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Episode 68: Tintenbad
ОглавлениеWie konnte das bloß passieren? Wie konnte ich nur in die Tinte geraten? Jetzt sitze ich ganz (schön) in der Tinte, und dass ich tief in der (dicken) Tinte stecke, das ist zweifellos meine eigene Schuld – und natürlich die späte Schuld des Urknalls, wenn’s den denn gegeben haben sollte!
Weniger Intelligente, die alles auf höhere Mächte und Ausländer schieben, versuchen für ihr Bad in der schwarzen Schreibflüssigkeit ausschließlich externe Gründe zu (er)finden, denn für wenig trainierte Hirne kommt alles Böse von außen: Selbständig sei man nicht in die Tinte gefallen, so wie das Kind in den Brunnen [siehe Episode 60], sondern, man ist in die Tinte geraten, weil die Fremden nichts lieber täten, als die Eingeborenen in die Tinte zu reiten oder zu tauchen.
Die angesprochene Lösung oder Suspension, die zuallererst wohl im 3. Jahrtausend v.Chr. in Ägypten und China aus Gummiwasser (Gummi arabicum in H2O) und Ruß zusammengemixt wurde, ist nicht nur gemeinhin pechschwarz, sondern besitzt eine ähnliche übertragene Bedeutung wie das teerartige Pech. Als trübes Badegewässer symbolisiert der tiefe Tintensee drohendes Ersaufen, wie die verwandten Wendungen, in denen das Wasser bis zum Hals oder Kragen steht oder geht [siehe Episode 60]. Das undurchsichtige „gefärbte Wasser“ floss früh in den deutschen Sprachschatz ein, um missliche Lagen und Schwierigkeiten aller Art zu illustrieren, in die man irgendwie – selbst- oder fremdverschuldet – geraten ist.
Die üble Lage der Menschheit erkannte der Theologe und Volksprediger Johannes Geiler von Kaysersberg (1445-1510) bereits am Neuzeitbeginn und veranschaulichte diese mehrfach per Tinten-Metapher; in einer seiner derben Predigten zum „Narrenschiff“ (1494) von Sebastian Brant soll er etwa den/dem Menschen zugerufen haben: „Du bist voller Sünd, ... du steckst mitten in der Tincten.“ – die übrigens damals, als die Wenigsten schreiben konnten, durften und wollten, sündhaft teuer war, sich also ein Bad in derselben gar nicht anbot und das Baden ohnedies, genauso wie das Schreiben (heute noch), purer Luxus war.
In den 1770ern ließ der Theologe und Schriftsteller Johann Timotheus Hermes (1738-1821) ein wohlverdientes Tintenbad in seinem Roman „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen“ ankündigen: „aber jetzt kommen wir in die Tinte.“ Und es war vermutlich der gerne als Schriftsteller und Frauenversteher anonym gebliebene Staatsmann Theodor Gottlieb Hippel d.Ä. (1741-1796), der in „Lebensläufe nach aufsteigender Linie“ (1778-81) kritisch nachfragen ließ: „Seyd ihr schon in der Tinte gewesen?“
Aufs Baden als pädagogisch gerechtfertigte Strafe setzte der Bilderbuchautor und Psychiater Heinrich Hoffmann (1809-1894), der mit den „Lustigen Geschichten und drolligen Bildern für Kinder von 3-6 Jahren“ (1845) gleichsam eine selbst illustrierte Bewerbungsschrift für den Direktorenposten der örtlichen Nervenheilanstalt ablieferte. In dem später nach dem antiautoritären Titelhelden „Struwwelpeter“ benannten Elternbuch beschreibt er in der „Geschichte von den schwarzen Buben“ wie drei rassistische weiße Buben erfolgreich in drei rassistische schwarze Tintenbuben umgefärbt wurden: Da Ludwig/Ludewig (mit Fähnchen), Kaspar (mit Brezel) und Wilhelm (mit rundem Reif) einen Schwarzafrikaner anpöbelten, eben weil dieser so schwarz wie Tinte sei, wurden die Kinder einfach zur Strafe vom großen Nikolas/Niklas brutal in ein überdimensioniertes Tintenfass getunkt und so viel schwärzer als das Mohrenkind; das merkwürdigerweise unbeeindruckt von Alledem sein Sonnenschirmchen im Stechschritt spazieren trägt – natürlich draußen vor dem Tor!
