Читать книгу CASPAR IM FAHRWASSER DER GESCHICHTE - Carsten Hoop - Страница 3

1.Walfang Die neue Geschäftsidee

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Es war ein heißer Sonntag im Juli des Jahres 1755. In unserem Haus in der Katharinenstraße war nur noch die Dienstmagd Maria anwesend. Sie saß mit ihrem Strickzeug in der gläsernen Kammer der großen Diele. Sie hatte alles im Blick, wenn die Bewohner des Hauses ausgeflogen waren. Meine Eltern verbrachten den Sonntag wie gewöhnlich im Gartenhaus in Billwerder vor den Toren Hamburgs und entzogen sich der staubigen stickigen Stadt, sowie es viele andere auch taten. Mein Bruder Hinrich, meine Schwester Josephine und auch ich, waren schon lange nicht mehr mit ihnen dorthin gefahren. Vater, einstmals ein dunkler Typ mit mächtigen Augenbrauen, gewöhnte sich langsam, Mutter allerdings sehr langsam daran, dass wir unsere eigenen Wege gingen. Meine Mutter Charlotte, eine schmächtige Person mit freundlichem Gesicht, war der ruhende Pol der Familie, zugleich hielt sie alle Fäden zusammen. Hinrich wollte sich nach dem anstehenden Walfang mit Konstanze verloben, mit der er schon lange befreundet war. Mein großer Bruder hatte die braunen Augen meines Vaters, aber die Gestalt eines Leuchtturmes. Josephine, die ebenfalls älter ist als ich, konnte sich bei vielen Bewerbern kaum für einen Mann entscheiden. Sie hatte eine quirlige fröhliche Natur, die überall gute Laune verbreitete. Wem das noch nicht genügte, der schaute in ihre großen braunen Augen und auf ihr langes kastanienbraunes Haar. Derweil suchte ich neben der großen Diele im Kontor von Kock & Konsorten, dem Familienunternehmen, nach speziellen Plänen für den Schiffsneubau. Der fast fertig gebaute Walfänger hielt unsere Familie seit einiger Zeit in Atem. Mein Bruder Hinrich hatte vorgestern mit Vater die letzten Einzelheiten vor der Schiffstaufe besprochen und die Pläne nicht zur Werft mitgenommen. Das sollte ich jetzt nachholen. Die Unterlagen waren nicht dort wie vermutet, wo sie hätten sein sollten. Nach einer Weile hatte ich sie woanders endlich gefunden.

Kurzum verließ ich unser Haus. Ein letzter grüßender Blick zu Marie. Sie schaute mir lange mit ihren wässrigen Augen nach, ohne dabei ihren Strickrhythmus ändern zu müssen. Sie genoss die stillen Sonntage im Sommer. So viel Ruhe zur Handarbeit gab es nur an diesen Tagen, wenn niemand zuhause war und sie mit der Katze Katinka als Herrin wachte.

Die Sonne arbeitete sich aus einer Riesenmenge aufgetürmter Wolken heraus, als ich durch die Katharinenstraße schlenderte, die im Herzen von Hamburg lag. Die Schnitzereien und Verzierungen der Giebel in unserer Straße waren bei Sonnenschein besonders eindrucksvoll. Leuchtende Farben hatten die holländischen Baumeister verwand, um die Fassaden der Kaufmannshäuser prachtvoll erscheinen zu lassen.

In einer halben Stunde war ich mit meiner Freundin Lisa verabredet, an unserem Lieblingsplatz im Hafen. Ich erhöhte mein Tempo und bog in die Mattentwiete ein, die als Straße kaum erkennbar war, weil die gegenüberliegenden Häuser sehr eng zueinander standen. Hier konnte die Sonne mir nicht folgen, da die Twiete außerdem hoch bebaut war. Seitliche Gänge führten in gedrängte Hinterhöfe. Hier passte kein Pferderücken mehr durch, wie man so sagte. Wäscheleinen wurden über die Gänge gespannt, dadurch wirkten sie noch enger. Ich hörte ein kleines Kind wimmern und schaute in die verwinkelte Gasse eines Ganges. Es saß auf dem blanken Kopfsteinpflaster im Unrat und wurde mit Fischabfällen von größeren Kindern beworfen. Eine Frau, mit einem Säugling auf dem Arm, kam schimpfend aus einem Hauseingang und klärte die Situation, so dass ich mich auf den Weg machen konnte.

Obwohl ich mich darauf freute, Lisa zu sehen, war meine Stimmung dennoch getrübt. Bis vor einiger Zeit hatte ich die Hoffnung, den anstehenden Walfang als Besatzungsmitglied unseres neu gebauten Schiffes zu begleiten. Doch meine Eltern, Charlotte und Johann Ludwig Kock, hatten sich anders entschieden. Hinrich und unser Cousin Jacob aus La Rochelle sollten die Fahrt nach Grönland bestreiten. Vater hatte es vermieden, mir zu sagen warum ich nicht fahren durfte. Er ging derartigen Schwierigkeiten mit der Familie gerne aus dem Weg. Doch insgeheim wusste ich, dass einer der Gründe dafür mein Alter in Verbindung mit dem mangelnden Zutrauen meiner Eltern war. Dabei gehörten auch andere Männer mit 22 Jahren zur Besatzung! Der Schiffsjunge war gerade 15 Jahre alt geworden. Die Mutter, die schon öfter meine vom Kurs abweichenden Vorhaben ausbremste, argumentierte mit fadenscheinigen Begründungen, warum ich nicht mitfahren sollte. Auch sie vermied es, die ehrlichen Gründe zu nennen. Ich bin deshalb ziemlich enttäuscht gewesen. Sie verwiesen mich auf ein weiteres Jahr, bis zur nächsten Walsaison eben, wenn nichts dazwischen kommen würde. So hieß es. Dabei hatte ich genau wie Hinrich meine Seefahrer-Ausbildung mit guten Leistungen beendet. Uns fehlte nur noch die Praxis, die auf der Fahrt ins Eismeer vermittelt werden konnte.

Meine Schritte in der hohlen Gasse empfand ich besonders laut, da hier jedes Geräusch durch den Halleffekt verstärkt wurde. Dabei versuchte ich den Krach meiner Sohlen zu dämpfen, indem ich nur noch mit den Zehen auftrat, ohne langsamer zu werden, denn die Zeit drängte. Mein Bruder erwartete mich vor Ort mit den Plänen des Schiffes. Seine Aufgabe an Bord war die Lagerung und der Transport der Speckfässer. Mit unserem Böttcher entwickelte Hinrich neue Verschlüsse, um den Walspeck länger haltbar zu machen und vor allem die Verluste in Grenzen zu halten. Besondere Sorgfalt war hier von Nöten, damit bei stürmischer See die Ladung nicht verrutschte. Sonst wäre unser neuer Unternehmenszweig „Walfang“ gefährdet gewesen. Die Abfahrt des Schiffes hatte sich nunmehr um 3 Monate verzögert, da es nicht rechtzeitig zu Saisonbeginn fertig wurde. Doch in 3 Tagen sollte die Jungfernfahrt des Walfängers beginnen.

Die Gewinnaussichten waren beim Walfang sehr gut, entsprechend hoch lag das Risiko im Verlust des Schiffes, der Mannschaft und oder des Fanges. Piraterie, Eisgang, Unwetter, Unfälle, Kriege und Krankheiten machen den Walfängern das Leben schwer. Mein Onkel Clemens aus La Rochelle und mein Vater hatten sich gegenseitig zu Teilhabern von Kock & Konsorten, Hamburg und Kock & Konsorten, La Rochelle gemacht, um das Risiko bei Verlusten zu verringern. Da die Brüder sich wechselseitig mit den jeweils hiesigen Handelswaren belieferten, hatten sie auch regelmäßigen Kontakt, um die nötigen Informationen auszutauschen. Den brauchten die beiden Kaufleute auch. Nicht nur wegen des Geschäfts, sondern weil sie sich sehr gut verstanden und auch unsere Familien ein sehr enges Verhältnis zueinander entwickelt hatten.

Mein Onkel war damals nach La Rochelle gegangen, weil er dort auf Reisen die Tochter eines Weinbauers kennen lernte und sogleich heiratete. Tante Nathalie spricht nicht nur zwischenzeitlich ziemlich gut Deutsch. Zu unserer aller Freude beherrscht sie auch Hamburger Besonderheiten der norddeutschen Sprache. Wenn Tante Nathalie Worte mit den Anfangsbuchstaben ST oder SP aussprach, dann hielten wir uns alle vor Lachen den Bauch. Das sorgte stets für unterhaltsame Tage der Zusammentreffen. Onkel Clemens und Tante Nathalie hatten ihren Sohn Jacob, der 2 Jahre älter war als ich, zweisprachig in La Rochelle aufwachsen lassen. Seit kurzer Zeit kümmerte sich Jacob ganz alleine um den Hamburg- Handel, während Onkel Clemens eine neue Amerika-Verbindung aufgebaut hatte.

Jetzt erreichte ich den Neuen Kran, die Straße mit der gleichnamigen Gerätschaft. Mit einer riesigen Eisenkralle hievt der Kran besonders schwere Lasten aus den Bäuchen der Schiffe oder umgekehrt. Auch hier war heute alles wie ausgestorben. Wochentags dagegen pulsierte das Leben. Geschäftig ging jeder seiner Tätigkeit nach, als kleiner Teil des großen Ganzen. Und es drehte sich eigentlich immer nur um das Eine: Be- und Entladen der Schiffe. Der Binnenhafen lag voller Segler, die nur darauf warteten, endlich wieder auf große Fahrt zu kommen. Der Hafen platzte aus allen Nähten. Inzwischen gingen die Schiffe schon vor dem Niederbaum auf Reede. Doch das Unterfangen wurde immer schwieriger, weil auch dort der Platz begrenzt war. Schließlich konnte die Fahrrinne der Elbe nicht blockiert werden. Der Handel blühte in den letzten Jahren des Friedens weiter auf. Diese Zeiten wurden von den Kaufleuten zum eifrigen Warenaustausch genutzt. Die politische Lage in Europa konnte schon bald wieder eine andere sein. Die Landesfürsten und Könige änderten gelegentlich ihre Bündnisse mit den europäischen Mächten, freien Städten oder Fürstentümern.

Wir Hamburger versuchen uns in bewährter Tradition aus diesen Konflikten möglichst herauszuhalten und schauten der neuen Situation meistens gelassen ins Auge. Das hatte der Stadt in den letzten Jahrhunderten Wohlstand und Frieden eingebracht. Auch wenn wir uns unsere Sicherheit oft teuer erkaufen mussten, als militärisches Leichtgewicht war es jedes Mal eine kluge Wahl. Zuweilen waren die Speicher voll. Wenn ich meiner Zeitung, dem Hamburger Korrespondenten, Glauben schenken darf, sind die friedvollen Zeiten bald erst einmal wieder vorbei. Das Blatt genießt den Ruf, die Wahrheit auch drucken zu dürfen. Über den Tellerrand zu schauen, war für den einfachen Bürger bislang schwer gewesen. Durch den Hafen und den damit verbundenen Austausch an Informationen war es der Zeitung jedoch möglich, ein vielschichtiges Meinungsbild zu erhalten, zu vertreten und letztlich zu publizieren. Zumal die Verbreitung von neuen Ideen in der Gesellschaft neuen Zulauf gewann und verbesserte Drucktechnik ihren Anfang nahm.

Endlich hatte ich den Hafen passiert und den südlichen Wall erreicht. Die Stadtwachen standen im Schatten des trutzigen Sandtores, das nochmals deutlich über den Stadtwall hinaus ragte. Die Sonne befreite sich nun endgültig aus den Wolken und die Juli-Hitze dieser Tage brannte unaufhörlich. Ansonsten sah ich auch hier keinen Menschen. Wer nicht unbedingt ins Freie musste, blieb wo es etwas kühler war, an diesem Tag im Sommer des Jahres 1755.

Das Sandtor der Stadtmauer verbannt die südlich vorgelagerte Insel Großer Grasbrook durch eine Holzbrücke über den Stadtgraben. Auf dem Grasbrook lagen die Schiffsneubauten wie die Perlen an der Kette. Dort hatte sich die Werft ständig vergrößert und ein Ende der Ausbreitung war nicht abzusehen, da die Insel groß genug war. Durch ein Meer von Schiffsaufbauten konnte ich unseren Walfänger dennoch erkennen und ich näherte mich ihm auf dem staubigen Grund mit großen Schritten. Morgen wollten Onkel Clemens, Tante Nathalie und Jacob aus Frankreich hier sein. Natürlich mit den üblichen Handelswaren ihrer Region. Das normale Geschäft ging schließlich weiter. Nur das Jacob diesmal mit einem anderen Schiff den Hafen verlassen sollte...

Wie gern wäre ich auch dabei gewesen!

„Hallo Hinrich!“, rief ich schon von weitem, denn er war unschwer auszumachen. Mein Bruder überragte meistens alle mit mindestens einer Kopflänge. Er war zurzeit allerdings in eine intensive Unterhaltung mit dem Schiffszimmer-Meister verstrickt. Hinrich wollte heute die letzten Änderungswünsche mit dem verantwortlichen Meister besprechen. Im Laderaum und an Deck sollten ein paar technische Details verbessert werden.

Nachdem mich mein Bruder womöglich nicht gehört hatte, wartete ich mit meiner Ungeduld, bis ich ihnen näher gekommen war.

„Darf ich euch kurz stören, Meister Schulz?“

„Hallo, Caspar! Hast du die Pläne mitgebracht?“, sagte Hinrich erwartungsvoll, ohne den Meister zu vernehmen.

„Deswegen bin ich doch gekommen, weil du die Pläne vergessen hast“, entgegnete ich ihm heraus fordernd.

„Und warum kommst du so spät? Ich wollte schon einen Fuhrmann zu Marie schicken.“

„Die Pläne lagen nicht da, wo du sagtest dass sie liegen würden!“, antwortete ich und er verdrehte die Augen. Er wollte es scheinbar nicht allzu genau wissen.

Ich gab ihm die Pläne, er bedankte sich knapp und drehte mir den Rücken zu. Nun war er wieder eingetaucht in das Gespräch mit dem Meister, der für den Neubau verantwortlich war. Hinrich war ein sehr gewissenhafter Mensch. Er setzte alles daran, seine Vorstellungen haargenau umsetzen zu lassen. Deswegen betrachtete ich sein barsches Auftreten mir gegenüber nicht als ungewöhnliche Manier. Ich schaute mir die Baufortschritte auf dem Oberdeck an und stand den Zimmerleuten schon bald im Weg, bis mir das Läuten der Hamburger Kirchtürme klar machte, dass Lisa bei unserem Treffpunkt auf der Bastion Georgius auf mich wartete.

Ich verließ unseren Walfänger, der rein äußerlich eigentlich schon jetzt vollkommen aussah. Dabei war selbstverständlich, dass einige Deckarbeiten aus Zeitgründen erst auf der Jungfernfahrt vollendet werden sollten. Dennoch arbeitete die ganze Werft auch sonntags.

Nun beeilte ich mich. Ich wollte Lisa nicht länger warten lassen. Als das Sandtor wiederum erreicht war, brauchte ich die übliche Kontrolle der Wachmannschaft nicht nochmals über mich ergehen zu lassen. Viele Wachleute kannte ich, da das Nadelöhr mehrmals täglich zwischen unserem Haus und der Schiffswerft passiert werden musste. Noch nie gab es von ihnen etwas zu beanstanden. Es war während dessen so drückend geworden, dass ich jeden erdenklichen Knopf meiner Kleidung öffnete. Ich erreichte über die Treppen die oberen Wallanlagen. Hinter dem Gemäuer, dessen Schießscharten nie ernsthaft von Nöten waren, wartete eine breite Promenade, die zu ausgiebigen Spaziergängen von der Bevölkerung genutzt werden konnte. Über diesen Weg konnten rund um Hamburg alle 22 Bastionen erreicht werden. Die Bastionen, gewaltige Plattformen der Verteidigung, die über die Stadtmauern in ihrer Tiefe heraus ragten und so besonders strategisch nutzbar waren. Außerdem führte Einschüchterung durch die besonders wuchtige Bauweise schon vorab zur Einstellung von Kriegshandlungen. Leicht erhöht gebaut, boten sie zu Friedenszeiten außerdem einen wunderschönen Ausblick. Wenn die Dänen aus der benachbarten Stadt Altona nicht gelegentlich mit den Säbeln rasseln würden, wären die Wallanlagen vielleicht schon längst reine Spazierwege geworden.

„Caspar, Caspar! Ich bin es“, rief eine vertraute weibliche Stimme aus der Ferne. Ich sah Lisa nicht, aber ich erkannte sofort ihre liebliche Stimme. Meine Augen waren nicht die Besten, trotz der Brille auf der Nase. Als ich Lisa dann sah, war sie noch wirklich weit weg. Sie kam mir auf den Wallanlagen entgegen. Sie konnte sich denken, dass ich von der Schiffswerft kam. Sie wusste eigentlich vieles immer ein wenig eher als andere. Kurzum, sie hatte einen siebten Sinn für alles Erdenkliche. Selbst das was ungedacht blieb, wusste sie bereits. Eine leichte Brise erreichte zur rechten Zeit meine Stirn. Das erfrischende Lüftchen zeichnete das spazieren gehen bei großer Hitze auf den Wallanlagen aus.

Ich kontrollierte den Sitz meiner Kleidung und entschloss mich, die unüblich geöffneten Knöpfe, wieder zu schließen. Allein schon deshalb, damit Lisa nicht gleich anfing, an mir herum zu zubbeln. Das konnte ich nicht leiden. Sie war zwischenzeitlich so gut zu erkennen, dass ich ihr erfrischendes Lächeln sehen konnte. Ihre dunkelblonden Haare flatterten im leichten Wind, obwohl ein großer Sommerhut den größten Teil der Haarpracht gefangen hielt. Lisa hatte ihr türkisgrünes Kleid an, passend zu ihrer Augenfarbe. Ihre schlanken Hände hatten den großen Hut fest im Griff, da der Wind nun zunahm. Wir waren hier oben auf der Promenade die einzigen Besucher, so dass Lisa sich traute, besonders überschwänglich zu winken. Ich versuchte sie noch zu überbieten, wohl wissend, dass wirklich niemand zuschaute.

„Caspar, schön dich zu sehen! Aber du bist spät dran“, rief sie und schaute mich fragend an. Ich nahm sie in die Arme und gab ihr einen dicken Kuss.

„Tut mir leid, die kleine Verspätung. Toll siehst du aus! Bist du etwa die kleine Lisa vom Schaarmarkt? Kaum zu glauben.“

„Hör auf! Sag mir lieber warum du zu spät kommst?“

„Ich war noch zum Schiff geeilt. Hinrich brauchte mich dort als Laufbursche, weil er die Pläne vergessen hatte. Wollen wir erst spazieren gehen oder gleich eine Limonade trinken gehen?“, fragte ich Lisa.

„Mir ist so heiß. Ich würde gerne zum Blockhaus spazieren gehen und dort eine Limonade trinken!“

„Schön, dass du dich so eindeutig entschieden hast, ganz wie ich es von dir gewohnt bin!“

„ Sag du nicht immer kleine Lisa. Das mag ich nicht hören!“, schmollte sie.

„Übrigens - du kannst ruhig 2 Knöpfe mehr aufmachen, Caspar. Nicht alle Knöpfe die vorhanden sind, müssen auch unbedingt geschlossen werden!“

Ich war wie immer „Herr der Lage“ und sie fummelte nun doch an meinen Rockknöpfen herum. Aber es ging vorüber und ich erzählte ihr, wie mein Tag bisher verlaufen war. Sie hakte sich bei mir unter und wir gingen im Schlenderschritt zur Bastion Georgius. Jede Bastion hatte einen Vornamen der damaligen Ratsherren erhalten, als die Wehranlage vor über 100 Jahren von einem holländischen Baumeister erschaffen wurde. Zuerst erreichten wir allerdings die Bastion Hermandus. Wie das bei unseren Wallspaziergängen so üblich war, gingen wir zum äußersten Rand der Bastion und genossen für eine Weile den Ausblick. Vor uns lag der Stadtgraben, den man auch als östlich fließenden Arm der Alster ansehen konnte. Jedenfalls war er damals bei dem Bau der Festungsanlagen entstanden. Ursprünglich hatte der kleinere Fluss Alster, von Norden kommend mehrere Arme, die aufgrund der Entwicklung der Stadt, auch öfters von Menschenhand verändert worden waren. Der Arm hatte den Charakter eines Stadtgrabens, obwohl die Fließgeschwindigkeit der Alster erkennbar war. Dieses Gewässer trennte den Großen Grasbrook vom eigentlichen Festland. Der westliche Teil der Insel wurde von den Werften der Schiffszimmerer vereinnahmt. Wie ich schon erwähnte, breitete sich die Werft immer weiter aus. Der östliche Teil wurde allmählich bebaut. Gewerbebetriebe, Handwerkerbehausungen, Fischerhütten und private Häuser entstanden dort und ließen den Abstand zur Werft kleiner werden. Wir guckten von Hermannus direkt auf die Werft. Die Elbe floss gemächlich dahin. Wir hatten Niedrigwasser. Der Strand vom Grasbrook hatte jetzt die doppelte Tiefe. Alte Frauen sammelten Flusskrebse, die sie morgen auf den Märkten der Stadt verkaufen werden. Eine große Anzahl Kinder badete in der Elbe, während einige Mütter den Schatten der Elbweiden in Ufernähe suchten. In der Kürze des Hochsommers war dieser Spaß für die Mädchen und Jungen der Stadt eine besondere Attraktion. Das schöne Wetter machte dieses Szenario möglich und man wusste nie, wie lange es anhalten würde. Lisa erzählte mir, wie ihr Vormittag verlaufen war. Sie weiß, dass mich die Gottesdienstgeschichten nicht so unbedingt interessieren. Dennoch hörte ich zu und machte trotzdem ein freundliches Gesicht. Unausweichlich musste ich immer noch mit meiner Stimmung kämpfen. Lisa wusste nur zu gut, wie gern ich mit auf Walfangtour gefahren wäre. Sie ist ebenso vertraut mit meinem unendlichen Fernweh, das in mir brodelte. Ich konnte es nicht verbergen. Wir kannten uns seit unserer Kindheit. Wir waren damals Nachbarn am Schaarmarkt, bis Kock & Konsorten größere Räumlichkeiten benötigten. Mein Vater hatte den Handel immer weiter ausgedehnt, so dass mehr Lagerraum notwendig wurde. Der wirtschaftliche Erfolg verhalf uns, in eine „feinere Gegend“ umzuziehen. Ein Kaufmannshaus mit Fleetanbindung machte „wohnen und arbeiten“ unter einem Dach komfortabel. Unserer Freundschaft hatte die räumliche Trennung nie geschadet.

