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Tiefe Bedenken

Ihre Augenlider waren geschwollen. Auch das eiskalte Wasser, das sie sich mehrmals mit hohlen Händen ins Gesicht schüttete, brachte keine wesentliche Besserung. Emma legte ihre Hände aufs Gesicht und zog mit festem Druck an ihren Wangen, sodass die Augen geöffnet wurden und das Weiße um den Augapfel herum sichtbar wurde. Winzige rote Äderchen zeigten sich am Rand des Augenwinkels. Ihre Haare waren widerspenstig und ließen sich heute einfach nicht in Form bringen. Noch nie war es ihr passiert, dass sie dermaßen übernächtigt aussah. Sie stellte eine gewisse Blässe ihrer Haut fest. Dabei hatte der Sommer doch schon längst angefangen! Vielleicht sollte sie mehr an die frische Luft gehen, anstatt jedes bisschen Freizeit vor dem Computer oder im Silky Sexlife zu verbringen. Starker Kaffee würde sie jetzt bestimmt munter machen.

Emma setzte ihre Vorsätze gleich nach dem Frühstück in die Tat um. Sie ging raus in die kühle Luft des Morgens und fuhr mit dem Fahrrad die grünen Wiesen entlang, um den Kopf freizubekommen. Leise summte sie vor sich hin. Der Sonntagmorgen war frisch und sonnig und verlieh ihr bald eine gute Laune, die sich aus ihrem Innern heraus bis in ihre Fuß- und Fingerspitzen ausbreitete. Sie radelte sportlich, bis sie den unscheinbaren Feldweg erreichte, der in Richtung Wald führte. Der Weg war eigentlich nur für Traktoren bestimmt und holprig, aber das machte ihr nichts aus. Stöße von unten war sie ja gewohnt. Sie lächelte verschmitzt vor sich hin, als sie dabei an ihre Fickeskapaden ins Silky Sexlife dachte …

Sie liebte diese taufrischen Morgenstunden des Sommers, genoss die frische Luft, die ihr als Fahrtwind kühl ins Gesicht blies. Nahe dem Wald roch es besonders frisch, nach neu sprießenden Blättern und Kräutern, die am Rand des Dickichts wuchsen. Emma kam gelegentlich hierher, um zu entspannen oder nachzudenken. Heute galt es, zu überlegen, wie es weitergehen sollte. Sie stellte das Fahrrad ab, kickte den Radständer heraus und ließ das Gefährt am Wegrand stehen. Die Blätter des Gebüschs berührten ihre Beine. Die Zweige, die im Weg standen, drückte sie mit den Händen auseinander und tauchte in gebückter Haltung ins Unterholz. Als sie sich aufrichtete, eröffnete sich ihr ein wunderbarer Blick auf eine versteckte Lichtung. Kein Mensch fand hierher. Die Stelle war schwer zugänglich. Emma hatte sie zufällig entdeckt, als sie mit einem Typen, den sie im Internet kennengelernt hatte, einmal hier spazieren gegangen und vom Weg abgekommen war. Sie wunderte sich, wie schnell die Zeit vergangen war. Es kam ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, als er sich über sie hergemacht hatte und sie es genossen hatte, in freier Natur mit ihm zu vögeln.

Ein dicker Baumstamm lag schon viele Jahre an dieser Stelle. Er war teilweise mit weichem Moos bewachsen, das in der feuchten Frische des kühlen Morgens in einem satten Grün leuchtete und durch den morgendlichen Tau glänzte. Viele winzige Wasserperlen glitzerten auf der Oberfläche des üppig wuchernden Mooses und die kleinen Spinnweben, die sich im Geäst und auf dem Waldboden befanden, schimmerten silbern. Sanftes Licht gelangte durch die Baumkronen und die Büsche ringsherum auf den Stamm. Die Luft schien leicht neblig zu sein, denn die Feuchtigkeit der Nacht verdunstete hier unter den Büschen nicht so schnell. Die Stelle schimmerte eigenartig, wie verwunschen. Emma betrachtete staunend, wie der versteckte Ort im Unterholz in tanzenden Lichtreflexen erstrahlte. Sie fühlte sich an diesem Platz wie im Märchenwald. Es sah aus, als seien die winzigen Wassertröpfchen Feen, die im Licht tanzten.

