nichts verstand – und diese Szene wie die vorhergehende meinem Gedächtnis eingeprägt haben.
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Ich war ein sehr lebhaftes, munteres Kind – oft wurde mir gesagt, daß ich besser zum Knaben getaugt hätte, und ich erinnere mich mancher Ermahnungen, mancher beschämenden Auftritte, wo diese unbesorgte Lebhaftigkeit mich zu Übereilungen hingerissen oder zu einem Betragen getrieben hatte, das für ein Mädchen viel zu wild und entschieden war. Drei Jahre voraus und jene natürliche Unstetigkeit und Heftigkeit gaben mir lange Zeit ein großes Übergewicht über den jüngern und sanftern Bruder. Ich lernte leicht, faßte schnell, hatte ein vortreffliches Gedächtnis, lauter Naturgaben, um die ich kein Verdienst hatte – an welchen ich aber meinen Bruder übertraf, der mit einem, wie es sich später wohl zeigte, viel richtigerm Verstande eine etwas langsamere Fassungskraft verband. Mir ward jene Leichtigkeit oft schädlich. – Ich lernte höchst ungern. – Auf einem Stuhle sitzen, acht geben und mit einerlei Gegenstand mich beschäftigen, das alles waren mir unerträgliche Dinge. So benützte ich jene Fassungskraft und mein gutes Gedächtnis, nahm mein Spielzeug oder ein Märchenbuch mit zur Lektion, hörte, während ich spielte oder las, mit halbem Ohr auf das, was der Lehrer erklärte und fertigte ihn, wenn er mir meine sehr ungehörige Spiellust verweisen oder die Gerätschaften derselben wegnehmen wollte, damit ab, daß ich ihm genau wiederholte, was er soeben gesprochen und auf diese Art meine Lektion doch zu wissen schien. – Freilich war es nur ein Schein und kein rechtes Erkennen, ich hatte es aber einmal dahin gebracht, beim Lernen spielen zu dürfen und ließ mir dies Vorrecht nicht nehmen. Noch erinnere ich mich eines Verses – des ersten, den ich in meinem Leben gemacht, den meine Ungeduld bei der Lehrstunde mir eingegeben. – – Die Stunde war von 12–1 Uhr, und meine Sehnsucht und Aufmerksamkeit viel mehr auf die Uhr als auf das Lernen gerichtet. – In dieser Stimmung setzte ich mir folgende Reime im Geiste zusammen:
Ührchen, Ührchen, geh' geschwind,
Mach', daß bald der Sand verrinnt,
Laß den Sand verrinnen,
Laß Ein Uhr beginnen,
Ührchen, Ührchen, geh' geschwind.
Doch nicht bei jedem meiner Lehrer ging dies mutwillige Spiel an. Ich hatte deren einige, welche auch sonst noch in der Welt, besonders der literarischen, ausgezeichnet waren, und ich freue mich jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert ungefähr, von diesen Männern sprechen und ihnen meinen Dank bezeigen zu können. Als ich mein sechstes Jahr erreicht hatte, wurde ich, zum Unterricht in der Religion, der Leitung des damaligen Katecheten an der Normalschule, Josef Gall2, übergeben, der späterhin Pfarrer, dann Domherr, Oberaufseher der Schulen und endlich im Jahre 1788 Bischof in Linz wurde. Noch jetzt lebt das Andenken dieses, als Mensch, Priester, Pädagog und Kirchenoberhaupt gleich würdigen Mannes, in vielen Herzen, besonders der Oberösterreicher, welche unter seinem Hirtenamte ihre Schulen ungemein verbessert, die Pfarreien mit würdigen Männern besetzt und im ganzen Lande, dessen einzelne Teile der wahrhaft apostolische Bischof abwechselnd jährlich in den Visitationen durchreiste, echte Gottesfurcht und Sittlichkeit verbreitet sahen. Dieser vortreffliche Mann war mein Lehrer in der Religion, zu welchem Unterrichte er späterhin den in der Naturgeschichte und Naturlehre fügte, zwei Zweige der Belehrung, die für ein gottesfürchtiges wie für ein kindliches Gemüt sich gar wohl und erbauend an den Religionsunterricht schließen lassen, was denn Gall auch tat. Bei seinen Lektionen war keine Rede von Spielerei, und doch war er nichts weniger als streng, vielmehr heiter, gelassen und überaus gütig gegen seine Untergebenen, denen er bald mit Erzählung interessanter Geschichten oder natürlicher Erscheinungen oder mit dem Geschenke eines nützlichen Buches Freude zu machen und überhaupt ihre Liebe und Ehrfurcht in gleichem Grade zu erwerben wußte.
Ein zweiter, ebenfalls nicht unberühmter Mann war mein Klaviermeister Steffann, ein Böhme von Geburt, der ebenfalls in dieser Eigenschaft als Klavierlehrer früher die kaiserlichen Prinzen und Prinzessinnen unterrichtet hatte. Steffann komponierte mit Glück, seine drei Sammlungen von deutschen Liedern machten damals (vor 50–52 Jahren) Epoche und brachen dem einfachen deutschen Gesange so zusagen eine neue Bahn. Steffann war ein humoristischer, ganz eigener Mensch, der zu den Wunderlichkeiten, welche bei Künstlern und besonders Musikern gewöhnlich sind, noch einige besondere fügte. Aber er verstand seine Kunst gründlich und hatte einen unerschöpflichen Fond von guter Laune. So imponierte er mir nicht durch sittliche Würde wie Gall, aber er flößte mir Achtung ein und wußte durch Güte und Ernst, durch Späße und Verweise meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Mir fiel es nicht ein, zu spielen oder etwas anderes zu sinnen, solange die Lektion dauerte, und ich galt auch bald für eine seiner besten Schülerinnen, obgleich Musik eigentlich meinem Geiste nicht zusagte, der sich mehr in klaren Vorstellungen als in unbestimmten Anregungen gefiel und dessen Anlagen und Natur mich von jeher die Malerei der Musik hatten vorziehen lassen.
Ich bekam auch Unterricht im Zeichnen, aber hier war die Wahl meines Lehrers nicht glücklich. Der Mann war unstreitig sehr geschickt in seinem Fache, welches Baukunst und Blumenzeichnung war, beides aber, besonders das erste, sprach mich ganz und gar nicht an. Dieses Handhaben des Zirkels und Lineals, diese Unausweichbarkeit der Formen, diese Beschränkung aller Phantasie und Willkür war meinem überaus unsteten, lebhaften Wesen entgegen. Besser freuten mich die Blumen; hier war der Erfindung, der Freiheit zu ändern, doch einiger Raum gegönnt; aber mich hätte die Landschaftszeichnung am meisten angezogen, und diese verstand mein Lehrer nicht, und die Anleitung, welche er mir nach Büchern geben wollte, schlug nicht an; denn sie war nicht lebendig und wahr.
Späterhin wurde es mir klar, warum dieser Unterricht und dieser Meister gewählt worden waren. – Meine Eltern und einige verständige Freunde derselben, denen meine zweckmäßige Ausbildung am Herzen lag, fanden, daß mein allzu lebhafter und unsteter Geist, sowie meine Phantasie, welche schon die Schwingen zu regen begann, des Zaums und Gegengewichts einer ernsten, zu gründlichem Denken und anhaltender Aufmerksamkeit führenden Beschäftigung bedürfe. Jener Lehrer war zugleich auch Professor der Mathematik. Er sollte mich nebst dem Zeichnen nach seiner Art auch Geometrie lehren; – nicht damit ich einst Mathematik verstehen und damit prunken könne, sondern damit ich richtig denken, schließen und die schwärmende Einbildungskraft zügeln lerne. Daß dieser Unterricht nicht nach meinem Geschmacke war, wird man nach dem Vorhergehenden wohl leicht ermessen; indessen war er mir doch heilsam, und erleichterte mir späterhin das Begreifen, sowie das Durchdringen und Ordnen manches schwerer verständlichen Buches oder Vortrags.
Es wird hier passend sein, etwas von den Freunden, welche das Haus meiner Eltern besuchten, sowie von der innern Einrichtung dieses Hauses und seinen äußeren Verhältnissen zu sagen, weil alles dies unmerklichen, aber steten und daher bedeutenden Einfluß auf die Bildung und Richtung meines Innern hatte.
Meines Vaters ausgezeichnete Geistesgaben, seine strenge Redlichkeit, sein Eifer, sein unermüdeter Fleiß hatten bald nach seiner Verheiratung die Aufmerksamkeit der Monarchin auf den Gemahl ihrer Vorleserin, der zugleich einer der tüchtigsten Beamten war, gelenkt. Sie erhob ihn zur Stelle eines Hofrates und geheimen Referendars, schenkte ihm viel Vertrauen, sah ihn oft, ließ sich von ihm in Privataudienzen wichtige Dinge vortragen und hörte seine Meinung, seinen Rat, zuweilen auch, wenn es die Umstände geboten, seinen Widerspruch mit Zutrauen und Geduld. Noch besitzen wir in unserer Familie einen Schatz von einzelnen Blättern, auf welchen von meines Vaters Hand Vorträge, Anfragen, Gutachten geschrieben sind, wie er sie der Monarchin vorlegen mußte und auf welche sie dann eigenhändig eine Antwort, Entscheidung, Entschließung usw. schrieb. Sie stellen ein Verhältnis des Staatsbeamten zu seiner Monarchin, und zugleich des innigstergebenen Dieners und Freundes zu seiner huldreichen Fürstin dar, das ebenso würdig als zart, ebenso rührend als erhebend ist und wovon ich im Verlauf einige Proben geben werde, welche gewiß dazu beitragen, den Charakter der großen Maria Theresia in seinem schönsten Lichte zu zeigen.
Diese Gunst der Monarchin verbreitete einen bedeutenden Glanz über unser Haus, welches durch die (für jene Zeit) beträchtliche Besoldung eines kaiserlichen Hofrates und das eigene Vermögen meines Vaters auf einem sehr hübschen Fuß eingerichtet war. Damals genossen die kaiserlichen Beamten, welche bei Hofstellen dienten, noch der sehr wichtigen Wohltat der freien oder Hofquartiere. So wie mein Vater also Hofrat ward, konnte er auch Anspruch auf eine freie Wohnung machen, da ihm ohnedies die in seinem eigenen oder seiner Mutter Haus »im tiefen Graben« zu klein geworden war. Es war wahrscheinlich 1775 oder 1776, daß wir die Wohnung, in der meine Geschwister und ich geboren worden, gegen eine stattlichere und viel geräumigere im Hause zum großen Christoph vertauschten, welches jetzt freilich ein ganz anderes Ansehen hat als damals, wo es, nur einen Stock hoch, mit eisernen Gittern vor allen Fenstern, einem hölzernen Kommunikationsgang im Hofe, einer freien, unbedeckten Treppe usw. im Äußern und Innern einer alten Schloßruine ähnlicher sah als einem Wohnhause in Wien. Doch der Zimmer waren viel, sie waren hoch, groß und stattlich, und damals hatte man von vielen Bequemlichkeiten und Bedürfnissen, die jetzt in jeder Wohnung gefordert werden, keinen Begriff. Auch waren die Menschen stärker und gesünder. Luftzug, kalte Gänge, die zu passieren waren, Fenster oder Türen, die nicht allzu wohl schlossen, hier und da eine feuchte Wand usw. wurden nicht geachtet und, weil sie keinen schädlichen Einfluß hatten, kaum bemerkt. Ich weiß, daß meine Eltern ganz zufrieden mit ihrer Wohnung waren. Die großen Zimmer, welche Sälen glichen, boten ihnen ein gewünschtes Lokal für die Bildersammlung meines Großvaters und für die zahlreichen Gesellschaften, welche sich in unserm Hause zu versammeln anfingen. Hier wurde ein Theater errichtet, worauf wir Kinder kleine französische Stücke: Zeneïde ou la fée und L'isle déserte, nebst einer kleinen deutschen Idylle aufführten, welche Herr von Ratschky (wenn ich nicht irre) nach dem Programm des niedlichen Noverreschen Ballettes: Blanc et rose geschrieben. In allen diesen Stücken wurden mir die muntern, mutwilligen Rollen zugeteilt; – es war mir damals nicht möglich, tiefe oder warme Empfindung zu zeigen, so wenig als später, als wir dreizehn, vierzehn Jahre darauf ebenfalls diese Art geselliger Unterhaltung versuchten.
Auch große Musiken wurden gegeben, und obwohl ich ein ganz winziges Geschöpf von etwa 7–8 Jahren war, ließ mein Vater mich doch kleine Konzerte, die mein Klaviermeister Steffann eigens für mich komponierte, mit vollem Orchester produzieren. Natürlich wurde das Kind, die Tochter vom Hause, beklatscht, belobt, bewundert, und ich hielt mich bald für eine bedeutende Künstlerin.
Um diese Zeit erregte eine Erscheinung, welche sich auch später, und in unsern Tagen oft wiederholt hat, das erstemal ungeheures Aufsehen in Wien. Es war dies der Magnetismus oder eigentlich Mesmerismus; denn Dr. Mesmer war es, der, damals ein schöner, kräftiger, junger Mann (die meisten Magnetiseure, die ich kennen gelernt, vereinten diese Eigenschaften) seine Kunst durch die Wiederherstellung des Augenlichts bei dem blinden Fräulein von Paradis zeigen wollte. Fräulein Therese von Paradis war damals ein Mädchen von 17–18 Jahren, nicht hübsch, aber voll Geist, Herzensgüte und Talent, besonders für Musik, was denn, mit ihrem Unglück zusammengenommen, ihr eine sehr anziehende Persönlichkeit gab, und ihr auch noch in späteren Jahren die Achtung und Liebe aller derjenigen erwarb, welche zu dem engeren Kreise ihrer Freunde gehörten, und unter welche auch ich mich zählen durfte.
Damals war ich ein Kind, und auf keine Weise ihrer Bemerkung wert; auch lernte ich sie erst später, als jene Geschichten schon vorüber waren, persönlich kennen; aber ich erinnere mich wohl der überaus lebhaften Debatten, welche jeden Abend im Zirkel meiner Eltern, wo sich viele geistreiche, gelehrte Männer und gebildete Frauen versammelten, über diesen Gegenstand gehalten wurden. Die Gesellschaft teilte sich in Gläubige und Ungläubige. Zu den ersten gehörten hauptsächlich die Landsleute Mesmers (Schwaben) und jene Personen, welche, damals wie jetzt, ihrer Phantasie gern viel Spielraum gönnten, und sich lieber von dem Neuen und Ungewöhnlichen fortreißen ließen, als es untersuchten und prüften. Zu den zweiten zählte man viele gebildete Personen und einige Gelehrte und Professoren, namentlich von Well und Jacquin (Vater; der Sohn, der später rühmlich in dessen Fußstapfen trat, war damals ein Knabe, nur um ein paar Jahre älter als ich), und meine Eltern. Vor allen erklärte sich meine Mutter, deren scharfsichtiger Geist so wie ihre Achtung vor der Wahrheit sie schon a priori jedem Unerklärlichen, Geheimnisvollen abgeneigt machten, stets laut dagegen, und wollte diese Heilung, welche die andere Partei als schon entschieden annahm, nicht eher als möglich zugeben, bis sie nicht selbst sich überzeugt hätte, daß das Fräulein sehe. Sie fuhr also mit einem Anhänger der glaubenden Partei selbst in die Gartenwohnung, in welcher damals die Familie Paradis lebte, und Mesmer, der ebenfalls daselbst wohnte, noch verschiedene andere Kranke in der Kur hatte. Mein Vater begab sich an einem andern Tage dahin. Diese magnetische Behandlung des blinden Fräulein war das allgemeine Stadtgespräch, und ganz fremde Menschen suchten Zutritt in dem Hause, um sich von dem Wunder zu überzeugen, daß eine Person, welche seit ihrem zweiten oder dritten Lebensjahre, infolge der zweckwidrigen Behandlung eines Hautübels, das Augenlicht verloren hatte, dies jetzt, nach so vielen Jahren, durch magnetische Einwirkungen wieder erhalten sollte haben. Aber weder mein Vater noch meine Mutter kamen gläubiger von diesen Besuchen zurück. – Beide konnten sich nicht überzeugen, daß Fräulein Paradis wirklich sehe, so manche Probe, so manches Kunststückchen ihr Magnetiseur und Freund sie auch machen ließ; und der Erfolg bestätigte meiner Eltern Wahrnehmungen. Nach einigen Wochen fielen sehr unangenehme Szenen zwischen Mesmer und der Familie Paradis vor, welche damit endigten, daß der erste sie und bald auch Wien verließ, um in Paris seine magnetischen Kuren fortzusetzen, und noch viel mehr Aufsehen und Anhänger zu machen als in Wien; die unglückliche Blinde aber in dem Zustande blieb, in welchem sie vor der Kur gewesen.