„Warum kannst du dich nicht mit der Arbeit bei deinem Vater zufrieden geben? Verstehst dich doch gut mit deiner Familie. Und du hast ein gutes Salär. Außerdem hast du - mich!“, platzte es aus Lisa plötzlich heraus. Dabei entstanden kleine Fältchen auf ihrer Stirn, die wieder verschwanden und sich anschließend mit Gesichtsröte abwechselte. Ihre Spontaneität überraschte sie selbst. Ich schaute ihr lange in die Augen. Die reflektierenden Sonnenstrahlen der Elbe funkelten in ihren Augen. Dann passierte eine Weile nichts. Auf Antwort wartend, stand sie bewegungslos da. Ich hatte nach einer griffigen Formulierung gesucht und musste nun langsam etwas dazu sagen.

„Lisa, du weißt... ich möchte erst etwas von der Welt sehen, die mir jeden Tag im Hafen durch unglaubliche Geschichten schmackhaft gemacht wird. Wo kommen die Waren her, die durch meine Hände gehen und wie leben und denken die Menschen, die uns beliefern? Ich habe zwar viel gelernt, hingegen passiert hier derweilen wenig. Wir sind doch noch jung. Können wir mit der Heirat nicht noch warten?“

„Was interessieren dich andere Menschen? Du wirst doch unterwegs nur Wale sehen!“

„Möchtest du nicht wissen, wie andere Völker organisiert sind? Vielleicht können wir vieles von Ihnen lernen. Auf Grönland gibt es die Inuit, die Urbevölkerung, die von uns bezeichnenderweise Rohfleischfresser genannt werden. Allerdings benutzen die Seefahrer das übersetzte Wort Eskimo, so dass auf dem ersten Blick die Beleidigung der Menschen nicht wahrgenommen wird. Jedenfalls sieht man nicht nur Wale und Robben beim Walfang.“

Sie schaute mich enttäuscht an. Mit weiblicher Intuition hatte Lisa versucht, diesen romantischen Augenblick zu nutzen. Wenn ich nicht aufpasse, gelingt ihr demnächst ein solcher Vorstoß, dachte ich. Ich flüsterte ihr ins Ohr, dass ich sie liebe und drückte sie an mich. Nunmehr waren vorerst keine weiteren Einwände zu hören und wir schauten uns vom Stadtwall das emsige Treiben auf der Werft an. Wie in einem Ameisenhaufen liefen die Arbeiter hin und her. Sie trugen Gegenstände aus Holz oder hatten Werkzeug in den Händen. Selbst an diesem schönen Sonntag. Doch die Verspätung des Schiffsneubaus rief zur Eile. Der elbabwärts kommende Wind sorgte wiederum für Kühlung. Der vertraute Duft der Elbe sorgte für eine angenehme Atmosphäre. Am Elbstrand war derweil noch mehr Leben entstanden. Viele Menschen suchten Abkühlung am Strom. Hundegebell und Kindergeschrei wechselten sich ab. Größere Jungen schwammen auf alten Schiffsplanken. Selbst Ältere gingen mit den Beinen ins Wasser, um ein wenig Erfrischung ringend.

„Wollen wir jetzt eine Limonade trinken gehen?“, fragte ich Lisa. Sie nickte zustimmend. Wir wendeten uns von der Elbseite ab. Plötzlich und unverhofft gab es einen lauten Knall. Was war geschehen? Wir schauten erschrocken zur Schiffswerft.

Über der Werft breitete sich eine große Staubwolke aus. Mit Unbehagen stellte ich fest, dass die Wolke in der Nähe von unserem Walfänger ihren Ursprung nahm. Dort liefen einige Schiffbauer wild gestikulierend und schreiend durcheinander.

„Caspar, da ist was schlimmes passiert! Da ruft jemand ganz laut nach Hilfe“, sagte Lisa ängstlich.

„Las uns schnell hinlaufen und helfen“, antwortete ich.

Wir hasteten Richtung Sandtor und ich überlegte noch, ob die Stadtwache inzwischen alarmiert wurde.

„Sieh mal, die Bürgerwachen laufen zur Werft und dort andere spannen die Pferde an“, sagte Lisa. Ohne Zweifel es gab auf der Werft einen Unfall, der die Männer zum raschen Handeln veranlasste. Lisa hielt kurz an und zog sich die Schuhe aus. Sie griff nach ihren Schuhen und lief barfuß flinken Fußes weiter. Schnell hatte sie mich wieder eingeholt. Nun schickte auch die Feuerwehr noch eine Mannschaft zur Werft, die den sonntäglichen Frieden der Stadt endgültig verabschiedete. Auf dem Wall hatte man zu beiden Seiten den Überblick.

Derweil hatten wir die Treppen des Sandtores erreicht. Ein zweites Gespann der Wache machte sich auf den Weg zur Werft. Wir nutzten die Gelegenheit und stiegen schnell auf, sowie die aus allen Richtungen herbei geeilten Männer der Bürgerwache. Dann fuhr der mit Helfern gefüllte Wagen im rasanten Tempo zur Werft. Wir stellten dort fest, dass wie vermutet unser Schiff betroffen war. Die Neigung des Rumpfes hatte sich verändert und ein erheblicher Teil des angebauten Gerüstes war nicht mehr da. Von allen Seiten kamen jetzt Helfer herbei und zogen die Schiffshandwerker aus den Trümmern.

„Hinrich!“, schrie ich und blickte suchend in die Menge. Ich nahm Lisa an die Hand. Erschrocken blickten wir uns an. Hatte Hinrich das Unglück unbeschadet überstanden? Wir suchten ihn, aber fanden meinen Bruder nicht.

Bald darauf sah ich den Schiffzimmer-Meister Schulz, mit dem mein Bruder noch vorhin intensiv sprach. Er hatte einen Verband um den Kopf gewickelt und redete mit dem Hauptmann der Bürgerwache. Wir liefen direkt auf ihn zu und fragten, ob er Hinrich gesehen hatte.

„Ich weiß nicht wo er jetzt ist. Kurz vor dem Knall war er noch in meiner Nähe“, sagte der Meister, „geht doch mal um das Schiff herum. Dort wurden eben einige Verletzte in Sicherheit gebracht.“

„Danke!“, erwiderte Lisa mit leiser Stimme.

Lisa und ich stiegen über Trümmerteile um den Rumpf des Schiffes herum und sahen die Verunglückten, die bereits von Helfern versorgt wurden. Dann erblickte ich Hinrich. Sein Gesicht war kaum zu erkennen. Er blutete stark am Kopf und lag bewegungslos auf einer Planke, die vorher ein Teil des Schiffskörpers gewesen war.

„Bruder, kannst du mich hören?“ Er antwortete nicht und ich schaute Lisa ratlos an. Lisa versuchte nochmals ihn zu einer Reaktion zu bewegen und nahm seine Hand. Hinrich atmete schwer. Immerhin!

Er hatte einen Schlag auf den Kopf bekommen oder ähnliches und war jetzt bewusstlos. Neben ihm lag einer der Reepschläger, die das Tauwerk dem Schiffsneubau beisteuerten. Er war ebenfalls am Kopf verletzt und bewusstlos.

„Lisa, bleib du bei Hinrich. Ich besorge eine Trage und ein Fuhrwerk“, rief ich hastig.

Sie versorgte die blutende Wunde am Kopf von Hinrich und die des Reepschlägers. Ich lief auf die andere Seite und sah ein Fuhrwerk ankommen. Hektisch orderte ich den Wagen mit Händen und Füßen und wies dem Kutscher den Weg um den Rumpf des Schiffes herum. Wir luden so viele Verletzte wie möglich auf den Wagen. Lisa blieb auf der Ladefläche bei Hinrich. Der Kutscher bot mir den Platz neben sich auf dem Bock an und wir fuhren Richtung Sandtor. Inzwischen kamen uns weitere Hilfswillige entgegen, die unsere Staubwolke schlucken mussten. Wir fuhren zum Hopfenmarkt in die Stadt. Dort wurde nicht nur der meiste Hopfen verkauft. Eine Krankenanstalt und ein fähiger Doktor der Medizin waren am Hopfenmarkt zu finden. Ich hatte schon viel „Gutes“ über den Doktor gehört. Ob er sonntags Dienst hatte? Dr. Limbacher hieß er und er war Gott sei Dank anwesend. Der Doktor hatte bereits vom Werftunfall gehört und stand wartend im Eingang seiner Krankenanstalt.

Er sagte nur knapp und leise: „Gehirnerschütterung, das wird wieder“. Sein grauer Vollbart machte es unmöglich, seine Lippenbewegungen auszumachen. Doch seine Geste war eindeutig.

„Auf der Werft, da… “, sagte ich und er unterbrach mich.

„Haben wir schon gehört. Es ist alles vorbereitet. Aus dem Kloster kommen gleich noch zusätzlich Schwestern, damit wir alle zügig versorgen können.“ In der Kürze der Zeit waren alle Verletzten von ihm und seinen Schwestern abtransportiert worden. Hinrich war immer noch nicht ansprechbar. Die Krankenanstalt Limbacher war erste Anlaufstation bei Unfällen im Hafen und hatte bisher einen guten Ruf genossen.

„Lisa, bitte bleibe bei Hinrich. Ich muss zurück zum Schiff. Ich komme, so schnell ich kann zurück“, sagte ich und gab ihr einen flüchtigen Kuss, den sie Geistes abwesend nicht wahr nahm. Der Unfall auf der Werft hat die Stadt aus dem Schlaf geweckt. Schnell sprach sich die Neuigkeit in den Gängen der Stadt herum. Inzwischen liefen viele Bewohner auf die Wallanlagen, um den Wissensdurst zu stillen. Unterdessen fand ich eine Fahrgelegenheit zurück zur Werft.

Während dessen organisierte Meister Schulz die Aufräumarbeiten und die weitere Arbeit am Schiff.

„ Können wir unseren Termin einhalten?“, fragte ich ihn.

Er kratzte sich am Kopf und sagte: „1 bis 2 Tage Verspätung sind möglich, aber ich überprüfe erst den Rumpf auf Dichtigkeit, bis ich genaueres sagen kann.“

„Eine weitere Verzögerung würde möglicherweise die ganze Fahrt des Walfängers infrage stellen, da die Saisonmitte schon überschritten ist, und das Schiff vor dem Winter die Rückreise antreten sollte. Tun sie ihr Bestes!“, gab ich entschlossen zurück.

„Ich werde mein Möglichstes tun, Caspar!“, erwiderte Schulz.

„Die verunglückten Schiffszimmerer und Werftarbeiter wurden alle zu Dr. Limbacher gebracht. Zwei Schwerverletzte hatte das Unglück hervor gebracht. Soweit man es jetzt sagen kann. Hoffentlich überstehen alle ihre Verletzungen“, berichtete ich dem Meister abschließend.

Dann sprachen wir über die Ursache des Unfalls. Befestigungen und Holzbohlen hatten sich gelockert. Wie konnte das geschehen? Die Schuldfrage ist offen. Wenn mein Vater morgen wieder aus Billwerder da ist, werden wir die Einzelheiten besprechen und die Sache aufklären. Muss Vater seine Pläne ändern? Kann der Walfänger noch in dieser Saison auslaufen? Kann Hinrich noch mitfahren? Oder werden meine Eltern mich aus diesem Grund mitfahren lassen?

Ich blieb noch so lange bis klar war, dass der Rumpf durch die Verlagerung nicht beschädigt wurde. Immerhin eine gute Nachricht. Dann machte ich mich auf den Weg zu Lisa und Hinrich in die Krankenanstalt. Inzwischen war es Abend geworden. Die Menschen strömten von ihren Sonntagsausflügen zurück in die Stadt. Der Fußweg zur Krankenanstalt am Hopfenmarkt entspannte mich von aufregenden Stunden und ließ mir Zeit, über alles in Ruhe nachzudenken. Unterwegs traf ich den Kutscher, der den Krankentransport vorhin übernommen hatte. Ich hielt ihn an und gab ihm ein großzügiges Trinkgeld für seine tatkräftige Hilfe. Trotz aller Sorge um Hinrich und um die anderen Verletzten, musste für diesen Mann noch Zeit zur Anerkennung sein. Die Möglichkeit mit auf Walfang zu fahren, weckte in mir neue Kräfte und ich spürte so etwas, wie ein Glücksgefühl. Das dürfte Hinrich niemals erfahren und Lisa erst recht nicht. Es war mir selber peinlich, doch so schnell wie der Gedanke gekommen war, verschwand er im hintersten Stübchen des Erinnerungsvermögens. Ich hatte auf die Vorgänge des Tages keinen Einfluss gehabt und würde mich dem unausweichlichen Schicksal fügen müssen. So oder so. Einerseits konnte Vater auch andere Seeleute zur Vertretung für Hinrich finden, andererseits war es ihm wichtig, einen aus der Familie dabei zu haben. Jemand der Vater in seiner Heimat verfügbar war, deshalb zählte Jacob als Franzose nicht. Als sein verlängerter Arm sozusagen, um die Erfahrungen des ersten Walfanges in die Vorbereitungen des Folgejahres einbringen zu können. Es war wie immer im Leben, einiges sprach dafür und anderes dagegen. Oder würde er gar selbst fahren wollen? Das war wohl wirklich eher ein abwegiger Gedanke.

Nein, dann würde er hinterher sein Kontor nicht wieder erkennen und der gelieferte Rotwein wäre auf den Böden unseres Hauses, statt im Keller. Nein, nein - das wäre auch nie ernsthaft in Betracht gezogen worden, das hätte Mutter nicht hingenommen.

Der Kirchturm der St. Nikolaikirche schallte zum Abendgottesdienst. Der vertraute Klang der Glocken war schon weit vor den Toren der Stadt zu hören. Aus den Seitenstraßen kamen die Menschen herbei geeilt, um über den Hopfenmarkt die Kirche zu erreichen. Die Nikolaikirche war jetzt die schönste Kirche in Hamburg, seitdem der Turm des Michels vom Blitz getroffen wurde und restlos abbrannte. Der Kirchturm wurde neu gebaut, nach zähen Streitereien der Ratsherren und Architekten. Doch eine ganze Weile verging, bis erste Anfänge sichtbar wurden.

Hinrich war wieder bei Bewusstsein, als ich dort eintraf. Es fielen mir schwere Brocken von der Schulter und Lisas Gesichtszüge hatten sich ebenfalls entspannt. Ich fragte ihn, wie das passieren konnte. Aber das Reden fiel ihm noch schwer.

„Danke, Caspar. Mein Kopf brummt. Ich… “, murmelte er bemüht.

„Hinrich, schlaf` jetzt Seemann. Wir besuchen dich morgen früh und bringen deine Konstanze mit“, sagte Lisa und streichelte ihm über den Kopf. Schließlich wendete sie sich mir zu und meinte:

„Besser er erzählt dir morgen die Einzelheiten. Einige Dinge hatte er Scheibchenweise gesagt. Das erzähle ich dir auf dem Heimweg. Es ist schon sehr spät!“

Wir verabschiedeten uns und brachen auf zum Schaarmarkt, wo Lisa noch immer wohnte.

„Meine Eltern werden bestimmt schon besorgt sein“, prophezeite Lisa.

„Aber die Umstände werden alles erklären und übrigens... die Limonade trinken wir nächstes Mal“, entgegnete ich und bemerkte meine trockene Kehle. Lisa berichtete nun von Hinrichs Äußerungen, während wir die Deichstraße verließen und den Binnenhafen erreichten. Torkelnde Matrosen kamen uns entgegen, auf dem Weg zwischen Logishaus und Seemannskneipe oder umgekehrt. Es war für Seeleute alles ganz normal. Lisas Informationen von meinem Bruder brachten mir keine neuen Erkenntnisse. Ich hatte schon auf der Werft den Unfallhergang mit dem Schiffszimmerer Schulz besprochen und Hinrichs Angaben deckten sich mit denen des Meisters.

„Nun, es wird eine Untersuchung geben und dann werden wir vielleicht mehr wissen“, sagte ich zu Lisa. Dann entdeckte ich Blut an ihrem schönen Kleid.

„Las mich das blutverschmierte Kleid mit nachhause nehmen. Vielleicht kann Gretchen sich dem Problem annehmen, damit deine Mutter nicht die Arbeit hat. Schließlich ist es Hinrichs Blut.“

„Das Unterkleid ist sowieso kaputt, Caspar. Weil ich daraus Verbände machte und ich bin ziemlich müde. Können wir morgen darüber reden? Ich bin doch ganz früh bei euch“, schlug Lisa überzeugend vor.

Ich stimmte ihr nicht ganz zufrieden zu. Hätten Lisas Eltern genug zu tun mit ihrem Krämergeschäft am Schaarmarkt, aber so war es eben nicht.

„Das Wichtigste ist, dass Hinrich wieder gesund wird und denn schenkt er dir ein neues Kleid“, beschloss ich.

„Und Konstanze irgendwann einen vollständigen Mann heiraten kann“, ergänzte Lisa schmunzelnd. Eine Weile schwiegen wir beide. Welche Vorstellungen sie wohl mit dem Begriff „vollständig“ entwickelte, die letztlich zum Schmunzeln führten. Lisa schaute sehnsüchtig der Schaartorstraße entgegen, die in den Schaarmarkt überging. Dort am Eck war ihr Elternhaus. Wir wohnten damals gegenüber. Ich machte immer Faxen aus den Fenstern des 1. Stocks, wenn sie aus dem gegenüber liegenden Fenster guckte. Sie saß am Fenster und kicherte, bis meine oder ihre Eltern die Vorstellung beendeten.

Lisa war gedanklich schon bei ihrer Rechtfertigung ihres zu späten Kommens und hatte den „vollständigen Mann“ sicher wieder vergessen. Sie hatte wieder die kleinen Fältchen auf der Stirn, wie immer, wenn es schwierig für sie wurde.

Nun hatten wir unser Ziel erreicht. Ich nahm sie in den Arm und dankte ihr, weil sie die lange Zeit in der Krankenanstalt warten musste und auf Hinrich aufpasste. Den Nachmittag stellten wir uns ganz anders vor. Wir verabschiedeten uns und ich ging nachhause in die Katharinenstraße. Die Füße taten weh und ich nahm mir vor, ein Fußbad zu nehmen. Daheim erzählte ich meiner Schwester Josephine von den Ereignissen des Tages. Die dramatischen Momente ließ ich weg. Sie hatte von dem Unfall auf der Werft nichts mitbekommen, da sie mit ihren Freunden an der Alster war.

„Auf dem Rückweg von Lisa war ich noch bei Konstanze gewesen. Sie ist sofort zu Dr. Limbacher aufgebrochen, obwohl Hinrich doch inzwischen schlief“, sagte ich.

„Dann werden Kock & Konsorten wohl die Planungen ändern müssen. Ich bin gespannt wie Vater und Onkel Clemens sich entscheiden werden. Wann kommt den das Schiff aus La Rochelle?“, fragte sie mich.

„Am späten Vormittag mit der Flut, wenn alles gut läuft.“

„Dann gehe ich vor der Arbeit zu Hinrich!“

Nachdem ich Josephine mit den Neuigkeiten ziemlich aufgewühlt hatte, was ich eigentlich vermeiden wollte, gingen wir schlafen. Meine Kammer lag im 1. Stock, sowie auch die Kammern meiner Geschwister und das Gemach meiner Eltern. Neben den Wirtschaftsräumen im Erdgeschoß lagen die Kammern der Bediensteten. Die Dienstmagd Maria hatte ihre Arbeit vor eine Stunde beendet und war schon schlafen gegangen. Sie hatte von allem nichts mitbekommen. Montags hatte sie frei und besuchte immer ihre Schwester, die mit einem Bauern an der Oberalster verheiratet war. Ich guckte aus meinem kleinen Fenster und in diesem Moment läutete St. Katharinen und verkündete die Zeit. Ich zählte mit. Als ich beim zehnten Schlag angekommen war, wurden meine Augenlider immer schwerer und ich schlief fast am Fenster ein. Mein Bett rief mich und ich hatte keine Zeit mehr zum Nachdenken. Wird sich mein Leben morgen eine Zeit lang ändern?

