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Blutmagie

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Als sich Dunkelheit über die Stadt senkte, stand Will aus seinem Bett auf und machte sich bereit, pünktlich zum Treffen mit Drágos zu erscheinen. Ihm ging es nicht gut. Er hatte kaum geschlafen. Immer wieder musste er an den Vampir denken. Hatte er sich das alles nur eingebildet oder gab es tatsächlich eine Vampirgemeinschaft? Und wenn dies stimmte, was gab es dann noch für geheime dunkle Kräfte?

Er war eine Stunde vor dem vereinbarten Zeitpunkt im Club erschienen – in der Hoffnung, vielleicht Lily anzutreffen. Aber weder sie noch Drágos konnte er auf Anhieb finden.

Nachdem er sich an der Bar erfolglos umgesehen hatte, schaute er in den Cyber-Rooms im Eingangsbereich nach. Cyberkinos waren mittlerweile recht selten geworden, nachdem portable ›Sensory-Stimulations‹ (kurz: ›Sens-Stims‹), also digitale Sinnes-Stimulatoren, verbilligt auf den Markt geworfen wurden und dasselbe Erlebnis wie das klassische Cyber-Kino boten. Nur eben, dass diese ›Sens-Stims‹ mobile Konsolen zur Simulation von Sinnesreizen waren, eingefangen per auffrisierter oder künstlicher Sinnesorgane von den aktuellen ›Sens-Stim-Stars‹.

Die kleinen Kinosäle, die er jetzt nach und nach inspizierte, waren kaum belegt. Nur drei bis vier Personen pro Saal saßen in komfortablen Kinosesseln – angeschlossen an E-Troden. Aber keine Spur von Lily.

Ernüchtert machte sich Will wieder auf den Weg zurück zur Bar. Eine Welle adrenalin- und alkoholgeschwängerter Luft schwappte ihm entgegen, als er den Saal erneut betrat. Auch diesmal war er weder voll noch leer.

Plötzlich hatte er eine bizarre Idee: Aufgrund der Überdosis und dem daraus resultierenden explodierenden Geruchssinn wollte er Lilys Geruch aus den anderen Gerüchen erkennen und sich dann vornehmen, dieser Geruchsspur zu folgen. Es war nicht direkt eine Idee, es war vielmehr ein Instinkt. Er wunderte sich selbst über die Primitivität seiner Gedanken, wenngleich eine gewisse Genialität darin lag. Nach gelungener Kontemplation in seinen Geruchsinn konnte er Dutzende verschiedener Gerüche wahrnehmen und präzise unterscheiden. Je nach chemischer Zusammensetzung hat jeder Geruch eine andere Geschichte zu erzählen. Er kam an einem sich eng umschlungenen, glücklich aussehenden jungen Paar vorbei. In seine Lunge aufgenommene Moleküle von Reiswein und Jadeparfüm vermischt mit dem Geruch nach Endorphinen und Pheromonen suggerierten ihm Bilder eines kitschigen Heiratsantrags in einem China-Restaurant.

Dann, endlich, vernahm er einen verdächtigen Geruch. Hastig schaute er sich um, folgte der Geruchsspur durch die tanzende Menge bis zur anderen Seite der Tanzfläche, die von zwei aneinandergrenzenden Spiegelwänden umrahmt war. Und dann entdeckte er sie in einer der verspiegelten Nischen. Sie verging sich an einem jungen, in schwarzer Lederjacke und Jeans gekleideten ›Greaser‹ mit gegelter Elvis-Frisur. Sie hatte dem Jungen in den Hals gebissen und sog jetzt voll ruhiger Inbrunst daran. Will schlich an das andere Ende der Nische auf die rechte Seite und wandte ihnen den Rücken zu, um sie so unauffälliger im Spiegelbild beobachten zu können. Sein Blick ging glatt durch die Reflexion des Wesens hindurch, das wie Lily aussah, genau in dessen Antlitz, das vom gegenüberliegenden Spiegel geworfen wurde. Ihre Blicke trafen sich, die sich nun durch die zwei Spiegel unendlich brachen: Ein Spiegel im Spiegel.

Dann ließ das Wesen ab vom jungen ›Greaser‹ und fletschte seine bluttriefenden Zähne zu einem Grinsen. Angewidert stolperte Will zum nächsten WC.

»Hey Mann, alles in Ordnung? Du siehst echt nicht gut aus«, sagte ein in zerrissene Jeans und Fellweste gekleideter ›Schamane‹, während Will mit blassem Gesicht den Toiletten-Bereich verließ. Wie erhofft, stand Drágos an derselben Stelle wie am Vorabend.

»Was hast du denn gesehen? Ein Gespenst? Oder etwa dein Mädchen? Ich kann dir nur abraten, sie vor Beendigung deines Auftrags zu treffen.«

»Wieso? Hast du etwa Angst, ich würde das Abkommen brechen?«

»Nein. Aus einem ganz anderen Grund: Wenn du den Auftrag schaffst, gewährt der Baron dir vielleicht ein Privileg, das nur sehr wenige erhalten. Er würde dich in einen Vampir verwandeln, wenn du es willst. In diesem Zustand ist es nämlich viel erträglicher, deine Lily oder irgendein anderes geliebtes Opfer zu ertragen.«

»Also kann ich jetzt zu ihm?«

»Ja. Doch zuvor noch ein Tipp: Stell ihm nicht zu viele Bedingungen. Seine Geduld ist begrenzt.«

Draußen, in der Nähe des Clubausgangs, wartete eine große dunkle Limousine auf sie.

In Drei-Sekunden-Intervallen ergoss sich das Licht der Straßenleuchten durch das Panoramadach der Limousine, während sie sich auf der Schnellstraße in Richtung Downtown bewegte. Will saß im Fonds der Limousine Drágos gegenüber, über dessen Gesicht abwechselnd das Straßenlicht und die Schatten glitten und dadurch noch unheimlicher wirkte.

Will erinnerte sich zaghaft an den Besuch eines Grusel-Panoptikums in seiner frühen Kindheit.

»Wie gesagt, du darfst dein Wissen über unsere Existenz niemandem anvertrauen.«

»Und wie kommt es, dass ›DNA-Network‹ mit dem Wissen um eure Existenz nicht an die Öffentlichkeit geht?«

»Was denkst du wohl, was passiert, wenn die Weltöffentlichkeit von unserer Existenz erfährt? Es würde zu einer Massenhysterie kommen. Außerdem ist ›DNA-Network‹ sehr an den Exklusivrechten der Patente interessiert, die aus den Vampir-Experimenten resultieren.

Hinzu kommt, dass unsere Spezies infolge dieser diplomatischen Verwicklung die Vampir-Entführung melden. Unsere liberale Gesellschaft würde die Entführung eines Vampirs nicht tolerieren und ›DNA-Network‹ wäre gezwungen, klein beizugeben. Deswegen möchte die Firma den Status quo des Nichtwissens unbedingt weiter aufrechterhalten.«

Will dachte darüber einige Minuten lang nach. Die Limousine nahm die Abfahrt von der Schnellstraße und bog wenig später in eine Hauptstraße mit kleinen Geschäften ein. Will beobachtete einige Passanten, die vor den immer noch geöffneten und hell beleuchteten Läden flanierten, angetrieben vom Konsumtrieb – wie Gras, das im Wind weht. Er beneidete sie um ihre Unwissenheit, ihre Unschuld. Sie wussten nichts von dieser geheimen und dunklen Welt der Mythen.

»Ich habe ein Problem. ›DNA-Network‹ verlangt von mir eine psychologische Untersuchung und eine Blutprobe wegen Verdachts auf Drogenkonsum.«

»Diese Möglichkeit haben wir schon in Betracht gezogen und denken, dass du mit dem dafür zuständigen Arzt Dr. Singh sehr gut zurechtkommen wirst. Vereinbare mit ihm ein Geschäft. Nach unseren Informationen ist dieser Doktor weiblich und dein gegenwärtiger labiler psychischer Zustand dürfte dir eindeutige Vorteile einbringen.«

Will blickte ihn mit einem Ausdruck von Verständnislosigkeit an.

»Oh Mann, dir geht es noch schlimmer, als ich dachte. Wenn du es schaffst, sie in die Kiste zu bekommen, fällt der Bluttest weg. