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Heute jedoch verbarg sich fast der gesamte Planet hinter dunkelgrauen, undurchsichtigen Wolkenmassen. Kaum etwas des tiefen Azurblaus seiner Ozeane war zu erkennen, kaum etwas der unz

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Nur schemenhaft ließ sich ausmachen, wie unten die dunklen Wolken mächtiger Sturmtiefs aus mehreren Richtungen zu immer neuen Schlachten aufeinander prallten. Immer wieder zuckten Blitze, erhellten zunächst kurz einige obere Atmosphärenschichten, um dann auch schon wie scharf gezackte, gleißend helle Lanzen hinunter zu stoßen. Ihr Weg hinab führte sie durch ein brodelndes Gemisch aus eisigem Regen, Sturm, Finsternis und krachendem Donner.

Hier auf der sich jetzt gerade der Sonne abwendenden Seite der nördlichen Hemisphäre der Erde lag am Grund des wirbelnden Durcheinanders eine der großen Städte. Streng geometrische Formen aus Stahl, Beton und Glas trotzten den Elementen. Mitunter waren kleine gelbliche Lichtpunkte aus Fenstern im quadratischen Muster der Bauten zu erkennen; sie wirkten wärmer im Vergleich zum gleißend-fahlen Aufscheinen der Blitze. Vereinzelt ließen sich auch bewegte Lichtquellen ausmachen: Verkehrsmittel aller Art schoben sich durch das gewaltige Unwetter eines Freitagabends des Novembers 2109.

Eine lange, silbrige Transportgleitbahn schwebte auf ihrer exakt geraden Schiene durch eine schmale tiefe Schlucht zwischen den Wolkenkratzer-Riesen. Die Gesichter der Fahrgäste, die aus den hell erleuchteten, großflächigen Panorama-Scheiben heraus blickten, waren kaum freundlicher als das Wetter draußen. Im wohltemperierten, trockenen Inneren waren die Gedanken schon auf das Wochenende gerichtet. Es waren hauptsächlich Pendler, die jetzt auf dem Weg in den Feierabend waren. Die Arbeit war geschafft, die Blicke leer.

Bis auf das leise, gedämpfte Brummen der Bahn war es fast still, niemand sprach. Nur in einer Ecke zeigte ein holographischer 3D-Projektor halblaut die Nachrichten von der Erde und ihren nächsten Kolonialplaneten. Kleinere Aufstände, Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Planeten, einige Unfälle auf Raumrouten, Klatsch und Tratsch von Prominenten, Sport. Im unteren Bereich erschienen währenddessen in Ziffern die neuesten Steigerungen der Produktionszahlen des Konzerns. Kaum jemand von den Fahrgästen schien den Berichten zu folgen. Normales Tagesgeschehen. "Nun zum Wetter: die Abteilung Ozonschichtbetrieb warnt an den nächsten Tagen auf der Erde vor schwacher bis mäßiger UV-Strahlung bei Aufheiterungen. Es folgt die Vorhersage für das Wochenende...".

Ein sehr schlanker Junge von etwa achtzehn Jahren saß unweit des Gerätes. Sein leicht verfilztes, blondes Haar hing bis auf die ersten Anzeichen eines kommenden Bartwuchses herab. Er trug schmutzige, graue Arbeitskleidung und ein verdreckter, ehemals wohl dunkelblau gewesener Rucksack mit defektem Verschluss stand halboffen zu seinen Füßen, seine Hände spielten an einigen herunter hängenden Fransen des Stoffes. Gedankenversunken sah er dabei in die Fensterscheibe, die sein Gesicht spiegelte. Einen Bruchteil eines Moments lang fiel sein Blick auf das Spiegelbild seiner eigenen Augen, dann wandte er sich ab.

Der 3D-Projektor in der Ecke brachte jetzt leise einen Werbespot: Ein kleines Kind lief über eine sonnenüberströmte Wiese und hielt Blumen in der Hand.

Der Junge mit dem Rucksack holte seinen Kommunikator heraus und ging seine aktuellen Nachrichten durch. Unter der Überschrift "Mahnung" wies ihn die Universität darauf hin, dass seine Gebühren für das laufende Semester immer noch ausstünden. Maßnahmen zu seiner Exmatrikulation sollten getroffen werden, wenn der geforderte Betrag nicht binnen zwei Wochen einginge.

Die Stirn des Jungen legte sich kurz in Falten.

Weiterhin fand sich nur noch Reklame, die er ungelesen löschte. Kein Hinweis darauf, was ihn heute noch erwarten sollte.

Er ließ den Kommunikator in die Beintasche seiner Arbeitshose gleiten und seufzte. Seine Augen wanderten wieder zur Scheibe und blickten hinaus in die Dunkelheit.

Der Junge sah sich verstohlen um, ob jemand zu ihm schaute, hauchte gegen die Scheibe und dann zog die Fingerspitze seines Zeigefingers schnell ein Dreieck, einen Kreis darum und schließlich fügte er noch Strahlen außen darum hinzu.

Nicht dass der Junge etwas mit den Rebellen zu tun gehabt hätte, deren Zeichen dies war. Es war eher so etwas wie eine Mutprobe. Damals in der Schule war der Konzernbeauftragte wochenlang fast Amok gelaufen, als das Zeichen an einer der Wände der Jungentoilette eingeritzt gefunden worden war. Und das, obwohl niemand wusste, ob die Gerüchte stimmten und die Rebellen tatsächlich existierten.