Am nächsten Morgen fiel mir das Aufstehen schwer. Der Sonntag war anstrengend gewesen. Doch wir waren mit dem Schrecken davon gekommen. Ich ging die knarrende Treppe hinunter, die stets die gleiche monotone Melodie abspulte und ich sah alle um den großen Esstisch versammelt sitzen. Meine Eltern waren aus dem Wochenende zurück, Lisa hatte schon die Strecke vom Schaarmarkt hinter sich, Josephine kaute schon und das Personal war pünktlich von den Sonntagsausflügen zurückgekommen. Nachdem meine Eltern die ganze Geschichte gehört hatten, reagierte mein Vater gewohnt gelassen. Mutter konnte nicht mehr ruhig sitzen und wollte sofort zur Krankenanstalt zu Hinrich. Doch wir besprachen den gesamten Tagesablauf und jeder bekam eine Aufgabe zugewiesen. Das Personal kümmert sich um die Herrichtung der Gästezimmer für die Kocks aus Frankreich. Josephine und Mutter gingen zu Hinrich. Vater und ich suchten die Werft auf. Die Bediensteten vom Kontor sollten die Lieferung für La Rochelle bereitstellen, damit das ankommende Schiff nach dem Löschen der Ladung sofort wieder beladen werden konnte. Zumindest mit den robusten Waren. Nach dem Frühstück machten sich alle an ihre Aufgaben. Der Chef und ich, wir bewegten uns Richtung Sandtorwache, wie so oft in letzter Zeit nach dem Frühstück. Mein Vater war diesmal sehr schweigsam. Innerlich rotierte es in ihm. Ich gab ihm noch ein wenig Zeit, doch dann konnte ich es kaum abwarten ihn zu fragen, ob ich den Platz von Hinrich auf dem Walfänger einnehmen dürfte. „Da kann ich jetzt noch gar nichts zu sagen. Vielleicht ist Hinrich wieder gesund. Wir müssen schauen, was auf der Werft passiert und dann spreche ich mit Onkel Clemens und selbstverständlich mit deiner Mutter. Du weißt, Walfang ist ein hartes Geschäft mit vielen Risiken“, sagte mein Vater mit fester Stimme.

Gerade wollte er Luft holen, um noch weitere Gründe, von der mir bekannten Sorte auf die Waagschale legen, da platzte es aus mir heraus:

„Für Hinrich wären das die gleichen Risiken, wie für mich, Vater! Ich kann die Aufgaben auf See genauso bewältigen. Wir haben die gleiche Ausbildung, auch in der Navigation durchlaufen.“ Ich atmete einmal kräftig durch, um für das weitere Wortgefecht gewappnet zu sein, aber mein Vater verharrte in Schweigen. Nach einer Weile hatte er endlich ein neues Thema gefunden und meinte:

„Wenn wir von der Werft zurückkommen, müssen wir wegen der Sylter Matrosen zum Logishaus.“

Daran hatte ich nicht mehr gedacht. Die Sylter Seeleute, die auf dem Walfänger mitfuhren, brauchten bis zur Abfahrt ein Quartier. Dazu wollten wir sie im Logishaus Gelber Engel unterbringen, wo wir lange Stammkunden waren. Logishäuser waren spezielle Unterkünfte für Seeleute. Sie machten einen beträchtlichen wirtschaftlichen Faktor in Hamburg aus. Die Sylter Seeleute wurden über den Hamburger Kapitän Broder angeheuert, den mein Vater von der Seefahrt ewig kannte. Er wird das erste Kommando auf dem Walfänger haben.

Walfang ist ein Spezialgebiet für Seeleute, da kann man nicht jeden Kapitän und jeden Matrosen gebrauchen. Derweil fährt jeder zweite Walfänger aus Hamburg mit größtenteils Besatzungen aus Friesland. Besonders die Nordfriesischen Inseln Föhr und Sylt stellen eine große Anzahl der Seeleute. Hamburg war im Walfang lange Entwicklungsland. Gelernt hatten die Hamburger von den Holländern, die das Gewerbe perfekt beherrschten. Und der Kreis schloss sich, wenn man wusste, dass die Holländer besonders Ost- und Nordfriesen rekrutierten, um die Besatzungen der Walfänger zu komplettieren. Also wurden die Spezialisten aus Friesland zum „Arbeitsmarkt“ nach Hamburg geholt. Der Waltran wurde gerade hier in Hamburg dringend gebraucht. Schließlich wurde inzwischen die komplette Straßenbeleuchtung der Stadt mit Waltran betrieben und Hamburg war die bestbeleuchtete Stadt weit und breit. Allerdings gab es immer noch dunkle Ecken in Hamburg. Es kamen stets neue Kandelaber dazu und der Bedarf an Waltran stieg damit stets an. Ergänzt wurde die Sylter Mannschaft mit Hamburger Matrosen, die auf unseren Handelsschiffen schon mitgefahren waren und sich bewährt hatten.

Wir begrüßten die Wache des Sandtores, nachdem wir den inneren Hafen passierten. Die Sonne war nicht zu sehen, der Himmel versteckte sie unter grauem Anstrich. Nur der vertraute Elbduft war von gleichbleibender Qualität, sowie das Salz in der Suppe. Spätestens auf der vorgelagerten Insel Grasbrook konnte man die Würze der Elbe inhalieren. Wir erreichten die Werft und wurden von gleichmäßigen Hammerschlägen begrüßt. Die Schiffszimmerer hatten gestern sofort mit dem Wiederaufbau des Gerüstes begonnen, so dass es heute schon wieder als solches zu erkennen war.

Der Meister Schulz gab uns einen Lagebericht, der durchaus zuversichtlich klang. Selbst aus der Krankenanstalt vom Hopfenmarkt kamen bereits gute Nachrichten an. Es ging allen Verletzten besser! Am Walfänger mussten ein paar Planken am Rumpf ausgetauscht werden, ohne dass das tragende Gerippe des Rumpfes bei dem Unglück beschädigt wurde. Dadurch verzögerte sich der Anbau der Eisenplatten am Steven des Schiffes. Auf Eismeerfahrten konnte aufgrund von Packeis, Eisbarrieren und Treibeis die Eisenbeschläge am Rumpf lebensnotwendig werden und waren deshalb unverzichtbar.

Mein Vater sagte: „ Vielen Dank, Meister Schulz! Ihr rasches konsequentes Handeln wird die Verzögerung verringern. Sie haben gute Arbeit geleistet.“ Ja, der Alte konnte loben, wenn er nur wollte.

„Ich habe doch nur meine Arbeit gemacht, Herr Kock.“

„Mein Sohn Caspar wird Hinrich erst einmal vertreten. Wir müssen abwarten, vielleicht wird Hinrich wieder schnell gesund, vielleicht aber auch später.“

Ich spürte, wie ich gerade um einen Kopf größer wurde, ließ mir aber nichts anmerken. Warum sagte Vater nichts von der Vertretung auf dem Hinweg? Nun, er konnte zu diesem Zeitpunkt Hinrichs Verletzungen nicht richtig einschätzen und wollte sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Da er gestern nicht dabei war. Hinrich kann nicht in 3 Tagen reisefähig sein! Da war ich mir sicher. Ich wurde vom Meister eingewiesen und machte mich an die Arbeit. Es ging um einige Aufbauten auf Deck, wie ich gestern im Gespräch mit Hinrich bereits gehört hatte. Wir wollten so viel Wal wie möglich sicher in einwandfreiem Zustand heimbringen und dazu sollte die herkömmliche Lagerung verbessert werden. Anschließend beschäftigten sich mein Vater und der Meister mit den Kosten des Unfalls und der Schuldfrage.

Während dessen waren die Frauen der Familie zu Hinrich gegangen. Sie wollten auf dem Weg dorthin noch Konstanze abholen. Sie war aber schon bei ihm. Hinrich konnte schon wieder Händchen halten mit Konstanze. Er hatte Kopfschmerzen und sollte noch 2 Tage ruhen. Dr. Limbacher kam kurz vorbei und sagte, es sei eine Gehirnerschütterung und ein Schock gewesen, wie er gestern schon vermutete. Die drei Frauen verhätschelten meinen Bruder, bis er müde wurde. Dann gingen Mutter, Lisa und Konstanze nachhause.

Mein Vater und ich trennten uns auf der Werft. Er regelte die Unterbringung der Sylter alleine, da meine Arbeit auf dem Schiff noch Zeit in Anspruch nahm. Kock & Konsorten reservierten immer eine Anlegestelle im Hafen, so dass Onkel Clemens direkt sein Schiff entladen konnte, ohne Zeitverluste in Kauf nehmen zu müssen. Aufgrund des Andrangs mussten einige Schiffe schon mal tagelang auf die Entladung warten. Ein Kontorist unserer Kompanie, der das Entladen des Schiffes vorbereitete, sollte unverzüglich die Ankunft der Kocks aus La Rochelle mitteilen. Im Hafen wird die Ladung auf kleinere Schiffe, auf Schuten und Ewern umgeladen. Ewern sind Küstensegler, die nahe Küstenregionen anliefen, während die Schuten die Speicher an den Fleeten und Alsterarmen in Hamburg erreichen konnten. Unser Haus in der Katharinenstraße lag rückwärtig am Nikolaifleet, dass früher auch Großes Fleet genannt wurde. Die beladenen Schuten konnten von den Fleeten direkt mit Seilzügen zu den Speichern be- und entladen werden. So sollte auch diesmal die Prozedur vonstattengehen. Wenn das Hamburger Stadtgebiet oder die nähere Umgebung beliefert werden sollte, dann wurden meist Fuhrwerke eingesetzt. Auch die Straßenfront der Katharinenstraße erlaubte eine Be- und Endladung mit einem Seilzug, der in der großen Diele im Eingangsbereich unseres Hauses endete. Von dort aus wurden die Güter auf das Fuhrwerk geladen. Die Kaufmannshäuser reihten sich Seite an Seite in der Katharinenstraße aneinander. Schon im Mittelalter wurden aus Platzgründen schmale lange Grundstücke für die Häuser vergeben. So war es möglich, Anbindungen im Hinterhaus zur Wasserseite und Anbindungen im Vorderhaus zur Straßenseite zu schaffen. Es war bei uns zuhause immer viel los, entweder an der Wasserseite oder an der Straßenseite.

Mittags machte ich mich auf den Heimweg. Auf der Brooksbrücke konnte ich den Hafen einsehen und unseren Liegeplatz, trotz eines gewaltigen Waldes aus Masten und Takelagen. Onkel Clemens und Tante Nathalie waren da. Die Kocks aus Frankreich würden also mit uns zu Mittag essen. Ich freute mich darauf, alle wieder zu sehen. Zuhause angekommen, begrüßte ich Nathalie gleich an der Tür. Wir umarmten uns und ich merkte sofort dass sie in anderen Umständen war.

„Dein neuer Cousin oder deine neue Cousine wird in 5 Monaten das Licht der Welt erblicken“, sagte Nathalie mit ihrem wunderbaren Akzent und sie strahlte dabei mit der Sonne um die Wette. Dann begrüßte ich alle und wir aßen uns traditionell quer durch Hamburger Spezialitäten, so wie wir es bei deren Ankunft immer machten. Jacob erzählte von der Seefahrt, Onkel Clemens von den mitgebrachten Waren und Mutter erzählte von Hinrich und dem Unglück. Dann sprach Vater mit Onkel Clemens über den Walfänger und die Reise.

„Die Taufe des Schiffes wird sich um einen Tag verzögern und damit auch die Abfahrt nach Grönland“, musste ich sagen, als ob ich etwas dafür konnte.

Voller Begeisterung fügte Lisa hinzu: „Fein, dann sehen wir uns alle einen Tag länger!“ Das überzeugte die Familie und beendete gleichzeitig das Festmahl. Vater und Onkel Clemens gingen ins Kontor. Mutter zeigte Nathalie die Gästezimmer. Josephine, Konstanze und Lisa blieben in der Diele am großen Esstisch, während Jacob und ich zu Hinrich aufbrachen.

„Wie ist das so, wenn man als Erwachsener noch einen Bruder oder eine Schwester bekommen wird“, wollte ich zuerst von Jacob wissen.

„Mir wäre lieber gewesen, wenn ich schon vorher Geschwister gehabt hätte. Aber ich bin nicht gefragt worden und ich glaube, der Herrgott hat das für uns entschieden. Ich kann mir nicht denken, dass meine Eltern es geplant hatten“, antwortete Jacob und fragte seinerseits: „Meinst du Hinrich wird bis zur Abfahrt wieder gesund sein?“

„Mach dir selbst ein Bild von der Lage, Jacob und dann können wir noch mal darüber reden, einverstanden?“

„ Ja, du hast wahrscheinlich recht!“, sagte Jacob nachdenklich.

Wir überquerten die Holzbrücke, die sich keinen eigenen Namen leisten konnte oder keinen Originelleren und sahen schon den Hopfenmarkt, der den Blick zur Nikolaikirche freigab. Es war jetzt etwas heller am Himmel, doch die Wolken waren sehr hartnäckig.

„Nach dem Krankenbesuch können wir in ein Café gehen, wenn es dir recht ist. Zuhause erwartet uns nur Arbeit und davon haben wir in nächster Zeit genug“, meinte ich mit bestimmendem Ton.

Mein Cousin erwiderte: „Wie meinst du das? Wieso haben wir zusammen viel Arbeit vor uns?“ - Ausweichend machte ich Jacob auf unsere Positionen innerhalb der Kompanie aufmerksam, gemeint war von mir aber unsere gemeinsame Grönlandfahrt von der Jacob noch nichts ahnte und ich im Moment das Prinzip „Hoffnung“ stark beanspruchte.

In der Krankenanstalt fanden wir Hinrich wiederum mit Kopfschmerzen vor, mittags musste er sich übergeben. Die Krankenschwester sagte, dass Übelkeit ein Teil der üblichen Symptome bei Gehirnerschütterung sei. Er freute sich zwar Jacob zu sehen, war aber sehr schnell müde. So konnten wir nicht lange bleiben. Jacob schien sehr enttäuscht und ich sah, wie seine grauen Zellen arbeiteten. Er sollte sich seine eigenen Gedanken machen. Auf dem Hopfenmarkt wurde zwar viel Hopfen verkauft, aber auch Unterhaltung und eine große Auswahl von Hamburger Leckerbissen angeboten. Dazu gehörte hiesiger Fisch in allen Variationen, Gemüse und Blumen aus den Marschlanden und Überseewaren aus dem Hafen. Gebraten, getrocknet, gepökelt, roh oder geräuchert, die Auswahl war sehr groß. Da wir noch ziemlich satt waren vom Mittagessen, schauten wir nur einem Feuerschlucker zu. Obwohl die verschiedenen Gerüche Jacobs Interesse weckten. Die beweglichen „Höker“ nutzten die Menschenmenge um den Feuerschlucker, um ihre Waren lautstark anzupreisen. Hier gab es Kämme aus Walfischknochen und ähnliche Dinge des täglichen Lebens. Wir verweilten noch ein wenig und steuerten auf ein in Sichtweite liegendes Café zu. Es lag am Rand des Hopfenmarktes. Tische und Stühle waren draußen aufgebaut, leider war das in Hamburg nur kurzzeitig möglich. Jacob hatte sich erholt von der Reise und trank entspannt einen Kaffee.

Nach einer Weile fragte er mich: „Meinst du Hinrich ersetzen zu können?“

Darauf erwiderte ich: „Ganz bestimmt kann ich ihn ersetzen. Hinrich schafft es nicht bis zur Abfahrt. Das ist fast sicher. Du alleine kannst nicht beide Aufgaben an Bord bewältigen und wir wissen noch nicht, ob die Sylter tatsächlich so gut sind, wie Vater es erzählte.“

„In Ordnung, dann müssen wir mit unseren beiden Chefs reden“, sagte Jacob und bestellte sich noch eine Tasse von dem neumodischen braunen Getränk. Kaffee und Tee gab es in Hamburg erst seit kurzer Zeit, genauso wie Tabak und Kartoffeln. Letztere wird in den Marschlanden seit Mitte der vierziger Jahre angebaut. England, Frankreich, Spanien, Portugal und Holland lieferten direkt oder indirekt über ihre Kolonien die restlichen Güter, nämlich Kaffee, Tee und Tabak. Der Stellenwert für diese Waren nahm im Hafen einen immer größeren Umfang an. Auch das Hamburger Hinterland hatte seine Freude an den neuen Genüssen aus Übersee, so dass der Verbrauch ständig stieg.

Derweil hatten Onkel Clemens und Vater die Zeit im Kontor verbracht. Sie trafen Absprachen bezüglich der Geschäftsergebnisse von Kock & Konsorten. Onkel Clemens berichtete vom neu aufgebautem Amerika- Handel. Im Sechswochenrhythmus fährt ein Schiff von La Rochelle nach New Orléans und es war immer ausgelastet. Pelze, Mais, Erdnüsse, Baumwolle, Reis, Indigo und Tabak kamen aus New Orléans und Werkzeuge, Gebrauchsgegenstände, Textilien, Wein und Käse wurden in La Rochelle für Amerika verladen. Leider gab es in Amerika wieder Kolonialstreitigkeiten zwischen Frankreich und England. Dementsprechend ist stets mit Feindseligkeiten, zum Beispiel eine Seeblockade der Englischen Marine zu rechnen, wenn das Französische Neu Orléans angelaufen werden soll.

„Das ist zurzeit ein unberechenbarer Faktor mit dem wir leben müssen. Leider konnten wir von dem Materialeinsatz der Armee und deren Transporten nicht sonderlich profitieren, da König Louis, der XV. nicht viele Mittel zur Verfügung hatte, um die Kolonie Neufrankreich zu versorgen. Frankreich hatte bisweilen kein Geld mehr. Es wird immer nur so viel gemacht, um England in Schach zu halten. Und die Französische Marine hat nicht die Schlagkraft, um auf dem Atlantik gegen die Engländer zu bestehen“, sagte Onkel Clemens.

„Wir sollten trotzdem den Amerika- Handel weiter ausbauen. Da es in Amerika starkes Wachstum gibt, wird in nächster Zeit weiterhin viel verschifft werden. Egal wer dort politisch die Oberhand haben wird. Wir müssen nur das Risiko immer neu beurteilen, meinte mein Vater und fügte hinzu:

„Lass uns bitte jetzt über Hinrich sprechen. Er wird wahrscheinlich bis zur Abfahrt des Walfängers nicht reisefähig sein.“

Onkel Clemens erwiderte: „Du musst jetzt Caspar auch mal loslassen können, Johann! Er ist alt genug seinen Bruder zu ersetzen. Er ist nicht mehr dein kleiner Sohn und er versteht sich sehr gut mit Jacob. Wenn du deine Frau überzeugen kannst und dir einen Ruck gibst, ist unser Problem gelöst!“

Die Diskussion ging noch weiter. Ich erfuhr naturgemäß erst viel später davon. Zeitgleich saßen die Damen immer noch zuhause in der Großen Diele. Nathalie erzählte von der neuesten Mode in Paris. Ihre Schwester wohnte dort und die Beiden schrieben sich lange Briefe. Deshalb hörte sie gelegentlich Neuigkeiten aus der Hauptstadt. Die hochgesteckten Haare fand ich elegant, aber die weißen Perücken und das weiße Puder... Ferner wurden noch ein paar Mädchen- und Jungsnamen angesprochen, weil das Thema bei Tante Nathalie aktuell war. Es wird wohl diesmal ein rein französischer Name werden, obwohl sie sich geduldig die Vorschläge ihrer Verwandten anhörte, die eher Namen aus dem norddeutschen Raum vorschlugen. Wie soll ein Franzose den Namen “Knut“ aussprechen können? Das waren wirkliche Probleme!

Unterbrochen von einem kräftigen Klopfen wurden die Damen von dem Hamburger Kapitän Broder, der um Einlass bei Maria bat. Mein Vater sah ihn vom Kontor Fenster aus und kam dem Kapitän in der Diele entgegen.

„Herr Broder, herzlich willkommen in meinem Hause. Ich hoffe, sie haben alle Mann beisammen.“

Der Kapitän antwortete ruhig: „Guten Tag, Herr Kock. Wir sind komplett. Jetzt fehlen nur noch die Hamburger, die aber bekanntlich kein Quartier in der Stadt beziehen müssen.“ Clemens kam dazu und die Männer gingen ins Logishaus um die Seesäcke weg zu bringen und die Zimmer in Beschlag zu nehmen. Anschließend besuchten die Sylter Seeleute, Kapitän Broder, Onkel Clemens und Vater die Werft, um unseren fast fertigen Walfänger zu besichtigen. Danach war freie Zeit für die Sylter, bis zur anstehenden Schiffstaufe, an der alle gerne teilnahmen.

Meine Mutter, Tante Nathalie, Konstanze und Lisa machten indessen einen Stadtbummel. Tante Nathalie bereitete es große Freude mit Mutter durch die Stadt zu ziehen.

Jacob und ich verließen das Café, um im Hafen von der Nathalie ein paar persönliche Dinge zu holen. Anschließend wollte Jacob unbedingt den Walfänger sehen. Wir gingen zur Schiffswerft und trafen dort Onkel Clemens und meinen Vater. Onkel Clemens fragte mich gleich überfallartig, ob ich mir die Fahrt zutrauen würde. Mein Vater wartete meine Antwort gar nicht ab und wandte sich von uns ab. Ich sprach deshalb etwas lauter, damit mein Vater meine Antwort auch gut hören konnte. Nun war eigentlich jedem von uns deutlich, dass Johann Ludwig Kock zu diesem Thema langsam Stellung beziehen musste. Jacob schaute seinen Vater an und er ebenso ihn und ich wiederholte meine Antwort in wiederum übertriebener Lautstärke: „Selbstverständlich kann und will ich die Reise machen!“

Mein Vater drehte sich um und schmunzelte: „Also, gut - ich werde heute Abend mit deiner Mutter reden!“ - Dieser Satz klang in meinem Kopf nach, so dass ich mir einbildete, ein Echo zu hören, dass nie endete. Jetzt mussten wir alle lachen, denn die vorangegangene Szene war, glaubte ich, bühnenreif. Nachdem Onkel Clemens und Jacob das Schiff begutachtet hatten, trafen wir mit dem Schiffzimmerer- Meister Schulz noch einige Absprachen. Unter anderem bekamen wir die Zusage der Schiffszimmerer- Zunft, die Schiffstaufe direkt vor Ort durchführen zu dürfen. Üblich war eigentlich eine Taufe im Binnenhafen, nach einem bestimmten Ritual der Schiffszimmerer. Außerdem erlaubte die Zunft, dass wir einen hiesigen Schiffszimmerer mit auf die Walfangfahrt nehmen dürften, obwohl er seinen Dienst auf der Werft noch nicht abgeleistet hatte. Es war uns wichtig, jemanden dabei zu haben, der die Statik des Schiffes kennt und in der Not auf See zu Diensten sein konnte. Heinrich Grote empfahl sich durch hervorragende Arbeit auf der Werft. Er wird unsere Mannschaft auf See ergänzen.