Bald nach dieser Geschichte wurde ein Mann in meiner Eltern Hause eingeführt, der bedeutenden Einfluß auf die Ausbildung und Richtung meines Geistes nahm – Herr L.L. Haschka, ein damals sehr junger, und, so viel ich mich erinnere, liebenswürdiger Mann, der nun seit ein paar Jahren bei der Aufhebung des Jesuitenordens, dessen Mitglied er gewesen, wieder in die Welt getreten, und den geistlichen Stand, da er keine Profeß abgelegt, völlig verlassen hatte. Mit ihm zogen, möchte ich sagen, die Musen in unser Haus, und meines Vaters Liebe für die schönen Künste kam jener Richtung, welche Haschka in sich trug, gern entgegen. Meine Mutter liebte zwar die Poesie durchaus nicht, aber sie hörte doch gern gute Gedichte lesen, und erfreute sich daran, wenn Haschka, und auch später andere Musensöhne Wiens, die nach und nach mit uns bekannt wurden, ihre Werke bei uns lasen. Haschka bemerkte bald meine günstigen Geistesanlagen, er fing an, sich mit mir abzugeben, er ließ mich Gellertsche Fabeln auswendig lernen (Deklamieren war damals nicht Mode), ich durfte zuhören, wenn neue bedeutende Sachen gelesen wurden. Ich fing bereits damals an, die Empfindungen, von denen ich mich entweder wirklich beseelt fühlte oder die ich nach Willkür in mir hervorzurufen versuchte, zu Papier zu bringen, und, freilich ohne eigentlichen Begriff von Versen, Rhythmus und Form, so eine Art von Rhapsodie zu schreiben3. Ich weiß, daß das eine dieser Blätter mit den Worten begann: »Die Tage sind dahin, an denen ich mich freute«, wie denn überhaupt eine Art von elegischem Gefühl mich, trotz meiner sehr glücklichen Lage und munteren Stimmung, in einzelnen Augenblicken zuweilen übermannte, und mich eine vergangene, schönere Zeit, die meist nur in meiner Einbildung existiert hatte, beklagen ließ. Vermutlich war es die kindische Freiheit und Zwangslosigkeit meiner ersten Jahre, welche im Vergleich mit den, nun beginnenden ernsteren Beschäftigungen des Lernens, Arbeitens und einer strengen Aufsicht, mir wie ein goldenes Zeitalter erschien, und mir meine Gegenwart in düsterem Lichte zeigte.
Im Herbst 1777 starb meine Großmutter, die lange gekränkelt hatte, wie sie denn überhaupt eine traurige Existenz hatte, und durch einen schlecht geheilten Beinbruch gelähmt, seit vielen Jahren ihr Leben zwischen ihrem Bett und ihrem Kanapee teilte. Sie besaß auch deshalb eine Hauskapelle, in welcher Messe für sie gelesen werden durfte, und eine Kusine meines Vaters, ein bejahrtes, unverheiratetes Fräulein, lebte bei ihr und pflegte ihrer. Bei dieser Großmutter und dieser Tante blühten uns Kindern sehr schöne Stunden; denn hier durften wir uns manches erlauben, was meine Eltern mit Fug und Recht nicht duldeten, und hier erhielten wir auch allerlei Näschereien, die eben zu Hause uns mit eben so viel Recht nicht gegeben wurden. Den Grund dieses Verbotes einzusehen, waren wir viel zu jung, ich sieben, der Bruder vier Jahre alt, und wenn wir gleich zu Hause uns nichts weniger als unzufrieden fühlten, behagte uns doch jene größere Zwangslosigkeit, die Süßigkeiten, das Spielzeug, welches wir geschenkt erhielten, gar sehr. Diese Großmutter verstand auch Latein, die Tante machte (in größter Stille, denn sie schämte sich dessen) gar nicht schlechte Verse für jene Zeit, und hatte ein paar Trauerspiele in ehrenfesten Alexandrinern in ihrem geheimsten Schranke liegen, die in spätern Jahren, als sie mit großem Vergnügen in ihrer Nichte ein poetisches Talent wahrnahm, nur ich allein, und unter dem Siegel der Verschwiegenheit zu sehen bekam.
Froh und freundlich wie helle Punkte glänzen mir aus dem Dunkel tiefer Vergangenheit diese bei der Großmutter und Tante verlebten Stunden entgegen. Sie stehen jetzt noch nach viel mehr als einem halben Säkulum deutlich vor meinem Geiste, ich könnte auch die Stelle jedes Stuhles, jedes Buches in dem einfachen Zimmer bezeichnen, so wie ich ein paar Sprüche wohl behalten habe, die ich oft bei passender Gelegenheit, wenn ich kindisch und täppisch nach allem langte, was nicht für mich gehörte oder wenn ich nach etwas fragte, was ich nicht verstand, von der Großmutter hörte und deren einer meinem kindischen Verstande lange wie ein unbegreifliches Rätsel erschien. Lern was, so kannst du was, stiehl was, so hast du was und laß jedem das seine.
Diese gute, freundliche Großmutter war nun tot, die Tante bezog unser Haus, und meine Eltern verließen nun auch die Wohnung beim großen Christoph, und erhielten eine sehr schöne und äußerst geräumige in einem Hause »am Graben«, in welchem sich auch eine Hauskapelle befand. Hier, wo eine Enfilade von vier bis fünf Zimmern bloß zum Empfange von Gesellschaften bestimmt war, und noch viele andere Gemächer zur Bewohnung der zahlreichen Hausgenossen vorhanden waren, erweiterte sich unser häusliches Leben sehr. Meine Eltern boten jenem Herrn Haschka, der von seinem ersten Eintritt ins Haus sich als eine bedeutende und angenehme Erscheinung gezeigt hatte, Quartier in ihrer Wohnung an; es wurde für meinen Bruder ein Hofmeister und für mich ein Mädchen angenommen, das aus gutem Hause, aber arm und einige Jahre älter als ich, mir zur Gespielin und gewissermaßen zur Aufseherin bestellt war. Wir hatten viele Domestiken, Equipage, Reitpferde, eine nach damaligen Begriffen elegante Wohnung, täglich abends zahlreiche Gesellschaft, sehr oft Gäste zu Mittag, und meist ein paar Freunde zum Souper.
So gestaltete sich unser Leben glänzend und angenehm. Vielleicht bestand aber die größte Annehmlichkeit desselben (wenigstens dünkt es mich jetzt so) in dem Umstande, daß die höhere Geistesbildung meiner Eltern, welche sie vor den meisten ihrer Standesgenossen auszeichnete, ihnen den Umgang mit geistreichen, gebildeten und sogar gelehrten Personen wünschenswert, ja zum Bedürfnisse gemacht hatte. Mein Vater malte sehr hübsch in Pastell, er dichtete artige Lieder, welche damals (vor 70–80 Jahren) mit gefälliger Musikbegleitung allgemein bekannt und gesungen wurden. Eins derselben erhielt eine besondere Zelebrität, es fing also an:
Als in jüngstvergangnem Jahr
Leipzigs Ostermesse war,
Hatte in des Marktes Mitte
Amor eine Krämerhütte,
Und bot freundlich jedermann
Herzen zu verkaufen an; usw.
Überdies liebte und trieb er Musik mit großem Eifer, und fand bei vielen und wichtigen Geschäften doch immer noch Zeit für die Erholungen, welche die schönen Künste ihm boten.
Meine Mutter, im Gegensatze von ihm oder um den Kreis der Bildung, der sich in unserm Hause fand, zu vervollständigen, hatte einen ausschließenden Hang zu ernsten Wissenschaften. Sie verachtete, möchte ich beinahe sagen, Dichtkunst und überhaupt schöne Künste, sie hielt blutwenig von der Geschichte, die ihr zu wenig ausgemachte und unzweifelhafte Wahrheit bot. Sie strebte nur nach dieser, wollte nur diese finden, hören und ihr folgen. Gewiß ein edles Streben, nur leider! daß es dem Menschengeiste in seinen irdischen Beschränkungen so ganz und gar nicht möglich ist, außer der Mathematik sich irgend einer unbestrittenen Wahrheit zu versichern, und endlich doch alles aufs Glauben und Dafürhalten hinausläuft! Dieser Geistesrichtung gemäß, interessierte sich meine Mutter für Naturgeschichte, Naturlehre, sogar Astronomie, welche letztere Wissenschaft für sie großen Reiz hatte, und endlich für Untersuchungen in einem Fache, das gewiß wenig Männer, und vielleicht außer ihr noch nie eine Frau beschäftigt hat. Sie strebte nämlich, durch die Bekanntschaft mit den Religionen und Mythen aller alten und neuen Völker, mit den Traditionen, den Geschichten der Vorwelt, den Mysterien, Tempelgebräuchen usw. zur ursprünglichen und höchsten Erkenntnis in Rücksicht der Gottheit, unseres Verhältnisses zu ihr, der Geologie und Kosmogonie zu gelangen. Zu diesem Behufe las und exzerpierte sie eine Menge Bücher in allen Sprachen, und ich besitze noch mehrere Blätter, auf welchen, sie einige Andeutungen der Resultate ihrer Forschungen aufgezeichnet hat. Das männliche Geschlecht kam bei allen diesen Untersuchungen nicht zum besten weg, und meine Mutter war sehr geneigt (wie ich später hörte, als ich imstande war, solche Begriffe zu fassen, und ihr oft Bücher vorlas, welche in diesem Sinne geschrieben waren, z.B. Sur les droits des femmes, par Mme. de Wolstonecraft das System aufzustellen, daß die Frauen ursprünglich von der Natur und Vorsicht zur Herrschaft bestimmt seien, und dieses Vorrecht durch eine Art von Usurpation des männlichen Geschlechtes, welches uns an physischen Kräften übertrifft, verloren habe. Doch das ist eine Abschweifung, welche eigentlich nicht hierher, sondern in die spätere Zeit meiner aufblühenden Jugend gehört; aber sie floß zu natürlich aus dem Vorhergesagten, um ganz unterdrückt zu werden, und ich werde mich nur später darauf berufen.
Ich kehre zu dem Punkte zurück, auf dem sich unser Haus in den Jahren 1777, 78, 79 befand. Haschka, der durch seinen lebendigen Geist, durch sein Dichtertalent, durch seine Rechtlichkeit und echte Freundschaft, wohl aber auch durch ein Betragen, das ich jetzt, nach 50 Jahren darüber nachdenkend fordernd und um sich greifend nennen möchte, mit jedem Tage mehr Ansehen und Gewicht in unserer Familie bekam, führte nach und nach die damaligen Schöngeister von Wien bei uns ein. Alxinger, sein treuester Freund, wurde bald eben dies für meine Eltern, und war täglich bei uns; Leon (ebenfalls Dichter und später Kustos der k.k. Bibliothek) ward durch Haschka als Hofmeister meines Bruders ins Haus gebracht. Durch diese beiden lernten wir Ratschky, Denis, Mastalier, Blumauer usw. kennen, und durch die Professoren Well (den Botaniker und Naturforscher), Jacquin, Abbé Eckhel, Sonnenfels, Sperges, Maffei (lauter Namen, welche die Literargeschichte Österreichs mit Achtung nennt) wurden auch die ernstern Wissenschaften in unsern Kreis gezogen.
Mein Geist war lebhaft, meine Phantasie beweglich. Die schönen Künste lebten und herrschten in unserm Hause, Dichter umgaben uns beständig, Musiker, Maler von einiger Bedeutung, welche nach Wien kamen, ließen so wie Gelehrte anderer Art sich bei meinen Eltern einführen, deren Haus vor vielen der Hauptstadt sich auszeichnete. Alles, was von neuen Dichterwerken im In- und Auslande erschien, wurde sogleich bei uns bekannt, gelesen, besprochen. Herr v. Leon, unser Hofmeister, damals ein junger Mann von 23–24 Jahren, fand Vergnügen an der lebhaften Weise, womit mein Geist alles auffaßte, was Dichtung hieß, so z.B. die Bürgerschen Romanzen, die ich bald auswendig wußte. Wenn ich gut gelernt hatte, las er mir zur Belohnung eine Szene aus Götz von Berlichingen, ein Stück aus Werther, Woldemar oder einer andern Dichtung vor; und ich kannte diese Bücher, wußte manches davon auswendig, ehe ich imstande war, ihren Wert auch nur im geringsten zu fassen und zu beurteilen. Ob dies wohl klug gehandelt war bei einem Kinde, dessen Phantasie ohnedies zu lebhafte Sprünge machte, will ich dahingestellt sein lassen; es diente aber, nebst den Einwirkungen, welche von allen Seiten auf mich eindrangen, sehr dazu, den Keim zur Dichtung, der in mir lag, zu erwecken. Ich versuchte mit zehn Jahren, einige gereimte Zeilen zusammen zu setzen (denn mit einem bessern Namen verdienen so rohe Anfänge nicht genannt zu werden), und so entstand mein erstes Liedchen, auf dessen erste Zeilen ich mich noch besinne:
Wie lieblich ist der Morgen,
Wie schön ist's auf der Flur!
Es schwinden alle Sorgen,
Die Freude lächelt nur usw.
Daß dies nichts als Reminiszenzen aus der Unzahl von gelesenen und gehörten Gedichten waren, die täglich und stündlich in meinem Kopfe spukten, ist klar, und wenn wir die ersten Versuche so mancher, besonders der sogenannten »Naturdichter« betrachten, die denn auch auf gewisse Weise noch Kinder sind, wie ich es war, so wird sich finden, daß ihr Dichterberuf, so wie meiner damals, wohl in weiter nichts als einer glücklichen Kombinationsgabe und gutem Gedächtnisse besteht. Indessen – mein Liedchen wurde angehört, gelobt, bewundert und sogar in Musik gesetzt. Was geschieht nicht von Seiten der Freunde und Bekannten für die Kinder eines verehrten und ansehnlichen Hauses! Das sollten sich manche gegenwärtig halten, die, von den Lobsprüchen der Haus- und Tischfreunde irregeführt, so leicht dahin gebracht werden, in den Äußerungen und Leistungen ihrer Sprößlinge etwas Außerordentliches zu sehen.
So schwach diese Versuche waren, so dienten sie doch, verbunden mit meinem lebhaften Geiste und meinem unvergleichlichen Gedächtnisse, dazu, die Aufmerksamkeit der Männer von Bildung und Wissenschaft, die das Haus meiner Eltern oft besuchten, vor allen die unsers Hausgenossen Haschka auf mich zu lenken. Er fand es der Mühe wert, sich mit dem Kinde, das etwas zu werden versprach, abzugeben; er bestimmte täglich eine gewisse Zeit, wo ich auf sein Zimmer kommen mußte, und wo er mir, so wie meinem Bruder, Unterricht in den Regeln der deutschen Sprache gab – damals noch aus Gottscheds Grammatik; denn Adelung war noch nicht erschienen.
Hier aber stößt meine Erinnerung auf einen dunkeln Fleck in der Entwicklung meines Selbsts, auf einen häßlichen Zug des Übermutes und liebloser Eitelkeit. Ich könnte ihn verschweigen, denn er ist zum Glücke auf keine Weise mit in die weiteren Fortschritte meiner Bildung verflochten; aber ich würde unwahr zu sein, und diesen Bekenntnissen einen Teil ihres Wertes für unbefangene Seelen, die auch aus Fehlern anderer lernen können, zu entziehen glauben, wenn ich den meinigen nicht gestände, da ich doch auch einiges zu meiner Entschuldigung anführen kann.
Ich glaube schon einmal berührt zu haben, daß mein Bruder, der um drei Jahre jünger war als ich, von der Natur zwar, wie es sich später zeigte, einen sehr scharfen, richtigen Verstand, aber kein so schnelles Auffassungsvermögen erhalten hatte, als ich. Auch sein Gedächtnis war nicht so hervorstechend, und eine gewisse Langsamkeit in geistigen und körperlichen Bewegungen, verbunden mit einer nicht ganz deutlichen Aussprache, machten ihm das Lernen schwer und daher oft unangenehm. Die Lehrer, die wir (das Zeichnen und Klavierspielen ausgenommen) gemeinschaftlich hatten, waren daher stets mit mir viel besser zufrieden, obgleich sie, wenn sie sich die Mühe genommen hätten, etwas tiefer zu untersuchen, manchesmal gefunden haben würden, daß eben jene große Leichtigkeit der Auffassung mein Erlernen oft oberflächlich und vergänglich machte. Indessen, ich glänzte, ich ward vorgezogen, als Beispiel aufgestellt, und – ich übernahm mich, was eine natürliche Folge davon war. Man wollte meines Bruders trägen Geist aufstacheln, ihn zur Nacheiferung reizen, und wenig fehlte, man hätte mein Herz verdorben. Ich hielt mich für viel was Vorzüglicheres als meinen Bruder, ich erlaubte mir, ihn zu bespötteln, zu necken, lächerlich zu machen, und diese Bestrebungen eines eitlen, lebhaften Kindes wurden leider nicht streng und strafend gerügt, wie ich mich wohl erinnere.
Noch weiß ich nicht, wodurch ich so viel Gnade vor Gott gefunden, daß er mich nicht tiefer fallen, und mich sogar die fortgesetzte Liebe dieses, von mir nicht immer schwesterlich behandelten Bruders nicht verlieren ließ. Es ist wohl dies der größte Beweis von der Trefflichkeit des schönen Herzens dieses teuern und unvergeßlichen Bruders, daß keine Art Widerwille oder Bitterkeit gegen die stets vorgezogene und über ihn erhobene Schwester, die noch dazu sich dieses Vorzugs nur zu sehr bewußt war, sich in diesem Herzen festsetzte, und eine innige Geschwisterliebe uns bis an seinen Tod verband.