Emma breitete ihre Regenjacke über dem Baumstamm aus und setzte sich. Der Ort fühlte sich magisch an und war zugleich doch so vertraut. Emma dachte an den damaligen Spaziergang. Wie ein Film tauchten die frivolen Gedanken aus dem Dunkel ihrer Erinnerung hervor. Es war ein heißer Sommertag gewesen. Sie und ihre neue Bekanntschaft waren erst kurz zusammen. Sie hatte ihn aus einem Chat gefischt und sich anschließend mit ihm getroffen. Sie hatten sich angesehen und wussten beide, dass es ein besonderes Abenteuer werden würde. Ihre Lust aufeinander war enorm. Die Gier stand ihm ins Gesicht geschrieben, ihr Verlangen nach ihm war kaum zu zügeln. Dann hatte er sie von hinten umarmt und sie ließ es gern geschehen, wie er sie an der Taille hielt und an ihrem Nacken küsste. Dann fuhr eine Hand an ihrem Körper hoch und spielte mit ihrem Busen. Durch das dünne Sommerkleid spürte sie jede Bewegung, als wären seine Finger auf ihrer Haut. Die andere Hand rutschte abwärts und glitt unter ihr Kleid. Flugs hatte er seine Finger in ihren Slip gesteckt. Er zog ihr das Höschen aus und öffnete seine Jeans. Sie erinnerte sich an das Zippen des Reißverschlusses, als stünde er neben ihr. Dann hatte er sie auf den Baumstamm geschubst und ihr das Kleid über den Po geworfen. Sie hatte sich mit den Händen auf der Rinde abgestützt und lustvoll seinen Schwanz erwartet. Ja, sie hatten es getrieben, hier auf diesem Baumstamm, der so anschmiegsam gewachsen war, dass sie sich während des Spiels mühelos auf ihn legen konnte. Hier draußen, an diesem ungewöhnlichen Ort, in freier Natur, war der Sex ein sinnliches Geschenk höchster Güte. Es war ein unvergessliches Erlebnis gewesen … Emma würde immer an dieses Ereignis denken, wenn sie das Unterholz betrat.

Sie erwachte aus ihrer Erinnerung wie aus einem Sekundenschlaf. Sonnige Strahlen drangen durch die Blätter der Bäume auf ihr Gesicht. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und träumte schöne Tagträume. Natürlich waren ihre Gedanken ausschließlich bei den Männern. Nicht nur bei ihrem Abenteuer im Wäldchen, sondern auch bei all den anderen, die nach ihm gekommen waren.