Triumphierend lehnte er sich zurück - und blickte direkt in die Augen eines alten Mannes, der schräg voraus saß und sich umgedreht hatte.

Der Magen des Jungen krampfte sich zusammen und sein Herz raste, als er schnell zu Boden blickte.

Es blieb still in der Bahn.

Eine Ewigkeit später wagte er, seinen Blick ein wenig zu heben und sah, dass der Mitfahrende, dessen Haare bereits grau waren, nun wieder wegblickte.

Er war sich nicht sicher, ob der Alte mitbekommen hatte, was er getan hatte, jedenfalls gab es keinen Aufstand.

Es schoss ihm kurz durch den Kopf, das Zeichen wegzuwischen, doch eine überhastete Bewegung jetzt würde ihn noch viel mehr verraten. Es würde ohnehin gleich vergehen, wenn sein Hauch an der Scheibe nicht mehr zu sehen sein würde.

Er war wie eingefroren, nur sein Herz schlug bis zum Hals, während er wartete.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er das Zeichen an der Scheibe. Es verblasste durch die Klimaanlage im Wagen schnell. Schon bald war es nur noch ganz eben zu erkennen. Nur wenn man es wusste.

Er zählte die Stationen herunter. Die Bahn rauschte hier meistenteils einfach durch, wenn niemand ein- oder aussteigen wollte.

Dann war es die nächste. Er bewegte seine Hand zum Sensor, um seinen Aussteigewunsch anzuzeigen. Sie zitterte.

Er stand auf und ging zur Tür des Wagens. Seine Hände nestelten nervös am ausgefransten, verdreckten Trageriemen seines Rucksacks und hoben ihn dann rasch auf den Rücken. Er vermied es, sich nach dem alten Mann umzusehen.

Ein fast völlig abgefedertes Ruckeln und die Bahn stand. Mit einem leisen Zischen fuhr die Kabinentür auf.

Er trat mit einigen anderen in das hohe Bahnhofsgebäude aus Glas und Stahl.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass auch der Alte ausgestiegen war. Eine Tür weiter.

Der Bahnsteig war gut mit Menschen gefüllt.

Der Junge beschleunigte seinen Schritt.

Der Alte hielt problemlos mit, schien sogar ein wenig näher zu kommen.

Der Junge verlangsamte, wich zur Seite, um den Alten auf seinem Weg zum Ausgang vorbei zu lassen, doch auch dieser schien langsamer zu werden.

Der Junge beschleunigte seine Schritte wieder, tauchte in einer Gruppe Menschen unter und ließ sich von ihnen auf die schmale Rolltreppe mittragen, so dass Abstand zwischen ihm und dem Alten kam und der direkte Blick behindert war.

Mit der Rolltreppe unten angekommen, scherte der Junge sogleich links aus der Gruppe aus, trat um einen Mauervorsprung herum, lehnte sich dort in einer Nische an die Wand und ließ den Alten mit den weiteren Leuten passieren. Dies geschah ohne weitere Auffälligkeiten und der Junge atmete langsam auf.

Er blieb noch eine Weile so an die Wand gelehnt und sah dem Strom der Leute zu, die an ihm vorbei strebten. Niemand blickte zurück und ihn an. Wenn er jetzt und hier tot umfiele, würde ihn wahrscheinlich erst das Putzpersonal wahrnehmen und wegräumen.

Schließlich reihte er sich vorsichtig beobachtend wieder in die zum Ausgang Strebenden ein und der Alte war nirgends mehr zu sehen. So erreichte auch der Junge die hohe, gläserne Vorhalle, in der es nach Sommerwiese roch und künstliche Vogelstimmen zwitscherten. Er trottete langsam hindurch und verließ sie durch die großen Automatik-Türen.

Aaron, so hieß er, war augenblicklich nass bis auf die Knochen. Seine zerschlissene Kleidung war nicht Wasser abweisend wie die der übrigen Passanten.

Mühsam trieb er sich gegen Regen und Sturm an. Es triefte nur so aus seinen Haaren, auch in seinen Kragen hinein. Er fröstelte, als das kalte Wasser über seinen Nacken seinen Rücken erreichte. Die Hände tief in den Taschen vergraben und den Kopf zwischen die Schultern gezogen bewegte er sich durch die Straßen, bis er im Schein einer flackernden Straßenlaterne jenes ihm wohlbekannte schwarze Skelett eines Baumes erreichte, an dem jetzt das Wasser herab lief und dessen beiden letzten abgestorbene Äste sich im stürmischen Wind neigten. Eine weiterer der Ast-Arme war heute auf den Gehweg gefallen. Aaron stieg darüber hinweg und steuerte das schützende Vordach des ihm nicht weniger bekannten Wohnblocks dahinter an und legte seine Hand in das Abtastgerät neben der Tür.

"Grund der Verspätung?" begrüßte ihn die quäkende Stimme des veralteten elektronischen Hausmeisters prüfend. "Überstunden…", murmelte Aaron.

Die Tür öffnete sich, um ihn einzulassen. Er betrat den Fahrstuhl und dieser fuhr ihn in das 27. Stockwerk. Auf einem blendend neuen Werbebildschirm, der in der verwahrlosten Fahrstuhlkabine angebracht worden war, versprach eine blonde Frau mit tadellosem Lächeln dreizehn Prozent Steigerung der persönlichen Produktivität eines Jeden durch "das neue Oxytocin".