Eine feste Stütze hatte dieser Bruder im Hause an jener Tante, der Kusine meines Vaters, welche seit dem Tode der Großmutter bei uns lebte, und auch auf mich eine bleibende Einwirkung anderer – eigentlich poetischerer Art übte. Geliebt ward ich nicht sehr von ihr, wenigstens dazumal nicht; denn sie sah in mir den Gegenstand, um dessentwillen ihr Liebling Xaver zurückgesetzt wurde; aber sie war mir gut als dem Kinde ihres teuern Verwandten, meines Vaters, und da sie viel zu billig und gutmütig war, um unter Geschwistern einen gehässigen Unterschied zu machen, so genoß ich manche Freude mit, und erhielt manches werte Geschenk von ihr, weil sie eben ihren Liebling, meinen Bruder, damit erfreuen wollte. Aber diese Vorliebe meiner Tante für den Knaben, den Eltern und Lehrer mit großer Strenge behandeln zu müssen glaubten, und die daraus entspringenden Mißverhältnisse veranlaßten öfters unangenehme Szenen im Innern unserer Familie.
Während sich die Dinge auf solche Art im häuslichen Zusammensein gestalteten, ging das äußere, glänzende Leben seinen Gang fort. Jeden Abend war Gesellschaft. Angesehene Beamte mit ihren Familien, Kavaliere, einige Damen, Gelehrte und Künstler besuchten unser Haus. Mein Vater gab öfters große, glänzende Konzerte, zu welchen die schöne Welt sich drängte und bei welchen ich – obgleich noch ein Kind – mich auf dem Flügel (damals kannte man noch keine Pianoforte) hören ließ. – Aber eben diese Auszeichnungen, die sichtbare Gunst der Monarchin, welche mein Vater genoß, der glänzende Fuß, auf dem unser Haus eingerichtet war, die Menge der Besucher desselben, erregten Aufsehen, Mißgunst, Feinde. Von vielen Seiten standen sie gegen meinen Vater auf; vieles wurde versucht, um ihm die Gnade der Kaiserin zu rauben; aber seine unerschütterliche Treue und Redlichkeit bestanden alle diese Proben. Die Monarchin verkannte den Wert seiner Dienste nie, und bis an ihren Tod währte das Vertrauen und die, ich möchte sagen, freundschaftliche Zuneigung, die sie ihm so wie meiner Mutter schenkte, und für welche wir noch in jenen Blättern, von denen ich oben sprach, rührende Beweise, von ihrer Hand geschrieben, besitzen.
Meine Mutter besuchte den Hof oft. Ihre Stellung in der Welt erlaubte ihr zwar nicht, in den Kreisen des Adels und bei jenen Gelegenheiten zu erscheinen, wann dieser sich um die Monarchin versammelte, und nur einmal im Jahre, am Neujahrstage, war es damals den Frauen der höheren Staatsdiener erlaubt, sich zum Handkusse bei der Kaiserin einzufinden. Das unterließ denn meine Mutter nie, und noch sehe ich das Kleid vor mir, von schwerem, weißen Seidenstoff, mit bunten und goldenen Blumen reich durchwirkt und mit goldenem Besatz verschönert, das sie an solchen Tagen trug. Aber sie fuhr oft in die Burg, nach Schönbrunn oder Laxenburg, um in der Kammer, wie man es nennt, der Monarchin aufzuwarten, und bei diesen Besuchen nahm sie uns, ihre Kinder, öfters mit. So sah ich denn den glänzenden Hof der regierenden Frau, sie und viele ihrer schönen Kinder, die damaligen Erzherzoge Max und Ferdinand, die Erzherzoginnen Marianne, Christine, Elisabeth usw. oft. Lebhaft steht die Gestalt der großen Frau vor mir, die, trotz ihres vorgerückten Alters und ihrer durch die Blattern damals ganz zerstörten Schönheit, eine Majestät, mit Huld und Freundlichkeit verbunden, besaß, welche unwiderstehlich anzog. Wie manches Mal redete sie freundlich zu mir, ließ sich herab, mir Spielzeug zu schenken und dessen Gebrauch zu zeigen. In Laxenburg und wohl auch in ihren andern Schlössern hatte sie, da ihr das Treppensteigen sehr beschwerlich zu werden anfing, sich eine Maschine machen lassen, welche in einem Kanapee bestand, auf dem sitzend sie mittelst eines leichten Mechanismus in das obere Stockwerk hinaufgehoben oder in das untere hinabgelassen werden konnte. Höchst wunderbar und unterhaltend war es mir, wenn sie zuweilen sich mit meiner Mutter auf eines jener Sophas setzte, mich zwischen ihnen beiden stehen hieß, und ich mich nun wie durch Geisterhände emporgehoben und in ein anderes Zimmer versetzt fand. Noch jetzt, nach mehr als 50 Jahren erscheinen jene Bilder, die Gestalten jener fürstlichen Personen, vor allen die Gestalt der huldvollen, großen Kaiserin mir hell und deutlich. Ich wollte die Zimmer, in die ich damals oft geführt wurde, noch finden, und den ganzen silbergrauen Aufputz ihres einsamen Witwengemaches beschreiben. Hier saß sie einmal, nach einer glänzenden Schlittenfahrt, welche meine Mutter auch in den Zimmern der Kaiserin mit angesehen hatte, Knötchen schürzend (ihre gewöhnliche Handarbeit, welche dann zur Verzierung von Kirchenornaten verwendet wurden), am Fenster, und ich befand mich allein in der Stube bei ihr. Da rief sie mich und gab mir einen Auftrag an eine ihrer Kammerdienerinnen im vordersten Zimmer. Ich – ein Kind von 8–9 Jahren, eilte dann geschäftig hinaus, sehr geehrt durch den Auftrag, glitschte aber auf dem Parkett aus, und fiel im vordersten Zimmer der Länge nach hin. Sogleich schickte die gütige Monarchin ihre Kammerfrau, um zu sehen, ob mir nichts widerfahren wäre, ließ mich zu sich hineinführen, befragte mich selbst, und da das ganze geschehene Unglück in einem zerbrochenen Fächer bestand, den ich in der Hand gehabt hatte, schien sie sehr erfreut, und schenkte mir einen andern, den ich noch als Andenken jenes kleinen Vorfalls und der Huld Maria Theresias heilig verehre.
Allmählich aber kamen auch trübere Stunden und mancherlei Verdrießlichkeiten, ja endlich manches Unglück. Unser Hausstand war durch die Tante, Herrn Haschka, einen Hofmeister und meine Gesellschafterin vermehrt. Wie wahr ist das, was in den – mir übrigens gar nicht zusagenden – Wahlverwandtschaften Charlotte darüber sagt: wenn wir andere in unser Haus, an unsern Tisch nehmen, unser Leben mit ihnen gemeinschaftlich verbringen sollen! Mögen es noch so gute Menschen sein – jene vier Personen waren es sicher, vor allen die gute Tante – aber es sind andere als wir, sie haben andere Ansichten, andere Gewohnheiten, andern Geschmack. – Sollen sie dies alles nicht uns zum Opfer bringen, und sich ganz verleugnen, so müssen wir von den unsrigen abhandeln lassen, wir müssen, ihre Individualität erkennend, und wie billig ehrend, die unsrige beschränken; – das tut niemand gern und so bringt ein solches Zusammenleben selten allen Teilen Freude. Auch bei uns erzeugten sich einige Mißtöne, ich bemerkte wohl hier und da etwas, aber ich war zu sehr Kind, um darauf zu achten. Wichtiger war mir die Erscheinung eines Schwesterchens, das nach dem ersten Winter, welchen wir in jener Wohnung am Graben verlebten, das Licht der Welt erblickte. Es war ein bildschönes Kind, das einer unsrer werten Hausfreunde zur Taufe hielt, und das den Namen einer innigen Freundin und Verwandten meiner Eltern, einer Frau von Häring, welche sich Rosine nannte, erhielt. Meine Mutter nährte das Kind selbst, es gedieh trefflich, und es ward beschlossen, daß es so wie mein Bruder im Frühling des nächsten Jahres zu Hetzendorf im k.k. Lustschlosse geimpft werden sollte.
Die Blatternimpfung war damals, in den Siebziger-Jahren des vorigen Säkulums, so neu, so allgemein anregend, aber im Anfange auch von vielen so gefürchtet und verdächtigt, wie dreißig Jahre später die Vakzine.
Die Kaiserin, überzeugt von der Nützlichkeit dieser Methode, suchte durch Befehl, Ermahnung und Beispiel ihr überall Eingang zu verschaffen. Sie etablierte in einem ihrer Lustschlösser, zu Hetzendorf, in der Nähe von Schönbrunn, eine solche Anstalt, in welcher jeden Frühling mehrere Familien des Adels und angesehenen Mittelstandes aufgenommen und sämtlich auf kaiserliche Kosten bewirtet wurden, wenn sie sich entschlossen, ihre Kinder daselbst von den kaiserlichen Leibärzten impfen zu lassen. Man kann denken, wie gern und häufig sich Eltern fanden, die um diese Vergünstigung nachsuchten, ihre Kinder vor dem gefährlichsten Feind, den Blattern, auf eine so ehrenvolle als angenehme Art zu sichern; denn, so wie ich in meiner Kindheit oft vernahm, glich jener Jmpfséjour in Hetzendorf einem fröhlichen Badeaufenthalt, wo mehrere, sonst sich fremde Familien in einem angenehmen Lokal auf dem Lande versammelt, in wechselnden Zerstreuungen und Unterhaltungen lebten. Beinahe täglich fuhr die Monarchin von Schönbrunn hinüber, um nach dem Fortgang ihrer Anstalt zu sehen. Sie veranstaltete kleine Feste für die Kinderchen, Lotterien, Spiele usw., kurz, sie sorgte als allgemeine Mutter auch für alle.
Den Winter nun vor dem Frühling, wo jene Impfung meiner jüngern Geschwister stattfinden sollte (ich selbst hatte bereits an der Mutter Brust natürlich und glücklich geblattert) erkrankten diese plötzlich; – es zeigten sich die Blattern, und zwar von der bösesten Art. Mein Bruder, damals ein bildschönes Kind von vier bis fünf Jahren, war lange in Lebensgefahr, er sah kaum, durch Geschwulst und Blasen entstellt, einem Menschen gleich; und meine Mutter, die ihn mit der größten Sorge pflegte, stand unnennbare Angst um ihn aus. Das jüngere Schwesterchen aber starb, und als der Knabe sich zu erholen anfing, lag jene im Sarge. Dies war für meine Eltern eine sehr traurige Zeit. Die gütige Kaiserin nahm auch hier warmen und tröstenden Anteil an den Leiden meiner Eltern. Wir besitzen noch unter jenen, schon erwähnten Blättern eines, worauf, nachdem mein Vater ihr den Tod dieses Kindes gemeldet, sie ihm folgendes schriftlich erwidert:
»ich empfinde beeder Ältern Schmertz, wie glücklich ist die Kleine, hat ihre Carrière bald gemacht in unschuld. Von dem muß man sich occupiren, nicht von dem Verlurst; was haben wir mit unserm langen Leben vor Nutz und Freud, was für Verantwortung? da ist zu zittern. Gott erhalte ihm seinen Kleinen«4.
Diese trübe Zeit verging denn auch. Meiner Eltern Schmerz beruhigte sich allmählich. Bruder Xaver war vollkommen genesen, und obwohl seine hübschen Züge zerstört waren, so daß, wer ihn früher gesehen, ihn jetzt kaum mehr erkennen konnte, war seine Gesundheit doch weiter nicht erschüttert. Er gedieh, so wie ich, recht fröhlich; Schwester Rosine war ein Engel im Himmel. Unsere Lernstunden gingen wieder den gewohnten Gang, und ebenso die Lebensweise meiner Eltern. Der kleine Preußenkrieg – der Zwetschkenrummel vom Volke genannt – der sich in dieser Zeit, 1778–79, erhob, hatte so wie auf das allgemeine, so auch auf das innere Leben unserer Mitbürger keinen sichtbaren Einfluß. Aber die Gesinnungen des Thronfolgers, Kaiser Josefs, die in vielem von denen seiner Mutter verschieden waren, schienen damals immer deutlicher hervorgetreten zu sein, und manches Mißverständnis, manche Unzufriedenheit zwischen Mutter und Sohn erregt zu haben. Es war eben die alte und neue Zeit, die sich hier grell und stark von einander trennten, und so wie sie einander nicht begreifen konnten, konnte auch keine Vereinigung zwischen ihnen stattfinden. Mein Vater kannte dies alles sehr genau, und in jenen Blättern liegt mancher Beleg dazu, wenn die lebens- und arbeitsmüde, fromme Herrscherin selbst davon spricht, daß sie das nicht mehr sei, was sie gewesen, und daß ihr Wort, ihr Wille nicht mehr gelte wie früher.
Noch ein Jahr verging auf diese Weise. Mein Geist entwickelte sich allmählich, und so wie er sich selbst und seine Umgebungen besser zu verstehen anfing, übte Phantasie und Dichtkunst mehr Macht über denselben. Ich hatte hin und wieder einen Roman, ein Schauspiel zu lesen bekommen. Ich schrieb nun selber eins oder zwei, die jedes, ungefähr einen Bogen stark, barer Unsinn waren, wie ich mich noch erinnere; aber genug, ich fühlte den Drang, etwas zu dichten und meine Gedanken zu Papier zu bringen. Haschka ließ mich viele Gedichte auswendig lernen, mein Kopf war voll Verse, Bilder, Reime; – und aus dieser aufgehäuften Masse fremden Gutes entwickelte sich da und dort etwas eigenes, so zum Beispiel ein Jahr später ein kleines Gedicht auf die Wiedergenesung einer Gespielin, jenes Mädchens, das meine Eltern mir zur Gesellschafterin gegeben hatten, welches Gedicht die Herren Poeten, die unser Haus besuchten, aus Rücksicht für meine Eltern – denn das Zeug verdiente die Ehre nicht – in einen Wiener Musenalmanach aufnahmen. Nun war also mein Name schon gedruckt, obgleich ich kaum zwölf Jahre zählte. Doch ich kehre zum Faden der Erzählung zurück.
Im Herbste 1780 fing die Kaiserin an, viele Beschwerden von einem heftigen Husten zu fühlen. Die Ärzte machten bedenkliche Mienen; – man glaubte die reißenden Fortschritte einer längstbegonnenen Brustwassersucht zu erkennen, welche der Monarchin schon seit vieler Zeit das Treppensteigen, Atemholen usw. beschwerlich gemacht hatten. Die Stadt wurde bestürzt, in allen Familien regten sich, je nachdem ihre Stellung zum Hofe oder dem öffentlichen Leben war, je nachdem sie mehr der milden, wohltätigen Wärme des sinkenden Gestirnes oder dem feurigen Glanze des aufsteigenden zugewendet waren, verschiedene, aber lebhafte Besorgnisse, Hoffnungen, Erwartungen; aber in unserm Hause und wohl noch in vielen der älteren Diener Maria Theresias herrschte die tiefste Niedergeschlagenheit. Der Zustand der Kaiserin verschlimmerte sich schnell; in wenigen Tagen wurde von höchster Gefahr und bald darauf von Hoffnungslosigkeit gesprochen. Ich erinnere mich noch dieser ängstlichen Tage sehr wohl, sie lasteten selbst auf uns Kindern durch den Reflex des Kummers unserer Eltern und Freunde; denn wir konnten die Bedeutung der großen Veränderung, welche dem Vaterlande bevorstand, und ihre Folgen nicht einsehen. Während alles um sie her trauerte, behielt nur sie ihre ruhige Fassung bei. Sie hatte als Christin im höheren Sinne gelebt; sie war mit der Idee ihres Todes vertraut, und jenseits erwartete sie der unvergeßliche, geliebte Gemahl und mehrere vorangegangene Kinder. Ihr Zustand erlaubte ihr nicht, im Bette zu bleiben, so brachte sie die wenigen Tage der sehr verschlimmerten Krankheit bis zu ihrem Tode auf ihrem Kanapee sitzend, mit Kissen gestützt, zu. Kaiser Josef verließ die verehrte Mutter in diesen düstern Tagen fast nicht mehr, und zeigte ihr ungeheuchelten Schmerz und kindliche Achtung. Man erzählt, sie habe, völlig vertraut mit dem Gedanken, in kurzem aus diesem Leben zu scheiden, und jede wohlgemeinte Täuschung in dieser Ansicht von sich abwehrend, sich zuerst als Christin mit Beobachtung aller vorgeschriebenen Gebräuche zum Tode bereitet, und sich dann vorgenommen, die Annäherung des letzten Augenblicks mit ruhiger Fassung zu beobachten; daher habe sie ihrem Leibarzt, B. v. Störck, in einer geheimen Unterredung befohlen, wenn er glaube, daß der Augenblick des Scheidens eintreten werde, ihr dies durch ein, den übrigen Anwesenden unmerkliches Zeichen zu erkennen zu geben. Es wurde beliebt, daß B. v. Störck, der sich stets bei der erhabenen Kranken befand, oft ihren Puls fühlte, und die wenigen möglichen Erleichterungen und Hilfsmittel verordnete, sie, wenn er jenen Zeitpunkt eingetreten glaubte, fragen sollte: ob sie vielleicht Limonade befehle? und daß die Kaiserin dann schon wissen würde, was dies zu bedeuten habe. Ich kann die Echtheit dieser Anekdote nicht verbürgen, weil meine Mutter natürlicherweise nicht mehr im unmittelbaren Hofdienst um die Person der Monarchin war, und mein Vater wohl täglich mehrere Male sich in der Kammer der Kaiserin persönlich nach ihrem Befinden erkundigte, aber die vielgeliebte und hochverehrte Frau in der kurzen Zeit ihres letzten Übelbefindens, das nur wenige Tage währte, nicht mehr sah. Indessen, wenn jene Geschichte mit der Limonade auch nur eine Erfindung war, so zeugt sie doch von der Ansicht und Vorstellung, welche man sich im Publikum von der Kraft und frommen Heiterkeit ihres Geistes machte.