Ihre Gedanken schweiften erneut in weite Ferne ab. Erst ein Jahr war es her? Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Ihre allererste Begegnung mit einem Fremden im Swingerclub war etwas Besonderes gewesen und Emma wusste damals schon, dass sie diesen Mann und die damit verbundene erste Liaison nicht so schnell vergessen würde. Seine zarten Hände und sein Einfühlungsvermögen brachten sie dazu, mehr zu wollen. Randy hieß er. Leila, die Mitarbeiterin des Swingerclubs, hatte damals zu Emma gesagt, dass ihr sicher ein guter Anfang gelungen sei, und sie hatte recht damit. Denn Emma war bald so weit, dass sie nicht mehr darauf verzichten wollte, sich mit verschiedenen Herren im Silky Sexlife zu treffen. Einer nach dem anderen hatte Emma bestiegen und durchgefickt und je mehr Kerle es wurden, desto stolzer war sie. Es war, als wollte sie eine spezielle Sammlung an Erfahrungen anhäufen, wie andere Leute Briefmarken sammelten. Mit dem Unterschied, dass sich Emma lebendige Menschen nahm, jeder für sich etwas ganz Besonderes. Manche davon hätte sie am liebsten als Figur in eine wertvolle Glasvitrine gestellt, damit sie sich immer an diverse, besondere Sexpraktiken erinnern konnte. Emma wusste ziemlich genau, dass es Männer, die ihren Wunschträumen zu hundert Prozent entsprachen, gar nicht gab, aber die Hoffnung hatte sie dennoch nicht aufgegeben. Die Begegnungen mit Typen aus dem Internet endeten meist nach dem gleichen Schema: sich im Internet kennenlernen, im Club zum ausgelassenen Sex treffen und dann wieder loslassen und gehen. Eigentlich war der Swingerclub Silky Sexlife eine ganz glückliche Lösung. Emma hatte Sex, ohne sich verbindlich mit jemandem zusammenzutun. Alles war sehr seriös. Nichts von dem, was sie trieb, gelangte an die Außenwelt – es war, als lebte sie in einem sicheren Kokon. So konnte sie ihren sexuellen Ausgleich finden und hatte das Gefühl, begehrt zu sein. Das war sehr wichtig für sie, denn es steigerte ihr Selbstwertgefühl. Sie dachte an all die Männer, die ihr das Leben versüßten, wenn auch nur für eine Nacht. Die meisten hatten einen prägenden Eindruck auf sie hinterlassen, sie formten ihre Gedankenwelt und schärften ihre Sinne nach ausgiebigem Sex. Doch brachten sie alle, mal abgesehen von einem gewissen Sammelwert, einen Lebenssinn für Emma? Wohl kaum, denn alle tauchten zu Lusttänzen mit ihr auf und verschwanden genauso schnell wieder. Sie erinnerte sich an all ihre bisherigen Kurzaffären. Mikes Longdong, Sex auf Mallorca und den Gangbang … Aber war das alles in ihrem Leben? Sich zu vergnügen und alles mitzunehmen, was auf Sex ausgerichtet war? Emma fragte sich, ob es nicht besser wäre, einen Mann für sich zu beanspruchen, oder ob sie es dabei belassen sollte, sich sexuell auszutoben. Obwohl sie vom Swingerleben begeistert war, brannte tief in ihrem Innersten die Sehnsucht nach Zweisamkeit. Der Club war ihr zweites Zuhause geworden, aber … Was oder wer blieb ihr zum privaten Umgang übrig? War sie durch die Clubbesuche nicht eine verdammte Schlampe geworden, die sich – gierig auf Männerschwänze – alles einverleibte, was sich ihr bot? Wer in der Außenwelt wollte denn bitteschön so etwas? Sie bemerkte, wie sich ihre Wangen vor Scham rot überzogen und zu glühen begannen. Tiefe Selbstzweifel überkamen sie, aber sie dachte auch lächelnd daran, dass ihr all das zugänglich geworden war, wovon sie vorher nichts gewusst hatte.

Sie war wie ein Blumensamen gewesen. Am Anfang halb vertrocknet und klein, doch sobald er gegossen wurde, blühte er zu einer prächtigen Pflanze auf. War es in ihrem Swingerleben nicht auch so? Am Anfang hatte sie von nichts eine Ahnung gehabt, war kleinlaut und schüchtern gewesen. Je mehr die Männer sich aber um sie bemühten, sie verführten und sie sich dem heißen und feuchten Sex hingab, umso besser fühlte sie sich und umso ausgewählter gestaltete sie ihr Aussehen. Das Wachstum ihrer Kenntnisse und das Aufblühen ihres Selbstbewusstseins gaben ihr weiteren sexuellen Auftrieb. Sie spürte, dass es ihr guttat. Warum sollte sie es nicht auskosten? Sie war doch frei und ungebunden. Sie konnte tun, was sie wollte. Sie hatte so viel Lust in ihrem Kopf und ihr Körper verlangte förmlich nach ausgiebigem Sex. Ob es jemals aufhörte? Sie lächelte bei dem Gedanken, sich bis ins hohe Alter vergnügen zu können. Jedoch … Vielleicht bezeichnete man sie hinter vorgehaltener Hand schon als Nymphomanin? War sie wirklich schon so eine geworden, die niemals genug bekommen konnte? Sie hatte bemerkt, dass es im Club fast jeder auf sie abgesehen hatte. Man wollte sie, man begehrte sie … Oder war das alles nur Einbildung? Vielleicht begehrten die Männer sie gar nicht, sondern wussten, dass sich Emma sowieso jeden vornahm und es ein leichtes Spiel war, sie zu vögeln, weil sie es mit jedem trieb. Wie ein Schwertstich fuhr dieser Gedanke in ihr Herz. In diese Richtung sollte die Reise nicht gehen. Sie zweifelte plötzlich daran, dass sie den viel zitierten Spruch weiter ausleben wollte: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert.