Als er zur Wohnungstür herein war, klang ihm die Stimme seiner Mutter aus der Küche entgegen: "Aaron?" Sie kam zur Küchentür und hatte das Baby auf dem einen Arm und einen altmodischen Holzlöffel in der anderen Hand, umarmte ihn aber trotzdem irgendwie. "Essen ist gleich fertig.", sagte sie sanft und es roch lecker.

Er öffnete seine nasse Jacke und nahm ihr das Baby ab. Auf dem Weg zum Schlafzimmer mit der Wiege kam er am Wohnzimmer vorbei, aus dem der süßliche Gestank von Alkohol drang. Kurz grüßte er hinein, doch sein Stiefvater lag nur auf der Couch und antwortete nicht. Im Schlafzimmer angekommen legte er seine kleine Schwester vorsichtig in die Wiege und deckte sie zu.

Dann begab er sich in sein eigenes Zimmer, zog die Tür hinter sich zu und warf seinen Rucksack in Richtung des Dunkels, wo er seinen Schreibtisch vermutete. Mit dem Rücken innen an seine Zimmertür gelehnt schloss er seine Augen und ließ sich an der glatten Oberfläche herunter gleiten. Er atmete tief aus. Leise war das Aufprasseln des Regens an der Fensterscheibe zu hören.

Eine Ewigkeit später öffnete er die Augen wieder und blickte zum Fenster hin. Das Wasser rann im Halbdunkel daran in dunklen, breiten Strömen herab.

Plötzlich durchzuckte es ihn und er stürzte in Richtung Schreibtisch.

Seine Hände fanden im Dunklen umhertastend die nassen Gardinen, suchten die Arbeitslampe und schalteten sie ein. In ihrem Schein rettete er mit einem ärgerlich-fluchenden Gemurmel einen Stapel Papiere, die dort im Wasser schwammen. Vorsichtig nahm er sie einzeln hoch, ließ sie kurz abtropfen und legte sie zum Trocknen auf eine alte Couch, die im Zimmer stand. Zum Glück schien kaum Schaden entstanden zu sein. Eines der Papiere trug die Überschrift "Präzisionserhöhende Modifikationen des Lubaschenkow-Thornton-Formelsatzes zur Berechnung der Bahneliptik kleinerer bis mittlerer Himmelskörper. Von Aaron Steinheim".

Auch die großen, gefalteten Himmelskartenblätter waren zum Glück noch gut zu erkennen.

Gerade als er damit fertig war, erschallte der eher ungewohnte Klang des Türsummers durch die Wohnung. Sie bekamen nicht oft Besuch.

Aaron öffnete seine Zimmertür einen Spalt breit, so dass er hinaus lauschen konnte. Ein Spalt Licht fiel herein. Dann begann er seine übrigen nassen, kalten Sachen auszuziehen und auch sie zum Trocknen zu verteilen.

Männerstimmen waren plötzlich von draußen zu hören. Dazwischen die Stimme seiner Mutter. Sie wurde lauter, aufgeregter.

Aaron, nur noch in seiner Unterhose, blieb stehen und horchte. Sein Name fiel.

Er lugte vorsichtig durch den Spalt seiner Zimmertür heraus und sah die zwei dunkel Uniformierten sofort. Sicherheitsdienst des Konzerns. Er wich zurück, bis er in seinem Rücken die Türen seines Kleiderschrankes fühlte. Am liebsten hätte er sich darin versteckt.

Seine Hand fühlte immer noch unschlüssig herum, als sie ohne Klopfen seine Zimmertür aufrissen und Licht aus dem Flur hereinfiel. Nur Sekundenbruchteile später gingen ihre starken Stablampen an und wurden auf ihn gerichtet. Geblendet stand er fast nackt plötzlich im gleißenden Licht.

"Guten Abend… Sie sind Aaron Steinheim?", fragte der kleinere der beiden knapp, aber angesichts der Situation geradezu überraschend freundlich. Durch Aufklappen ihrer Dienstmarken wiesen sie sich aus.

Aaron zog mit den Zehen schnell einen Pullover zu sich, der er zu seinen Füßen lag, und schluckte. Im Schein des Gegenlichts aus dem Flur konnte er gerade noch die glänzenden metallischen Sterne auf ihren Schultern erkennen. Dritte Stufe. Keine alltäglichen Dienstgrade. Sein Mund war wie verschlossen.

Die Deckenlampe ging an, sie mussten den Schalter neben der Tür gefunden haben.

Die Stablampen wurden ausgeschaltet und im nächsten Moment wurde er von dem Grobschlächtigeren, bisher Stummen gepackt und festgehalten. Noch in der gleichen Bewegung wurde sein Unterarm freigelegt und ein kleiner rechteckiger Apparat an einem Griff darauf gedrückt. Es zwickte kurz, dann piepste es, der Riese sah auf die Anzeige des Apparates, nickte seinem Kollegen knapp zu, ließ den Arm wieder los und steckte das Gerät ein.

Hinter den breiten Schultern der Männer konnte er seine Mutter ausmachen. Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Eindringlinge und ihre Augen blickten ihn fragend an, so dass die Besucher es nicht mitbekommen sollten. Er zuckte als Antwort an sie kurz und fast unmerklich mit den Schultern.