Am 29. November 1780, zwischen 8 und 9 Uhr abends, als eben einige treue Freunde meiner Eltern bei ihnen versammelt waren und alles mit banger Sehnsucht den Nachrichten entgegensah, die man heute noch vom Hofe erwartete, trat – ich erinnere mich dessen sehr lebhaft – der Gemahl jener Verwandten, nach deren Vornamen meine selige Schwester war getauft worden, Regimentsrat von Häring (wie man damals sagte), einer der genauesten Freunde unsers Hauses, ins Besuchzimmer, und seine düstere Miene zeigte schon, daß er nichts Gutes zu verkünden habe. Jetzt ist wahrscheinlich die Kaiserin gestorben, sagte Herr von Häring. Ich bin durch die Burg gegangen, es ist ein Hin- und Herlaufen, eine Bestürzung unter den Leuten, die auf nichts anderes schließen lassen. So sehr meine Eltern auf diesen Schlag vorbereitet waren, so entstand doch die heftigste Erschütterung. Mein Vater eilte nach Hofe; – es war nur zu wahr, was unser Verwandter vermutet hatte. – Maria Theresia war verschieden und eine neue Zeitrichtung trat an die Stelle der bisher befolgten.
*
Ich stehe nun mit meinen Erinnerungen an einem Abschnitte, den man mit Recht einen Wendepunkt in der Geschichte, besonders in der Österreichs, nennen kann, an dem Regierungsantritt Kaiser Josefs II.
Sprünge geschehen nicht, weder in der physischen noch in der moralischen Welt, und jeder folgende Zustand des Einzelwesens wie des Ganzen liegt lange vorbereitet und eingehüllt im Vorhergehenden, so daß er selten mit überraschender Neuheit plötzlich hervortritt, sondern sich meistens nur nach und nach entfaltet und jene Veränderungen sichtbar erscheinen läßt, welche gleichsam unsichtbar schon länger vorhanden waren. So war es auch damals mit jener Periode der Denk- und Preßfreiheit, Aufklärung, Neuerung und Philosophie, deren Wurzeln weit zurück in vergangenen Dezennien zu suchen waren. Indes trat sie, obwohl lange vorbereitet, bei Gelegenheit des Regentenwechsels auffallender hervor, und schien von diesem mehr abhängig, als wirklich der Fall war.
Wir in unserm Hausstande fühlten sogleich eine Wirkung dieser Neuerungen. Kaiser Josef schaffte die sogenannten Hofquartiere ab, nämlich die Wohnungen, welche die Hausbesitzer Wiens seit undenklichen Zeiten den kaiserlichen Beamten hatten einräumen müssen und wofür sie nur einen sehr unbedeutenden Zins erhielten, weil man vermutlich in alter Zeit glaubte, daß die Hauseigentümer, um des Vorteils willen, das Hoflager beständig in ihrer Stadt zu besitzen, für die Beamten ein Übriges tun können. Meine Eltern suchten sich also eine Wohnung auf eigene Kosten und fanden diese in einer sehr angenehmen Lage auf dem Neuenmarkt, wo wir sehr hohe, große, freundliche Zimmer hatten, eine Wohnung, ganz geeignet, um darin viele Leute zu empfangen, Feste zu geben usw. – eine Lebensart, die sich in meiner Eltern Hause ununterbrochen fortsetzte, obgleich der Tod der allgeliebten Maria Theresia und die ganz veränderte Stellung, in welcher die vor vielen begünstigten Räte des Vorfahrs jederzeit zum Nachfolger zu stehen pflegen, einen Umschwung der Dinge in dieser Rücksicht für meinen Vater hätte können besorgen lassen. Hier aber, glaube ich, galt seine und meiner Mutter Persönlichkeit zu viel und diese erhielt das Ansehen des Hauses, wenn schon keine besondere Gunst des Monarchen dasselbe auszeichnete, so daß denn dies nach wie vor der Sammelplatz bedeutender und zahlreicher Besuche war.
Eine der ersten fühlbaren Wirkungen des neuen Regierungssystems war eine viel unbeschränktere Preßlizenz, und Josef II. suchte eine Art von Stolz darin, selbst was über seine Person gesagt oder geschrieben wurde, ungeahndet öffentlich erscheinen zu lassen. Die unmittelbare Folge davon war eine Unzahl kleiner oder größerer Broschüren, Pamphlets usw., welche nun erschienen, und in welchen sich die Schriftsteller mit und ohne Witz, mit oder ohne Grund über alte Gebräuche und Mißbräuche aussprachen. Eine der ersten, wo nicht ganz die erste, war eine Betrachtung über die kostspieligen Leichenfeierlichkeiten, die denn ganz in dem materiellen Geist jener Zeit, der sogenannten Aufklärung, als töricht, als eine unnütze Verschwendung, als eine aus der Gewinnsucht der Geistlichen entstandene Spekulation dargestellt wurden. Vielen Anklang fanden solche Äußerungen in der Erkaltung der meisten Gefühle so wie im Eigennutz der Erben und Verwandten des Verstorbenen. Auch ließ jenes Leichengepränge merklich nach. Man fand es bürgerstolz, unaufgeklärt, altfränkisch, kostspielige Leichenzüge zu veranstalten, Gräber und Grüfte zu ehren, zu schmücken; – und siehe da! sechzig Jahre darnach liest man in jeder Zeitung von irgend einer hochfeierlichen Bestattung eines oder des andern ausgezeichneten Mannes und sieht den Luxus, der in unsern Tagen mit eigenen Grabstätten und Denkmälern auf den, gleichsam in Gärten verwandelten Friedhöfen herrscht.
Weil nun eben alles besprochen werden durfte, war auch des Sprechens kein Maß und kein Ziel. Jeder, der die Feder führen konnte (das waren aber doch vor fünfzig Jahren nicht so viele wie jetzt), ergriff sie in dieser Periode, um, wie ihn sein Herz oder sein Witz oder vielleicht sein böser Wille trieb, irgend ein tadelnswürdiges Vorurteil, einen schädlichen Mißbrauch zu rügen oder wohl auch nur seine Geistesüberlegenheit zu zeigen oder seiner Galle Luft zu machen. Das auf diese Weise Besprochene ward nun von seiner ehemaligen sichern Stellung oder Höhe herabgerissen und nicht selten schonungslos mit Füßen getreten. Manchem geschah recht, manches Schädliche wurde fortgeschafft, manches Hemmende beseitigt, aber auch nur zu viel Gutes, Nützliches, ja Heiliges mit eingerissen. Von unbedeutenden Mißbräuchen und Lächerlichkeiten kam man auf das Wesentlichere. An allen alten Einrichtungen, Vorrechten, Ordnungen, endlich selbst am Glauben und den Dogmen der Religion wurde gerüttelt. Predigerkritiken erschienen, welche, wie jetzt die Theaterkritiken, die Leistungen der verschiedenen Prediger an jedem Sonntag würdigten. Mancher wahre Tadel wurde ausgesprochen, aber das Publikum verlor die Achtung vor dem Manne, aus dessen Mund es das Wort Gottes vernehmen sollte, und den es nun öffentlich in die Schule nehmen und oft bitter oder spöttisch tadeln hörte. Der tadelnde Witz, der sich an allem üben durfte, verschonte auch die Person des Monarchen nicht, dessen freisinnige Großmut ihm diesen Weg eröffnet hatte. – Alles, was Josef II. mit hohem und humanem Sinne seinen Völkern Gutes erweisen wollte und wirklich erwies, wurde von allen Seiten beleuchtet, jede Schwäche, jede möglich schlimme Deutung aufgegriffen, und je bitterer die Satire war, je willkommener war sie dem Publikum, das nur selten untersuchte, ob denn der Tadel auch gegründet, ob die Auffassung nicht einseitig, nicht von Gehässigkeit eingegeben sei, sondern zufrieden war, wenn es mitschimpfen und mitlachen konnte. Ich will hier nur an den Richter Schlendrian (eine ebenso witzige als oberflächliche Satire auf das Gesetzbuch Kaiser Josefs und die Monachologie erinnern, worin Hofrat Born, einer der glänzendsten Köpfe jener Zeit, ein großer Naturkundiger und Mineralog, die verschiedenen Mönchsorden mit Linnéschen Bezeichnungen als Käfer und anderes Ungeziefer sehr witzig, aber sehr unanständig darstellte.
Aus Frankreich kamen uns (wie denn aus Frankreich von jeher viel Schädliches über die Welt gekommen ist: stehende Heere, die wir Louis XI. verdanken; das Papiergeld, die Revolution, die Modesucht usw.) um diese Zeit auch eine Menge Bücher, welche den Geist des Spottes, des Unglaubens, der Opposition in jeder Rücksicht, der sich so mächtig in Österreich zu regen anfing, nährten; wie le Système de la nature von Mirabeau, les Ruines von Volney und viele andere. Unter dem Deckmantel der Philosophie, der Wahrheitsliebe, der unparteiischen Forschung wurde der Maßstab, die Sonde, das anatomische Messer an alles Schöne, Edle, Heilige gelegt. Durch die fünf Sinne allein sollten und konnten, nach den Ansichten jener Weisen und Aufklärer, dem Menschen seine Vorstellungen von der äußern Welt kommen; was sich also nicht in den Bereich derselben ziehen, wessen Evidenz oder Dasein sich nicht dem nüchternen Verstande mit beinahe geometrischer Genauigkeit erweisen ließ, wurde bezweifelt oder bespöttelt oder ins Reich der Träume verwiesen. Mit religiösen Zeremonien hatte man angefangen, zur Religion selbst schritt man fort, ihre Dogmen wurden untersucht, der Glaube als etwas des denkenden Menschen Unwürdiges verworfen. So kam es endlich dahin, daß man nicht bloß alle positiven, sondern alle natürlichen Religionen im allgemeinen wegphilosophiert hatte. Da erschienen Bücher wie der Horus, Bahrdts Bibel im Volkston, worin der Autor versucht, die Wunder des neuen Testaments auf natürliche Art zu erklären, nur geht es damit, leider! wie mit der strengen Beobachtung der »trois unités« in der ältern französischen Tragödie, worin man denn auch, um diesen Forderungen nachzukommen, die größten Unwahrscheinlichkeiten gelten, und z.B. ein verliebtes Rendezvous in einem Vorhof, eine Verschwörung auf der Gasse vorgehen lassen muß. Ebenso setzt der Verfasser der Bibel im Volkston Verabredungen, Zusammentreffen von Umständen, Mißverständnisse, unbegreifliche Verblendungen oder Selbsttäuschungen voraus, damit das wegraisonnierte Wunder auf die wunderbarste Weise natürlich hat geschehen können. Er nimmt seine Zuflucht zu einem jungen Ägyptier (Haram genannt, wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht), der mit Christus und dessen Verwandten Johannes dem Täufer im Bunde, vermittelst seiner aus Ägypten gebrachten Wissenschaften (die ein bißchen an Freimaurerei erinnern) alle diese sogenannten Wunder möglich oder sie den Leuten glaubbar macht. Noch unzählige andere, teils philosophische, teils poetische Erzeugnisse des jungen aufsprudelnden Geistes, in deutscher, französischer und englischer Sprache, erschienen jetzt. Den weggespoteten Religionsgefühlen warf man bald alles nach, was in der bürgerlichen Welt bisher geehrt und geachtet worden war, wenn man sich dessen zureichenden Grund nicht philosophisch vordemonstrieren konnte: Vaterlandsliebe, Anhänglichkeit an seinen Fürsten, Ehrfurcht vor dem Alter usw., dies alles wurde mit dem Worte Vorurteil gebrandmarkt. Es wurde gezeigt, daß die Scholle, auf der uns der Zufall das Licht der Welt hatte erblicken lassen, durchaus kein Recht auf unsere größere Liebe und Achtung habe als eine andere. Patriotismus wurde als eine Engherzigkeit; Anhänglichkeit an das angestammte Fürstenhaus als Schwäche und Aberglauben; Achtung und Liebe für das Alte, weil es eben alt und wohlbekannt ist, als lächerliches Vorurteil behandelt. Das ganze Mittelalter versank auf diese Art hinter uns in einen Abgrund von Nacht und Unscheinbarkeit, und wenn man sich erinnert, auf welche Art Friedrich II., der sogenannte Große, den Fund des Liedes der Nibelungen aufnahm, so darf man sich nicht wundern, wenn in Österreich bei den Aufhebungen der Klöster der Archive wenig oder gar nicht geachtet, Altertümer an Manuskripten, Gerätschaften, Arbeiten, Malereien als Produkte barbarischer Zeit geringgeschätzt, um Spottpreise verauktioniert oder wohl gar vertilgt wurden, nachdem man höchstens von alten, vielleicht unschätzbaren Dokumenten die goldenen Kapseln der Siegel abgeschnitten, die Schriften verbrannt oder in die Papierstampfe gegeben, die Kapseln aber als Pagamentsilber behandelt hatte. Ich erinnere mich auch sehr wohl eines Aufsatzes von Herrn von Kotzebue in einer Sammlung kleiner Schriften (wenn ich nicht irre, so hieß sie: die jüngsten Kinder meiner Laune), worin die Ehrfurcht für das Alter, die Unterordnung unter die Erfahrung desselben usw. als Begriffe dargestellt wurden, welche für unsere Welt nicht mehr paßten und sich nur traditionell aus einer Zeit herschrieben, in der noch keine Schrift, viel weniger der Druck existiert hatte und folglich die Alten, die einzige Quelle der Erfahrung, gleichsam die lebendige Tradition, Geschichte und Nachschlagebücher waren.
Doch so viele Schattenseiten man auch an jener Zeit nachweisen kann, in welcher die ersten Erschütterungen an dem Gebäude der bürgerlichen Ordnung und Stetigkeit gemacht wurden, das uns nun bald überall, infolge jener fortgesetzten Bemühungen, über den Köpfen einzufallen droht, so war sie doch auch eine Zeit frischen, schönen, regen Geisteslebens und vielleicht das goldene – nie wiederkehrende Zeitalter der deutschen Literatur, zumal im ästhetischen Fache. Überall zuckten die Funken lebhafter Geistestätigkeit auf, leuchteten hier mit mildem Lichte, das sich segensreich weiter und weiter verbreitete, blendeten dort wie gewaltige Blitze, fuhren auch manchmal wie täuschende Jrrwische hin und lockten den Nachfolgenden in Sümpfe. Wird es wohl nötig sein, hier auf Klopstock, Lessing, Goethe, Wieland, Schiller, Herder hinzuweisen? Wir in Österreich hatten unsern Denis, Sonnenfels, Jünger, Alxinger und viele andere, deren Leistungen leider jetzt vom Zeitenstrom weggespült sind, so wie man kaum mehr eines Gellert, Rabener, Hagedorn gedenkt und nur jene größern Namen stehen geblieben sind, die ich oben genannt. In allen Zweigen des Wissens regte sich eine lobenswerte Tätigkeit, man durfte frei denken und so dachte man wohl, wie Haller singt. Auch in die geselligen Kreise drang eine muntere Freudigkeit statt früherer Steifheit und veralteter Formen. Das Theater, welches Kaiser Josef seines unmittelbaren Schutzes würdigte, trug sehr viel zu diesen geselligen Freuden bei. Unsere Bühne ward unter der Leitung des Monarchen im deutschen Schauspiel bald eine der ersten Deutschlands, in der italienischen Oper vielleicht die erste damals existierende, Jtalien nicht ausgenommen; denn der Kaiser hatte auf seinen Reisen die Theater dieses Landes kennen gelernt, die besten Sänger und Sängerinnen selbst engagiert und von unserer Oper gingen die seconde und terze donne nach Italien zurück, um als erste überall aufzutreten. Schröder kam nach Wien, spielte zuerst Gastrollen und wurde sodann samt seiner Frau engagiert. Brockmann kam nach Wien, Lange war in der Blüte seiner Kraft, die beiden Jacquets, Katharina und Anna (nachmals Adamberger und Mutter der liebenswürdigen Schauspielerin unserer Zeit), Madame Sacco und viele andere machten die Leistungen unserer Bühne höchst glänzend, und das Publikum nahm auf eine Weise an dem Theater Teil, die von der jetzigen ganz verschieden ist. Es suchte geistigen Genuß, nicht bloßen Zeitvertreib, es wollte sein Gefühl anregen lassen, nicht bloß den Verstand im Tadeln üben. Es kam mit frischer Empfänglichkeit ins Theater, faßte jede Schönheit des Dramas sowohl als der Darstellung auf, verlangte nicht mit Übersättigung nur nach schnellem Dahineilen der Handlung und wurde durch eine tiefere psychologische Entfaltung der Motive nicht gelangweilt. So gab es sich dem Eindruck hin, den Dichter und Schauspieler hervorzubringen strebten und dies geistig bewegliche, für jede Schönheit empfängliche Publikum (nicht bloß hier, sondern in ganz Deutschland) erweckte in schöner, aber sehr natürlicher Wechselwirkung die dramatischen Genies, die sich gern einer so lohnenden Arbeit unterzogen, sowohl als Dichter wie als Schauspieler. Aus jener Periode stammen, nebst den obengenannten, Iffland, Fleck, Koch, die Unzelmann und viele andere, deren Namen mir nicht eben beifallen. In jener Periode traten Iffland und Schröder als Schauspieler und Schauspieldichter, Kotzebue und Jünger als Schauspieldichter auf, deren Stücke noch jetzt den Kern unserer Repertoire bilden und trotz des ganz veränderten Geschmackes oft lieber gesehen werden als die Erzeugnisse neuerer Zeit. So bewegte sich die gesellige Welt, geistig angeregt, aufs lebhafteste und genügendste in stetem Wechsel der Leistungen und Empfängnisse, und mitten in diesem freudigen Treiben der Geister wuchs ich empor und trat in die Periode, wo das Kind zur Jungfrau entblüht, das Herz zu fühlen, der Geist mit klarem Bewußtsein um sich zu blicken vermag.