Die Schiffstaufe sollte übermorgen stattfinden. Einen Tag später, die Probefahrt auf der Unterelbe. In 4 Tagen sollte unser Walfänger auf große Fahrt gehen, wenn alle Hürden bis dahin überwunden wurden.

Die Segelmacher und Reepschläger garantierten die Fertigstellung ihrer Arbeiten zu den zuletzt festgelegten Zeiten. Zum Abschluss besprachen wir mit dem Wirt des Zimmerer- Gasthauses der Werft die Einzelheiten der Schiffstaufe ab. Der Tag neigte sich seinem Ende zu. Es war inzwischen wieder sehr warm geworden. Ich schlug vor, dass wir noch ein wenig am Strand des Grasbrook spazieren gehen. Der mittlere Teil des Grasbrook bestand aus trockengelegten Wiesen, die noch die Schäfer beweiden konnten. Bis dahin hatte es die Werft in ihrer Ausbreitung noch nicht geschafft. Auch heute badeten wieder viele Kinder in der Elbe, obgleich die Sonne sich heute stark zurück hielt. Mein Vater, Onkel Clemens, Jacob und ich schlenderten elbaufwärts am Strand. Jeder dachte nochmals über das eben Vereinbarte nach. Wir alle wollten alles gut organisiert wissen. Schließlich war es auch ein Meilenstein für die Kompanie – Walfang. Am Ostende des Grasbrook war der Hamburger Holzhafen angelegt. Die großen Baumstämme wurden auf der Elbe transportiert und in einem gesicherten Bereich gewässert und entsprechend später weiter verarbeitet. - „Caspar, sagte Jacob, ich habe hier ein Stück versteinertes Holz gefunden. Ich dachte, die Insel sei nichts weiter als aufgespülte Sedimente der Elbe?“

„Kann ich mir dein versteinertes Holz einmal ansehen?“, antwortete ich und Jacob gab mir einen länglichen Gegenstand, mit rundlichen Auswuchtungen an seinen Enden. Ich betrachtete das Ding und mein Vater sprach nach einem kurzen Blick daraufhin:

„Das sind die Überreste der Piraten, die hier zuletzt vor 150 Jahren geköpft wurden!“ Wir starrten Vater mit großen Augen an und dachten dabei, er wollte jetzt einen Spaß machen. Er sah Unwissenheit in unseren Augen und legte nach:

„Hamburg und damit meine ich besonders der Hanseatische Verbund, hatte damals große Anstrengungen gegen die Piraten unternehmen müssen. Die Verluste der Kaufleute auf See durch Kaperungen stiegen in die Höhe. Die Handelsschiffe müssten beschützt werden. Die Hamburger Admiralität sicherte die Unterelbe und organisierte Konvoi-Fahrten, es wurden Kriegsschiffe gebaut. Auch Handelsschiffe wurden bewaffnet. Ihr wisst, vor 5 Jahren musste Hamburg den Mittelmeerhandel einstellen, weil Algerische Piraten für große Verluste unsererseits sorgten. Wir hatten auch auf diplomatischem Weg versucht das Problem zu lösen. Es fanden Verhandlungen mit den Piraten statt. Geld wurde den Piraten angeboten. Dagegen wehrten sich andere Länder. Deren Interessen und Vorstellungen widersprachen dieser Regelung. Somit blieb uns nur noch die Einstellung des Mittelmeerhandels übrig, um nicht in den Streit mit großen Ländern, wie Spanien zu geraten. Jedenfalls direkt hier am Strand wurden die Köpfe der Freibeuter auf Pfähle genagelt, mit der Front zum Wasser. Damit alle vorbei fahrenden Schiffe sehen konnten, dass mit den Hamburgern nicht zu spaßen war. Es war der Triumph der Hamburger nach mühsamer langwieriger Jagd auf die Piraten und das Schauspiel diente in erster Linie der Abschreckung. Schon 1401 wurde hier Klaus Störtebeker mit seinen Kumpanen hingerichtet. Die letzte Hinrichtung von Piraten sah der Grasbrook 1624. Hier müssen viele Knochen liegen, die durch die Tide gelegentlich freigelegt werden. Die Gezeiten nagen an den Elbinseln und werden noch mehr freilegen oder wegspülen. Deswegen wollten einige Ratsmitglieder auf dem Grasbrook das Baden verbieten. Damit spielende Kinder nicht verschreckt werden, so wie ihr - im Moment!“

Während dessen waren wir am Sandtor angekommen und unser Exkurs war beendet. Wir gingen heim und hofften auf die Frauen der Familie zu treffen.

Bis auf Konstanze, die nochmals zu Hinrich gegangen war, trafen wir uns alle zuhause zum Abendessen. Tante Nathalie erzählte von ihren Einkäufen und von den Dingen, die sie in La Rochelle in den Läden und Märkten nie gesehen hatte. Onkel Clemens sagte, dass gerade wir doch dafür sorgen, das Warenangebot der beiden Städte annähernd auszugleichen. Lisa fragte, ob wir Jüngeren heute Abend einen Ausflug zum Hamburger Berg machen wollen.

Alle nickten zustimmend und Jacob meinte: „Wir können Konstanze fragen, ob sie mitkommen will.“ So geschehen, brachen wir nach dem Essen auf. Unterwegs zum Hamburger Berg kamen wir am Schaarmarkt vorbei. Lisa nutzte dies, um sich umzuziehen und ihren Eltern zu sagen, was wir vorhatten. Dann fuhren wir mit einer Mietdroschke am Michel vorbei, der immer noch keinen neuen Turm nach dem Brand bekommen hatte. Die Michaeliskirche liegt von der Elbe gesehen, auf einer Anhöhe, die aus jeder Richtung gleich zu sehen ist, zumindest in den Zeiten mit Turm. Man sieht aber deutlich, am Aufbau des Kirchturms wurde gearbeitet. Zwei berühmte Architekten wurden mit dem Wiederaufbau betraut. Schon bald gab es viel Klatsch. Der Hamburger Korrespondent schrieb in großen Lettern, die beiden Herren wären wie Feuer und Wasser. Wie gut das Hamburg noch ein paar andere Kirchtürme hat, an denen sich die elbaufwärts fahrenden Seeleute orientieren können. Bis die beiden Architekten sich einigen, würden sonst viele Schiffe an Hamburg vorbei fahren. Wir bogen ab in die Mühlenstraße und fuhren auf die westlichen Stadtwall- Anlagen zu. Ein kleiner Schwenker und vor uns lag das Millerntor, mit seinem breiten Portal. Es war dreimal so breit wie das Sandtor, das auch nur zum Grasbrook führte. Während das Millerntor von strategischer Bedeutung war. Links und rechts die Wehranlagen mit den wuchtigen Bastionen. Das Hamburger Wachbataillon hatte hier seinen Hauptstützpunkt. Hier kam der Verkehr von und nach Altona durch. Hier wird der Zoll fällig. Nur noch wenige Meter und wir waren im Königreich Dänemark. Wir passierten das mittlere große eiserne Tor. Jacob machte große Augen. Er war lange nicht mehr hier gewesen. Hamburg hatte sich zur Großstadt entwickelt. Hamburg hatte viele Flüchtlinge und Emigranten aus anderen Ländern aufgenommen. Der westliche Bezirk, das Michaeliskirchspiel war inzwischen fast komplett bebaut. Die Kirchspiele in Hamburg waren, wenn man so will, die Bezirke der Stadt. Allerdings gab es im Michaeliskirchspiel viele Elendsquartiere, engbebaute mehrstöckige einfache Häuser, die viele Menschen aufnehmen müssten. Nur durch schmale Gänge erreichbar, ohne Fleetanbindung. Die Fäkalien und der Müll wurden in die Gosse gekippt. Der Gestank war unerträglich. Die Fleete in Hamburg sorgten ansonsten für Hygiene, weil die Gezeiten den Müll wegspülten. Nach dem Stadtgraben, der den westlichsten Alsterarm darstellt, fahren wir auf den riesigen Vorplatz des Millerntors. Zur Linken der Geestrücken, der die Elbe vom Hinterland trennt. Zur Rechten in der Ferne das Pesthaus, dass den Armen als Krankenhaus diente. Geradeaus, eine lange Holzbrücke, die über Sumpfwiesen und kleine Bäche führte. Wir fuhren der Abendsonne entgegen. Jacob saß, eingerahmt von Konstanze und Josephine, auf der Rückbank der Droschke. Er fühlte sich sehr wohl. Konstanze zeigte ein kleines Lächeln, sie war sich nun sicher, ihr Hinrich würde wieder gesund werden. Josephine war wie immer, gut gelaunt. Ich saß mit Lisa ihnen gegenüber. Nach der langen Holzbrücke ging der Weg in eine scheinbar endlose Allee über, die direkt nach Altona führte. Inmitten dieser Strecke lag der Hamburger Berg, den Hamburger und Altonaer gleichermaßen als Vergnügungs- und Amüsierviertel im Niemandsland auserkoren hatten. Dort traten Schauspieltruppen auf einer selbstgebauten Bretterbühne auf, mit zunehmendem Interesse der Bevölkerung beider Städte. Nebenher wurden Leckereien verkauft und einige Schausteller hatten ihre Buden aufgestellt. Wir trafen dort noch Freunde von Josephine und Hinrich. Wir nahmen Platz in einem Festzelt, indem eine Musikkapelle zum Tanz spielte. Unser Vergnügen war aber leider nur von kurzer Dauer, denn vor der Dunkelheit mussten wir das Millerntor durchquert haben. Es reichte aber für ein paar Tänze und ein paar Bier. Als wir wieder in Hamburg waren, fuhren wir Lisa und Konstanze heim, dann ging es in die Katharinenstraße. Natürlich hoffte ich, Vater fand die Gelegenheit mit Mutter über mich und den Walfang zu sprechen. Das werde ich wohl erst morgen erfahren, denn zuhause waren schon die Lichter aus. Wir bemühten uns, trotz leicht angeheiterter Stimmung, möglichst wenig Krach zu machen. Meine Eltern gingen früh ins Bett und standen früh wieder auf.

Am nächsten Morgen füllte sich langsam die große Diele in unserem Haus. Jacob war der Letzte, der sein Frühstück einnahm. Er hatte gestern alle möglichen Hamburger Biersorten im Festzelt in Rekordzeit ausprobiert und war leicht verkatert. Er wollte heute mit Konstanze und Josephine zu Hinrich gehen. Ich war heute mit Lisa verabredet und meine Eltern wollten mit Tante Nathalie und Onkel Clemens nach Billwerder ins Gartenhaus. Als alle mit dem Essen fertig waren, bat mich Vater und Onkel Clemens mit ins Kontor zu kommen. Nun war die Stunde der Wahrheit angebrochen. Ich hatte noch gar nicht ganz die Kontortür geschlossen, da fragte mein Vater mich, ob ich einen richtigen Seesack hätte!

„Vater, du erinnerst dich vielleicht noch, Hinrich und ich gehörten zum ersten Jahrgang der Navigationsschule, die vor 6 Jahren gegründet wurde. Da haben wir zum Abschluss alle einen Seesack bekommen, den ich mehrmals in La Rochelle dabei hatte. Er ist also erprobt, so wie ich es auch bin. Hinrich und ich waren auf diesen Fahrten für die Navigation zuständig und wir sind ohne Umwege dort angekommen! Wenn auch die Verantwortung uns noch nicht übertragen wurde.“

Darauf antwortete mein Vater: „Ich weiß deine Fähigkeiten durchaus einzuschätzen. Der Seesack diente lediglich dazu, die in dir aufgebaute Spannung abzubauen. Mutter und ich sind nicht glücklich, dich nach Grönland zu schicken. Wir verstehen aber, dass du es deinem Bruder gleichtun möchtest.“

Onkel Clemens ergänzte: „Ich bin begeistert von deinem Einsatz und deinem Willen, der Kompanie in seinem neuen Geschäftszweig dienlich zu sein. Außerdem stimme ich dir zu, dass deine Leistungen in der Lehrzeit nicht schlechter waren, als die Hinrichs und Jacobs. Ich bin sicher, Jacob und du, ihr werdet erfolgreich sein!“

„Ich werde euch nicht enttäuschen“, sagte ich und spürte Freude und ein wenig Genugtuung.

Darauf erwiderte mein Vater: „Bist du sicher das Risiko der Eismeerfahrt eingehen zu wollen?“

„Ja, denn es ist das gleiche Risiko, dass auch Hinrich anhaften würde“, meinte ich nüchtern und die Sache war erledigt. Mein Ziel war erreicht - endlich!

Innerhalb von 2 Tagen hat das Schicksal sich gewendet. Der Unfall auf der Werft war als Preis aber zu hoch, darauf hätte ich gerne verzichten können. Mein Vater schickte mich anschließend zur Werft, damit ich mit dem Schiffszimmerer Schulz die Restarbeiten besprechen könnte. Denn schon Morgen ist die Schiffstaufe, da wollten wir ausgiebig feiern und danach begannen bereits die Reisevorbereitungen. Lisa wird nicht so begeistert sein. Wenn sie mich wirklich liebt, dann muss sie das ertragen können. Ach, das ist Quatsch! Sie könnte genauso sagen, wenn er mich liebt, bleibt er hier! Ich werde ihr es einfach so sagen, wie es ist. Lisa kann sich denken, dass ich die Fahrt machen werde. Wenn Jacob und ich mit vollem Laderaum heimkommen, werden wir den Respekt und Anerkennung in der Familie bekommen, der jetzt leider noch fehlt. Dann sagt keiner mehr etwas vom „kleinen Kock“, obwohl auf die Körperlänge bezogen, war es nicht falsch. Dann müsste der Fluch des Letztgeborenen vorbei sein.

Auf dem Grasbrook zeigte mir Meister Schulz die Restarbeiten am Schiff. Ich hatte die Pläne dabei. Es war niemand da, der mir sie hätte bringen können! Der Schiffbau hatte sich in letzter Zeit weiter entwickelt. Es gab einige bauliche Verbesserungen, die auf älteren Walfängern noch nicht zu sehen waren. Dabei handelte es sich um die Verteidigung des Schiffes bei Kaperungsversuchen. Die Walfänger sind nicht mehr leichte Beute für Piraten. Die Bewaffnung wurde verbessert. Der Laderaum hat ein größeres Fassungsvermögen bei gleicher Kompaktheit. Die Hamburger Schiffbauer haben von den Holländern viel gelernt, die seit Jahrzehnten führend im Schiffbau und speziell bei Walfängern waren. Zuerst haben Hamburger Reeder die Schiffe in Holland bauen lassen und später wurden Holländische Schiffbauer in Hamburg beschäftigt. Schließlich wurden die Friesen als erfahrende Seeleute angeheuert.

Ein besonderes Geheimnis machte mein Vater aus der Namensgebung des Walfängers. Erst zur Taufe sollten alle den Namen erfahren. Ich fragte dennoch Meister Schulz, ob er mir den Namen verrät. Denn er war der Einzige, außer natürlich Onkel Clemens, der den Namen schon kannte.

„Mein Jung, sagte er mit väterlichem Unterton, morgen ist auch noch ‘n Tag!“

„Zuletzt hörte ich solche Bemerkung, als ich in der Schule war!“ antwortete ich und er sah mich an und verstand nicht, was ich wohl damit gemeint haben könnte. Ich verabschiedete mich und ging nachhause. Dort angekommen, putzte ich mich heraus, um anschließend Lisa abzuholen. Ich war wieder einmal etwas spät dran. Maria hatte wiederum die Aufgabe, auf das Haus acht zu geben. Sie saß in ihrer gläsernen Kammer und strickte. Nur sie war heute nicht alleine, denn auf den Böden und im Kontor wurde gearbeitet. Zur Schiffstaufe werden morgen alle frei bekommen, denn es ist auch eine Feier der Handelskompanie Kock & Konsorten. Es sollten alle Bediensteten morgen feiern, auch sich selbst und damit die eigenen Leistungen, ohne die der Walfang für die Kompanie nicht möglich geworden wäre. Ich glaube, genauso hatte es Johann Ludwig Kock ausgedrückt, als der Bau des Walfängers vor vier Jahren begann.

Bei Lisa traf ich auch ihre Eltern an, Klementine und Hans. Sie bewirtschafteten den Krämerladen am Schaarmarkt gegenüber ihrem Wohnhaus. Das Geschäft lag direkt unter unserer ehemaligen Bleibe. Lisa und ihre beiden Brüder Frans und Klaus arbeiteten auch dort. Mittags kamen sie alle nacheinander zum Essen nachhause. Lisa hatte heute frei und war in den Pausenrhythmus der Familie nicht eingebunden. Die Eltern fragten mich wie gewohnt in vertrauter Form nach den Neuigkeiten bei uns zuhause. Ich erzählte ihnen dies und das, bis ich mich an die eigentliche Neuigkeit heran getastet hatte. In Anwesenheit Lisas, berichtete ich von meiner Teilnahme an der Walfangfahrt. Lisa hörte teilnahmslos zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Nur ihre kleinen Fältchen verrieten ihren innerlichen Stress. In diesem Moment begriff ich, dass es mir wichtig war, Lisas Zustimmung zu erhalten. Es rauschten 1000 Gedanken gleichzeitig durch meinen Kopf.

Ein einziger Gedanke blieb nach 5 Sekunden übrig und ich sagte zu Lisa in Anwesenheit ihrer Eltern: „Wollen wir heute, bei der versprochenen Limonade überlegen, wann unsere Verlobung sein soll?“ Ich hatte ihr, allerdings ohne Vorsatz, den Wind aus den Segeln genommen. Im Hinterkopf erwartete ich schon von ihr, mir die Fahrt doch noch auszureden. Davon wird jetzt hoffentlich keine Rede mehr sein. Jedenfalls sie strahlte und sagte ja, während Klementine und Hans nickend lächelten. Für die Eltern war es nur eine Formalität. Waren wir doch bereits lange ein Paar. In mir stieg eine wollige Wärme auf, noch bevor ich anfing meine Suppe zu essen. Lisa kochte sie an ihrem freien Vormittag und eines war mir immer klar, verhungern werde ich später nicht. Ich lud Klementine und Hans nochmals zur Schiffstaufe ein, da sich der Zeitpunkt verschoben hatte. Dann gingen sie wieder über die Strasse, um ihre Söhne abzulösen. Lisas Familie wird morgen abwechselnd zur Taufe kommen, da der Laden geöffnet bleiben musste. Sie hatten immer ein offenes Ohr für mich und eine freisinnige Denkweise, die Toleranz zuließ. Das machte den Umgang mit ihnen so angenehm. Ähnlich war die Denkweise meiner Eltern. Sicherlich ein wichtiger Grund, warum meine Generation gern mit den Eltern arbeitete und nicht vor ihnen fliehen musste.

Inzwischen fanden sich Frans und Klaus ein. Frans fing sofort an zu essen, während sich Klaus nach Hinrich erkundigte. Hinrich und Klaus waren früher Freunde, als wir noch am Schaarmarkt Nachbarn waren. Heute sehen sich die Beiden seltener, da sie viel Zeit in den Familienunternehmen verbrachten und beide recht fleißig waren. Als Erstgeborene sind sie beide die potenziellen Nachfolger der elterlichen Betriebe. Frans, der Jüngste der Kinder, der seinen Teller schon fast leer gegessen hatte, teilte eher mein Schicksal. Nämlich das des ewigen Nesthäkchens. Auch er hat längst bewiesen, was in ihm steckt, obwohl er auf den ersten Blick wie eine Schlafmütze wirkte. Seine Leidenschaft ist der Genuss des Lebens und die Gemütlichkeit in Gesellschaft. Er war das Auffangkissen der Familie und er lässt sich niemals aus der Ruhe bringen.

Lisa erhielt ein Lob für ihre Kochkünste von ihren Brüdern. Ich aß auch mit Frans und Klaus einen weiteren Teller Suppe, weil sie so gut schmeckte. Anschließend half ich Lisa in der Küche, damit wir danach den Stadtwall unsicher machen konnten. Frans war nun auch satt, Klaus schon lange. Er traute sich abschließend noch nach Josephine zu fragen. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er sich sehr für sie interessierte. Dann gingen die Beiden in den Krämerladen und wir gingen zur Elbe.

Es war heute bestes Spaziergangs-Wetter. Nicht so drückend und gelegentlich ein erfrischender Wind. Wir gingen zum Hafen und wollten ins Blockhaus, wo wir eigentlich schon am Sonntag hin wollten.

Das Blockhaus ist ein Ausflugslokal, direkt am Niederbaum, dem Eingang des Binnenhafens. Von hier aus war kein einlaufendes- und auslaufendes Schiff zu übersehen. Ursprünglich war das Blockhaus so etwas wie eine Wachstation und schwimmende Bastion für den Binnenhafen, welches über den Hölzernen Wambs erreicht werden konnte. Als in das Elbwasser hinein gebauter Vorposten, durch einen schwimmenden Damm mit dem Brook verbunden. Von jenem Punkt lässt sich der Hafen verbarrikadieren. Ähnlich wie am Alsterbaum, wo Holzbohlen im Wasser als Hindernisse dafür sorgten, dass feindliche Schiffe die Bastionen nicht entern können. Um zum Blockhaus zu gelangen, mussten wir ganz um den Binnenhafen herumgehen. Am Neuen Kran wurden, wie so oft, Leinenballen aus Schlesien verladen. Dazu kamen die Fuhrwerke an die Hafenkante und der Kran hievte die Ballen in die Ewer, die in Folge dessen die Ladung zu den Seeschiffen transportieren. Der Lademeister gab lautstark Anweisungen und alles richtete sich nach ihm. Die Fuhrwerke standen kreuz und quer. Sie gaben ständig Anlass zu Streitigkeiten, weil jeder es eilig hatte und das Fehlverhalten beim anderen sah. Wir bahnten uns den Weg durch das Gewühl und erreichten die Brookbrücke. Die Brücke ist der Treffpunkt der Maler, die von hier aus Hafenmotive zu Papier und auf Leinwände brachten. Lisa machte nicht den Eindruck auf mich, verärgert über meine Teilnahme am Walfang zu sein. Sie wirkte unbeschwert und freute sich des Lebens. Sie hatte verstanden, mir die Reise niemals ausreden zu können. Ich fand dazu auch klare Worte, die unmissverständlich waren und sie hatte es akzeptiert. Lisa ist eben eine kluge Frau. Sie drückte mich auf der Brücke fest an sich, so dass ich die Brille verbog. Aber das kannte die Brille schon.