Die beiden wandten sich wieder ihm zu: "Anziehen! Mitkommen!", befahl der Riese. "Es ist von äußerster Wichtigkeit-"

"Wir haben den Auftrag, Sie zu begleiten. Alles Weitere werden Sie später erfahren", führte der etwas Kleinere dienstbeflissen aus.

Mit zitternden Händen versuchte Aaron, seinen klemmenden Kleiderschrank zu öffnen, um weitere Sachen zum Anziehen herauszunehmen, doch das aufblitzende Chrom von Hochenergiewaffen bedeutete ihm, dass dies nicht erwünscht war. So konnte er nur einige weitere Sachen von seinem Fußboden auflesen und schnell überstreifen. Die Hose war immer noch nass, als er sie hastig hochzog.

Seine Mutter verlangte nervös zu hören, was ihm zur Last gelegt werde, wurde aber nur in den Flur abgedrängt.

In Aarons Kopf arbeitete es fieberhaft. Hatte doch jemand mitbekommen, was er auf die beschlagene Scheibe gemalt hatte? Warum sagten sie es dann nicht? Der Alte vom Bahnsteig war jedenfalls nicht bei Ihnen. Aaron hatte neben seinem Studium noch seinen Job beim Konzern. Doch er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, er hatte nichts mitgehen lassen. Viele taten das, er nicht.

Die abendlichen Besucher blickten unergründlich. Ihr Ton duldete keinen Widerspruch und veranlasste Aaron, sich zu beeilen. Sie gaben ihm nur kurz Zeit und nahmen ihn dann in ihre Mitte, der eine vor, der andere hinter ihm, seine Mutter einfach zur Seite schiebend.

Im Gehen warf er noch einen letzten Blick zu seinem Bett mit den trocknenden Manuskriptseiten darauf.

Als er zum Lift geführt wurde, konnte Aaron die Blicke der Nachbarn durch die Türkameras gradezu fühlen. In der Kabine selbst hatte noch ein weiterer Sicherheitsdienstler gewartet. Aaron hatte zunächst gedacht, dass dieser für die anderen nur die Lifttür blockiert hatte, doch seinen Abzeichen nach hatte er noch einen zwei Sterne höheren Dienstgrad als sie und führte mit Sicherheit keine Handlangerjobs durch. Niemand, den man normalerweise auf der Straße sah. Stumm und konsequent drängten die Sicherheitsleute den Jungen zu ihm hinein und setzten dann den Lift in Bewegung. Mit unbeweglichem Gesichtsausdruck standen die Männer an die Innenwand der Kabine gelehnt. Ihre wuchtigen Oberkörper hoben und senkten sich im Takt ihres Atems unter ihren Uniformen und eine Narbe im Mundwinkel des Grobschlächtigen zuckte bei der Andeutung eines Grinsens, als auf dem Bildschirm die Werbebotschaft wieder anlief. Der Kleinere grinste für den Bruchteil einer Sekunde zurück.

Im Flur des Erdgeschosses angekommen heulte das Unwetter draußen immer noch bedrohlich. Der leitende Sicherheitsdienstler legte seine Hand kurz in das Abtastgerät und die Elektronik öffnete ohne Fragen die Haustür.

Dann ging es im Laufschritt durch den Regen zu einem dunklen, sehr luxuriösen Straßengleiter mit undurchsichtigen schwarzen Scheiben. Es prasselte laut aufs Dach, als sie hinten einstiegen und auf den breiten Sitzen nebeneinander Platz nahmen. Ein Fahrer hatte auf sie gewartet. Es roch nach dem Leder der Sitze.

Nervös wichen Aarons Blicke denen seiner ihm gegenüber sitzenden, brutal wirkenden Begleiter aus. Der Junge hatte sich ein wenig beruhigt und sah hinaus, obwohl draußen kaum etwas zu erkennen war. Immerhin kein vergitterter Gefangenen-Transporter. Aus den Augenwinkeln versuchte er die Männer neben sich jedoch zu mustern. Sie wirkten sehr beherrscht, nach alledem, was man sich sonst über den Sicherheitsdienst erzählte. Vielleicht lag es an ihren Dienstgraden. Vielleicht hielten sie sich heute zurück. Kalter Schweiß machte sich auf dem Rücken des Jungen bemerkbar, als er versuchte sich vorzustellen, was ihm bevorstand. Manche kamen nie zurück. Und jene die zurück kamen, waren oft nicht mehr dieselben.

Der Regen trommelte weiterhin in immer neuen Schüben auf das Dach, so dass an ein Gespräch ohnehin nicht zu denken war und der Fahrer Mühe hatte, den großen Gleiter bei diesem Sturm in seiner Spur zu halten. Immer wieder ruckelte es heftig. Es gab kaum sonstigen Verkehr. Aaron versuchte, sich zu orientieren und sich den Weg einzuprägen. Man brachte ihn nicht zu seiner Arbeit bei einer Kaufstelle des Konzerns am Stadtrand, soviel merkte er bald. Es ging stadteinwärts.

Schließlich erreichten sie die hohen Gebäude der Universität, an der er studierte, wenn er nicht arbeitete, wie er es heute getan hatte.