Ich hörte und sah vieles, was von meinen früheren Ideen sehr abstach. Ich war religiös erzogen, und alle von der Kirche vorgeschriebenen Gebräuche waren bis zu jener Zeit im Hause sowohl als auch von mir beobachtet worden. Allmählich aber drang die neue Gesinnung auch bei uns ein. Gar manche der Freunde, die unser Haus besuchten und übrigens achtungswerte Menschen waren, dachten über die Religion sehr frei. – Nicht allein, daß sie sich in ihrem Herzen von jeder positiven Satzung losmachten und eigentliche Deisten, oft nicht einmal dies, sondern Materialisten und Atheisten waren, gab es auch viele unter ihnen, die unbesonnen genug waren, diese Gesinnung ungescheut im Gespräche laut werden zu lassen, sich von allen äußerlichen Beobachtungen der Religion, allen Vorschriften der Kirche los zu machen und in philosophischer Ruhe bequem dahin zu leben. Diese Gesinnungen, diese Beispiele sah ich täglich vor mir, und obwohl sie mich wohl zuweilen durch ihre Grellheit verletzten, so drang doch einiges davon auch in meinen Geist ein, erregte mir Zweifel, Unsicherheit und erkältete auf jeden Fall mein Gefühl. –
Gottes Gnade war es, deren Walten über mir ich recht sichtbar erkenne, wenn ich der Entwicklung meines Geistes und den Einwirkungen, die er von Zeit zu Zeit erhielt, nachsinne, daß Haschka, welcher, wie schon gemeldet, bei uns wohnte und sich meiner geistigen Ausbildung eifrig annahm, mir (vielleicht durchaus nur aus ästhetischen Rücksichten) die Noachide, Miltons verlornes Paradies, die Insel vom Grafen Stolberg u. dgl. zu lesen gab und, um mein von Natur glückliches Gedächtnis durch Übung zu stärken, zuerst alle Fabeln und Erzählungen von Gellert, Hagedorn, Lichtwer, dann aber auch die geistlichen Lieder des ersten sowohl als anderer Dichter auswendig lernen ließ. In jenen geistlichen Epopöen erschienen mir die Gottheit, die Engel wieder in dem würdigen hohen Licht, worin ich sie im gesellschaftlichen Leben gar nicht oder höchst selten betrachtet sah, und mein Herz ergriff eifrig diese durch die Phantasie ihm dargebotenen Vorstellungen, welche mit dem tiefsten Grunde meiner Seele so wohl zusammenstimmten. Ich behielt die schönsten von Gellerts Liedern auswendig (ich weiß sie noch jetzt großenteils), bediente mich seines Morgen- und Abendliedes zu meiner täglichen Andacht und hielt mir viele seiner frommen Sprüche gegenwärtig, so z.B. das schöne Lied: Du klagst und fühlest die Beschwerden des Standes, worin du dürftig lebst, in welchem wirklich ein Schatz von Erfahrung und Trost für jeden liegt; so endlich aus einem andern die Stelle: Denk an den Tod in frohen Tagen, kann deine Lust sein Bild vertragen, so ist sie gut und unschuldsvoll. Wohl sprang ich freudig und mutig auf keinem Ball herum, ohne mir nicht mehr als einmal während des Abends jenen Vers des frommen Mannes zurückzurufen und die Reinheit meines Genusses an diesem Prüfstein zu untersuchen. Gott sei Dank! ich fühlte nie Schrecken oder Angst bei dem Gedanken an einen möglichen nahen Tod.
Aus jenen Epopöen ging noch eine Vorstellung lebendig in meine Seele über – die der Engel und meines Schutzengels insbesondere. Meine Religionsbegriffe stimmten gar wohl damit überein, und so erkor ich mir den Engel Ithuriel, der im Milton vorkommt, wo er den Satan als Kröte am Ohr der Eva entdeckt und ihn, mit seinem Speere berührend, zur Entdeckung und Flucht zwingt, zu meinem Schutzengel oder vielmehr ich gab dem Geiste, dessen Schutz mich der Schöpfer bei meiner Geburt übergeben, diesen Namen. Dann erkor ich mir einen der schönsten Fixsterne – (späterhin erfuhr ich, daß es die, fast im Zenith stehende Lyra ist), in welchem ich mir Ithuriels Residenz dachte. Um aber auch ein deutliches Bild von ihm in meiner Phantasie zu bewahren, wählte ich mir einen überaus schönen Engel in Jünglingsgestalt, der auf einem Bilde in unserer Dorfkirche (zu Hernals, wo meine Eltern jeden Sommer zubrachten) der heiligen Barbara den Palmzweig aus den Wolken reicht. So also sah mein Schutzgeist aus, wohnte in dem schönen Stern, den ich in hellen Nächten über mir funkeln sah, umschwebte mich, beobachtete mich und war betrübt oder ungehalten, wenn ich Fehler beging. Jeden Abend examinierte ich mich nach Gellerts Selbstprüfung: Der Tag ist wieder hin, gleichsam in Gegenwart meines Schutzengels und glaubte zu fühlen, ob er freundlich oder strenge dabei aussah.
Zuweilen erschien er mir im Traum – unendlich schön, von weit mehr als menschlicher Größe, eine Krone von Rosen im hellbraunen Haar (jener auf dem Altarblatt war ganz blond) und meine Seele versank in Entzücken, Demut und Hingebung vor ihm; denn – wie ich jetzt wohl einsehe – die erwachenden Gefühle der Jungfrau mischten sich in die religiösen Vorstellungen, und der künftige Geliebte verschmolz mit dem schönen Schutzgeist. Wie vielen Anteil aber auch diese Täuschung an jener Verehrung meines Engels und an mancher religiösen Erhebung gehabt haben mochte, so erkenne ich doch, daß es sichtbare Waltung der Vorsehung war, die meinen, durch den Zeitgeist erschütterten Glauben und das Bessere in mir auf solche Weise bewahrte. Ich schrieb mir auch – in meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre – ein kleines Gebetbuch zusammen, in welches ich viele der Gellertschen Lieder eintrug und bediente mich dessen in der Kirche und zu Hause.
Kurz vor dieser Zeit hatte Haschka angefangen, mich in der lateinischen Sprache zu unterrichten, die ich mit vieler Lust ergriff und worin ich schnelle Fortschritte machte. Herr von Leon, der früher meines Bruders Mentor gewesen war, hatte unser Haus verlassen und eine Anstellung an der k.k. Hofbibliothek erhalten, die er auch bis zu seinem, erst vor einigen Jahren erfolgten Tode behielt. An seine Stelle kam ein anderer junger, aber sehr tüchtiger Mann, der später ebenfalls ein kaiserliches Amt erhielt und bis an seinen Tod ein treuer Freund unsers Hauses war. Dieser setzte den Unterricht im Lateinischen bei mir fort, indem ich die Lehrstunden meines Bruders besuchte, da Herr Haschka infolge mancher kleinen Mißverständnisse unser Haus verlassen hatte, obgleich er uns immerfort und fleißig besuchte.
Man hatte damals angefangen, Kinder und junge Leute mehr an Luft und jede Witterung zu gewöhnen. Es wurde also auch bei uns Sitte, daß ich, so oft es nur möglich war, mit meinem Bruder in Begleitung des Hofmeisters spazieren ging. Auf diesen Gängen, die im Winter nur durch die Straßen der Stadt geschahen, kamen wir denn sehr oft auf den Michaelsplatz, wo damals Artaria die erste, sehr schöne Kunsthandlung eröffnet hatte. Obwohl noch halbes Kind, fand ich doch viel Vergnügen an Gemälden und Kupferstichen, es war mir also sehr angenehm, wenn unser Weg bei Artaria vorüberführte und ich Gelegenheit fand, die Bilder zu betrachten. Bald aber zog eines vor allen meine Aufmerksamkeit an sich und machte einen tiefen Eindruck auf mein Herz. – Es war dies das berühmte Blatt (von Woollet, wenn ich nicht irre): der Tod des Generals Wolf in der Schlacht bei Quebeck. Die edle Gestalt des jungen sterbenden Helden, der erhabene Ausdruck seiner Züge, der im Sterben noch die Siegesfreude und das God be thanked bezeichnet, womit er die Nachricht empfängt, daß die Feinde flohen, die Trauer der ihn umgebenden Gefährten, die die Größe dieses Verlustes anschaulich machte, alles dies ergriff mich tief und General Wolf, der die Weltbühne zehn Jahre vor meiner Geburt verlassen hatte, ward der geheime Gegenstand einer – wahrlich schuldlosen Neigung und manches zärtlichen Gedichtes, das ich seinem Andenken weihte. – Alle Tage wußte ich es nun einzuleiten, daß wir bei Artaria vorüberkamen und ich mein Ideal zu sehen bekam; in unserm Garten errichtete ich ihm in einem schattigen verborgenen Winkelchen ein Denkmal, einen kleinen Erdhügel, auf den ich ein Kreuz pflanzte und ihn mit Blumen und Bändern schmückte, und so erhielt sich diese Geisterliebe eine Weile in meiner Phantasie.
Ich war stets gern im Sommer auf dem Lande, das heißt, in dem Garten meiner Eltern auf dem benachbarten Dorfe Hernals gewesen. Die freie Natur, Bäume, Blumen, das Gebirg in der Ferne, schöne Sonnenuntergänge und Mondnächte sprachen mein Gefühl an und es war mir immer leid, wenn wir im Herbste in die Stadt zurückkehrten. Ungefähr in dieser Zeit des Erwachens meiner Empfindungen erschien Vossens Luise, nämlich der Geburtstag, der Brautabend und der Morgenbesuch, jedes einzeln in den damaligen Hamburger Musenalmanachen.
Mir ging eine neue Welt in diesen Dichtungen auf. Das war es, was tief und unverstanden in mir gelegen hatte, dieses stille, ländliche Leben, diese genügende Begrenzung, dieser Frieden, dieses häusliche Glück! In solchen Szenen konnte ich auch das meinige finden, und ein Arnold Ludwig Walter5 schwebte mir in seinem würdigen Ernst, seinem frommen Sinn, seiner priesterlichen Hoheit als das Wünschenswerteste vor Augen, was ein Mädchen erreichen konnte. Daß es gerade ein Geistlicher war, erhöhte bei mir seinen Wert. Ich hatte Sophiens Reisen von Memel nach Sachsen gelesen und wieder gelesen; denn der Roman hat sicher große Vorzüge und es ist schade, daß er so vergessen ist. Auch hier stand ein pastorlicher Held, Herr Eduard Groß, vor allen übrigen glänzend, kräftig und edel da. – Ja! eines solchen Mannes, gerade eines Geistlichen Frau zu werden, in ländlicher Stille mit ihm zu leben, die Heiligung zu fühlen, die sein gottverwandter Sinn, sein frommer Wandel um sich verbreitet, ihm anzuhängen, ihm freudig zu gehorchen, mich kindlich von seiner Tugend und Frömmigkeit leiten zu lassen, erschien mir als das schönste Los, das ich erstreben konnte; und diese Richtung, die damals meine Empfindungen nahmen oder vielmehr wie sie sich aus meinem Innern entfalteten, blieb so ziemlich der Typus, der ihnen für immer eingedrückt war.
Nun gab mir Haschka Unterricht in den schönen Wissenschaften, und Batteux war unser Lehrbuch, aus welchem ich Auszüge zu machen angehalten wurde, so wie aus Erxlebens Physik, in welcher mich Haschka ebenfalls unterwies. Überhaupt mußte ich viel schreiben, übersetzen, aus dem Lateinischen und Französischen, und Auszüge aus den Lehrbüchern, Exzerpte aus Gedichten machen. Ich halte dies für eine sehr nützliche Übung für junge Leute, und glaube, daß ich ihr vieles verdanke; denn ich gewöhnte mich, den eigentlichen Sinn, den Kern jedes Vortrags aufzusuchen, zu fassen und deutlich darzustellen, was mir später von vielfachem Nutzen war, und jene Exzerpte oder Anthologien leiteten mich dahin, die Schönheiten eines Werkes zu studieren, zu empfinden, und mir gleichsam eigen zu machen.
Nachdem ich diesen Unterricht nach Batteux ziemlich gefaßt hatte, fing ich an, mich in Fabeln und Idyllen zu versuchen. Geßner, Voß, Virgil, eine deutsche Übersetzung des Theokrit wurden mir in die Hand gegeben, und ich schrieb eine Menge Zeugs in Geßnerscher poetischer Prosa oder in Hexametern nieder, das längst untergegangen ist, weil es kein besseres Schicksal verdiente, das aber doch dazu diente, mich im Stil und Vortrag zu üben.
So erreichte ich mein fünfzehntes Jahr und mithin eine bedeutendere Epoche meines Lebens. Meine Eltern waren mit der Familie jener Frau von Häring, der Patin meines verstorbenen Schwesterchens, nicht bloß weitläufig verwandt, sondern seit langem durch Bande herzlicher Freundschaft verbunden. Herr von Häring hatte zwei Söhne und zwei Töchter, die alle um einige oder auch viele Jahre älter waren als ich, wie denn die ältere Tochter nicht mehr als ein ganz junges Mädchen einem Bankier »von Schwab« die Hand gab, als ich kaum zehn oder elf Jahre zählte. Der jüngere Sohn, ein sehr hübscher Jüngling, ebenfalls um 8–9 Jahre älter als ich, hatte mir immer freundlich begegnet, und sein meisterliches Violinspiel meine Aufmerksamkeit auf ihn geheftet, ohne daß ich etwas weiteres dabei dachte. Nun war er ein paar Jahre auf Reisen gegangen, hatte Frankreich, England, einen großen Teil von Deutschland gesehen, und wurde mit großen Hoffnungen von seiner hohen Ausbildung und moralischen Vortrefflichkeit im Vaterhause und in dem ganzen Freund- und Verwandtschaftskreise zurück erwartet.
Er kam an und einer seiner ersten Gänge war zu den treuen Freunden seiner Eltern, zu uns. Ich hatte wenig oder gar nicht an ihn gedacht; aber ich wurde doch sehr frappiert, als er eines Abends, da eben wie immer Gesellschaft bei uns war, eintrat. Seine natürlich vorteilhafte Gestalt hatte sich noch angenehmer ausgebildet. Er war von mehr als mittlerer Größe, blond, mit blauen Augen, bedeutenden Zügen und ernster würdiger Haltung, hatte durchaus nichts Gecken- oder Stutzerhaftes, vielmehr etwas Gehaltnes, das fast bis ans Strenge ging. Eine Nadel in meiner Stickerei ging mir über dem Anschauen des hübschen Jünglings verloren, und als ich sie am Boden suchen wollte, kam er selbst – o welcher Zuwachs an Verwirrung! – mir zu helfen. Von dem Augenblicke an, war meine Unbefangenheit dahin, und wenn ich mich gleich recht wohl erinnere, daß von jenem »Blitz, der in zwei Herzen zugleich einschlägt«, von jenem »Vorgefühl, daß jetzt das Schicksal unsers Lebens entschieden sei«, gar nichts in meiner Seele war, vielleicht schon darum nicht, weil jene Ideen, Geburten einer spätern phantastischern Zeit, damals nicht Mode waren, so weiß ich doch noch recht gut, daß ich glaubte, Herr v. Häring könnte so ziemlich dem Ideal entsprechen, das ich mir von einem vollkommenen Manne entworfen hatte.