Wir schauten den Malern eine Weile über die Schultern, um ihre unfertigen Bilder zu bestaunen. Alle Motive hatten eines gemeinsam: Masten und Taue nahmen einen erheblichen Teil der Bildfläche in Anspruch. Selbst das gegenüberliegende Baumhaus am Baumwall war nur durch einen Wald von Masten zu sehen. Wir gingen nun gemächlich weiter, erreichten die Kehrwieder-Sackgasse, die geradewegs zum Blockhaus führte. Man erfährt aufgrund des Namens sofort, dass man wieder umkehren muss. So kann man vorher entscheiden, ob man den Weg zweimal gehen möchte. Kehrwieder hatte sich im Laufe der Zeit mit schönen Kaufmannshäusern geschmückt. Die Lage war ideal. Die Strasse ist die südliche Begrenzung des Binnenhafens. Die Hinterhöfe haben Fleetanbindung. Zum Schutz des Viertels lagen südlich der Stadtwall und der dazu gehörige Stadtgraben.

„Hier könnte ich mir vorstellen, später mit dir zu leben“, sagte ich zu Lisa.

Ihr gefiel es am Kehrwieder. Genau wie mir, denn es war der Ort der kurzen Wege. Vieles was Kaufleute benötigen, war konzentriert vorhanden. Am Ende von Kehrwieder lag die Bastion „Georgius“, unser Lieblingstreffpunkt, die uns in seiner Verlängerung zum Blockhaus führte. Wochentags war es möglich, dort einen guten Sitzplatz zu bekommen. Während zum Wochenende großes Gedränge herrschte, wenn die Hafenarbeiter ihren Wochenlohn bekamen und keine Ideen entwickelten, was sie sonst mit dem Geld anstellen sollten. Kehrwieder war die Seele der Stadt, die man schmecken, riechen, fühlen und erleben konnte.

Wir bestellten die lang ersehnte Limonade und ich kam gleich zum Thema: „Wir werden erst im Oktober, wahrscheinlich Ende Oktober wiederkommen. So genau kann man es nicht voraus sagen. Sie verzog ihr zartes Gesicht, das sich gleich wieder aufhellte.

„Ich dachte mir, ob du wohl am 1. Advent Verlobung mit mir feiern möchtest?“

„Ja, Caspar! So ähnlich hatte ich mir es auch vorgestellt. Vielleicht können wir im Baumhaus feiern. Ich werde das organisieren, wenn du weg bist.“

„Einverstanden, Lisa!“ Ich gab ihr einen Kuss und der Handel war perfekt. Ihre Türkis farbigen Augen funkelten, sie lächelte mich an und sie versprühte unendliche Freude. Wir genossen die wunderbare Atmosphäre des Blockhauses und schauten den Schiffen zu. Später spazierten wir auf dem Wall und schmiedeten gemeinsame Pläne. Ich war froh, alles hatte sich günstig entwickelt. Zufriedenheit und Gelassenheit spürte ich in mir. Den morgigen Tag der Schiffstaufe wollte ich mit ihr genießen. Abends brachte ich Lisa, wie immer nachhause. Am Hafen ging es nun weniger hektisch zu. Dafür belebten sich die Hafenkneipen, die für die Heuer der Matrosen Verwendung fanden. Zuhause traf ich Jacob und Josephine. Clemens und Nathalie, Vater und Mutter genossen noch die Abendstunden in Billwerder. Josephine erzählte, was sie erlebt hatten. Sie flanierten auf dem Jungfernstieg, dem Hamburger Prachtboulevard und erlebten ein Konzert zu dem sich viele Besucher einfanden. Ein Komponist, namens Händel machte von sich Reden und das zurecht, wie Josephine befand. Ich gab feierlich unseren Verlobungstermin bekannt. Maria, unsere Dienstmagd, die wiederum das Haus behütet hatte, bekam ganz lange Ohren. Ich rief sie zu uns und erzählte ihr es nochmals, damit sie nicht die Hälfte falsch weiter erzählen konnte. Sie möchte Lisa sehr gerne und freute sich über diese Nachricht, die niemanden wirklich überraschte. Nach einer Weile kamen unsere Eltern und ich berichtete von den Tagesereignissen auf der Werft. Mein Vater hatte, vor der Fahrt nach Billwerder, den Schiffszimmerer-Wirt aufgesucht und die Organisation der Feier besprochen. Alles war jetzt vorbereitet, das große Fest, die Schiffstaufe konnte beginnen.

Hektisches Treiben vernahm ich am nächsten Morgen, noch bevor ich die Augen geöffnet hatte und sich die bewussten Gedanken sortieren konnten. Das ganze Haus schien in Bewegung zu sein. Ich verließ meine Kammer. Das Personal war schon im besten Zwirn. Selbst Gretchen, die Wäscherin und Maria, die Hausmagd trugen ihre schwarzen Kleider, die sonst nur zum Kirchgang angezogen wurden. Vater und Onkel Clemens waren auf dem Weg zur Werft und Mutter und Tante Nathalie verließen gerade das Haus, um den Friseur aufzusuchen. Josephine wirbelte in der Küche, so wie sie es gelegentlich gerne machte. Sie verstaute die selbstgebackenen Kuchen für die Schiffstaufe. Dabei durfte niemand in die Küche kommen, weil sie ihre ganze Konzentration nur dem Kuchen widmete. Ich saß alleine am Esstisch, kaute gemächlich und schaute den Anderen gelassen dabei zu, wie sie in Eile ihre Aufgaben erledigten. Jacob schlief noch. Wahrscheinlich wartete er, auf ein Frühstück am Bett, wie es in Frankreich üblich war. Da konnte er heute lange darauf warten. Ich weckte ihn, damit wir Hinrich rechtzeitig abholen können. Nach einiger Zeit kam Jacob die Treppe herunter und ich bediente ihn, damit wir anschließend aufbrechen konnten. Während Jacob frühstückte, las ich meine Zeitung und fand nur schlechte Nachrichten vor:

>> Kriegsgefahr in Europa! << stand da, als alles platt machende Überschrift. Alles nur Spekulation, dachte ich. Nun hatte die allgemeine Hektik mich erreicht, als mir einfiel, dass wir auch Konstanze abholen sollten. Lisa wollte mit ihren Eltern direkt zur Werft kommen.

Hinrich sah heute schon besser aus. Der Schwindel war vorbei und die Kopfschmerzen gehörten auch der Vergangenheit an. So wird Hinrich ein wenig mitfeiern können. Wir nahmen noch zwei andere Unglückspatienten mit zur Werft, die von Anfang an am Bau unseres Walfängers beteiligt waren und auch mitfeiern sollten. Alle anderen Schiffshandwerker, die eingeliefert wurden, waren bereits entlassen worden. Es gab keinen Schwerverletzten mehr und die finanziellen Folgen des Unglücks waren zu verkraften gewesen. Die Kutsche bannte sich den Weg zur Werft durch die engen Gassen der Stadt. Hinrichs Freundin wohnte am Neuen Wall. Konstanze stand schon vor der Tür und ging hin und her. Sie arbeitete hier in einer Apotheke, die ihrem Onkel gehörte. Darüber befand sich des Onkels Wohnung, wo Konstanze ein Zimmer hatte. Für den Rest des Tages hatte sie frei. Konstanze erzählte von ihrer Arbeit immer schauerliche Geschichten. Die Leute verlangten die ekeligsten Dinge, die angeblich als Medizin geeignet waren. Es trieben sich viele Scharlatane in der Stadt herum. Sie verkauften auch eigene Mittelchen, das wiederum dazu führte, dass die Menschen sich übergaben oder sonst irgendwie zu Schaden kamen. Hinterher sollte Konstanze wieder alles richten. Natürlich wussten die Leute nicht, was in den Wundermitteln der Quacksalber steckte und so konnte sie die Leute nur zum richtigen Doktor schicken. Die Menschen waren leichtgläubig, da hatten Scharlatane schnellen Erfolg bei ihnen. Hinrich freute sich sehr Konstanze außerhalb der Krankenanstalt zusehen. Sie stieg in die Kutsche und quetschte sich zu uns. Die Kutsche platzte aus allen Nähten und die Pferde schnauften um die Wette. Jetzt konnten wir zur Schiffstaufe fahren, ohne weitere Umwege machen zu müssen. Wir gelangten zum Hafen. Die Sonne schien und es war angenehm warm. Der Große Kran tat seinen Dienst und diesmal stauten die Fuhrwerke sich nicht auf der Strasse. Die mitfahrenden Schiffszimmerer erzählten nochmals, wie sie das Werftunglück erlebt hatten und jeder hatte seine eigene Theorie, wie es dazu kam. Schließlich freuten sich alle, es überstanden zu haben. Der Stadtwall lag bereits hinter uns. In der Ferne sahen wir das geschmückte Schiff und den Festplatz. Es war Musik zu hören und viele Menschen standen in kleinen Gruppen auf dem Werftgelände. Fassbier wurde ausgeschenkt und Rotwein. Im Hintergrund drehte der Schiffszimmerer-Wirt einen Ochsen auf dem Spieß, das traditionelle Hamburger Essen, zu besonderen Anlässen. Gegessen werden sollte erst nach der Taufe und die fängt frühestens an, wenn meine Mutter und Tante Nathalie da sind. Vater machte die Sylter Seeleute mit den Hamburgern bekannt, die alle eine Besatzung werden sollten. In lockerer Atmosphäre konnten die fremden Männer sich beschnuppern. Später wollte Vater die Mannschaft des Walfängers noch allen Gästen offiziell vorstellen. Er betonte vorher, dass ein gutes Verhältnis zur Mannschaft wichtig sei. Der Walfänger war auf Holzbohlen gelagert und lag rechtwinklig zum Strom. Das Heck des Schiffes lag mit leichter Neigung zum Fluss. Das Gerüst war inzwischen abgebaut worden. Nur Stecken stützten den Rumpf ab, damit das Schiff nicht vorzeitig sich selbst taufen konnte. Am Bug verhüllten Tücher den noch geheimen Namen. Drumherum war alles geschmückt mit Wimpeln, Fähnchen und Girlanden. Vorne stand ein Podest mit einer kleinen Treppe und einem Geländer. Der freie Platz wurde von Tischen und Bänken beidseitig eingegrenzt. Als Sonnenschutz dienten Leinenlaken, die über die Tische gespannt waren. Die Hafenkapelle spielte Seemannslieder, Walzer und Polka. Eine kleine Tanzfläche aus Brettern war seitlich neben der Musik aufgebaut worden. Mutter und Tante Nathalie kamen mit Josephine und zwei Freundinnen angefahren. Sie hatten ihre schönsten Kleider angezogen, große Hüte aufgesetzt und hochgesteckte Haare, so wie die Frauen es in Paris tragen. Ich war beeindruckt vom Geschehen und mächtig stolz auf meine Familie. Jeder hatte seinen Beitrag zu diesem Tag geleistet. Zuletzt kam der Wasserschout, den mein Vater gut kannte. Einerseits war er für die Registrierung der Mannschaften ins Melderegister zuständig. Jeder Hamburger Walfänger war dazu verpflichtet. Andererseits schlichtete der Wasserschout Streitigkeiten zwischen Mannschaften, Reedern und Kapitänen als neutrale Instanz. Das Amt des Wasserschouts der Hamburger Admiralität setzte das Hamburger Seerecht um. Vermehrter Umfang der Seefahrt und zunehmende Delikte an Bord, machten dieses Amt notwendig. Gregor Albrecht war der richtige Mann. Er fuhr mit Vater zur See, sie waren seitdem viele Jahre befreundet. Er hatte eine sonore Stimme, einen langen grauen respektablen Bart mit den dazu gehörigen buschigen Augenbrauen und strahlte unendliche Souveränität aus. Er ließ sich mit Gelassenheit die Streitigkeiten und Probleme vortragen und entschied nach gültigem Recht. Das war schwer genug, da vieles unklar formuliert gewesen war.

Die Mannschaft versammelte sich. Die Hamburger und die Sylter. Der Schout listete alle Besatzungsmitglieder in seinem großen Amtsbuch auf. Der letzte eingetragene Name war:

>> Caspar Kock aus Hamburg, Matrose <<

Nun war es also amtlich.

38 Mann Besatzung, davon 23 Mann aus dem nordfriesischen Sylt. Darunter der Steuermann Jan Behrens, der mit seinen Seeleuten die Stammmannschaft bildete. Aus ihren Reihen kamen: Der Bootsmann Jan, der Koch Knut, der Kochsmaat Boy, die Speckschneider, die Harpuniers und die Matrosen. Die Hamburger Seeleute waren insbesondere Matrosen von unseren Handelsschiffen, mit denen wir gute Erfahrungen gemacht und die entsprechende Eignung hatten.

Hinzu verpflichteten wir zwei ehemalige Kanoniere der Hamburger Stadtwache, die uns Sicherheit auf See vor Überfällen geben sollten. Alfred und Hannes waren für die Stadtwache zu alt geworden und zum Altenteil zu jung. Sie hatten mit meinem Vater ein paar Sonderrechte ausgehandelt, die unter anderem vorsahen, dass sie nicht in die Wanten der Masten klettern mussten. Zu guter Letzt hatte mein Vater und Onkel Clemens entschieden, unseren langjährigen Schiffsarzt Dr. Emanuel Voigt zu verpflichten. Das dachte sich ursprünglich meine Mutter aus, da war ich sicher. Heinrich Grote, der Schiffszimmerer, Jacob und ich - die Besatzung des Walfängers war komplett.

Derweil hatte sich Lisa mit ihren Eltern, Klementine und Hans, eingefunden. Frans und Klaus blieben, wie verabredet, im Krämerladen zurück. Aus dem Rathaus kamen 3 Ratsmitglieder, die mein Vater aus der ehrwürdigen Kaufmannschaft kannte. Ferner fanden sich noch Freunde der Familie und Handelspartner von Kock & Konsorten ein. Es versammelten sich ungefähr 200 Menschen zur Schiffstaufe. Mein Vater gab der Kapelle ein Zeichen und ging auf das Podest. Er versuchte sich Gehör zu verschaffen und begrüßte zuerst die gesamte Gesellschaft. Die Seeleute unterhielten sich so intensiv, dass sie der Aufforderung meines Vaters nicht gleich entsprachen.

„Hoffentlich habt ihr euch nach der Fahrt auch noch so viel zu sagen!“, kommentierte mein Vater mit seinen ersten Worten die Unachtsamkeit der Seeleute. Nach einer kurzen Weile richteten nun alle ihr Augenmerk auf Johann Ludwig Kock. Er bedankte sich bei allen, die den heutigen Tag möglich gemacht hatten und fuhr mit folgenden Worten fort:

„An diesem schönen Sommertag beginnt für Kock & Konsorten eine neue Episode. Last uns heute den Bau unseres neuen Schiffes feiern und den Stapellauf vollziehen. Mein Bruder und Teilhaber Clemens Kock ist mit seiner Familie aus Frankreich angereist, damit seine Frau Nathalie das Schiff heute taufen kann. Morgen wird die Mannschaft, die heute erstmalig vollzählig versammelt ist, die Probefahrt auf der Elbe machen. Übermorgen beginnt die Reise nach Grönland, an der mein Neffe Jacob und mein Sohn Caspar teilnehmen werden. Der Unfall am Sonntag ist einigermaßen glimpflich ausgegangen. Ich hoffe, dass dies der einzige Unfall des Schiffes bleiben wird! Hinrich, sei nicht enttäuscht. Du fährst nächstes Jahr mit. Allen Verletzten des Unglücks an dieser Stelle gute Besserung! Für den Schaden und den eurer Familien wollen wir aufkommen. Nach dem Stapellauf, wenn das Schiff vertäut ist, gibt es Ochsenbraten und viele Leckereien. Anschließend spielt die Kapelle zum Tanz. Liebe Nathalie, kommst du bitte hier rauf, genauso bitte Meister Schulz und ich bitte ebenso den Schout Gregor Albrecht zu mir zu kommen. Nathalie Kock tauft jetzt den ersten Walfänger des Konsortiums Kock. Möge das ein gutes Zeichen für unsere Stadt Hamburg sein. Vielen Dank, liebe Gäste!“

Er hatte es kurz gemacht und alle waren ihm dankbar dafür. Die Gäste klatschten und mit den letzten Worten erschien der Pfarrer von St.Katharinen, der später noch das Schiff segnen sollte. Der kleine glatzköpfige Mann fehlte bei keiner größeren Veranstaltung des Kirchspiels, besonders dann nicht, wenn es Ochsenbraten und frisch gebrautes Bier gab.

Tante Nathalie, Schiffszimmerer Schulz und Wasserschout Gregor Albrecht kamen der Aufforderung meines Vaters nach, und begaben sich auf den Podest. Die Versammlung beklatschte noch eine Weile die Worte meines Vaters. Letzte Handgriffe der Akteure sollten zum reibungslosen Ablauf der Taufe führen. Nathalie verschaffte sich Gehör. Das Gemurmel der Versammlung verstummte. Sie nahm die Champagnerflasche mit der roten Schleife in die Hand und sagte:

„ Hiermit taufe ich dich...auf den Namen ....

…K o n s t a n z e !

Das war nun wirklich eine riesengroße Überraschung!

Sofort setzte wieder allgemeines Gemurmel der Leute ein. Doch diesmal lauter, als sonst. Vater gab zum Besten: „Hiermit gebe ich gleichzeitig die Verlobung von meinem ältesten Sohn Hinrich und seiner bezaubernden Konstanze bekannt!“

Das war die zweite Überraschung gewesen. Darum also die Heimlichtuerei. Hinrich und Konstanze kamen auf das Podest. Die Versammlung klatschte erneut Beifall und beruhigte sich erst nach einiger Zeit. Die Inszenierung war meiner Familie gründlich gelungen. Darüber wurde noch oft gesprochen. Tante Nathalie brachte den Taufnamen des Schiffes nochmals in Erinnerung. Schiffszimmerer Schulz stand neben ihr. Er löste die Befestigung der Konstanze und Tante Nathalie holte mit der Champagnerflasche Schwung und schleuderte sie gegen den Rumpf des Walfängers. Der Schiffskörper kam in Bewegung. Bei leichter Neigung glitt die Konstanze auf einer Rampe rückwärts ins Elbwasser. Die Versammlung jubelte, besonders als deutlich wurde, dass die wichtigste Eigenschaft eines Schiffes gewährleistet war. Es schwamm auf dem Wasser!

Es wurde an Duckdalben, die über Holzstege erreichbar waren vertaut und die weitere Arbeit ruhte zunächst. Später würden Segelmacher und Reepschläger die Restarbeiten auf der Konstanze erledigen. Die Beplankung des Oberdecks durch die Schiffszimmerer und einige Malerarbeiten stand ebenfalls noch an. Bis zur morgigen Probefahrt auf der Elbe sollte ein Großteil fertig sein. Die Versammlung wandte sich indessen den gedeckten Tischen zu. Alle nahmen ein Glas in die Hand, Meister Schulz verlas den Taufspruch und der Wasserschout Albrecht sprach noch ein paar Worte über die Bedeutung des Walfangs für Hamburg. Letztlich bedankte sich Onkel Clemens bei allen Verantwortlichen und übergab das Wort an den Schiffszimmerer-Wirt, der den folgenden Ablauf kundtat. Er eröffnete das Buffet, der Ochse war pünktlich fertig geworden und währenddessen stürmten einige Gäste zu Konstanze und Hinrich. Sie wurden mit Glückwünschen überhäuft. Ich stellte mich in die Schlange der Gratulanten. Die Ereignisse überschlugen sich und ich war froh, eine kleine Pause zwangsweise einzulegen. Lisa hatte die Beiden schon erreicht.

Sie umarmten sich und mein Bruder rief mir zu: „Nun sind wir euch doch noch zuvor gekommen, Caspar.

„Du bist der Ältere und kommst mir doch immer zuvor. Es kann keinen schöneren Tag zur Verlobung geben als heute! Herzlichen Glückwunsch, Hinrich! Alles Gute, Konstanze!“ Wir erhoben die Gläser und das frisch verlobte Paar hatte noch viele Glückwünsche von den Gästen entgegen zu nehmen.

Von Westen nahten dicke graue Wolken und das schöne Sommerwetter schien sich rasant zu verabschieden. Böiger Wind setzte ein und die Sonnensegel über unseren Tischen flatterten geräuschvoll und bedrohlich. Der Schiffszimmerer-Wirt richtete eilig seine Scheune her, die in Sichtweite des Festplatzes lag. Bei Unwetter wollte der Wirt seine Gäste in der Scheune weiter beköstigen. Derweil wurde das Festessen fortgesetzt. Josephine versammelte um sich herum eine Schar von Verehrern. Ihr gegenüber saß Jacob. Er schaute ein wenig grimmig, denn ihm gefiel es besser, wenn Josephine nur für ihn da war. Aber der gestrige Tag am Jungfernstieg mit ihr, war wohl eher die Ausnahme gewesen, oder nicht? Ich hörte das Gespräch meines Bruders mit Vater:

„War es nicht etwas voreilig von euch, Konstanzes Namen zu verwenden?“

„Ihr seid schon so lange ein Paar und ihr versteht euch gut. Unseren Segen habt ihr schon lange und es wird an der Zeit für mehr Verantwortung. Deshalb sind wir das kleine Wagnis eingegangen. Konstanze hatte es am Anfang in Hamburg nicht leicht, hier Fuß zu fassen. Doch das hat sie bravourös gemeistert Doch nun soll alle Welt wissen, dass sie zur Familie Kock gehört.“

Tatsächlich hatten meine Eltern Konstanze bereits eine ganze Weile ins Herz geschlossen. Sie zählte praktisch zur Familie. Da ihre Eltern nicht in Hamburg lebten, füllten meine Eltern so ein wenig deren Rolle aus.