Tief in ihrer Seele bildete sich der Wunsch nach einer echten und liebevollen Beziehung. Doch wie es derzeit aussah, blieb es für Emma stets eine Illusion, den Richtigen zu treffen. Das Alleinsein hatte zwar seine Vorzüge, vor allem wenn es um freie Entscheidungen ging, aber manchmal sehnte sie sich nach dem spießigen Familienleben zurück, das sie vorher gehabt hatte. Ihr größter Wunsch war ein Mann an ihrer Seite, der zu ihr passte. Aber keiner der bisher Getroffenen hatte die Qualitäten, die sie sich wünschte. Keiner von ihnen war zu einer Beziehung bereit oder geeignet und im Grunde spielte sie ja nur mit den Männern. Oder spielten die Kerle mit ihr? Klar, sie zum Abspritzen im Chat zu verführen, war eine lustige und gleichzeitig herausfordernde Sache, und sich im Club vernaschen zu lassen, weil alle sie haben wollten, war ein überaus erhabenes Gefühl. Aber trotzdem fehlte ihr in letzter Zeit der gewisse Kick. Die Premieren und Sensationen in Sachen Sex waren weniger geworden. Emma kannte bereits alles. Alle Stellungen, alle Themen. Manchmal wollte sie noch nicht einmal den Namen ihres Fickpartners wissen. Es war ihr egal geworden, denn sie wusste inzwischen, dass nichts Bestand hatte, was sie im Club kennenlernte. Es war ihr zur Gewohnheit geworden. War das schlecht oder gut? Leitete es sie vielleicht in eine Richtung, die sie nicht mehr beeinflussen konnte?

Gewohnheit … wie das klang… Plötzlich fiel ihr der Spruch ein, der als Orakel auf ein kleines Zettelchen geschrieben war, das sie aus Mallorca mitgebracht hatte: Achte auf deine Gewohnheiten, denn sie werden dein Charakter. Sie musste auf sich aufpassen, das spürte sie nun in aller Deutlichkeit. Es schien, als würde sich der Sinnspruch weiter fortsetzen. Als wäre ihr Schicksal schon sehr nahe bei ihr. Sie konnte nur nicht erkennen, wie es aussah und was sie tun sollte. Die Selbstzweifel wurden plötzlich heftiger. Ihr Herz wurde schwer. Ihre Gewohnheiten sollten zu ihrem Charakter werden? Was sollte das bedeuten?

Sie ließ ihren Kopf nach unten sinken, atmete die Waldluft tief ein und versuchte, die Situation vernünftig zu überdenken. Sie versuchte abzuwägen, was ihr wichtiger war. Ein Leben in unendlicher Freiheit, in dem sie niemandem Rechenschaft darüber ablegen musste, was sie tat, warum sie es tat, wo und wie lange? Das bedeutete allerdings auch Einsamkeit. Ein neuer Mann an ihrer Seite hieße, sich wieder kümmern zu müssen, ihre eigenen Wünsche zurückzustecken, nicht mehr alles in vollen Zügen ausleben zu können. Andererseits – wäre eine Bindung vielleicht doch besser? Auch Liebe und Glück hingen daran, wenn eines Tages der Richtige käme. Ihre Gedanken tickten hin und her wie der Zeiger eines Metronoms, das den Takt ihres Lebens bestimmen wollte. Sie stand zwischen Sehnsucht und Gefühlskälte. Zwischen aufkeimender Vernunft und sexueller Gier. Die beginnende Gleichgültigkeit machte ihr zu schaffen. Sollte sie weiterhin das Mäuschen spielen, das auf verstecktem Weg ihr Glück in einem Etablissement suchte, das ja doch nur Schein war, oder sollte sie nun aufhören und sich wieder den realen Dingen im Leben widmen, die wirklich wichtig waren? So sehr Emma die Anonymität im Club schätzte, so wusste sie doch genau, dass all diese Männer nur einmal, höchstens zweimal mit ihr zusammentrafen und danach für immer verschwanden.