Auch er schien von ähnlichen Gefühlen für mich beseelt; sei es nun, daß ich ihm wirklich gefallen oder daß die Betrachtung der mancherlei Vorteile, welche eine Verbindung mit der Tochter des angesehenen und vermöglichen Hofrates Greiner bringen konnte, ihm selbst einleuchtete oder von seinen Verwandten, die auch die unsrigen waren, angeraten wurde – genug, er näherte sich mir auf entschiedene, nicht zu mißverstehende Weise, und mein jugendliches Herz war ganz glücklich in diesem Gefühl einer ersten, tugendhaften, und von beiden Familien gut geheißenen Liebe. Daß Häring trotz seiner Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sich immer in einer gewissen ruhigen Haltung gegen mich zu behaupten wußte, die von einem lebhaftern Geiste manchmal zu Übereilungen hingerissen wurde; daß er diese Übereilungen liebreich, aber offen tadelte; daß er überhaupt hier und dort manches zu hofmeistern an mir fand, irrte mich lange nicht. Mein Ideal war ja ernst, besonnen, weise, viel etwas besseres als ich selbst, und so nahm ich jede Zurechtweisung demütig und willig hin. Noch ein zufälliger Umstand trat hinzu, um dies untergeordnete Verhältnis auszubilden. Häring besaß die Musik, in der auch ich mich nicht ohne Beifall übte, in sehr hohem Grad. Er hatte vor seiner Reise die Violine meisterlich gespielt, und diese Fertigkeit während jener Jahre in der Fremde noch ungleich höher ausgebildet. So stand er in dieser Rücksicht als vollendeter Virtuose vor mir, der den Dilettanten kaum ahnen ließ. Er akkompagnierte mir nun beständig, er studierte die herrlichen Werke Mozarts und Haydns mit mir ein; er hielt mich streng, ließ mir den kleinsten Fehler in Takt oder Betonung nicht hingehn, und meine Neigung für ihn, so wie mein hoher Begriff von seiner Vortrefflichkeit machten mich zur gelehrigen Schülerin und gaben diesen Musikübungen einen namenlosen Reiz. Sehr oft unterhielten wir uns, ein bißchen kindisch, ich muß es zugeben, damit, irgend einem gehaltvollen Tonstücke jener Meister einen Redesinn, eine dramatische Handlung oder Situation unterzulegen, die wir dann durch dasselbe vollkommen ausgedrückt zu hören vermeinten. Das war eine gar zu angenehme Unterhaltung für mich, und daß unsere Meinung sehr oft nicht zusammentraf, daß Häring in demselben Tonstück, das mir ein Gewitter darzustellen schien, eine Schlacht zu erkennen glaubte, oder, wo ich eine Klage der Sehnsucht fand, einen verliebten Vorwurf hörte usw. – schien mir natürlich; denn jene Bedeutungen waren gar zu willkürlich, um sehr bezeichnend zu sein. Nur gefiel es mir nicht, daß seine Auslegungen oft gar zu trocken und prosaisch klangen.
Auch in der englischen Sprache, die damals, vor 50 Jahren, Mode zu werden anfing, die Häring schon früher mit Fleiß und Genauigkeit getrieben, und in England, wo er mehr als ein Jahr lebte, zu großer Fertigkeit gebracht hatte, wurde er mein Meister. Wir lasen zusammen englische Gedichte, Romane usw. Er gab mir ordentliche Pensa auf, die ich übersetzen mußte, und deren Fehler er korrigierte; aber hier waren meine Progressen denen in der Musik nicht gleich. Das Studium einer Sprache hat stets etwas Trockenes, Härings Methode wußte diese Trockenheit nicht zu mildern, mich fing das an zu langweilen, und ich dachte zuweilen, daß er die nicht häufigen Stunden, in welchen wir ungestört beisammen sein konnten, mit etwas Besserem als grammatikalischen Übungen ausfüllen könnte. So blieb die englische Sprache bald beiseite liegen, und erst lange Jahre darnach, als Walter Scotts und Byrons Schriften die ganze lesende Welt in Deutschland in Bewegung setzten, suchte ich mein fast ganz vernachlässigtes Englisch hervor, und trieb es mit Eifer, um jene Meisterwerke im Original genießen zu können.
Nach und nach suchte Häring statt der englischen Lektionen eine andere Beschäftigung in unsere Stunden des Beisammenseins einzuführen. Er brachte mir Bücher, mitunter gute, und las sie mir vor. Hätte ich sonst keine Gelegenheit gehabt, meinen Geist auszubilden, so wäre diese Bemühung meines Freundes immer dankenswert gewesen. So aber konnte sie in dieser Richtung kein großes Verdienst ansprechen; denn im Hause meiner Eltern und unter ihrer ebenso liebevollen als sorgfältigen Leitung mangelte es mir weder an Gelegenheit, noch an Zeit und Aufmunterung, meinen Geist mit den mannigfaltigsten Kenntnissen zu schmücken. Außer den Dichtern: Denis, Leon, Haschka, Alxinger, Blumauer usw., welches damals berühmte Namen waren, besuchten auch Männer von strengen Wissenschaften häufig unser Haus, wie ich schon früher angeführt. Überdies reiste beinahe kein fremder Gelehrter oder Künstler nach Wien, der nicht Empfehlungsschreiben an Haschka oder unmittelbar an meine Eltern hatte, und sich von jenem vorstellen oder durch seine Briefe einführen ließ. So kamen der berühmte Reisende Georg Forster, die Professoren Meiners und Spittler, Becker, Gökkingk, der Schauspieler Schröder aus Hamburg, viele Musiker, Kompositoren, wie Paisiello, Cimarosa, zu uns; und daß die einheimischen Künstler Mozart, Haydn, Salieri, die Gebrüder Hickhel (Kammermaler des Hofes), Füger und andere nicht fehlten, versteht sich von selbst. Im Umgange mit diesen Menschen, deren bloßes Gespräch schon an sich selbst Unterricht für einen empfänglichen Geist war, von manchem unter ihnen aber, wie von Haschka, Leon, Alxinger, Maffei usw. wirklich in verschiedenen Gegenständen des Wissens angeleitet, bedurfte ich keiner Nachhilfe von Seite meines Freundes, ja, seine Bemühungen, allerlei Bücher mit mir zu lesen, oder mich im Englischen zu unterrichten, schienen mir in der Stellung, in welcher ich mich befand, überflüssig und unpassend; denn meine Phantasie hatte sich angenehmere Bilder von herzlichen Mitteilungen und süßem Gekose entworfen, welches die Stunden unsers Beisammenseins hätte ausfüllen, und ihm kein Verlangen nach einer trockenen Lehrstunde nähren lassen sollen, die mir wie ein Lückenbüßer der Langweile vorkam.
Allmählich drängten sich mir auch andere Bemerkungen auf. Nicht Häring allein, auch andere junge Männer, die unser Haus besuchten, brachten mir ihre Huldigungen; denn damals war es noch Sitte, daß die Männer in Gesellschaft sich um die Frauen und Mädchen bemühten, und jede, die einige äußere oder innere Vorzüge besaß, einen kleinen Hof um sich sah, der, wenn auch ohne bestimmte Aussicht oder Hoffnung, sich bestrebte, der verehrten Königin gefällig zu sein. Diese nun fanden alles, was und wie ich es tat, gut und liebenswürdig, während Häring stets etwas an mir zu tadeln und zu hofmeistern hatte, das, wie eben der erste Zauber verschwunden war, greller hervortrat, mir manche Stunde des Beisammenseins verbitterte, manche unangenehme Erörterung herbeiführte, und mich in eben dem Maße gegen ihn kälter machte, in welchem ich mich immer mehr von seiner Kälte überzeugt glaubte. Dazu kam noch die Beobachtung, daß diese Kälte meistens nur erschien, wenn wir allein waren; vor den Leuten aber einem aufmerksamern, wärmern Benehmen wich, das mir zugleich so eingerichtet vorkam, um die Welt an Sicherheit und Unveränderlichkeit unsers Verhältnisses glauben zu machen.
Herr v. Alxinger, der warme und treue Freund unsers Hauses, hatte etwa um diese Zeit oder etwas früher eine allerliebste poetische Epistel an mich gedichtet, in der er mir sehr heilsame Lehren, besonders in Rücksicht auf sein Geschlecht, gab, und worin es unter andern heißt:
Von zwanzig Jünglingen, die sich
Wie Satelliten um Dich drehen,
Liebt auch vielleicht nicht Einer Dich.
Den blendet der Dukaten Schimmer,
Die Deiner warten, den reizt deines Vaters Rang,
Den lockt Dein Witz, den Deiner Saiten Klang,
Und Jener liebt in Dir nur bloß das Frauenzimmer.
(Dieser letzte Vers drückt dieselbe Idee aus, welche Grillparzer 40 Jahre darnach in die Worte hüllte:
– aber nicht, weil es die Rose,
Weil es – eine Blume ist).
Ich merkte mir diese Stelle sehr wohl, so wenig Schmeichelhaftes sie auch für meine Eitelkeit enthielt. Sie drückte sich meinem Gedächtnisse ein; ich fing an, Härings Betragen daran zu prüfen, und ob ich gleich nicht entscheiden will, welche der dort aufgeführten Bezeichnungen gerade auf ihn paßte, so trat doch die Vermutung, daß ich nicht geliebt sei, wie ich es hätte sein sollen, wie ich es wünschte, wie ich es, wenigstens im Anfange selbst getan hatte, immer deutlicher hervor, und bildete sich durch jede Beobachtung, jeden Zwist mit meinem Freunde, jede seiner Zurechtweisungen bestimmter aus.
Noch eine Wahrnehmung gesellte sich dazu, die vollends mein Gemüt von ihm wandte. Ich habe früher schon erwähnt, daß mein religiöses Gefühl, trotz des Zeitgeistes und des ganz entgegengesetzten Tones, der um mich herrschte, sich ziemlich lebendig in mir erhalten, und ich sehr gewünscht hatte, bei näherer Bekanntschaft mit meinem Freund über jene Gegenstände, die mir so wichtig waren, zu sprechen, mich von ihm belehren, mein Gemüt durch ihn erheben zu lassen. Statt dessen machte ich nach und nach die höchst unerfreuliche Entdeckung, daß auch Häring dem Zeitgeiste wie fast alle jungen Leute huldigte, daß er beinahe nichts glaubte, und die kirchlichen Gebräuche, gegen welche meine Eltern stets Ehrfurcht beobachtet, und mich dazu angehalten hatten, nicht bloß geringschätzte, sondern verhöhnte. Er brachte meiner Mutter allerlei Bücher, z.B. das Système de la nature, Les liaisons dangereuses, und las sie ihr vor – wo ich denn auch dort und da ein Stückchen zu hören bekam. Das tat mir alles im Anfange sehr weh; ich versuchte es, mit Häring darüber zu sprechen, ihm die Schädlichkeit und Falschheit seiner Ansichten zu zeigen, aber ich kam übel an. So wie der Spötter und Leugner bei jedem Streite immer das leichtere Spiel hat, so ging es auch hier. Ich war zu wenig in diesem Fache tief unterrichtet, und meine Religion zu sehr Sache des Gefühls, des Glaubens, was sie wohl im Grunde überall sein muß, um in dem Streit mit einem entschiedenen Widersacher auszulangen, der nun einmal alles Positive der Religion verwarf, und vielleicht, ich erinnere mich dessen nicht mehr genau, sogar an den Atheismus streifte. Diese Erörterungen griffen schmerzlich in mein Inneres ein. Sie wurzelten meine erste, mir einst so werte und beglückende Liebe gänzlich aus, und erschütterten noch überdies meine Ruhe, indem, teils aus Härings Ansichten, teils aus Büchern, teils aus den Gesprächen, die ich häufig um mich führen hörte, Zweifel und Unsicherheit in mein Herz drangen.
Drei Jahre hatte nun meine Verbindung mit diesem Manne gewährt; ich hatte mein achtzehntes Jahr erreicht, und jeder Tag ließ es mich deutlicher erkennen, daß wir zwei nicht für einander geschaffen waren; dennoch schleppte die Sache sich noch eine Weile hin, da Häring keine Lust und ich nicht Entschlossenheit genug hatte, um förmlich zu brechen. Eine Verkettung von Umständen trat wohltätig ins Mittel. Härings Aussichten, bald zu einer Stellung in dem Handelshause seines Schwagers »von Schwab«, in dem er angestellt war, zu gelangen, welche ihm, wie wir seit langer Zeit hofften, die Möglichkeit geben sollte, mir seine Hand zu bieten, und einen kleinen, aber anständigen Haushalt zu beginnen, trübten sich plötzlich. Aus widerwärtigen und sehr gemeinen Streitigkeiten mit den übrigen Interessenten ging nur allzu deutlich Härings prekäre Stellung in ihrer Mitte hervor. Mein Vater und noch ein Freund der gesamten Familie nahmen sich endlich ernstlich der Sache an, jene Streitigkeiten wurden beigelegt, Häring behielt seine Anstellung; aber dieser Vorfall hatte meinen Eltern die Überzeugung gegeben, daß mein Schicksal als Härings Frau ganz von den Launen und dem Eigensinne einer gewissen Person abhängig sein würde, welche in jenem Streite eben die Hauptrolle gespielt, und durch einen plötzlichen Umschwung der ganzen Verhältnisse gezeigt hatte, welche Macht sie über dieselben besaß, und wie alles sich ihrem Willen würde beugen müssen!
Diese Aussicht in die Zukunft machte meinen Eltern für mein Glück bange, und da ihnen in unserm gegenseitigen Betragen die Erkaltung unserer Neigung längst bemerklich geworden war, so fing meine Mutter an, ernsthaft über diese Angelegenheit mit mir zu sprechen. Sie gab mir zu bedenken, daß man bei einer Heirat die innere Zufriedenheit oder wenigstens äußere Vorteile beabsichtigen müsse. Sie machte mich darauf aufmerksam, daß meines Freundes Zukunft in ökonomischer Hinsicht nichts weniger als gesichert sei, wie die erst abgetane Geschichte bewiesen hatte, und sie fragte mich dringend, ob ich denn Liebe genug für ihn fühlte, und auch der seinigen gegen mich auf einem solchen Grade sicher sei, um, falls wir künftig vielleicht durch feindselige Einwirkungen, welche bei Härings Lage nur zu wahrscheinlich waren, in beschränkte Umstände geraten sollten, für die äußern Vorteile durch inneres Glück entschädigt zu werden.
Da stand ich nun, und wußte nichts genügendes zu antworten, ja ich mußte die Frage meiner Mutter, die ich nur als zu gegründet erkannte, wenn ich aufrichtig sein wollte, geradezu verneinen. Nein! Ich fühlte diese Liebe, die für alles entschädigen konnte, längst nicht mehr, und Häring hatte sie, wenn ich der Sache recht nachsann, wohl nie gefühlt. –
Unsere Trennung wurde also beschlossen. Sie tat mir weh, so klar ich auch überzeugt war, daß unsere Verbindung keinem von beiden mehr Glück bringen würde. Mein Herz hatte die alten Bande liebgewonnen, weil sie eben alt waren, und es kostete manchen Kampf, bis endlich die Vernunft siegte, und ich meinem Freunde schriftlich meinen Entschluß erklärte. Eine Weile glaubte ich in manchen Augenblicken an den Schmerz, den er zeigte; – allmählich aber erkannte ich, daß seine Ruhe und Behaglichkeit zu fest gegründet waren, um durch meinen Verlust erschüttert zu werden, und daß sein Bestreben eigentlich nur dahin ging, vor der Welt noch stets als mein Liebhaber zu gelten. Um dies zu erreichen, drängte er sich auffallender als je an mich, und wie ich, geärgert durch dies absichtsvolle Benehmen, mir erlaubte, es ihm fühlen zu lassen, entdeckte ich zu meinem großen Mißfallen und Ärger, daß er mein nachlässiges, ja manchmal unartiges Benehmen gegen ihn ganz geduldig hinnahm, sich, wenn wir allein waren, alle Kälte, alle Bitterkeit von mir gefallen ließ; aber in den Gesellschaften unserer Bekannten und Verwandten, wo wir uns, trotz unseres Bruches, zu sehen nicht vermeiden konnten, meinen Liebhaber zu spielen fortfuhr.
Wie sehr mich dies Betragen empörte, wird man leicht erachten, wenn man bedenkt, wie hoch meine erste Meinung von Härings moralischem Wert, wie schwärmerisch überhaupt meine Meinung von der Würde des Mannes war, der eine gebildete, feinfühlende Frau wirklich beglücken könne; wenn man weiß, daß ich ziemlich viele Romane gelesen, mir aus diesen Ideale abgezogen, und endlich in der eigenen Phantasie lebendige Farben und Wärme genug gefunden hatte, um diese Bilder aufs Glänzendste auszumalen. Nun war auch jeder Kampf zu Ende, jede Rücksicht beseitigt. Ich erklärte Häring mündlich, aber mit großer Ruhe und Kälte, es sei alles zwischen uns geendet; ich wolle aber, daß die Welt es auch erfahre. Ich bäte ihn daher, sein Betragen darnach einzurichten, so wie ich meinerseits mich auch demgemäß gegen ihn verhalten würde. So erhielt ich endlich meine völlige Freiheit, und daß wir beide nach wie vor uns in den Zirkeln unserer Bekannten trafen, auch wohl zuweilen miteinander musizierten, späterhin auch auf unserm Haustheater miteinander spielten, ohne den geringsten Schmerz zu fühlen, war wohl der triftigste Beweis von der vollkommenen Gleichgültigkeit und Kälte, die in uns beiden herrschten. Es war wirklich ein seltsames Verhältnis!