„Nun werden sie nicht Ruhe geben, bis der Heiratstermin feststeht“, flüsterte mir Lisa ins Ohr, bevor sie zu meiner Mutter und Tante Nathalie ging. Inzwischen verabschiedete sich der Wasserschout Albrecht von meinem Vater und Onkel Clemens. Er war dienstlich hier und musste noch anderen Verpflichtungen nachkommen. Die Gewitterwolken zogen nördlich an uns vorbei und der Wind zog mit ihnen. Der Wirt konnte seine Scheune wieder schließen.

Die Kapelle fing an zu spielen und einige riefen lautstark: „Konstanze und Hinrich, Konstanze und Hinrich...“ Natürlich sollten die frisch Verlobten mit dem ersten Tanz beginnen. Lisa signalisiert mir, dass sie auch nicht abgeneigt wäre zu tanzen. Mit beiden Händen hielt ich meinen Bauch, wo es eigentlich nichts zu halten gab, weil mir diese Art von Rundungen bisher erspart geblieben ist.

Sollte so viel bedeuten wie: „Ich habe zu viel gegessen!“

Hinrich und Konstanze tanzten bereits, Jacob ergriff Josephine ohne Zögern und Lisa stürmte auf mich zu und meine Einwände lösten sich kurzum in Luft auf. Wir tanzten also, und Hinrich schien den Unfall wirklich überwunden zu haben. Er wirbelte auf der Tanzfläche und er ließ auch die schnelle Polka nicht aus. In einer Pause stellte mir mein Vater den Kapitän Georg Broder vor, den ich zuvor nur flüchtig kennen gelernt hatte. Er war von schmächtiger Statur und hatte einen ergrauten Backenbart, passend zum fortgeschrittenen Alter. Seine Stimme krächzte und wirkte eher sanft, als bestimmend. Kapitän Broder war alles andere, nur nicht hektisch. Er sollte die Geschicke der nächsten Wochen bestimmen, die unsere Fahrt dem Schiff und der Mannschaft abverlangen würde. In der Vergangenheit hatte der Kapitän viele Erfolge beim Walfang gehabt. Er landete nie ohne volle Fässer an. Wir werden unterwegs von ihm viel lernen können. Kapitän Broder sagte mir später noch, wie er sich meine Aufgabe an Bord vorstellt hatte. Gut zu wissen, dass er sich schon vorher Gedanken machte. Lisa kam mit diesem speziellen Gesichtsausdruck auf mich zu, der mir zu verstehen gab, dass jetzt nicht diskutiert wird und ich ging mit ihr ein zweites Mal zur Tanzfläche. Hinrich brauchte scheinbar nun doch eine längere Pause. Er hatte einen roten Kopf bekommen und eine Menge Schweiß lief ihm über die Stirn. Jacob sah zu, wie andere Verehrer nacheinander mit Josephine tanzten. Tante Nathalie tanzte heute nicht, da ihre Energie begrenzt war und die schwüle Gewitterluft sie daran hinderte ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Das ausgebliebene Gewitter hätte ihr sicherlich gut getan. Aber meine Eltern steuerten die Tanzfläche an. Sie wirkten sehr fröhlich und entspannt. Es lief alles zu ihrer Zufriedenheit und sie waren zweifellos auf einem Höhepunkt ihres Schaffens angelangt. Hoffentlich hält dieser Zeitraum lange an. Die Seeleute tranken mit den Handwerkern um die Wette. Ob wir am morgigen Tag die Probefahrt machen können? Unsere Bediensteten amüsierten sich und genossen den freien Tag. Auch sie hatten einen großen Anteil an dem bereits Erreichten und sie verdienten sich unseren Respekt für ihre Leistungen. Allmählich verschwand die Sonne. Alle möglichen Farben brachten die Abendsonne hervor. Lisa und ich gingen zum Walfänger ans Ufer. Die Schiffbauer rollten die letzten Segel auf. Meine Eltern beauftragten einen Maler, der das Geschehen in Öl festhielt. Er fing gerade die Abendröte des Himmels ein, die der Feier einen festlichen Anstrich verlieh. Das Bild sollte später in der großen Diele in unserem Haus hängen. Lisa legte ihren Kopf auf meine Schulter. Wir bewegten uns den Bootssteg hinauf zur „Konstanze“. Die Arbeiter hatten einen provisorischen Steg gebaut, damit das Schiff erreichbar wurde. Eine zarte Brise auf dem Steg belebte unsere vom Tanz erhitzten Körper. Wir erholten uns am Wasser, wo immer ein kleines Lüftchen anzutreffen war. Ich versuchte diesen stimmungsvollen Moment in mir fest zuhalten, um mich später daran erinnern zu können. Mein Puls war lauter zu hören, als die Geräusche der Umgebung. Lisas Atem kitzelte in meinem Ohr. Eng umschlungen standen wir einfach nur da und spürten unsere Nähe. Sie liebte mich, da war ich mir sehr sicher. Ich freute mich jetzt schon auf die Wiederkehr, die ich als Teil der Fahrt begriff. Sie wird am Hafenbecken stehen und winken. Dann werde ich wissen, wie sehr sie mir wirklich in jenem Zeitraum gefehlt haben wird. Bisher waren wir noch nie so lange getrennt gewesen, wie sollte ich sie da jemals vermisst haben. Die Sonnenstrahlen erreichten uns nicht mehr, zu tief stand inzwischen der licht- und wärmespendende Planet. Wir entschieden uns, zum Schaarmarkt zu Fuß zu gehen. So konnten wir alleine den Abend ausklingen lassen. Ich hätte Lisa heute gerne mit nachhause genommen. Doch ich wollte keinen Streit mit meinen und ihren Eltern riskieren. Sie waren immer fair zu mir und hielten sich an die Regeln, die ungeschrieben über uns alle schwebten. Unterwegs trafen wir Onkel Clemens und Tante Nathalie. Sie hatten an einem anderen stillen Plätzchen auch den Sonnenuntergang genossen.

„Schade, dass wir uns so selten sehen!“

„Ja, schade. Aber unsere Betriebe brauchen uns eben immer. Vielleicht können wir uns öfter besuchen. Die Schiffe, die zwischen La Rochelle und Hamburg pendeln, könnten doch von uns mehr genutzt werden.“

„Vielleicht können wir morgen mal mit Vater darüber reden“, sagte ich und Lisa ergänzte:

„Ich würde gern im nächsten Jahr euer Baby sehen.“

„Sehr, sehr gerne Lisa. Wir würden uns freuen. Und wir haben auch immer eine Kammer frei für euch.“

„Das wäre schön, wenn uns das im nächsten Jahr gelingen würde. Gute Nacht, schlaft gut! Ich bringe Lisa jetzt nachhause. Adieu, Tante Natalie!“

Wir sahen im Vorbeigehen Lisas Brüder, die mit den Seeleuten tranken und sich gut amüsierten. Sie hatten den Stapellauf nicht miterlebt. Dafür holten sie jetzt alles nach, was sie zuvor versäumt hatten. Ich winkte meinen Eltern zu und wir bewegten uns langsam zum Stadttor. Die Musik der Kapelle wurde immer leiser und wir erreichten das Sandtor. Mein Vater erwirkte für heute Abend eine Sondergenehmigung der Stadtwache für den Durchgangsverkehr, der durch den Stapellauf der Konstanze unumgänglich wurde. Zuvor brachte Josephine den Wachen einen Korb mit Wurst und Käse, so dass der Sonderdienst der Wachen ein wenig einfacher wurde. Sonst wäre das Fest schon vor dem Sonnenuntergang beendet gewesen. Wir erreichten die Brookbrücke, dort wo tagsüber die Maler standen. Der Nachthimmel funkelte und die Kirchen vermeldeten, was die Stunde geschlagen hat. Die Umrisse des Binnenhafens waren durch vereinzelnde Öllampen zu erkennen. Auf einigen festgemachten Segelschiffen flackerten kleine Lichter, deren Helligkeit sich auf dem tanzenden Wasser spiegelte. Im gegenüberliegenden Baumhaus, wo unsere Verlobung stattfinden sollte, brannte nur noch auf der Dachterrasse schwaches Kerzenlicht. Von dort hatte man einen besonders schönen Blick über den Hafen, der Elbe und der Stadt.

„Lisa, wenn du unsere Verlobung im Baumhaus ausrichten willst, dann bitte keine Feier im Erdgeschoss!“, platzte es aus mir heraus.

„Und warum nicht?“, entgegnete sie mir nur knapp mit verwundertem Blick.

„Weil Josephine und meine Mutter die ausgestopften Tiere, die dort an der Decke hingen, ziemlich scheußlich finden. Denke nur an das zerflatterte Krokodil, das schon mal einen Zahn verlor, direkt über meinem Bier! Und ich mag den Gestank der Präparationsmittel nicht riechen. Im Übrigen wollte ich nicht im Museum unsere Verlobung feiern. Die erste Etage im Baumhaus ist größer, schöner und ohne ausgestopfte Tiere“, antwortete ich.

„Da hängt auch viel Tand herum, Trödel den die Kapitäne aus allen Ecken der Welt mitgebracht hatten und froh waren, das Zeug wieder los zu werden“, sagte Lisa.

„Die Besucher der Stadt freuen sich, das „Tor zur Welt“ im meistbesuchten Wirtshaus erleben zu dürfen und das Baumhaus ist nun mal ein Stück Hafen“, entgegnete ich und hoffte das Thema beenden zu können.

„Schade!“ entfuhr es Lisa nach einer Weile.

„Was ist schade?“

„Ich hatte vor, dir das unter der Decke hängende ausgestopfte Krokodil, dass du bereits schätzen gelernt hast, zur Verlobung zu schenken!!!!“

Einen Augenblick brauchte ich schon, um zu merken, dass Lisa sich über mich lustig machen wollte. Wir rangelten auf der Brücke und schließlich gab ich ihr einen zärtlichen Kuss. Wir erlebten Momente des Glücks. Ob ich mich später auf Reisen daran erinnern werde? Dann gab sie mir einen ebenso schönen Kuss und wir schlenderten weiter. Wir kamen unserem Ziel nur langsam näher. Es war ein schöner Tag gewesen, mit einem noch besseren Abend. Nach dem Neuen Kran passierten Lisa und ich das Baumhaus. Auf der Dachterrasse, saßen zu später Stunde noch immer Gäste. Bei guter Sicht schaute man dort bis zur Fahrrinne der Unterelbe.

„Holst du mich morgen nach der Probefahrt vom Hafen ab? Punkt Zwölf Uhr sollen die Kanonen im Binnenhafen geladen werden“, sagte ich.

„Selbstverständlich bin ich da. Morgen ist unser letzter Tag, bevor du mich verlässt“, antwortete sie vorwurfsvoll. Doch ich überhörte ihren letzten Satz. Ich spürte langsam meine Füße, die immer schwerer wurden. Der Schaarmarkt war in Sichtweite. Lisa freute sich auf ihr Bett und bald erreichte auch ich die Katharinenstraße mit bleiernen Füßen.

Schon ganz früh war ich am Donnerstag wieder wach. Die Füße taten immer noch weh. Um 9 Uhr sollte die Probefahrt beginnen. Im Haus wurde heute wieder gearbeitet. Der Alltag kehrte wieder ein. Im Kontor wurde die Lieferung für La Rochelle vorbereitet. Auch Onkel Clemens und Tante Nathalie wollten morgen abreisen. Die Ladung vertrug auch keinen weiteren Aufschub. Von irgendwo hörte ich Hundegebell und ein wenig später schlossen sich die Vettern der Nachbarschaft dem Konzert an. Das Bellen wurde immer lauter, bis es abrupt aufhörte. Es war Frühstückszeit, wahrscheinlich auch für Hunde. Oder hatte ein Eimer Wasser ein Übriges getan? Die ersten Sonnenstrahlen zeigten sich in der Katharinenstraße und ich freute mich auf diesen wiederum besonderen Tag.

Die Konstanze musste sich heute bewähren. Soweit man von einem richtigen Test auf der Unterelbe sprechen kann, wird doch erst die Fahrt nach Grönland eine Bewährungsprobe für unser Schiff sein und als eigentliche Jungfernfahrt gelten können. Mit echten gefährlichen Naturschauspielen: tagelange Stürme, meterhohe Eisberge, haushohe Wellen und weit verbreitetes Packeis. Wir konnten jetzt nur ausprobieren, ob alles funktioniert, was der Walfänger so zu bieten hatte.

Nach und nach versammelte sich die Familie zum Frühstück. Wir sprachen natürlich über die Schiffstaufe. Alle waren sehr zufrieden mit dem Verlauf der Feier. Vater sprach von einem guten Eindruck, den er von der Mannschaft hat. Die Hamburger Matrosen verstanden sich mit den Sylter Matrosen.

„Ich glaube, da auch die Aufgaben klar verteilt sind, wird es keine Probleme an Bord geben“, sagte er. Onkel Clemens und ich bestätigten seine Meinung. Dann erinnerte ich mich an unser Gespräch mit Onkel und Tante und richtete das Wort an meinen Vater:

„Onkel Clemens, Tante Nathalie, Lisa und ich hatten gestern festgestellt, dass wir uns viel zu selten sehen. Deshalb wollte ich dich fragen, ob Lisa und ich im nächsten Jahr mit unserem Handelsschiff nach La Rochelle mitfahren dürfen?“

„Tolle Idee, Caspar! Mutter und ich hatten auch schon daran gedacht einmal wieder zusammen dort hinzu fahren. Ich bin sicher, eine Reise nach La Rochelle müsste im nächsten Jahr möglich sein.“

Tante Nathalie ergänzte: „Wir würden uns freuen, euch alle bei uns zu sehen!“

Onkel Clemens meinte uns den Besuch zusätzlich schmackhaft machen zu müssen:

„Durch den Amerika-Handel hat sich unsere Stadt sehr verändert. Über Quebec in Neufrankreich kommen viele Pelze nach La Rochelle. Außerdem Ahornsirup und andere Spezialitäten. Und wir schicken im Gegenzug Wein, Salz und vieles mehr. Da unsere Waren wesentlich schwerer sind, als die Kanadischen, beschweren die Kolonisten ihre Felle mit Steinen. Und zwar die schönsten Steine, die man sich nur vorstellen kann. Sie haben eine samtartige rosa glitzernde Farbe. Ihr fragt euch nun, was soll das alles? Was haben sich wohl unsere Ratsherren gedacht? Was kann man anfangen mit diesen Steinen?“

„Ihr habt einen Steinwall ans Meer gebaut, zum Schutz vor Stürmen!“, fiel Josephine ein.

„Nein, aber die Idee von dir, Josephine, ist ziemlich gut. Sie ließen die Altstadt mit den Steinen pflastern und es sieht einzigartig schön aus!“

Jacob sagte nun auch etwas dazu: „ Die Steine sind wirklich etwas Besonderes. Wenn man nach Kanada kommt, findet man diese Steine wie Sand am Meer! Vielleicht sollten wir deshalb unsere andersartigen Steine nach Quebec schicken, damit die Kolonisten auch einmal „besondere“ Steine bekommen. Ich weiß natürlich, dass die Leute dort ganz andere Probleme haben. Um es noch einmal klar zu stellen, wir fahren nicht nach Quebec, sondern wir fahren ausschließlich nach Neu Orléans. Die Stadt ist noch keine 40 Jahre alt. Da ist alles noch im Aufbau. Nur eines ist sicher, sie werden niemals Steine liefern, da die Umgebung von Neu Orléans aus Sumpf und Wasser besteht.“

Nachdem wir diesen Punkt geklärt hatten, war Aufbruchsstimmung in der Katharinenstraße angesagt. Die Frauen konnten den Tag noch einmal für einen Stadtbummel nutzen, während wir Männer zum Schiff gingen. Vater wollte sich davon überzeugen, dass auch die ganze Mannschaft nach der Taufe die Probefahrt bestreiten wird. Einige Seeleute konnten abends nicht mehr selbstständig den Weg zur Unterkunft finden. Besonders den Sylter Matrosen schmeckte das Hamburger Bier.

„Ich bin neugierig, ob denn alle den Weg zur Werft heute Morgen finden werden“, sagte er. Auf der Werft wurde wieder gearbeitet. Der Schiffszimmerer-Wirt war dabei mit seinen Helfern, die Spuren der Schiffstaufe zu beseitigen. Mein Vater lobte ihn nochmals, für das gute Gelingen der Feier. Dann sahen wir die Konstanze. Majestätisch lag sie am Werftsteg. Die Segelmacher verließen gerade das Schiff. Sie hielten den Zeitplan ein, auch wenn es recht knapp wurde. Wir sahen Kapitän Broder. Er zählte seine Mannschaft durch.

„Wie ist die Lage, Kapitän Broder? Sind alle Mann an Deck?“ fragte Onkel Clemens.

„Nee, zwei Mann fehlen!“, antwortete er ärgerlich mit seiner krächzenden Stimme.

Mein Vater stellte klar: „Dann holen wir beide aus dem Bett. Caspar, geh` zum Wirt und schicke ein Fuhrwerk ins Logishaus. Fahr` am besten selbst mit und komm` nicht ohne die Männer zurück. Dienst ist Dienst!“

Also, meine erste Aufgabe des Tages war, betrunkene Seeleute aus dem Bett zu holen. Da kannte mein alter Herr keine Gnade. Derweil teilte Kapitän Broder die Mannschaft ein und besprach mit jedem Einzelnen dessen Aufgabe. Mein Vater und Onkel Clemens organisierten die noch fehlenden Dinge. Ich hatte Jacob gefragt, ob er mitkommen will und wir erledigten die heikle Angelegenheit zusammen.

Die Seeleute lagen tatsächlich noch in den Betten. Nach mehrmaligem Wecken, ohne Erfolg, holten wir einen Eimer mit kaltem Wasser und konnten nach 20 Minuten mit dem Fuhrwerk zurück fahren. Die Männer waren in einem erbärmlichen Zustand. Aber das war nicht unser Problem. Wir sollten sie nur zum Schiff bringen. Das taten wir auch. Der frische Wind auf dem Fuhrwerk wirkte wie Medizin für die Sylter Seeleute. Als wir ankamen, konnten sie zumindest schon gucken!

„Mit dem gehen kriegen die das auch noch hin“, sagte ich zu Jacob und er grinste.

Auf dem Schiff war soweit alles geregelt. Der Wirt brachte ein Paket zum Werftsteg. Es war für mich. Erstaunt öffnete ich das Paket. Es war von Josephine, zusätzlich mit einem Brief versehen. Ein gestrickter Pullover kam mir entgegen. Offenbar fertigte meine Schwester dieses Prachtstück in meiner Abwesenheit. Nur sie weiß doch erst drei Tage von meiner Grönlandfahrt! Ich las hektisch den Brief.

Darin schrieb sie:

>> Lieber Caspar, damit du in Grönland nicht frieren musst, habe ich dir diesen „Pelz“ gestrickt. Da er ursprünglich für Hinrich gedacht war, habe ich ein paar Änderungen vornehmen müssen. Du sollst nur wissen, dass ich in jedem Fall einen Pullover gestrickt hätte, selbst wenn du anfangs für die erste Fahrt vorgesehen wärest! Komm gefälligst gesund wieder - deine dich liebende Schwester, Josephine <<

Ich war platt! Sie hatte mich mit dem Paket völlig überrascht. Ich starrte verweilend auf den Fockmast des Schiffes und bemerkte erst etwas später, dass eine Horde von Seeleuten und zusätzlich Jacob, um mich herum standen und neugierig schauten. Ich wollte mir noch mehr Zeit gönnen, um darüber nachzudenken. Doch die Situation erforderte eine Veränderung meines äußeren Eindrucks, den ich geradewegs bei den Seeleuten hinterließ.

„Schön grün ist er!“, sagte ich und ging zur Tagesordnung über. Ich suchte den Kapitän, der am Steuer stand und mit dem Bootsmann Jan die Mannschaften positionierte. Er zeigte auf den größten Mast, wo ich rauf sollte. Die Seeleute warteten angespannt auf das Kommando vom Bootsmann, um die Segel aus der Gefangenschaft zu befreien und den Walfänger in Bewegung zu setzen. Dann endlich bewegte sich das Schiff allmählich vom Anleger, wo die Schiffszimmerer standen und winkten. Auch die Handwerker der anderen Schiffsbauten ließen ihre Arbeit liegen und wendeten sich der Konstanze zu. Es war jedes Mal ein Triumphzug, wenn ein fertig gestelltes Schiff der Werft entrückte. Dem konnte sich kein Schiffbauer entziehen, ob er nun einfacher Arbeiter war oder Konstrukteur. Wie hatten wir den Augenblick der Fertigstellung herbei gesehnt. Vater und Hinrich unterhielten sich wochenlang nur über Probleme, die nur durch den Bau des Walfängers begründet waren. Zusätzlich trieben die Verzögerungen des Schiffsbaus die Kosten in die Höhe. Doch das alles lag jetzt hinter uns und ich fühlte mich stark in die Pflicht genommen, den Walfang erfolgreich mit Jacob abzuschließen.