Ausschließlich Pädagogen diskutieren bis heute über den Erfolg dieser allegorischen Färbemaßnahme – und ob der schwule Neger abgeschoben oder ausnahmsweise doch noch reingelassen werden soll.
Wenn ein geduldeter Exot die Strafschwärze schon antizipiert hat, und die juristische Drohung mit der Tinte keinen Sinn mehr macht, dann zeigt sich die deutsche Hochsprache flexibel: in der Tunke oder Patsche sitzen oder stecken geht nämlich auch. Stark Melanierte werden deshalb in bestimmten Zonen anstatt in die Tinte in die Tunke oder in die Patsche geraten. Oder niedere Mächte, wie etwa Unterbehörden, reiten/tauchen/führen sie amtlich hinein.
Einheimische Künstlernaturen könnten in der Tunke einfach ein Synonym für die Tinte sehen, in die der arme Poet oder Kalligraf den Federkiel oder die Schreibfeder eintunkt [vgl. Episode 55].
Die Mehrheit denkt aber weniger ans Dichten und Schreiben, sondern zuallererst ans Fressen und Kochen: Für ganze Kulturkreise ist Tunke ein Soße oder Brühe – und derart sehen dann auch die Redewendungen und Kochbücher aus. Der Fernreisende sollte sich deshalb auf die weniger bekannten Badewässer „Brühe“, „Sauce“ und „Suppe“ gefasst machen, die in fremden Kulturen regelmäßig eingelassen werden – andere Länder, andere Bade- und Esssitten. Besonders vor dem kohlpechrabenschwarzen Mohr, dem die Sonne aufs Gehirn schien, sollte sich der Schwarzafrika-Tourist in Acht nehmen. Ansonsten wäre dies die allerletzte Ausrede: Selbständig sei man nicht in die Brühe gefallen, sondern, man ist in die Sauce geraten, weil die Eingeborenen nichts lieber täten, als die Fremden in die Suppe zu reiten oder zu tauchen.
„Platsch!“, macht es, wenn der i.d.R. schon vorgegarte Tourist vom schwarzen Küchenmeister in die Kongo-Suppe geschmissen wird, natürlich mit der exotischen Zutat „weiße Tennissocke in Sandale“, denn in diesen Länder wird ja gerne viel und scharf gewürzt. Das ähnliche „Patsch!“, substantiviert: „Patsche“, ist gleichfalls eine lautmalerische Interjektion. Mit diesem Onomatopoetikon vertonte man schon vor den ersten Comics den Tritt in eine (Matsch-)Pfütze, den freundlichen Handschlag („Patschhändchen“) und den unfreundlichen Schlag mit der flachen Hand in ein Gesicht („Patschhand“). Die ferner seit jeher weitere flache Schlagwerkzeuge bezeichnende Patsche ist in der übertragenen Bedeutung „Verlegenheit“ seit dem 17. Jh. schriftlich belegt. Ein leider vergriffenes Flugblatt aus dem Jahr 1621 soll mit Bezug auf den kurz amtierenden „Winterkönig“ gemutmaßt haben, dass „er gar zu sehr in der Patschen steckt“, und sicherlich war für Friedrich V. (1596-1632) die „Schlacht am Weißen Berg“ im November 1620 schon Grund genug, sich schwarz zu ärgern [siehe Episode 30].
Obgleich im Roman „Die drey ärgsten Ertz-Narren in der gantzen Welt“ (1672) des Zittauer Schriftstellers Christian Weise (1642-1708) die Formulierung „... dasz man ihn in der Patschke stecken lasse.“ zu finden ist, gibt es keinerlei inhaltlichen und historischen Bezug zum gefallenen Pfälzer Provinzfürsten, der so gerne (länger) König gewesen wäre.
Über bürgerliche, aristokratische und militärische Narren hat ebenfalls Wilhelm Raabe (1831-1910) einiges niedergelegt: In „Die Leute aus dem Walde, ihre Sterne, Wege und Schicksale“ (1862) machte man sich scheinbar um die matschige Ausbildung bei der Kavallerie Sorgen: „Wer weiß, was aus dem Jungen geworden ist, in welche Patsche ihn der Hauptmann von Faber geritten hat.“ Denn „nett in der Patsche sitzen“ wird in der Obhut eines Hauptmanns zweifellos keiner, es sei denn, es ist wie in der Raabe-Erzählung „Wunnigel“ (1876) ironisch gemeint.
Grundsätzlich ist das Leben auf diesem Planeten sowieso nur nett, sobald man genug Kohle [vgl. Episode 17] ausgeben kann, falls man also mittelfristig solvent ist oder scheint. Wenn man in der Tinte sitzt, dann ergo nicht selten, weil man in der Tinte ist. In der Tinte bei jemandem sein bedeutet, Schulden haben, bei jemandem (mit Tinte) im heute nicht mehr gebräuchlichen Schuldbuch stehen. Er oder sie ist in der dicken Tinte bedeutet, er oder sie ist hoch verschuldet – was eigentlich geheim bleiben sollte, da in der Öffentlichkeit tapfer der erfolgreiche Geschäftsmann und die sophisticated Businesswoman gemimt werden, obwohl die Kapitalistenelite schon bis über den Hals in Schulden steckt [siehe Episode 60]. Dazu passen die „Erlebnisse eines Schuldenbauers“ (1854) des schweizerischen Pfarrers Albert Bitzius (1797-1854), der unter seinem Erzähler-Pseudonym Jeremias Gotthelf einen letzten, ultimativen Schuldnerberatungstipp abgab: „Ihr könnt euch ganz leicht aus der Tinte helfen, wenn ihr euch von den Blutsaugern los macht.“
Pekuniäre Schwierigkeiten beschrieb ferner Hermann Löns (1866-1914) in „Das zweite Gesicht“ (1911): „... Schneeschüppen brachte nicht sehr viel ein, der Vormund schickte ihm kein Geld; eine schöne Patsche war es, in der er saß. Keine Wohnung und ein Hunger, ein Hunger!“
Mit dem Schneeschieber kann man sich folglich nicht aus der Tinte ziehen – schon gar nicht im (eher gefluteten) Norddeutschland des 21. Jahrhunderts. Interessanterweise wird bundesweit gemeinhin auf die Patsche umgestiegen, wenn beim Entsteigen geholfen werden muss: Es heißt zumeist „jemandem aus der Patsche helfen“, auch wenn dieser Jemand zuvor noch in der Tinte saß; war die Tinte dick, dann müssen die Helfer sogar mit vereinten Kräften aus der Patsche ziehen. Zu bewundern ist die Tinten-Patsche-Kombination beim kriminellen Märchenonkel Karl May (1842-1912): „Der Scheerenschleifer“ (1880) steckte bei ihm zwar „In der Patsche“, konnte sich dann jedoch drehend befreien, wohingegen ein vermutlich schwedischer Mitbürger komplett in der Tinte sitzen bleiben sollte: „Ein Schleifer macht sich nichts daraus, wenn er einmal in die Patsche geräth; er weiß sich wieder herauszudrehen; Er aber, Er schwedischer Lausewenzel Er, soll sicher nicht gleich wieder herausgerathen, wenn Er einmal bis über die Ohren in der Tinte sitzt; darauf kann Er sich verlassen, jetzt und in alle Ewigkeit!“
Zeitgenössische Arbeiter und Handwerker können sich gerne manuell befreien; als typischer „deutscher Lausewenzel“ stehe ich eher auf exotische Rezepte, die in Werken aus dem 19. Jh. zur Rettung aus der Tintenpatsche ausprobiert wurden: In Friedrich Spielhagens (1829-1911) Roman „Problematische Naturen“ (1861) huldigt anscheinend eine davon den Zufall als Patsche-Befreier: „Ich habe allen Respekt vor dem Zufall, denn er hat mir schon oft im Leben aus der Patsche geholfen, ...“ – was dem faulen Fatalisten entgegenkommt! Im Raabe-Roman „Alte Nester“ (1879) wird gar angedeutet, dass es möglich wäre, „durch einen mehr oder weniger fragwürdigen Witz aus der Patsche zu helfen.“ – und eine Hilfe in dieser Weise fällt gleichfalls überhaupt nicht schwer!
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