Dies erste Band war nun gelöst oder vielmehr es war, wie eine Gerätschaft, die sich abnützt, auseinander gefallen. Mein Herz war unbeschäftigt, meine Phantasie hatte während der ganzen drei Jahre geschlummert, gleich als ob die Prosa, welche das Gemüt meines Freundes beherrschte, sich auch mir mitgeteilt und alle meine dichterischen Anlagen getötet oder eingeschläfert hätte. Sie fingen an, sich wieder zu regen, ich dichtete Lieder, Idyllen, ich träumte mir eine schöne Ideenwelt, und lebte in der wirklichen auch ganz vergnügt, indem ich an allen Freuden und Unterhaltungen, die teils unser eigenes Haus, teils die Häuser unserer Freunde oder öffentliche Feste mir darboten, lebhaften Anteil nahm.
Aber in der Tiefe meines Herzens oder – vielleicht meiner Phantasie lebte das Bedürfnis, einen ausschließenden Gegenstand meiner Neigungen zu finden, an welchen diese Phantasie mit ihren Bildern sich heften konnte. Da brachte der ausbrechende Türkenkrieg einen jungen Mann, den ich früher kennen gelernt, und dessen Erscheinung nicht spurlos an mir vorübergegangen war, obwohl ich damals, meines Verhältnisses zu Häring wegen, keinen andern Gedanken in mir aufkommen ließ, nach Wien und in meine Nähe. Er war der Sohn eines hochgestellten Offiziers, eines alten Bekannten meiner Eltern, noch vom Hofe der Kaiserin her, und selbst schon Offizier. Ein paar Jahre früher hatte dieser junge Mann auf dem Lande in unserer Nachbarschaft bei Härings Eltern während der Ferien gewohnt, und sich durch Feldmessen, geometrische und mathematische Studien für seinen Beruf vorbereitet. Er war ein zierlicher Dichter, überhaupt sehr gebildet, von zartem Wuchs, feiner Gesichtsbildung, und, was für mich stets anziehend war, mit einem sehr wohlklingenden Sprachorgane begabt. In den Bäumen jenes Gartens, in welchem er damals wohnte, standen mancherlei Verse, die mir galten. Häring selbst hatte sie mir gezeigt, und sich wohl auch ein bißchen über den Dichter lustig gemacht. Bei mir waren diese Bemerkungen nicht auf die Erde gefallen. Baron K., den ich Fernando nennen will, war überhaupt der Aufmerksamkeit in vielem Betracht würdig, und wurde seitdem auch von mir nicht ohne Interesse betrachtet. Wir sahen uns zuweilen, wo er mich stets mit zarter Ehrfurcht auszeichnete, und als er zum Regimente abging, einen sehr bewegten Abschied von mir nahm. Während dieser Abwesenheit löste sich mein Verhältnis zu Häring ganz auf, und als Fernando bei Eröffnung des ersten türkischen Feldzuges wieder nach Wien kam, sah ich ihn mit ganz andern Augen. Indessen blieb vor der Hand alles zwischen uns, wie es war, nur daß mein Herz und meine Einbildungskraft an allen Bulletins, die damals von den Diesseitigen und Jenseitigen (wie man unpassender Weise in den schlechtgeschriebenen Extrablättern Freund und Feind nannte) erschienen, sehr lebhaften Anteil nahm, und ich mich stets von dem Stande des Hauptquartiers, in welchem damals Fernando bei dem, später durch verschiedene Schicksale merkwürdigen Generalquartiermeister Baron von Mack als Adjutant stand, zu unterrichten suchte.
Schon diese Anstellung, das Vertrauen, welches ihm Baron Mack schenkte, und der Gebrauch, den er von den Fähigkeiten des jungen Offiziers machte, bewiesen sehr für Fernandos Geschicklichkeit und Wert, und erfreuten mein Herz, das nun in Liedern und Dichtungen freudig aufging, und mit dem bewegtesten Anteil die Zeitungsnachrichten ergriff. Um diese Zeit erschien Goethes Egmont. Wie so lebhaft konnte ich mit Clärchen sympathisieren, und das Liedchen, zu dem ich mir selbst eine Melodie auf dem Klaviere ausgesonnen hatte, singen:
Die Trommel gerühret,
Das Pfeifchen gespielt!
Mein Liebster bewaffnet
Dem Haufen befiehlt!
Das Leben in meiner Eltern Hause gestaltete sich um diese Zeit sehr angenehm, wie denn überhaupt in ganz Wien damals ein fröhlicher, für jedes Schöne empfänglicher, für jeden Genuß offener Sinn herrschte. Der Geist durfte sich frei bewegen, es durfte geschrieben, gedruckt werden, was nur nicht im strengsten Sinne des Wortes, wider Religion und Staat war. Auf gute Sitten ward nicht so sehr gesehen. Ziemlich freie Theaterstücke und Romane waren erlaubt und kursierten in der großen Welt. Kotzebue machte damals ungeheures Aufsehen; – sein Menschenhaß und Reue, seine Indianer in England, seine Sonnenjungfrau, meisterlich von dem damaligen Personale: Madame Sacco, Adamberger (Mutter), Katharine Jacquet, Madame Nouseul, den Herren Lange, Brockmann, Müller, Dauer, Schütz usw. vorgestellt, waren eine geistige Angelegenheit des Publikums, und nicht wie jetzt bloße Ausfüllung der Avantsoiréen; denn damals gab es dies Erzeugnis der Langweile und Abstumpfung noch nicht, und selbst die höchsten Klassen der Gesellschaft widmeten in der Regel bloß den spätern Nachmittag und Abend bis etwa zehn Uhr der Geselligkeit.
Alle jene obengenannten Stücke, sowie Gemmingens deutscher Hausvater (nach Diderot), der Ring von Schröder, viele andere, die im Strom der Vergessenheit versunken sind und eine Menge Romane und Erzählungen (ich weise vor andern auf Meißners Skizzen hin) waren auf lauter unanständige Verhältnisse gegründet. Ohne Arg und Anstoß sah, bewunderte, las sie die Welt und jedes junge Mädchen. Ich hatte alles dies mehr als einmal gelesen oder gesehen, der Oberon war mir wohlbekannt, so wie Meißners Alcibiades. – Keine Mutter trug ein Bedenken, ihre Tochter mit solchen Werken bekannt zu machen, und vor unsern Augen wandelten der lebenden Beispiele genug herum, deren regellose Aufführung zu bekannt war, als daß irgend eine Mutter ihre Töchter in Unwissenheit darüber hätte erhalten können.
Sehr viele, ja die meisten jungen, hübschen Frauen unter dem ersten und zweiten Adel hatten verliebte Verhältnisse mit andern Männern, oft mit solchen, die ihren eigenen Frauen untreu, aber dabei wohl überzeugt waren, daß auch diese sich ihrerseits zu entschädigen nicht versäumten. Bei vielen war es Sache des Herzens oder der Eitelkeit, der Mode, wenn man will, bei manchen lag eine niedrigere Absicht zugrunde und man nannte die Summen, für welche jene oder diese ihre Treue, ihre Ehre, ihr Bewußtsein an irgend einen reichen Wollüstling verkauft hatte. Bei manchen Ehen war der eigene Mann verworfen genug um den Handel selbst zu schließen, bei den meisten, wenn auch dies Ärgste nicht geschah, schloß er freiwillig die Augen vor dem Aufwand, der in seinem Hause herrschte und den seine Einkünfte zu beschaffen, nicht imstande waren, den er sich aber wohl gefallen ließ und mitgenoß.
In andern Ehen, wenn auch die Frauen ihre sittliche Würde behaupteten und ein geregeltes Leben führten, gingen die Männer ihren Abwegen außer dem Hause nach und tyrannisierten im Hause Frau, Kinder und Gesinde. Solche Männer wählten sich daher vorzugsweise gern sehr beschränkte Frauen, deren Einsicht und Wissen sich nicht weiter als auf Küche und Haushalt; erstreckte und diese Ehemänner, die keinen Begriff von häuslicher Glückseligkeit und weiblicher Würde hatten, vielmehr dies alles verachteten und verlachten, wie sie Religion und Sitte verlachten, gehörten meistens zum Orden der Freimaurer.
Ein charakteristisches Merkmal jener Zeit unter Kaiser Josef waren die Bewegungen, welche durch die sogenannten geheimen Gesellschaften in der geselligen Welt hervorgebracht wurden. Der Orden der Freimaurer trieb sein Wesen mit einer fast lächerlichen Öffentlichkeit und Ostentation. Freimaurerlieder wurden gedruckt, komponiert und allgemein gesungen. Man trug Freimaurerzeichen als joujoux an den Uhren, die Damen empfingen weiße Handschuhe von Lehrlingen und Gesellen, und mehrere Modeartikel, wie die weißatlassenen Müffe mit dem blauumsäumten Überschlage, der den Maurerschurz vorstellte, hießen à la franc-maçon. Viele Männer ließen sich aus Neugier aufnehmen, traten dann, wenn der frère terrible nicht gar zu arg mit ihnen umsprang, in den Orden, und genossen wenigstens die Freuden der Tafellogen. Andere hatten andere Absichten. Es war damals nicht unnützlich, zu dieser Bruderschaft zu gehören, welche in allen Kollegien Mitglieder hatte, und überall den Vorsteher, Präsidenten, Gouverneur in ihren Schoß zu ziehen verstanden hatte. Da half denn ein Bruder dem andern; und wie man von dem würdig geheimnisvollen Orden der Pythagoräer erzählt, ging es hier auf unwürdigere und minder geheime Weise. Die Bruderschaft unterstützte sich überall; wer nicht dazu gehörte, fand oft Hindernisse, und dies lockte viele. Wieder andere, die ehrlicher oder beschränkter waren, suchten mit gläubigem Sinn höhere Geheimnisse, und glaubten Aufschlüsse über geheime Wissenschaften, über den Stein der Weisen, über Umgang mit Geistern in dem Orden zu erhalten. Da gab es allerlei Arten und Abteilungen der Maurerei – Rosenkreuzer, Templer, Schottische Maurer usw., endlich sogar die Illuminaten, und es ward damit in den letzten Jahren der Regierung Kaiser Josefs großer Spektakel und wohl auch großer Unfug getrieben. Indessen wäre es undankbar, nicht auch das wenige Gute, das diesem an sich trüben Quell entfloß, zu erwähnen. Wohltätig waren die Freimaurer gewiß. In ihren Versammlungen wurden sehr oft Kollekten für Arme oder Verunglückte gemacht; und Prinz Leopold von Braunschweig, der bei einer Wassernot, als er den Bedrängten mit Lebensgefahr Hilfe brachte, selbst den Tod fand, war ein glänzendes Beispiel, mit dem der Orden sich sehr brüstete.
Diese einzelnen Züge, welche die Zeit bezeichnen, wie sie damals war, werden dem Leser zeigen, daß, so rege auch das geistige Leben war, so viele Fortschritte die Bildung und Aufklärung damals machte, doch auch manches anders und leicht besser hätte sein können und wenn unsere jetzige Zeit nichts vor derselben voraus hätte als eine größere Beobachtung des äußern Anstandes, so wäre dies schon dankenswert. Aber sie hat unstreitig noch manchen andern Vorzug. Wer lange genug gelebt hat, um Vergleichungen mit unparteiischen Augen anstellen zu können, wird gestehen müssen, daß das häusliche Leben, die ehelichen Verhältnisse, die Kinderzucht, die Stellung der Kleinen gegen die Eltern viel besser und zweckmäßiger, sowie überhaupt der ganze gesellschaftliche Ton feiner und geschliffener ist, und selbst aus den untern Ständen und aus ihrem Umgange sich das allzu Rohe und Derbe verloren hat. Wohl hat die viel weiter verbreitete Bildung dies letztere bewirkt, und auch an den ersten Verbesserungen ist ihr Anteil nicht zu verkennen. Indessen glaube ich doch, daß das Beispiel nicht bloß unseres, sondern der meisten europäischen Höfe, wo das Maitressenleben und die arge Zügellosigkeit des achtzehnten Jahrhunderts verschwunden sind, viel zu der Beobachtung wenigstens des äußern Anstandes beigetragen hat.
In jener Zeit hatte denn auch die Gärung in den politischen Ideen ihren höchsten Punkt erreicht. Die Revolution brach in Paris aus. Ihre Vorboten hatten sich schon früher in Lyon gezeigt, und eine achtbare Familie, deren Haupt, Baron Geramb, eigentlich aus Ungarn stammte, und sich in Lyon, wo er geheiratet, niedergelassen hatte, war schon seit langer Zeit, unter dem Vorwand einer großen Reise, mit seiner Familie aus Frankreich weggezogen, um sich nach Österreich zu retten, wo seine Kinder und Enkel noch jetzt geachtet und in Ansehen leben; der älteste Sohn aber, welcher der berühmte Trappistengeneral geworden, sich in Rom aufhält.
Auch bei uns in Österreich machten sich diese geistigen Erschütterungen und Umstaltungen fühlbar. Vieles gärte und glimmte im Verborgenen, und Oppositionen, Reaktionen gegen das Bestehende, immer stärkerer Tadel der Maßregeln und Anordnungen des Monarchen sprachen sich überall laut aus. Während dieser unruhigen Stimmung hatte der Türkenkrieg in Ungarn mit sehr wechselndem Glücke fortgedauert. Kaiser Josef hatte ihn, wie man damals erzählte, aus einer Art von ritterlicher Galanterie gegen die geistvolle Herrscherin im Norden angefangen, der er vorher einen Besuch in ihrem Reiche abgestattet hatte, von welchem uns die Memoiren des Fürsten von Ligne und des Grafen von Segur d.Ä. interessante Notizen liefern. Er liebte den Soldatenstand, er trug stets die Uniform seines Regiments, und er wollte vielleicht in diesem Kriege, in welchem er einen untergeordneten Gegner und keinen Friedrich II. mit seinen Preußen vor sich hatte, seine militärischen Kenntnisse zeigen und auch diesen Lorbeer in seine Kronen flechten. Aber der Erfolg entsprach keineswegs diesen stolzen Erwartungen. Schlachten wurden verloren, die Einschließung der festen Plätze mißlang, verderbliche Rückzüge schwächten das Heer, von dem ohnedies ein großer Teil, durch das ungesunde Klima erkrankt, in den Spitälern zugrunde gegangen war. Kurz, der Feldzug von 1788 unter des Kaisers und Feldmarschalls Lascy Führung war ein durchaus mißglückter. Der Monarch kehrte im Winter nach Wien zurück und brachte leider einen Keim des Übels mit sich, das seinem Leben ein paar Jahre darauf, viel zu früh für seine Staaten und seine Entwürfe, ein Ende machte. Im Frühling 1789 ging Loudon ins Feld; – das Glück, der Sieg folgten überall seinen Spuren, und nach verschiedenen großen Vorteilen und Eroberungen, welche diesen Feldzug bezeichneten, krönten ihn am Schlusse die Einnahme von Belgrad durch Loudon und der Sieg bei Martinjestie unter Prinz Koburg.
Fünfzig Jahre war Belgrad für Österreich verloren gewesen, Loudon hatte es wieder erobert, und der Tag, an welchem der Kurier mit der Siegesnachricht einritt (12. Oktober 1789), wird allen Wienern, die Zeugen dieses freudigen Ereignisses waren, unvergeßlich bleiben.
Es war ein schöner, heiterer Herbstmorgen. Wien hatte sich auf die Straßen, an die Fenster ergossen, von denen man den ankommenden Siegesboten – General Klebeck, einen Verwandten des großen Türkenbesiegers – sehen konnte. Ich war wie natürlich auch an einem unserer Fenster, welche in die Kärnthnerstraße, durch die er kommen mußte, gingen. Mein Herz schlug hoch; – kriegerischer Ruhm und der Glanz meines Vaterlandes hatten von jeher begeisternd auf mich gewirkt, jetzt vielleicht gesellte sich noch eine geheime Beziehung dazu, welche mir alles, was diesen Krieg, diese Siege und die, welche Anteil daran hatten, betraf, näher rückte. Nun erklang von weitem das Geklatsche der Postillonpeitschen, das Schmettern ihrer Hörner. – Er kommt! Er kommt! so tönte es in mir und gestaltete sich unwillkürlich in mir zum Gesang:
Er kommt! er kommt! Wie jauchzt die trunkne Menge!
Ha! welch ein Tag, beglücktes Wien!
Der Siegesbote naht in jubelndem Gedränge,
In deine Mauern einzuziehn.
Der Hörner Ton, der Peitschen lautes Knallen
Verkündet seine Ankunft schon.
Die Scharen mehren sich, gedrängte Reihen wallen
Ihm vor und nach bis hin zum Thron.
Es lebe Loudon! tönt aus jedem Munde usw.