Alles schien sich im Kreis zu drehen. Ihre Gedanken bauten Türme auf, die sie mit ihren Überlegungen nicht mehr besteigen konnte. Emma kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf, als wollte sie die Gedankentürme zum Einsturz bringen. Sosehr sie auch überlegte, sie kam zu keinem vernünftigen Schluss. Ein Kompromiss wäre eine Pause. Es würde ihr mit Sicherheit gut tun, Abstand zu nehmen und auszuruhen, damit sie wieder klar denken konnte. Für eine Weile ihr Hobby abzulegen, schien ihr zunächst am sinnvollsten zu sein. Ja, das war eine gute Zwischenlösung. So hatte sie viel Zeit, zu überlegen und gründlich zu überdenken, wie ihre nächsten Schritte aussehen sollten.

Emma sah hoch und blinzelte in die Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch das Geäst gefunden hatten. Im goldenen Licht der Sonne sitzend, genoss sie die Wärme auf ihrem Gesicht und dachte daran, wie es wäre, für eine Weile enthaltsam zu leben. Plötzlich drängte sich Manuel in ihre Gedanken. Auch ihn hatte sie im Swingerclub kennengelernt, als sie ihre Gangbang-Party abgehalten hatte. Zunächst hatte er wie eine Statue alles beobachtet. Damals kam er ihr eine Spur zu arrogant und überheblich vor. Er war ein richtiger Kerl, ein willensstarker Mann mit einem perfekten Körper. Der Sex mit ihm war außergewöhnlich gut gewesen. Nie zuvor hatte sie Orgasmen mehrfach hintereinander erlebt und seine Methoden, sie von hart bis zart zu nehmen, waren einmalig faszinierend und schön. Keiner hatte es je besser gemacht. Wow. Konnte die Begeisterung für einen Mann jemals stärker sein? Er war die goldene Figur in ihrer imaginären Sammelvitrine. Seine Größe übertraf alle anderen Figuren, die sie in Gedanken dort abgestellt hatte. Doch auch Manuel hatte einen Haken. Seine Erklärung, er sei Besitzer eines SM-Studios, hatte ihr Angst gemacht. Sie fürchtete sich vor dem, was ihr unbekannt war. Wie so eine Folterhöhle von innen aussah, wollte sie gar nicht erst wissen. Aber Manuel war es auch, der sie darauf gebracht hatte, über ihre Situation nachzudenken. Er sagte, sie sei allein, mit allem, was sie liebte. Ja, es war wirklich so. Emma spann diesen Gedanken weiter und tatsächlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen, dass Liebe für sie nur eine Einbildung sein musste. Freunde? Wo waren ihre Freunde? Die Herren der Schöpfung aus dem Swingerclub waren nur Fickpartner, sonst nichts. Auch ihre beste Freundin Valentina ließ sich nicht mehr blicken, weil sie mit Enrico glücklich war und ihre Zeit anscheinend nur noch mit ihm verbringen wollte. Enrico hatte Emma damals gewarnt, jeder Mann, den sie fickte, würde ihre Frustration steigern. Emma fühlte sie bereits. Es tat weh wie ein aufkommender Husten und war gleichzeitig ein eigenartiges, seelenkränkendes Gefühl. Wo sollte das alles enden? Sie musste etwas gegen dieses schlechte Gefühl unternehmen. Die geplante Pause konnte nur richtig sein! Wenn Emma an Manuel dachte, verspürte sie Zuneigung, aber gleichzeitig auch eine Warnung ihres Unterbewusstseins. Etwas zog sie zu ihm hin, obwohl sie gar nicht zu ihm gehen wollte, und eine geheimnisvolle Macht bescherte ihr ein eigenartiges Glücksgefühl, wenn sie an ihn dachte. Und das Thema SM? Manuel praktizierte es beruflich. In ihrem Kopf formten sich brutale Muskelprotze mit schwarzen Masken und Fesselseilen in der Hand, die es auf sie abgesehen hatten. Der Gedanke an die Folterinstrumente, die sie mit dieser Szene verband, war zum Fürchten. Wer weiß, was Manuel mit ihr anstellen würde, wenn sie sein Revier beträte? Nein. Das war in diesen Minuten der unpassendste Gedanke. Emma verwarf die Idee, in seinem Studio vorbeizuschauen.