Mit wackligen Beinen kletterte ich die Wanten herauf. Es roch nach frisch verarbeitetem Holz und die Taue waren noch fast weiß. Schon bald würden Wind und Seewasser die Taue ergrauen lassen und das Holz in Mitleidenschaft ziehen. Je höher ich hinauf kletterte, desto wackliger wurden meine Beine. Jedoch wusste ich von meinen Fahrten nach La Rochelle, dass ich mich schnell daran gewöhnen werde und auch keine andere Wahl hatte. Mit einer Stunde Verspätung fuhren wir ab. Bei leicht wechselnden Winden waren alle Segel der Konstanze gesetzt. Einigen Seeleuten fiel das Klettern auf die Groß Rah sehr schwer. Vielleicht hätte das eine oder andere Bierfass geschlossen bleiben sollen. Doch Seemänner müssen ganz andere Krisen meistern. Der schwache Wind sorgte für eine behäbige Fahrt. Wir sahen Hamburg von der schönsten Seite. Der Eingang des Binnenhafens, war eingerahmt von den Bastionen des Stadtwalls. Durch ein Meer von Masten, Bannern, Wimpeln, Netzen und Tauen der festgemachten Segelschiffe, sahen wir viereinhalb! große Kirchtürme, die seit langem das Stadtbild prägten.

Endlich frischte der Wind auf und die Konstanze erwachte geradezu. Wir fuhren an den Tranbrennereien unterhalb des Hamburger Bergs vorbei. Da das Kochen des Walspecks sehr geruchsintensiv war, wurden die Tranbrennereien nicht innerhalb der Stadtmauern geduldet. Das galt auch für das elbabwärts benachbarte Altona. Die Kamine der Brennereien rauchten und der weiter zunehmende Wind verteilte rasch die Qualm Wolken. Auch wir werden wohl den Walspeck, den wir hoffentlich heimbringen werden, hier zu Tran kochen lassen. Wir nahmen allerdings eine entsprechende Ausrüstung mit, die es uns erlaubte, selbst den Walspeck zu verarbeiten. Der Fall würde eintreten, wenn wir Platzprobleme, wegen großer Mengen und oder Leerlauf beim Walfang hätten. Diese Maßnahme müsste allerdings an Land stattfinden. Eine Eisscholle würde nicht genügen. Wir passierten Altona und wurden immer schneller. Kapitän Broder gab die Kommandos zum Kreuzen auf der Unterelbe. Die Mannschaft war bei der Sache. Die zwei Langschläfer, die Jacob und ich aus dem Logishaus holen mussten, verrichteten den Dienst, ohne besonders aufzufallen. Jacobs Dienst bestand heute aus dem „über die Schulter schauen“ beim ersten Steuermann Jan Behrens. Er grinste mich zuvor an, als ich die Leiter des Großmastes erklimmen durfte. Ich hatte da oben eine schöne Aussicht und er musste da unten nur rumstehen, dachte ich und machte mir damit Mut. Meinen neuen Pullover brachte ich vorher in meine Koje. Das Tragen des Pullovers wäre oben in den Rahen zu warm geworden. Der Wind war warm und angenehm. Er drehte jetzt von West auf Nord. Kapitän Broder nutzte dies zum Positionswechsel. Er bereitete seiner zusammen gewürfelten Mannschaft viel Freude. Mit vielen Kommandos hielt er die Männer in Bewegung. Die Segel wurden immer wieder verändert, um die Belastbarkeit des Materials und die möglichen Reaktionen des Schiffes auszutesten. Broder schaute sich genau jeden einzelnen Matrosen an, wie er sich auf dem Schiff bewegte. Insgeheim testete er nicht nur das Schiff, sondern auch seine neue Mannschaft. Eine wirkliche Herausforderung hatte die Konstanze nicht zu erwarten. Dazu war die Elbe an jenem Tag einfach zu zahm gewesen. Im Grunde war ich froh, bei diesem Wetter hier oben am Großmast zu sein. Bei stürmischen Winden sind zwei Arme zum Festhalten auf den Rahen sicherlich zu wenig. Doch eine Sonderbehandlung wollte ich nicht haben, nur weil ich Vaters Sohn bin. Es blieb dennoch Zeit genug, die schöne Landschaft der Unterelbe anzuschauen. Parallel verliefen die Entwässerungsgräben auf dem fruchtbaren Grund der Felder, die mit Obstbäumen, Gemüse und Getreide bestückt waren. Fischer warfen in den seichten Buchten ihre Netze aus. Interessiert schauten sie unseren Walfänger hinterher. Diese Momente lockerten den eintönigen Alltag Eine wirkliche Herausforderung hatte die Konstanze nicht zu erwarten. der Menschen auf, die am Strom ihrem Erwerb nachgingen. Ich war nach wie vor auf dem Großmast und kam ins Schwitzen. Jacob musste dem Kapitän zwischendurch Fragen beantworten. So kam auch er ins Schwitzen und er hörte mit dem Grinsen auf, wenn er mich sah. Die Konstanze maß 49 Meter Länge und 9,50 Meter Breite. Das waren 161,18 englische Fuß Länge, die im Schiffbau als Maßeinheit verwendet wurden. Sie besaß drei Masten: Fock-, Groß- und Besanmast. Der Letztere mit Gaffelsegel, ansonsten waren die Masten mit Rahsegeln versehen. Die Aufbauten des Schiffes wurden relativ flach gehalten, damit die Verarbeitung des Fanges möglichst schnell abwickelt werden konnte. Große Aufbauten wären beim Zerlegen der Wale hinderlich. Ein erneutes Jagdglück, oder plötzliche Wetterumschwünge die Eile erforderten, machten außerdem flache Aufbauten sinnvoll. Hohe Aufbauten wären einem Walfänger hinderlich, da das Deck zum Arbeitsplatz umfunktioniert werden musste, bei der Zerlegung des Fanges. Die kleingehaltene Galionsfigur am Bug hatte etwas von einem himmlischen Wesen, einem Engel mit langen schwarzen Haaren und blauen Augen. Mit Fischernetz zur Linken und Harpune zur Rechten ausgestattet, beeindruckte die Galionsfigur durch ihr farbenprächtiges Antlitz. Sie hatte tatsächlich Ähnlichkeit mit der lebendigen Konstanze und so hieß die Figur auch Konstanze. Das Schiff hatte dezente Bug- und Heckverzierungen, Holzschnitzereien mit Symbolen unseres Reedereiwappens. Aber nicht so übertrieben, wie es vor 100 Jahren noch üblich war. Im Laderaum lagen 80 Fässer, die möglichst mit Walspeck gefüllt, im Heimathafen ankommen sollten. Unser Schiffstyp war ein Bootsschiff, anlehnend der Hamburger Variante, aber mit starken holländischen Wurzeln des Typs Fleute. Man sprach auch von einem so genannten Mitteltyp. Das bedeutete, einerseits wurde der Rumpf schlank gehalten, um schnelle Fahrt machen zu können, andererseits wollte man das Ladevolumen möglichst groß belassen. Dadurch war der Rumpf eher bauchig als schlank und an Bug und Heck höher gezogen. Als Beiboote hingen zwei Schaluppen an Seilwinden über dem Obergeländer an Deck auf jeder Schiffseite. Sie können schnell ins Wasser gelassen werden und mit vier Ruderern, Steuermann an der Pinne und dem Harpunier im Bug, auf Waljagd geschickt werden. Sie dienten genauso dem Abtransport der erlegten Wale und der Verarbeitung des Fanges, sowie der Fortbewegung des Mutterschiffes bei völliger Windstille. Auf dem offenen Meer wurde der Wal auch direkt vom Schiff gejagt und harpuniert. Aufgrund des schwerfälligen Manövrierens des Schiffes, war dies aber eher seltener der Fall gewesen. Denn der Wal wich der Gefahr aus oder tauchte schnell ab, bis das Tier zum Atmen an entfernter Stelle wieder die Wasseroberfläche erreichen musste.

Wir erreichten das dänische Glücksstadt, dass durch vorgelagerte Elbinseln nicht so schnell auszumachen war.

Der Kapitän rief: „Klar zum Halsen!“ Er meinte damit, dass es Zeit wurde zur Umkehr. Der Walfänger segelte am Wind aus Nord mit Steuerbordhalsen. Dazu dienten die vordersten Segel vor der Galionsfigur. Die Brassen wurden zum Laufen klargelegt. Das Großsegel wurde aufgegeit. Die Segelflächen wurden demnach verkleinert. Der Besan wurde geborgen. Das war das hintere große Segel.

„Auf das Ruder!“, rief der Kapitän. Der Steuermann Jan drehte nach Backbord bei, damit wir links herum fahren konnten. Die Großrahen wurden gebrasst. Ohne Achtersegel veränderte das Schiff nun die Richtung. Die Konstanze lief vor dem Wind. Die Matrosen verlagerten die Klüver nach Steuerbord. Als die Lage des Schiffes sich änderte, mussten einige Segel neu positioniert werden, um die Wirkung des Windes voll nutzen zu können. Nun spannten sich die vorderen Segel. Der Groß Topp wurde angebrasst. Letztlich setzten die Männer das Besansegel und trimmten alle anderen Segel. Das Schiff lag nun mit Backbordhalsen am Wind. Wir setzten das Großsegel und das Deck wurde aufgeklart. Das Manöver war beendet und wir segelten zurück. Die Verantwortlichen machten zufriedene Gesichter. Selbst unser langjähriger Schiffsarzt, Dr. Emanuel Voigt, der auch die Probefahrt mitmachte, schwärmte vom neuen Schiff. Mehr ist wohl auf einem Fluss nicht zu testen, sagte Dr. Voigt und Kapitän Broder stimmte der Äußerung des Arztes zu.

„Nun kommt es auf Eis, Kälte und Sturm an“, ergänzte unser Bootsmann Jan. Und so hatte ein Jeder seine Weisheiten parat, die nun mal zur Seefahrt gehörten, wie der „Rum zum Matrosen“.

Die Verspätung konnten wir nicht aufholen und so erreichten wir den Hamburger Hafen nicht rechtzeitig zur Verladung der Kanonen. Der Große Hafenkran sollte vor einer Stunde die Kanonen an Bord hieven. Wir gingen in Warteposition, weil derzeit ein anderes Schiff beladen wurde.

Ich glaubte Lisa erkannt zu haben und fragte vorsichtig Jacob, ob sie es wohl sei.

Er schaute mich ungläubig an und sagte: „Sie ist doch deutlich zu erkennen, Caspar!“

„Fernsicht ist nicht so meine Stärke, Jacob.“ Dann nutzten Jacob und ich die Zeit, dem Kapitän und dem Steuermann ein paar Fragen zu stellen. Wir hatten auf der Navigationsschule viel gelernt und brauchten im nächsten Schritt praktische Erfahrungen und Informationen aus erster Hand. Wir hatten ein neues Verfahren zur Bestimmung der Position auf See kennen gelernt. Dies war von großer Bedeutung, wenn man die Weltmeere befahren wollte. Es handelte sich um Tabellen zur Berechnung des Längengrades. Sie waren gerade erst veröffentlicht worden und stellten einen Meilenstein in der Navigation dar. Der Kapitän Broder war aber bisher ohne die Tabellen zurechtgekommen, auch auf dem Weg nach Grönland. Schließlich fuhr man schon über 100 Jahre von Europa ins Eismeer, ohne die Bestimmung des Längengrades durchführen zu können. Jan Behrens, der Steuermann kannte die Tabellen und wirkte dem entsprechend aufgeschlossener. Er musste in der Navigation auf dem neuesten Stand bleiben, denn er wollte schon bald selbst sein Kapitänspatent machen.

Unsere Wartezeit im Hafen war vorbei und wir bugsierten die Konstanze zum großen Neuen Kran, um die Kanonen an Bord zu nehmen. Nun erkannte ich die halbe Familie, die sich dazu eingefunden hatte. Wir begrüßten uns herzlich und mir wurde klar, beim nächsten Betreten des Schiffes würde der Verbleib länger ausfallen.

Lisa strahlte mich an, als ob ich von einer großen Reise heim gekommen wäre. Konstanze und Hinrich sahen beide glücklich aus, die gestrige Verlobung machte es nicht mehr nötig, dass Hinrich nochmals das Hospital aufsuchte. Das war Medizin genug. Ihm ging es wieder gut. Mein Vater und Onkel Clemens sprachen zwischenzeitlich mit dem Kapitän Broder. Sorgenvolle Gesichter von Vater und Onkel Clemens lösten sich in Wohlgefallen auf, als Kapitän Broder und Jan Behrens ihre Eindrücke schilderten. Tante Nathalie, so hörte ich von Lisa, war es hier zu laut und zu anstrengend, um hier zu warten. Sie hatte mit ihrem Kind unter dem Herzen in Hamburg anstrengende Tage erlebt und wollte sich, bis zum großen Abschiedsessen ein wenig ausruhen. Meine Mutter leistete ihr Gesellschaft und Josephine bereitete das Mahl vor. Ich freute mich auf dieses Ereignis, denn die Seemannskost in den nächsten Wochen, hatte schon so manchen Matrosen zur Verzweiflung getrieben. Alfred und Hannes waren die Besatzungsmitglieder, die zur Stadtwache gehörten. Sie sind unter Kapitän Broder die Verantwortlichen für die Bewaffnung und Verteidigung des Schiffes. Ursprünglich waren Walfänger nicht bewaffnet gewesen. Doch Kaperfahrten bis in die Fanggründe und auch feindliche Auseinandersetzungen mit anderen Staaten blieben nicht aus. Die Konvoi -Fahrten Hamburger Kriegsschiffe vergangener Tage, konnten Verluste dieser Art nicht grundsätzlich verhindern. Die Hamburger Handelsflotte war einfach zu groß geworden. Heutzutage fahren Hamburger mit schwedischer Flagge aus Stade oder dänischer Flagge aus Altona, wenn politische Umstände es verlangten. Mein Vater und Onkel Clemens hatten sich für die Hamburger Flagge entschieden. Da Kock & Konsorten eine hamburgisch-französische Gesellschaft war, führte die Konstanze auch die französische Flagge. So ist der große Bruder immer im Gepäck, wenn es erforderlich oder dienlich wurde. Alfred und Hannes überwachten das Beladen der Kanonen und der Munition. Durch die große Luke zwischen Fockmast und Großmast wurden die Geschütze ins Zwischendeck gehievt. Jacob und ich verabschiedeten uns von der Mannschaft und wir gingen ohne Vater und Onkel Clemens nachhause. Ein Gewitter zog auf und wir beschleunigten unser Fortkommen. Die ersten großen Tropfen erreichten uns, als wir von der Mattentwiete in die Katharinenstraße kamen. Es hatte lange nicht geregnet. Die Stadt schien im Staub zu versinken. Aus den Hinterhöfen der Mattentwiete kam uns ein fauler Geruch entgegen. Der Regen wird die Kanäle reinigen und den Mief wegspülen. Wir erreichten unser Haus und der Regen wurde stärker.

„Gerade noch mal Glück gehabt“, sagte Konstanze.

„Was man von Onkel Clemens und Vater nicht sagen kann“, meinte Hinrich. In der großen Diele roch es nach Fisch. Ich bewegte mich zur Küche. Josephine bereitete die Speisen vor. Ich bedankte mich als erstes für den tollen Pullover, den sie heimlich gestrickt hatte. Anerkennend erwähnte ich ihre Mühe, die sie sich mit dem Brief gemacht hatte.

„Zweifel kamen nicht auf, dass du nicht auch mir einen Pullover stricken wolltest. Übrigens, die Änderungen am Pullover sind gelungen. Er passt dank deiner Geschicklichkeit“, sagte ich freudestrahlend.

„Denn kann ich ja auch zufrieden sein, Caspar. So, nun muss ich aber weiter arbeiten, sonst wird das Essen nicht rechtzeitig fertig“, antwortete Josephine und drängte mich zur Tür. Ich schaute noch schnell in die Töpfe und stellte fest, dass es heute Lachs geben wird. Im Kontor und auf den Speichern wurde nur bis mittags gearbeitet. Maria half in der Küche und das restliche Personal konnte sich von dem Stapellauf der Konstanze erholen. Einige hatten die Erholung auch nötig. Besonders jene die versucht hatten, mit den Seeleuten beim Trinken mitzuhalten. Lisa, Konstanze und Hinrich setzten sich zu Tante Nathalie und zu Mutter an den großen Dielentisch. Ich setzte mich schließlich auch dazu. Wir spekulierten, wann Onkel Clemens und Vater wohl nachhause kommen werden. Der Regenguss war noch nicht vorbei. Jacob spannte im Hinterhof die Pferde an und wollte die Beiden abholen. Ich wollte die letzten Stunden mit Lisa verbringen und entschloss mich da zu bleiben.

„Jacob ist vertraut mit der Umgebung und wird sich schon nicht verirren!“, sagte Lisa zustimmend, die meinen Beweggrund verstanden hatte. Tante Nathalie erzählte, dass Onkel Clemens lange überlegt hatte, ob er nicht statt der Neu Orléans- Route lieber die etablierte Quebec- Route fahren sollte. Denn es war seine alleinige Entscheidung gewesen. Es gab für beide Routen Vor- und Nachteile. Er machte es sich deshalb nicht einfach. Mein Onkel legte sich letztlich fest und Tante Nathalie wiederholte seine Begründung Wort für Wort: Für die aufkommende Besiedlung Louisianes und gegen den, in festen Händen liegenden Pelzhandel der Sankt Lorenz-Region, wo die Kompanie erst einmal Fuß fassen müsste. Das Hinterland Louisianes war riesengroß und umspannte fast das Gebiet bis zu den Großen Seen im Norden Amerikas. Entlang dem Lauf des Mississippi Stromes und seiner Nebenarme. Das Klima war günstig für den Anbau von Baumwolle, Indigo, Tabak, Reis, Mais, Kürbis, Weizen und Zuckerrohr. Zusätzlich nahm im Süden die Krabben, Muschel- und Austernfischerei stark zu. Hier gab es viele Chancen den Handel auszuweiten, wenn erst einmal mehr Einwanderer ihren Weg nach Neu Orléans gefunden hätten, so hieß es. Die Stadt war erst 1718 gegründet worden. Da war Geduld oberstes Gebot, doch zurzeit waren die Schiffe der Neu Orléans- Route gut ausgelastet.

Tante Nathalie war mit dem Geschäftsgebaren von Kock & Konsorten vertraut, im Gegensatz zu meiner Mutter, die dafür eine größere Familie zu behüten hatte und gesellschaftlich stärker eingebunden war, zumindest bis zu diesem Zeitpunkt. Eine vertraute Geste zu Lisa führte dazu, dass wir nochmals das Haus verließen, nachdem der Regen aufgehört hatte. Ich wollte einfach noch einmal mit ihr allein sein. Wir gingen auf die Katharinenkirche zu, die in Sichtweite unseres Hauses lag. Hier hatte der Blitz nicht gewütet. Lisa wollte gerne mit mir in die Kirche gehen. Sie war ein religiöser Mensch, im Gegensatz zu mir. Ihr gab die Kirche ein Stück Lebenskraft. Sie konnte aus dem Gebet die Kraft schöpfen, die ihr gut tat. Ich hatte das zu respektieren und war immer bereit mitzugehen, wenn Lisa darum bat. Insgeheim bewunderte ich sie, denn Gott konnte sie trösten. Mir war es nie möglich gewesen, das Leid vieler Menschen, die Grausamkeit der Natur und die Ungerechtigkeit auf der Welt, als von Gott gewollt zu begreifen.

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich diese Dinge jemand ausgedacht hatte.

Das Christentum beflügelte unsere Stadt eindeutig. Beginnend stand zwischen Elbe und Alster ein Kloster, wodurch erst eine Stadt entstehen konnte. Es gab später Armenhäuser, Hospitäler, den Pesthof, Schulen und viele andere gute Errungenschaften der Kirchen. Viele Menschen bekommen den Halt, den sie brauchen um ihr Leben zu bestehen. Jedoch musste immer alles für die Kirchen lenkbar bleiben, egal was sie unternahmen. Die Kontrolle gaben die Kirchen nie in andere Hände und mit dem Adel arrangierte man sich. Heute war wieder so ein Tag, wo es eben sein musste, in die Kirche zu gehen.

Schon, bevor wir die Tür öffneten, war die tönerne Orgel zu hören. Die Musik konnte auch einen Atheisten beeindrucken. Lisa sagte die ganze Zeit kein einziges Wort. Das war sonst eher selten der Fall. Sie bestimmte nun die Abfolge und ich setzte mich neben sie, als wir die blankpolierten Bänke erreicht hatten. Hinter dem Altar hing ein großes Kreuz mit Jesus Christus in der üblichen Darstellung, der Kreuzigung. Lisa schaute Jesus` Abbild an und betete anschließend. Sie rückte ganz nah an mich heran, bis sich unsere Oberschenkel berührten. Ich verharrte in Schweigen und mir wurde klar, dass Lisa auf diese Weise versuchte, für mich mit zu beten. Sie sollte das so machen, wie sie es mochte. Dem Organisten waren einige Notenblätter von der Balustrade gefallen. Es regnete also Papier. Außer mir schien es niemand zu bemerken. Plötzlich verstummte die Orgel und ein zerzauster Kopf schaute von der Empore herunter. Nun sah der Organist was passiert war. Er kam die reich verzierte Wendeltreppe herunter, die um einen gewaltigen Pfeiler geschwungen war. Mir zuckte es in den Beinen. Ich wollte ihm helfen, doch Lisas Gebet dauerte noch an. Alle anderen Besucher beteten ebenfalls, so dass der Organist seine Notenblätter selbst aufheben musste. Als dies geschehen war, erklomm er keuchend die Wendeltreppe. Erst durch die Geräusche des Organisten bemerkten einige Besucher seine Anwesenheit. Sein Orgelspiel setzte er fort. Lisa beendete ihr Gebet und wir verließen die Katharinenkirche, die nun wieder in gewohnter Weise beschallt wurde. Der Regen meldete sich mit einem kräftigen Guss zurück. Lisa spannte ihren Schirm auf und wir gingen nachhause.

„Hast du für mich mit gebetet?“, fragte ich sie behutsam.

„Eigentlich habe ich nur für dich gebetet. Damit Gott dich wieder heil zu mir bringt, Caspar!“

„Schön. Darf ich jetzt mit dir über das schöne grüne Kleid reden, dass am Tag des Unglücks kaputt gegangen ist?“

„Das Kleid ist längst wieder heil, Caspar. Da brauchen wir nicht mehr darüber zu reden. Nun las uns schnell zurückgehen, das Essen ist sicher bald fertig. Wir wollen Josephine doch nicht warten lassen.“

Der Regen hatte wieder frische Luft in die Stadt transportiert. Die älteren Bewohner der Katharinenstraße atmeten an ihren Fenstern tief durch und erholten sich vom Stadtmief der letzten Tage. Geradewegs fuhr Jacob mit Vater und Onkel Clemens uns entgegen.

„Ist das Schiff vollends beladen?“, wollte ich gleich wissen und Jacob antwortete mir:

„Bis auf den frischen Proviant, der morgen angeliefert wird, ist alles an Bord. Wann gibt es Essen?“

„Wir waren eben in der Kirche, aber Josephine war davor schon ziemlich weit, mit den Vorbereitungen. Eigentlich müsste es gleich losgehen, Jacob.“ Vater, Onkel Clemens und Lisa gingen ins Haus, Jacob und ich spannten die Pferde im Hinterhof aus. Wir versorgten die Tiere und stellten die Kutsche in den Anbau des Stalls. Dann gingen wir in das Haus. Der große Esstisch, der in der Diele stand, war schon gedeckt und alle versammelten sich dort. Josephine hatte bereits zu Tisch gebeten. Hinrich holte einen guten Tropfen aus dem Keller, den die Kocks aus La Rochelle mitbrachten. Meine Mutter zündete die Kerzen des großen Tischleuchters an und Lisa kam mit der Vorspeise aus der Küche. Tante Nathalie saß bereits am Tisch und strahlte mit ihren großen Augen. Auch für sie war es ein besonderer Tag. Ihren, bis jetzt einzigen Sohn, auf eine lange Reise zu schicken, fiel ihr auch nicht leicht. Sie verdrängte mit der Noblesse einer französischen Dame ihr Unbehagen. Bei allen Gefahren, die der Walfang mit sich brachte, glaubte sie fest an ein gutes Gelingen. Tante Nathalies Zuversicht sah man ihr jetzt ganz deutlich an. Sie freute sich offensichtlich, nochmals die ganze Familie beisammen zu sehen. Onkel Clemens und Vater sahen auch zufrieden aus. Sie hatten das Schiff gerüstet und konnten den restlichen Tag mit der Familie verbringen. Auch Onkel Clemens` Schiff war bereits beladen. Sie fuhren am nächsten Tag nach La Rochelle zurück. Josephine kam mit Konstanze aus der Küche und wir konnten mit dem Essen beginnen. Jacob erzählte von der ersten Fahrt der Konstanze. Er hatte das gleiche Funkeln in seinen Augen, wie seine Mutter zuvor. Es regnete nicht mehr und die Sonne versuchte ihren Schein durch die Dielenfenster zu schicken. Die dicken Wassertropfen an den Fensterscheiben störten das Vorhaben gewaltig. Josephine kochte für uns Elblachs, nach einem alten Familienrezept. Hinrich öffnete dazu einen Weißwein aus dem Loire-Tal. Er hatte sich von dem Unglück gut erholt und war nur noch etwas entkräftet. Oder waren das die Folgen der Verlobung? Ich weiß es nicht, ich war noch nicht verlobt.

Nun erhob mein Vater das Glas und sagte ein paar feierliche Worte:

„Liebe Familie! Ich empfinde diese Tage, vom Schiffsunglück mal abgesehen, als die glücklichsten Tage, seit langer Zeit. Ich bin unheimlich stolz auf euch Kinder, die alle am Fortkommen von Kock & Konsorten kräftig mitarbeiteten. Caspars Geschick seine Eltern zu überrumpeln, soll auch nicht unerwähnt bleiben. Ich hoffe Caspar, du wirst nicht enttäuscht sein vom entbehrungsreichen, kargen Leben auf See. Clemens, deine Familie hat uns wieder einmal viel Freude bereitet. Kommt bitte bald wieder und dann kommt zu viert! Wir wollen euch auch besuchen kommen. Lieber Jacob, auch dir wünsche ich, dass du nicht von der Seefahrt ins Eismeer enttäuscht sein wirst. Bitte komme auch du gesund wieder. Clemens und ich haben für den besten Proviant gesorgt, der jemals auf einem Walfänger verladen wurde, entgegen allen Gepflogenheiten. Der Koch hat die Anweisung, die Lagerhaltung des Proviants täglich zu kontrollieren. Damit nichts verdirbt, oder möglichst nur wenig schlecht wird. Eure Reise dauert nur 3 Monate, üblich sind sonst 6 Monate. Aufgrund der kürzeren Reisedauer werdet ihr dort nicht verhungern. Und eure Mütter sind beruhigt!“

Das war es also! Die Beiden hatten sich die Proviantgeschichte ausgedacht, um ihre Frauen zu besänftigen. Anschließend widmeten wir uns dem köstlichen Mahl. Josephine war eine gute Köchin. Sie hat uns schon oft verzaubert. Ihr wahres Talent ist aber die Buchführung in unserem Kontor. Sie kennt keine Rechenfehler und hat eine Schrift, wie von Gutenberg persönlich gedruckt. Josephine verbrachte viel Zeit mit Jacob und ihre Freunde mussten in dieser Woche weitgehend auf sie verzichten. Jacob und Josephine mochten sich sehr. Wenn da nur nicht die Verwandtschaft wäre. Am frühen Abend war das Mahl beendet. Vater bat Jacob und mich in das Kontor. Er schenkte einen braunen Rum aus und schwor uns ein, auf den Walfang und unsere Aufgaben an Bord. Wir werden Teilnehmer der Offiziersmesse sein und bekamen Entscheidungsspielraum bei wirtschaftlichen Fragen zum Wohl der Kompanie. Das war auch mit Kapitän Broder so besprochen worden. Vater gab sich wirklich Mühe, allen gerecht zu werden.

Hinrich klopfte an die Tür und fragte: „Wollen wir alle heute Abend ins Blockhaus gehen?“ Jacob und ich nickten und Vater beendete die Runde. Ich brauchte jetzt nach dem guten Essen dringend frische Luft und Bewegung. Wir richteten uns ein bisschen her und gingen zu Fuß zum Blockhaus in den Hafen. Unsere Eltern wollten zum Jungfernstieg in ein Kaffeehaus. Große aufgetürmte Wolken, aus dem Westen kommend, versteckten die Abendsonne. Am Hafen stritten sich die Möwen um die Fischabfälle, die im Hafenbecken schwammen. Die Möwen eskortieren die Fischerboote schon, wenn sie in den Hafen einliefen, um die Fänge zu löschen. Auch dann fallen für die Möwen Fischreste ab, da bereits der Fang an Bord sortiert wurde. Es waren wieder malende Künstler auf der Brookbrücke, die die Abendstimmung des Hafens auffangen wollten. Wir passierten die Kehrwiederstrasse und sahen gegenüber liegend die Konstanze. Kapitän Broder hatte eine Bordwache eingesetzt, da das Schiff beladen und reisefertig war. Zwei Matrosen gingen an Deck auf und ab. Die Bastionen Georgius und Hermannus, die den Abschluss der Kehrwiederspitze bildeten, waren heute von Soldaten der Stadtwache besetzt. Sie patrouillierten auf dem Wall und beobachteten die Elbe. Hinrich fragte einen Soldaten warum die Wachen verstärkt wurden.

„Es rücken große dänische Verbände auf Altona zu!“, antwortete der Wachsoldat. Josephine erschrak lauthals: „Was bedeutet das?“

„Machen sie sich keine Sorgen, junge Frau. Das will nicht unbedingt etwas bedeuten. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, dass wir hier den Wall verstärken“, ergänzte der Soldat. Wir gingen über den Holzdamm zum Blockhaus. Viele Neugierige drängten sich auf der Aussichtsplattform und blockierten so die Tische. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir einen Tisch ergattern konnten. Eine nachdenkliche Stimmung unter uns veranlasste mich, zügig einen Krug Wein zu bestellen. Aus dem Inneren des Blockhauses ertönte Musik und die Leute erinnerten sich daran, warum sie her gekommen waren. Konstanze erklärte Jacob das gelegentliche Säbelrasseln des dänischen Königs. Er war als Franzose mit den regionalen Problemen nicht so sehr vertraut. Dann aber besannen wir uns auf den Abschied, da wir morgen losfahren und tranken unseren Wein. Jacob erzählte von den Gasthäusern in La Rochelle. Dabei wurde deutlich, dass die beiden Hafenstädte viel gemeinsam hatten. Beide Städte brachten es durch Handel und Seeschifffahrt im Mittelalter zu Wohlstand und beide Städte pflegten alte Traditionen und Handelsbräuche. Erster französischer Hafen des Kolonialverkehrs war Le Havre an der Seine Mündung. Seine Nähe zu Paris und des direkten Transportweges der Seine, machen den Hafen von Le Havre zum Zentrum des Warenumschlages. La Rochelle besetzte da nur ein paar Nischen. Hamburg war für die Deutschen der wichtigste Hafen, selbst für Preußen im Überseehandel. Nachdem wir die Heimatstädte verglichen hatten, gingen wir ins Innere des Blockhauses zum Tanz. Josephine traf ein paar Freunde im Blockhaus, wie so oft, wenn wir mit ihr unterwegs waren. Sie verabschiedete sich aber früh aus unserer Runde und Jacob wurde auch plötzlich sehr müde. Hinrich, Konstanze, Lisa und ich blieben noch bis in die Nacht. Das Lokal schloss und wir machten uns auf den Heimweg. An der Brookbrücke trennten wir uns von Hinrich und Konstanze. Lisa und ich gingen zum Schaarmarkt. Lisa war traurig und wir standen noch 1 Stunde eng umschlungen vor ihrer Haustür. Ich wäre heute Nacht gerne bei ihr geblieben. Also blieb ich mit ihr vor der Tür stehen, bis die Vögel piepten und uns daran erinnerte, dass der neue Tag keinen Aufschub duldete. Die Folgen des Weins schlugen um in Müdigkeit. Es wurde Zeit für mich zu gehen. Lisa ließ mich schweren Herzens gehen. Die große Verabschiedung ist schon in 5 Stunden im Hafen. Lisa wollte um 9.00 Uhr am Schiff sein.

Nach einer sehr kurzen Nacht fand ich mich eine Stunde vor Abfahrt zum Frühstück ein. Es waren alle, außer Josephine und Jacob, anwesend. Sie waren nicht zum Schlafen zuhause gewesen! Meine Mutter sagte dies in einem verärgerten Ton. In dem Moment kamen die Beiden zur Tür herein.

„Josephine, wo warst du gewesen?“, schoss es aus Mutter raus.

„Wir waren nicht müde, Mutter und deshalb sind wir spazieren gegangen.“

Darauf viel Mutter nichts mehr ein und wir anderen hielten uns da besser heraus. Josephine huschte geschwind in ihre Kammer, während Jacob es sich am Tisch gemütlich machte. Er aß in aller Ruhe und sagte kein Wort. Was sollte er auch schon sagen. Tante Nathalie sprach ihn auf Französisch an, schnellsprechend und tuschelnd habe ich davon kein Wort verstanden. Vater und Onkel Clemens machten ein verkniffenes Gesicht. Überdies glaube ich nicht, dass sie vom Spaziergang der Beiden begeistert waren. Ich verließ vorzeitig den Tisch, um die letzten Sachen einzupacken. Tante Nathalie und Onkel Clemens wollten erst heute Mittag fahren, so dass wir nicht alle auf einmal abreisten. Wir sprachen über den letzten Abend und über die Stadtwachen, die verstärkt gestern auftraten. Am Morgen hatte sich die Lage aber wieder entspannt. Josephine gesellte sich zu uns, sie hatte sich ein wenig hergerichtet und umgezogen. Jacob hatte die Prozedur in 5 Minuten erledigt. Das Personal fuhr die Kutschen vor und die Seesäcke wurden verstaut. Wir verabschiedeten uns von Maria und den anderen und die ganze Familie bestieg die Kutschen. Ich schaute mir die Katharinenstraße noch mal ganz genau an. Das war meine Heimat, dachte ich, die reich verzierten holländischen Hausgiebel der Kaufmannshäuser mit den vielen Böden und Speichern, werden in meiner Erinnerung haften bleiben. Daran werde ich mich, was auch geschieht, ewig erinnern.

Josephine war anzumerken, dass sie ziemlich übernächtigt war und sich zusammen nehmen musste. Einen Teil von ihr, hatte sie zuhause gelassen. Sie erfüllte ihre Kock`sche Pflicht, wie es von ihr erwartet wurde. Meine Schwester wäre im Bett besser aufgehoben gewesen. Sie hatte vor unserem Abschiedsmahl stundenlang in der Küche gestanden. Onkel Clemens sprach mit Jacob über deren Rückkehr nach La Rochelle.

„Am Ende des Oktobers fährt turnusgemäß unser Schiff nach Hamburg. Auf der Rückfahrt nachhause solltest du möglichst an Bord sein. Wenn der Winter früh herein bricht, ist es das letzte Schiff in diesem Jahr, welches dich nach La Rochelle heimbringen würde. Zur Geburt im Dezember möchten wir dich auf jeden Fall dabei haben!“, sagte er und Jacob erwiderte:

„Dann ist es mir hier in nördlichen Breiten auch viel zu kalt, obwohl ich mich in Hamburg ziemlich wohl fühle!“

Dabei schaute er flüchtig zu Josephine, die ihm genau zugehört hatte. Zum ersten Mal wirkte Jacob nervös. Der fehlende Schlaf schadete seiner umgänglichen Art aber nicht. Ich spürte in mir auch eine gewisse Unruhe. Schließlich würden Jacobs und mein Leben in einer Stunde ganz anders sein. Mit Spannung erwarteten wir, ob die Kunst des Navigierens bald von uns beherrscht werden wird. Es kam immer mal vor, dass Walfänger ohne Fang nachhause fahren mussten. Hoffentlich blieb uns diese Schmach erspart. Da wäre auch die verkürzte Reisezeit kein Trost für mich, obgleich die Walfischer im März fahren. Die Verzögerung beim Bau der Konstanze ließ eine Abfahrt im Frühjahr nicht zu. Das sollte insgesamt nicht darüber hinweg täuschen, dass wir in erster Linie Kaufleute waren und dort auch unsere Zukunft sahen. Der Besuch der Navigationsschule sollte trotzdem nicht umsonst gewesen sein und diesen Anspruch stellten Hinrich, Jacob und ich gleichermaßen.

Mein Vater fing an, sich von unserer Unruhe anstecken zu lassen. Er kratzte sich ununterbrochen am grauen Bart und seine Füße wollten nicht still stehen. Er grübelte offensichtlich über die Frage nach: Sind alle wichtigen Dinge an Bord? Habe ich etwas vergessen? Mein Vater war schon immer ein offenes Buch, trotz seines erstaunlichen Verhandlungsgeschicks mit Geschäftspartnern. Die Kutschen erreichten den Hafen. Die Fuhrwerke der Kaufleute sorgten am Neuen Kran wieder für Gedränge. Wir mussten daran vorbei, um zu unserem Liegeplatz zu kommen. Onkel Clemens stieg aus und veranlasste die Fuhrleute, die Strasse zumindest durchgängig zu machen. Er wusste genau, wie man sich mit diesem Menschenschlag arrangiert. Wir konnten unsere Fahrt fortsetzen. Hinrich schaute ein wenig wehmütig auf die Elbe. Er hatte die ganze Vorarbeit auf der Schiffswerft geleistet und meinen Vater konsequent vertreten, wenn es notwendig wurde. Einige Details an Bord waren ohne Zweifel seine Ideen, die zu Verbesserungen am Schiff führten. Der Erfolg der Reise, wird auch sein Erfolg sein.

Das Schicksal berief mich zur ersten Fahrt der Konstanze. Ich werde mich sehr anstrengen müssen, der gründlichen Arbeitsweise meines Bruders entsprechen zu können. „Caspar locker“ haben Hinrich und Josephine früher zu mir gesagt, nur weil sie Rechte erkämpfen mussten, die ich später als selbstverständlich angenommen hatte. An Motivation wird es mir nicht fehlen. Der Walfänger Konstanze war in Sichtweite. Ich sah Lisa und freute mich sie noch einmal zu sehen. Vor dem Schiff und auf dem Schiff tummelten sich viele Menschen. Wir stiegen aus der Kutsche und ich wühlte mich zu Lisa durch. Das Schiff wurde noch mit frischem Proviant beladen, während die Mannschaft der Konstanze sich von ihren Angehörigen verabschiedete. Meine Freundin und zukünftige Verlobte wartete mit ihrem Bruder Frans auf mich. Wir begrüßten uns herzlich und Lisa übergab mir ein Geschenk. Es war ein schwerer Korb, den Frans für Lisa hierher getragen hatte. Ich riskierte einen Blick und fand eine große Menge Leckereien vor. Es waren überwiegend haltbare Lebensmittel, aber auch frische Sachen waren dabei. Lisa hatte den Krämerladen ihrer Eltern geplündert, damit ich nicht verhungere.

„Wenn ich den Korb mit dem Kran an Bord hüsere, geht das Schiff unter!“, behauptete ich und Lisa und Frans mussten lachen. Ich bedankte mich bei Frans, aber besonders bei Lisa-natürlich!

„Alles Gute, Caspar! Geh` nicht unter und komme bitte spätestens zu deinem Verlobungsessen!“, sagte Frans grinsend.

„Wir werden unbedingt extra für dich und deinem Bruder Klaus 2 Fässer Bier und 1 Ochsen mehr bestellen, dann fällt dir gar nicht auf, wenn ich nicht anwesend sein sollte.“

Frans verabschiedete sich, um zum Schaarmarkt zurück zu gehen. Er wollte nicht wie ein Trottel daneben stehen, wenn der Abschied nahte. Wir hatten eigentlich alles gesagt und wollten uns jetzt nur noch spüren. Umschlungen blendeten wir unsere Umwelt aus und verharrten für eine Weile in harmonischer Zweisamkeit.

Sodann verschaffte sich Kapitän Broder Gehör und sagte mit heiserer Stimme:

„In 5 Minuten ist Abfahrt!“

Die Beladung der Konstanze war abgeschlossen. Lisa und ich gingen zu den Kocks. Meine Sachen waren schon an Bord. Die Möwen umkreisten schreiend den Dreimaster. Wir verabschiedeten uns voneinander und es flossen ein paar Tränen. Zweisprachig redeten wir auf den Bauch von Tante Nathalie ein, in der Hoffnung das baldige Geschwisterchen könnte einen Bruchteil der guten Wünsche unsererseits verstehen. Jacob gab das Versprechen ab, zur Geburt in La Rochelle zu sein. Ein letzter Kuss für Lisa. Wir gingen an Bord. Mein Vater trug mir meine Zeitung, den Hamburger Korrespondenten hinterher. Ich ließ die Zeitung in der Kutsche zurück. Ob ich überhaupt zum Lesen kommen werde? Noch weitere 3 Bücher erschwerten mein Gepäck und ein ganz besonderes Buch eines französischen Philosophen erhielt ich von meinem Onkel noch zusätzlich. Montesquieu, den Namen hatte ich noch nie gehört.

>>Adieu Hamburg!<<

Wir nahmen die gestrigen Positionen wieder ein und so musste ich auf den Großmast klettern. Jacob stand beim 1. Steuermann und konnte zur Abfahrt alle von der Wichtigkeit seiner Funktion überzeugen. Die Anker wurden gelichtet und die dicken Taue oder auch Enden genannt, von den Pollern des Hafenrands gelöst. Die Konstanze kam langsam in Bewegung. Sie wurde durch den inzwischen viel zu klein gewordenen Hafen bugsiert. Von der Rah-Querstange des Großmastes, sah ich über die Dächer der Stadt hinweg und konnte den nördlichen Wall mit seinen Bastionen und Teile der aufgestauten Alster sehen. Es war ein grandioser Anblick. Nun war der Augenblick gekommen, wo ich die Welt aus einer anderen Perspektive sehen durfte. Meine Familie wurde immer kleiner. Die Frauen schnieften und winkten mit Taschentüchern. Ich trau` mich zu sagen, dass es ein schöner Abschied war. Wir gelangten zum Ausgang des Hafens, zum Niederbaum. Hier stieg der Lotse ein, der uns sicher die Unterelbe herunter bringen sollte. Kock & Konsorten hatte allerdings das Recht erworben, nicht in jedem Fall einen Lotsen auf der Elbe beanspruchen zu müssen. Die Hamburger Lotsen waren seit 1745 als Lotsenbrüderschaft organisiert und zwar mit dem Ziel, die Elbeschifffahrt sicherer zu machen. Es gab viele Untiefen und andere Risiken, die es galt unschädlich zu machen. Die Lotsenvereinigung wurde der Hamburger Admiralität unterstellt und so fuhr auf fast jedem Schiff ein Lotse mit. Natürlich war diese Leistung nicht umsonst. Die Gewissheit der sicheren Ankunft kostete für jedermann Geld. Von der Plattform des Blockhauses winkten die Menschen uns zu. Wie oft haben Lisa und ich da gestanden und den ein- und auslaufenden Schiffen zugeschaut. Auf der Elbe setzten wir die restlichen Segel. Der Fluss wurde jetzt immer breiter und Hamburg im Rücken wurde immer kleiner. Der Wind von Nord-West kam mäßig, bei durchwachsendem Wetter. Wir fuhren hinaus in die Welt.

Bis dahin, einer der spannendsten Momente in meinem Leben.


Abbildung 2

CASPAR IM FAHRWASSER DER GESCHICHTE

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