Die 24 oder 48 Postillone kamen nun näher, eine ungeheure Menschenmasse wälzte sich vor, neben, hinter ihnen daher durch die Straßen. Vivatgeschrei durchschmetterte die Luft; eine Art Trunkenheit schien sich der ganzen Einwohnerschaft bemächtigt zu haben. Nun erschien der General; – da verdoppelte sich das Jauchzen, das laute Rufen, und so im allgemeinen Jubel, den ich, den Kurier von der Leipziger Schlacht 1813 kaum ausgenommen – denn das Volk war unter Josef II. mehr gewohnt, seine Empfindungen auszusprechen – nie wieder so gehört habe, gelangte der General in die Burg.
Aber mit diesen paar schönen Stunden waren die Glückseligkeit der Wiener und die Bezeugungen ihrer Freude nicht vorüber, wie es wohl jetzt, in zahmeren Zeiten der Fall ist und sein muß. Ich habe schon gemeldet, daß ein sehr schöner Tag war. Nach Tisch flog alles da-, dorthinaus, die meisten in den Prater; – auch wir machten es so. – Wie wir gegen den roten Turm kamen, tönte uns neues Vivatrufen entgegen und ein Menschenschwarm sperrte den Weg. – Was war es? – Ein Träger von der Hauptmaut, wenn ich nicht irre, trug sehr zufälliger Weise den Namen Loudon. Dieser Umstand identifizierte den Mann in den Augen des Volkes auf gewisse Weise mit dem Helden des Tages, und so wurde dann von tollen, begeisterten Kameraden und andern Leuten der dicke, kupferige Mann, dem wohl von solcher Ehre nie geträumt hatte, in seinem leinenen Arbeitskittel, das Bündel Stricke auf der Achsel, wie im Triumph auf den Schultern herumgetragen, mit Wein bewirtet, den er sich tapfer schmecken ließ, und es wurden allerlei Possen mit ihm getrieben.
Als es dunkelte, entbrannten plötzlich in allen Fenstern der Stadt die Lichter und eine allgemeine, freiwillige, extemporierte Illumination bezeugte und verherrlichte die Freude meiner guten Mitbürger. Die ganze Welt wanderte auf den hellen Straßen in der milden Luft des schönen Herbstabends und alles fühlte sich von der Bedeutung des Tages gehoben und begeistert. Auch Klänge sollten dem schönen Abend nicht fehlen. In rascher Entschließung hatten die Studenten sich vereinigt (damals war es noch erlaubt, solche Entschlüsse auf der Stelle zu fassen und sie, ohne sich bei der Polizei anzufragen, auch auszuführen), eine vollstimmige, schöne Instrumentalmusik zusammengebracht und zogen nun, alle durch weiße Kokarden bezeichnet, mit Transparents und ihren Instrumenten durch die Stadt. Eine Unzahl junger Männer aus den höheren Ständen schloß sich an sie und qualifizierte sich durch eine weiße Schleife, im Notfalle durch ein Stückchen weißes Papier auf den Hut gesteckt, als einer der ihrigen. So bewegte sich der lange Zug durch die Straßen der Stadt und brachte seine Ständchen in sehr wohl ausgeführten Symphonien vor dem Hause, in welchem Loudons Gemahlin wohnte, vor dem Kriegsgebäude, der Universität und auf dem Burgplatz vor Kaiser Josefs Fenstern und überall wiederholte sich in lautem Beifallsjauchzen der Jubel dieses zwölften Oktobers.
Nicht lange darnach folgten andere Kuriere mit den Nachrichten von der Einnahme von Orsova, dem Sieg bei Martinjestie usw. und so schloß dieser Feldzug höchst glänzend.
Meine poetische Laune war schon seit längerer Zeit, seit nämlich das höchst prosaische Verhältnis mit Häring ein Ende genommen, wieder lebhaft erwacht. Ich vollendete das Gedicht, das ich beim Einreiten des Kuriers am Fenster begonnen; es fand Beifall. Freunde des Feldmarschalls erbaten es sich, es wurde gedruckt, ihm übersandt und bald darauf erschien einer seiner Neffen bei uns (der nun auch längst tot ist), um mir im Namen seines Oheims zu danken. Es freute mich sehr; doch durch eine Eigenheit meines Wesens, die mich nur so lange, als ich dichtete, lebhaften Anteil an meinen Kompositionen nehmen, sie aber, wenn sie einmal aus mir herausgetreten waren, ruhig und wie etwas Fremdes betrachten ließ, machte auch diese Auszeichnung keinen sehr tiefen Eindruck auf mich, und die Artigkeit des jungen Loudon, der zufälligerweise die damalige Uniform des Generalstabes wie Baron K** trug, sprach mich beinahe lebhafter an, als der literarische Ruhm, den ich geerntet hatte.
Wie überhaupt um mich herum reges geistiges Leben war, so bewegte es sich auch in mir. Man hatte mir lange nicht gestatten wollen, die Messiade zu lesen, weil ich sie nicht verstehen und folglich nicht genießen würde, wie man sagte. In Klosterneuburg, dessen Probst ein Verwandter meiner Eltern war, und den wir öfters in seiner herrlich gelegenen Abtei besuchten, trafen wir einst den Chef des Pontonierkorps, das dort und in der Umgegend stationiert war. General Riepbe war ein geistvoller, liebenswürdiger Greis. Er fand Gefallen an meiner Unterhaltung, und ich schätzte mir es (nach den Begriffen jener Zeit, die nun freilich anders sind) zur Ehre, von dem würdigen Manne als ein junges Ding von 18–19 Jahren ausgezeichnet zu werden. Ausschließend unterhielt er sich mit mir, fragte nach meinen Beschäftigungen, meiner Lektüre und riet mir, die Messiade zu lesen, indem er sich mit schöner religiöser Wärme über die Erhabenheit dieses Werkes aussprach.
So wurde ich auf diese Dichtung hingeleitet. – Ich las sie; mein Innerstes faßte begierig die himmlischen Strahlen auf, die aus ihr hervordrangen. Ich hatte früher schon die Noachide, den Tasso, selbst den Ariost gelesen; denn, wie ich schon erwähnt, man dachte damals in Rücksicht lockerer Schriften sehr liberal. Indessen hatte Ariost auf mich wenig Eindruck gemacht. Ich betrachtete ihn wie ein Feenmärchen aus der Tausend und einen Nacht, und einzig Zerbinos und Bellas Geschick und einige ähnliche Szenen aus Ruggieros Schicksalen prägten sich mir tiefer ein. Viel inniger hatte mich Tasso angesprochen, dessen Gerusalemme ich regelmäßig jedes Jahr las, und dessen tiefergreifendste Stellen sich in meinem Gedächtnisse noch jetzt erhalten haben. Auch die Iliade und Odyssee war mir wohlbekannt, und auf die Gefahr hin, getadelt oder verspottet zu werden, bekenne ich ganz offen, daß ich die letzte (die Odyssee) bei weitem meinem Geschmacke zusagender fand, als die Ilias. Das häusliche, idyllische Leben sprach mich an, ich fand mich wohl zurecht in der Wohnung des Odysseus, bei dem göttlichen Sauhirten Eumäos, und mit Freude begrüßte ich stets einen unserer großen Hofhunde, dem mein Vater den Namen Argos gegeben, wie ihn jenes treue Tier des vielgereisten Helden trug.
Alles dies aber wich in meinem Gemüte vor der Messiade in Schatten zurück. Hier fand ich meine religiösen Gefühle, meine Engel, selbst meinen Schutzengel Ithuriel wieder (leider als den Hüter eines nicht ehrenvollen Schützlings, des Iskarioths). Unbeschreiblich erhoben fühlte ich mich durch dies Gedicht. Klopstock ward der Gegenstand meiner innigsten Verehrung. Ich schrieb mir, wie ich das überhaupt gewohnt war, eine Menge Stellen daraus ab, und beschloß nun, auch dies Werk alljährlich einmal ganz durchzulesen, ein Vorsatz, den ich auch durch viele Jahre hielt und meine Lieblingsstellen auswendig behielt, davon ich die meisten noch jetzt herzusagen imstande bin.
Bald nach der Messiade las ich auch den Ossian, und ergab mich mit süßem Hange dem düstern, aber namenlosen Zauber, der für mich in diesen Dichtungen wehte. Auch hieraus wurden Stellen abgeschrieben und viele davon im treuen Gedächtnisse bewahrt. Es war eine ganz neue Welt voll Wehmut, Erinnerung, Nebel und unbestimmten Gestalten, die aber eben deswegen mein jugendliches Herz um so mächtiger anzog und mich zu Liedern begeisterte, in denen Anklänge aus jener düstern Region walteten und sich seltsam mit andern Eindrücken, die ich damals auf ganz entgegengesetzten Wegen erhielt, vermischten. In diese Zeit, nämlich 1788, 1789, 1790 fiel die Erscheinung der ersten Ritterromane jener Periode, von welchen die Schlenkertschen, so wie Veit Webers Sagen der Vorzeit ihrer Roheit und affektierten Schreibart wegen nicht viel Eindruck auf mich machten, dahingegen mich Herrmann von Unna, Walter von Montbarry, Elisabeth von Toggenburg, vor allen aber Alf von Dülmen, mit einem Wort die Naubertschen Romane – von denen damals niemand in Deutschland den Autor kannte oder nur mutmaßte – ganz unbeschreiblich entzückten und in jene Zeiten versetzten, die sie so lebhaft schilderten. Alles im Hause gestaltete sich mir auf ritterlich altertümliche Art. Ich betrachtete alles in diesem Sinne, ich lebte in diesen Vorstellungen und war ganz glücklich, wenn ich wieder ein Werk aus dieser Feder zum Lesen erhielt. In meinem Kopfe wirbelten diese Bilder, diese Szenen, diese Gefühle; ich dichtete einige Romanzen, die ich jetzt im ganzen für herzlich schlecht erkennen muß, deren Eingänge aber nicht ohne poetischen Wert, und da sie nie gedruckt wurden, doch des Aufbewahrens in diesen Blättern nicht unwert sind.
Die eine war dem Walter von Montbarry entnommen. – Ihr Inhalt war ein gefabeltes Abenteuer Richard Löwenherz, das er in Wien, am Hofe Herzog Leopolds sollte bestanden haben. Daß Österreich und seine Herrscher ziemlich schlecht in jenem Romane und so auch in meinem Gedichte erscheinen, irrte mich damals nicht und irrte auch niemand in meiner Romanze. Es war die Zeit der Verirrungen. Protestanten hatten sich seit der Reformation der deutschen Literatur bemächtigt, um den katholischen Glauben und den Staat herabzusetzen, der seit 300 Jahren dessen mächtigster Schirm in Deutschland gewesen; eine Tendenz, welche durch die ganze deutsche Literatur und wohl auch durch die Literatur anderer Länder geht. Wahrlich! wäre Österreich so in Nacht und Barbarei versunken, wie sie uns gewöhnlich und mit Lust schildern; hätten seine Herrscher, seine Staatsmänner und Kriegshelden sich solche Schwächen, Fehler, Ungeschicklichkeiten, Ungerechtigkeiten usw. zu schulden kommen lassen, als nach den Angaben jener Schriftsteller geschehen war, so hätte der österreichische Staat längst in sich zusammenstürzen müssen. Daß dies nicht geschehen ist, daß er nach so vielen Bedrängnissen, schweren Kriegen, blutigen Niederlagen und beständigen Anfeindungen, obwohl aus heterogenen Teilen bestehend, sich nicht allein erhalten hat, sondern gewichtiger und glänzender im Staatenvereine von Europa dasteht als je, ist wohl die beste Widerlegung jener parteiischen Schmähungen, deren allzu lauter Ton sich erst seit 1813 etwas gemildert und billigern Ansichten Platz gemacht hat. Seit nämlich das, von allen im Kampf mit dem Riesen der Revolution verlassene Österreich, das einsam, blutend, aber doch herrlich nach der Schlacht von Aspern auf dem Wahlplatze stehen geblieben war, von jenen Feinden selbst um seinen Beitritt, Schirm und Hilfe ersucht ward und sich aufs neue in seiner Kraft erhob, um Deutschland zu retten. Ohne Österreich, was hätte Preußen ausrichten wollen, dem seine lobhudelnden Schriftsteller doch gern den Ruhm jener Befreiung allein zuschreiben möchten?
Damals also, um wieder auf jene Zeiten einzulenken, von denen früher die Rede war, dachte niemand an Österreichs Ruhm, an seine geschichtliche Würde, an die Taten seiner Voreltern. Was hinter dem sechzehnten Jahrhundert lag, wurde Barbarei genannt, unsere Nationalgeschichte war uns fremd, wir lernten sie als etwas neues in der Jugend wie die französische oder englische, und die meisten Geschichtsbücher, die man der Jugend gab, waren ja von Protestanten oder protestantisch aufgeklärten Katholiken geschrieben. So gestaltete sich vor unserm Blicke Vaterland und Religion in diesem Sinn. Wir waren weder rechte Katholiken noch rechte Österreicher und in selbstgefälligem Eigendünkel, der nur uns allein von dem allgemeinen Tadel ausnahm, sehr bereit, über alles zu spotten, was in unserm Vaterland geschah. Das war damals Geist der Zeit, er hatte auch mich ergriffen, und so wählte ich den Stoff zur Romanze aus dem Romane, der auf mich einen tiefen Eindruck gemacht hatte und hielt mich an die Fiktion desselben, vermöge welcher Blondel nach Richards und Walters Tod sich mit Mathilden, der Geliebten, der Gattin des ersten, auf eine Insel des Mittelmeeres zurückzieht (wenn ich nicht irre, eine der Hyères) und dort ihrem und seinem Schmerze lebt.
Ein leises Lüftchen schwebt um mich,
Füllt mich mit süßer Trauer.
Der Harfe Saiten regen sich,
Es bebt das Gras der Flur, und mich
Ergreift ein heilger Schauer.
Woher, o Lüftchen? Spieltest du
Um eines Freundes Hügel?
Wie – oder schwebet ungesehn
Ein Geist um mich, bist du sein Wehn,
Das Rauschen seiner Flügel?
Bist du vergangner Zeiten Hauch,
Die längst vergessen liegen?
Wie um den Fels ein Windstoß irrt,
Die Wellen hebt, im Schilfe schwirrt,
Wenn längst die Stürme schwiegen?
All meine Freunde schlummern schon,
Zerrissen sind die Bande.
Auf meines Walters6 grünend Grab
Streun Palmen ihren Duft herab,
Fern im gelobten Lande.
Auch Richard schläft – der Name weckt
Die Seele Blondels wieder.
Ein halbverklungenes Gefühl
Wird laut – es bebt mein Saitenspiel
Und tönt vergeßne Lieder.
Bewohnerin des Eilands, komm,
Steig' von dem Felsenhange.
Mathilde, helle deinen Blick,
Die Toten ruft kein Schmerz zurück,
Komm, lausche dem Gesange.
Man wird wohl erkennen, daß die Lesung von Ossians Gesängen vielen Einfluß auf die Art der Darstellung hatte. Ebenso war der Anfang einer andern Romanze den Ossianschen Gesängen nachgebildet, aber die erste Anregung dazu kam mir im damaligen Garten des Grafen Kobenzl auf dem Kahlenberge, der mir überhaupt durch seinen einfachen, etwas düstern und erhabenen Charakter ungemein gefiel, und den ich allen übrigen bis dahin gesehenen Gärten, selbst dem Dornbacher Park, vorzog. Es war noch überdies an einem etwas trüben Herbsttag, als ich ihn zum erstenmal besuchte. Das verschwiegene Waldtal mit seinem durch die Wiese schlängelnden Bach, die majestätische Grotte am Ende desselben, aus der sich der Quell herausstürzte und sein eintöniges Rauschen mit den trüben Schatten des Waldes und dem schwermütigen Anblick der Landschaft vereinigte, machte einen tiefen Eindruck auf meine Seele, welcher sich dann in der Romanze aussprach, wovon ich den Anfang hiehersetze:
Was schallet dort aus jener Felsenhöhle
Das rings umschloss'ne Tal entlang
Für ein beweglicher Gesang?
In Wehmut löst sich meine ganze Seele
Bei dieser Stimm' und dieser Laute Klang.
Wer bist du, Felsensohn, deß laute Klage
Den Widerhall in diesen Bergen weckt?
Jetzt, da der Mond noch halbversteckt
Sein Silberhorn nach einem trüben Tage
Aus den zerriss'nen Nebelwellen streckt.
Sei mir gegrüßt! O schöpf' aus deiner Quelle
Mir eine Schale Wasser nur.
Durch Feld und Wald, durch Haid' und Flur
Verfolg ich seit des Morgens erster Helle
Auf diesen Höhn des flüchtgen Wildes Spur.
»Hier ist der Trank, und hier sind Brot und Früchte,«
Erwidert ihm der Eremit,
Wie er den muntern Jäger sieht,
Auf dessen Stirn und bräunlichem Gesichte
Der Jugend Mut, der Jagd Ermüdung glüht.
Der Eremit befragt den Jüngling um seine Herkunft, seinen Namen; er erwidert:
Ich heiße Wood. Am wasserreichen Clyde,
Dort, wo von Nebeln stets umschwebt,
Ein Berg sich in die Lüfte hebt,
Dort wohnt mein Vater, ich bin seine Freude,