Sie tauchte aus ihrer Gedankenwelt auf, als sei sie aus dem tiefen dunklen Meer an die Oberfläche gespült worden. Oder war es die Erleuchtung, die sie getroffen hatte? Die Sonne schien hoch am Himmel. Vögel zwitscherten im Geäst und die Luft war frisch und warm. Sie hatte mehr als eine Stunde hier gesessen und nachgedacht. Sie erhob sich von dem uralten Baumstamm, klopfte sich Moos- und Holzreste von der Jeans, verstaute ihre Jacke auf dem Gepäckträger und schwang sich wieder auf ihr Fahrrad.

***

Emma drückte auf Löschen und klickte die ganzen Männer weg.

»Jetzt nicht mehr, ich muss davon loskommen«, sagte sie zu sich selbst und gestand sich ein, den verdammten Computer nicht ausgeschaltet lassen zu können. Es hatte ein gewisses Maß an Suchtpotenzial, das war unmissverständlich. Sie versuchte, sich zu erinnern, wie es früher gewesen war, als sie den Chat noch nicht gekannt hatte. Wie war sie früher Menschen begegnet? Und wo? Und wie sprach man einen Mann an, ohne Hintergedanken zu haben und an Sex zu denken? Plötzlich wurde ihr bewusst, wie tief sie schon in die virtuelle Welt eingetaucht war. Ihr hauptsächliches Leben neben der Arbeit spielte sich nur noch im Swingerclub ab. Sie war dabei, weltfremd zu werden, im richtigen Leben nicht mehr kommunizieren zu können und auch kein Interesse mehr daran zu haben, einem Mann zu begegnen, den sie nicht im Internet kennengelernt hatte. Der Computer hatte sie fest im Griff. Emma musste sich davon losreißen, es gab wohl keinen anderen Ausweg.

Wir sind alle gemeinsam allein, dachte sie traurig, als sie über die Männer im Club nachdachte. Heute hatte sie keine Lust mehr, die Kerle zu reizen, bis sie sich vor dem Bildschirm einen runterholten. Was sollte das Ganze überhaupt? Hatte es einen Sinn? Emma wusste ganz genau, was bei den Männern zu Hause vor dem PC abging, wenn sie es auf die Spitze trieb. Es war immer das Gleiche. Die Chats unterschieden sich kaum noch. Vielleicht, weil Emma bereits alles kannte. Sie konnte mittlerweile jede Antwort voraussagen.

Sie fuhr den Computer herunter und verließ lustlos ihren Sitzplatz. Erst einmal musste sie sich darüber klar werden, ob das Leben wirklich so schlecht war, wie es im Moment schien, oder ob sie nur eine Pechsträhne hatte, die keine Liebe zuließ. Okay, die Erfahrungen hatten auch etwas Gutes. Emma hatte viele sexuelle Besonderheiten kennengelernt und war vielem gegenüber toleranter geworden. Neigungen anderer Menschen – ob in sexueller Hinsicht oder als Lebensanschauung – konnte sie nun viel leichter akzeptieren. Vielleicht war das der Sinn in diesem Spiel, dass sie nicht mehr kleinkariert und spießig denken, sondern mit ihren Beobachtungen und Empfindungen über den Dingen stehen sollte. Sie wusste, dass sie nichts erzwingen konnte und dass das Schicksal nun einmal eigene Wege ging, denen sie einfach folgen musste. Hatte das Leben als Swinger sie etwa schon wie einen Stein abgehärtet? War sie widerstandslos geworden gegen ihre inneren Sehnsüchte nach wahrer Liebe? Aber was sollte sie tun, damit sie sich besser fühlte?

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