Sie bogen in eine seitliche Zufahrt ein, deren stählerne Tore sich für sie automatisch öffneten, und es ging in eine Tiefgarage, die direkt unter dem Hauptgebäude lag. Hier verließ man mit ihm den Gleiter und es ging zu Fuß weiter durch einen langen, niedrigen Gang, der von einigen alten Leuchtstoffröhren schwach erhellt wurde. Bewaffnete Soldaten, die sich hier unten aufhielten, machten Platz, wenn das Vierergespann sie schnellen Schrittes passierte. Auch hier waren es nur hohe Ränge des Sicherheitsdienstes, wie man an den Abzeichen auf ihren Uniformen erkennen konnte.

In einer Art Schleuse hielten sie kurz an, eine Tür hinter ihnen schloss sich und die Männer blickten wie auf Kommando zur niedrigen Decke des kleinen Raums. Dann sprang ein Summer an und die innere Tür gab den weiteren Weg frei. Ein Mann mit grauem Kittel stand an einem Bedienpult und nickte Aarons Bewachern kurz zu. Hier erhellten die üblichen Leuchtwände die Räume, waren jedoch gedimmt.

Immer wieder traten sie durch Schwingtüren, die sich automatisch vor ihnen öffneten. Dieser unterirdische Teil des Gebäudes war stark abgeschottet und schien nicht für die Öffentlichkeit oder Studenten gedacht zu sein. Angespannt blickte Aaron sich immer wieder um. Immer weniger Leute. Bald würde er mit seinen Begleitern alleine sein.

War der Flur dunkler und eng gewesen, empfing ihn der große Hörsaal, in den man ihn jetzt brachte, mit hellem Licht und vielen Anwesenden. Sie saßen und standen in kleinen Gruppen an den Tischreihen, die in einer großen Halbkreisform steil aufstiegen. Viele unterhielten sich angeregt.

Aaron wurde unten in die Mitte geführt und blickte unsicher die Reihen hinauf. Die Gespräche wurden merklich leiser. Stumm tropfte er aus seiner immer noch nassen Kleidung auf den Fußboden. Eine junge Bedienstete brachte ihm ein Handtuch herbei, mit dem er seine Haare abtrocknete und auch seine Kleidung abrieb.

Wie Studenten sahen die meisten nicht aus. Sie waren älter. Und sie kamen ihm bekannt vor. Als er sich etwas beruhigt hatte, erkannte er einzelne Gesichter wieder. Professoren seiner Fakultät. Thornton. Dagnell. McCullough. Die Lehrstühle des Instituts für Astromechanik fast komplett. Andere kannte er von Abbildungen, die er bei ihren Veröffentlichungen gesehen hatte. Svenson. Leonár. Sogar Stapleman, der Entdecker der nach ihm benannten Konstante. Alles, was in Aarons Studienfach, der angewandten Astrophysik, Rang und Namen hatte, war heute Abend hier. Immer wieder fiel ein Blick herunter zu dem Jungen. Hier ein aufmunterndes Lächeln, dort ein kritischer Blick einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Karriere. Sein Herz schlug wieder hektischer.

Seine bisherigen Begleiter vom Sicherheitsdienst bedeutetem ihm wortlos, hier stehen zu bleiben, übergaben ihn den Blicken aller und verließen den Saal. Es erinnerte an ein Gericht. Doch er hatte sich auch an seiner Universität nichts zuschulden kommen lassen, dessen er nun hätte angeklagt werden können. Außer vielleicht die Sache mit den Gebühren, die ihm jetzt wieder einfiel. Er musste fast lächeln bei der Vorstellung, dass dermaßen bedeutende Forscher sich mit einer solchen Formalität befassen würden. Deshalb war er mit Sicherheit nicht hierher gebracht worden.

Kurz darauf erwachte die dunkle Wandfläche hinter dem Dozententisch als Video-Wand zum Leben. Riesengroß aber tonlos erschien darauf etwas, was wohl die Übertragung einer Sitzung des Regierungskabinetts war. Von Zeit zu Zeit wanderte die Kamera von einem Gesicht zu anderen. Der Präsident, die Minister und auch John Crohn nickten kurz und wortlos von der Leinwand herab. Aaron erkannte den in einen schwarzen Rollkragenpullover gekleideten, leicht untersetzten, älteren Mann mit dem stets gebräunten, kantigen Gesicht und den kurz geschorenen grauen Haaren und ebenso kurzem Bart sofort. Crohn war der Präsident des Konzerns, jener Institution, die als Zusammenschluss aus den letzten großen Firmen und diversen staatlichen Einrichtungen hervorgegangen war. Jedes Kind lernte die Geschichte und den Namen in der Schule.

Das allgemeine Gemurmel brach sofort bei Beginn der Videoübertragung ab, die Sicherheitsdienstleute, die anscheinend als Leibwächter bei verschiedenen Personen gestanden hatten, gingen zu den Türen hinaus und schlossen sie hinter sich. Es wurde still im Saal.

Ein grauhaariger älterer Mann mit langem Vollbart und in einen Kittel gekleidet stand unterdessen von seinem Tisch in der ersten Sitzreihe auf und trat an das Dozentenpult. Professor Dr. Wladimir Lubaschenkow, um den es sich handelte, war der Dekan an Aarons Fakultät, doch hatte der Junge bisher nie direkt mit ihm zu tun gehabt. Im Eingang des Fakultätsgebäudes hing aber ein großes Portrait des für seine Forschungen in Astromechanik bekannten Wissenschaftlers.

"Sie sind also...", blickte Lubaschenkow kurz in die Notizen vor ihm, "...Aaron Steinheim?"

Aaron brachte mit Mühe ein "Ja" hervor, während ihm ein altmodisches Mikrophon auf einem Ständer gebracht wurde. "Guten Abend, Aaron. Entschuldigen Sie zunächst bitte die Art und Weise, wie wir sie hierher gebracht haben. Im Weiteren werden sie erkennen, dass unsere Absichten redlich und einzig wissenschaftlicher Natur sind…" Er räusperte sich.

"Nun denn, lassen sie uns ganz am Anfang beginnen: Wie ich aus meinen Unterlagen ersehe, sind ihre Studienleistungen sehr gut. Ihnen wird Kreativität und eine überdurchschnittliche Intelligenz bescheinigt. Auch das passt also ins Bild-" Er nickte dazu den anwesenden Wissenschaftlern kurz und vielsagend zu. "Familienname laut Gentest: Steinheim. Eltern verstorben, aufgewachsen bei Rita Meyers. Sie studieren“ -er blickte wieder in seine Notizen- „hier bei uns“.

Aaron wurde ein prüfender, aber doch freundlicher Blick über die Brille zugeworfen und er bestätigte die Angaben mit einem kurzen Nicken.

"Gut, beginnen wir also gleich am Anfang. Sie stehen zwar noch am Beginn ihres Studiums, aber dürften naturwissenschaftlich aus der Schule ja zumindest einige, ich sage einmal, Grundkenntnisse besitzen. Ist das richtig?"

"Ja... ich glaube, ja", brachte Aaron unsicher hervor. Da er zu weit vom Mikrophon entfernt stand, wurde kaum etwas übertragen. Er griff danach, stellte es mit einem über alle Lautsprecher verstärktem Klappern höher und wiederholte seine Antwort.

Er hörte den Hall seiner eigenen Stimme im großen Vorlesungssaal nachklingen.

"Dann dürften sie auch etwas zu den Theorien über Materie wissen? Elektronen, die um Atomkerne kreisen?", beschrieb der Zeigefinger Lubaschenkows eine runde Bewegung.

Aaron nickte hastig. Eine an sich lächerliche Frage.

"Sie wissen natürlich auch, dass Planeten um Sonnen kreisen?"

Aaron nickt erneut. Er dachte an das wohl noch immer auf seinem Bett trocknende Manuskript, verkniff sich jedoch jegliche Bemerkung.

Der Wissenschaftler gab kurz ein Handzeichen die Reihen hinauf und mehrere große 3D-Projektoren wurden in Betrieb genommen. Unter leisem, stetigem Brummen ließen sie eine äußerst detailreiche Abbildung der Milchstraße unter der kuppelförmigen Saaldecke erscheinen. Währenddessen wurde das normale Licht im Raum langsam heruntergefahren. Ein Band funkelnder Sterne zog sich nun durch den Raum und erleuchtete ihn in stiller Pracht.

Die Projektion zoomte auf das Sonnensystem der Erde ein, zeigte im Zeitraffer die dem Jungen wohl vertrauten elliptischen Bahnen der Planeten.

Aaron war nicht klar, worauf der Alte hinaus wollte. Dieses Fragespiel erschien kindisch, insbesondere angesichts des Ranges der versammelten Forscher.

"Sehen Sie, Aaron, die meisten der heute Anwesenden und auch ich haben Jahre damit zugebracht und entscheidende Parallelen gefunden."

Die Projektion schaltete unvermittelt um und zeigte nun nacheinander verschiedene Atome mit jeweils größerer Anzahl an kreisenden Elektronen. Immer schneller erschienen neue Atome. Immer komplexere Anordnungen formierten sich.

Schließlich schaltete die Projektion wieder zurück zu Planeten auf ihren Bahnen. Auch hier wurden jetzt immer umfassendere Systeme abgebildet.

Lubaschenkow fuhr fort: "das führte uns sehr bald zu einer weiteren Frage, nämlich ob es vielleicht auch eine Art... Lebewesen ist, das aus diesen... großen Atomen... besteht, die für uns als ganze Planetensysteme erscheinen..."

Aaron schwieg, schon um seine Verwirrung zu verbergen.

"Theorien sind aufgestellt worden, Experimente wurden durchgeführt. Die Hinweise häuften sich, dass das Universum in der Tat im Ganzen eine Lebensform ist. Ein Lebewesen von unvorstellbarer Größe, sagenhaftem Alter, einem Bewusstsein und damit einem für unsere Verhältnisse wahrscheinlich unermesslichem Wissen - Sie können mir folgen?" Lubaschenkow war aufgestanden und begleitete seine Ausführungen, indem er auf das Dargestellte wies.

"Ja-" Diesmal klappte es schon ganz gut mit dem Mikrophon.

"Um Letzteres geht es uns hauptsächlich. Wissen. Anfang und Ende. Sinn. Da wir von einem sehr ausgeprägtem Bewusstsein des Wesens ausgehen müssen, bezeichnen wir es als Alpha-Bewusstsein oder kürzer einfach als Alpha."

Er legte eine kurze, andächtige Pause ein.

"Und schließlich ist es uns gelungen: Kommunikation. Wir haben es geschafft, herauszufinden, wo das Nervensystem des Alphas liegt und dort Satelliten installiert, die mittels eines entsprechenden Laserstrahls extrem hoher Energie steuerbare Reize erzeugen. Es ist, als würde in Ihrem Auge jemand mit einer winzigen Taschenlampe Morsezeichen geben. Nur, dass wir tiefer sitzen. In seinem Hirn. Dort geben wir unsere Signale: als Gedanken."

Aarons Augen hatten sich langsam an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt und er konnte die Silhouetten der Versammelten wieder erkennen. Lubaschenkows Blick schien fest auf die Projektion gerichtet.

"Als wir das erste Mal auf Sendung gingen, war klar, dass dieser Kontakt unabsehbare Folgen haben könnte: schlichtes Nicht-Verstehen schien uns dabei noch am harmlosesten zu sein. Auch Abneigung oder gar eine Art psychische Überforderung unseres Kommunikationspartners haben wir in Betracht gezogen. Doch unsere Sorgen stellten sich als unbegründet heraus. Wir wurden offensichtlich verstanden. Ferner sind wir durch entsprechende Teleskope nun auch in der Lage, Reize direkt zu empfangen... Gerade diese Teleskope waren sehr teuer. Es wurde damals offiziell berichtet, wir lauschten nach Botschaften von Außerirdischen. Sie werden ja davon gehört haben... Wie dem auch sei-" wurde Lubaschenkows Stimme wieder sachlicher, "wir haben es geschafft: Ein direkter Dialog mit dem Alpha ist möglich."

Die Projektion zeigte nach erneutem Umschalten wieder die Milchstraße. Die Ausmaße des dargestellten Bereichs vergrößerten sich, bis schließlich so etwas wie eine menschliche Figur als blauer durchsichtiger Schimmer zu erkennen war. Zunächst eine Art Baby, wuchs und dehnte es sich im Zeitraffer und entwickelte sich. Ein dünner, lasergleicher grüner Lichtstrahl markierte nun ein von der Erde abgesendetes Signal in die Weiten des interstellaren Raumes. Er endete im Kopf des großen Wesens. Ein kurzes helles Aufflackern und er erlosch.

"Sie können mir folgen?", fragte Lubaschenkow.

Aaron schluckte: "Ja, aber-".

Der alte Wissenschaftler blickte ihn aufmerksam an, doch Aaron wusste nicht genau, wie er die Frage formulieren sollte, die ihm auf den Lippen lag.

Lubaschenkow hob leicht die Hände: "Sie hatten bis jetzt noch keine Gelegenheit, davon zu erfahren. Unsere Forschungen sind geheime Verschlusssache und wir möchten darum bitten, dass dies auch so bleibt... wir sind die führende Nation bei diesem Projekt und die Regierung möchte aus verschiedenen Gründen nicht, dass darüber etwas bekannt wird... noch nicht."

Aaron trat von einem Bein aufs andere.

Und Lubaschenkow schien trotz des Halbdunkels zu erraten, was der Junge sich fragte. "Ich sprach von einem Dialog. Aber scheinbar ist das Alpha dabei wählerisch. Es möchte einen bestimmten Partner. Es spricht nicht zu jedem. Es will eine bestimmte Hirnstruktur. Bestimmte Denkmuster. Ein ganz bestimmtes Denken... Ihres. Daher sind Sie heute Abend hier. Wie Sie sich vorstellen können, hat es uns viel Mühe gekostet, Sie aufzuspüren. Wir mussten die Gehirne von Millionen von Menschen scannen. Auf Bahnhöfen, Plätzen, Straßen, in Zügen, auf Raumhäfen, überall. Es ist Ihre besondere Hirnstruktur, nach der wir die ganze Zeit gesucht haben. Nun haben wir Sie entdeckt. Wir könnten nun endlich mit Ihnen arbeiten, falls sie ihre Einver-", eine rasche, ruckartige Bewegung Crohns auf der Videoleinwand unterbrach ihn und er korrigierte sich hastig: "Wir können sicher auf Ihre Hilfe zählen, junger Freund, nicht wahr?"

Das Licht wurde wieder angeschaltet und das leise Summen der Projektoren verstummte. Die Blicke aller richteten sich auf den Gefragten.

Aaron schwieg, blickte kurz suchend umher.

"Sehr gut, Sie werden ihrem Land einen unschätzbaren Dienst erweisen!"

Applaus erklang im Saal. Auch allgemeine Zustimmung und der Applaus der Abgebildeten auf der Videowand waren zu erkennen. Anscheinend wurde von hier dorthin übertragen, wie Aaron jetzt begriff.

Lubaschenkow trat vom Dozentenpult zu Aaron und schüttelte ihm die Hand, wobei er ihm die andere Hand auf die Schulter legte und im allgemeinen Applaus untergehend bemerkte: „Keine Angst, es ist absolut schmerz- und gefahrlos. Wir haben ein Labor eingerichtet, das direkt mit unseren Sende- und Empfangseinrichtungen verbunden ist. Sie werden nur an ein spezielles Gerät angeschlossen, das Ihre Hirnströme überträgt“.

Als Aaron daraufhin nickte, schwoll der Applaus wiederum an. „Ihr Hirn ist dann auch gewissermaßen der Dekodierer, der die empfangenen Daten entziffert.", fuhr Lubaschenkow fort und trat danach wieder hinüber zum Dozentenpult.

Dann ging es weiter. Technische Einzelheiten. Formalien. Er würde für die Zeit des Projektes direkt in einen Teil des Labors einziehen, Helfer würden dringend benötigte persönliche Sachen von seiner Mutter abholen. Von nun an würde er direkt unter der Betreuung des Teams stehen, Ausflüge in die Außenwelt waren fürs erste untersagt. Jeder mögliche Unfall sei eine Katastrophe. Aaron tat so als ob er dies glaube, ahnte jedoch, dass dieses Ausgangsverbot seine Begründung eher in der Geheimhaltung hatte. Es sollte keine Zeit verloren, die entscheidende Phase des Projektes möglichst bald gestartet werden. Alles schien bedacht.

Schon nach weiterer kurzer Besprechung zeigte man Aaron seine zukünftigen Wohnräume und überließ ihn fürs erste sich selbst.

Er versuchte sich erst einmal zurechtzufinden. Ungläubig schaute er in seinen großzügigen Räumlichkeiten umher. Sie übertrafen in ihrem Luxus alle Wohnungen beträchlich, die er bisher betreten hatte. Eine Kommunikationseinrichtung jedoch fand er nicht und sein eigener Kommunikator musste bei dem überstürzten Aufbruch zu Hause liegen geblieben sein. Zögernd legte er seine immer noch feuchten Sachen ab und einen Bademantel an, den er im großen Badezimmer vorfand.

Immer noch konnte er kaum glauben, dass das alles wirklich passierte. Dennoch kamen ihm die Gedanken hier seltsam vertraut vor, so als hätte er sie schon einmal gedacht und nur vergessen.

Den Abend verbrachte er hauptsächlich damit, verschiedene wunderbare Speisen zu probieren, die er im Vorratsschrank der großen Küche fand. Er riss den jeweiligen Beutel auf und musste sie nur dem Sauerstoff aussetzen, um sie zu erwärmen. Es schmeckte zwar nicht so wie zu Hause, doch er bereitete in dieser Art ein Gericht nach dem anderen, um es zu kosten. Er fragte sich, wie es seiner Mutter und Emily wohl gehen mochte. Nicht nur das Essen war zu Hause manchmal knapp gewesen, doch irgendwie hatte es letztendlich immer gereicht.

Einige Zeit später war er dem Platzen nahe und konnte sich nur noch aufs breite, weiß bezogene Bett rollen.

Müde aktivierte er den Netzzugang, der ebenfalls mit einem 3D-Projektor betrieben wurde. Um das Bild herum lag hier jedoch ein Kraftfeld, das jegliche direkte Eingaben verhinderte, so dass man nur zusehen konnte anstatt zu interagieren. Doch da er sich wegen seines vollen Magens kaum rühren konnte, gab er sich einfach damit zufrieden und schlief bald ein. Die Nacht war unruhig und seine Träume verworren.

Der nächste Morgen brachte zunächst einmal eine reichhaltig gedeckte Frühstückstafel in einem kleinen Sitzungsraum, der auch im abgeschirmten Trakt lag. Aaron schlang schnell einige Bissen herunter, obwohl er kaum Hunger hatte.

Nach und nach fanden sich einige der Wissenschaftler wieder ein. Der Junge wurde körperlich auf jede erdenkliche Weise durchgecheckt, ein ganzer Haufen Mediziner machte verschiedene Scans, nahm Blutproben, horchte sein Herz ab und ließ ihn mit angeklebten Elektroden bei sportlichen Übungen schwitzen.

Schließlich befand man ihn für gesund, wenn auch leicht untertrainiert.

Mehr Zeit sollte die geistige Vorbereitung einnehmen. Tage und Wochen gingen dahin. Gewöhnlich kam Lubaschenkow für ein bis zwei Stunden pro Tag in Aarons Wohnräume und besprach sich mit ihm, während der Junge auf dem Sofa lag. Merkwürdige Fragen zu seinem bisherigen Leben. Merkwürdige Fragen zu seiner aktuellen Situation. Niemand hatte ihn bisher jemals so detailliert darüber ausgefragt. Niemand hatte aber bisher auch so viele Details aus seinem Leben schon gewusst, bevor Aaron sie erzählt hatte...

Ansonsten hatte er kaum zu tun. Er lebte in der riesigen Wohnung und konnte jederzeit essen, soviel er wollte. Die regelmäßigen Gespräche mit dem stets freundlichen Professor waren über lange Zeit hinweg alles. Über persönliche Dinge. Über das Alpha. Über alles Mögliche. Gelegentlich schwieg der Alte aber auch und schien nachzudenken, während seine Hand seinen Bart bearbeitete. Wenn Aaron hier Jemandem vertrauen konnte, so war es der alte Mann. Fragte er ihn jedoch, wann er seine Mutter und Familie wieder sehen würde, wurde dieser einsilbig und vertröstete auf später.

Daneben erfolgten immer wieder Scans seines Hirns. Manchmal durfte er auch an vorbereitenden Sitzungen des Teams teilnehmen, die sich aber zumeist in langweiligen technischen Detailfragen ergingen, von denen er nur wenig verstand. Außerdem nutzte er reichlich, wenn auch immer unter Beobachtung und erst spät abends, die sportlichen Einrichtungen der Universität. Er hatte in seinem Leben nie vorher so etwas wie Urlaub gehabt, und so genoss er die viele freie Zeit so gut es ging.

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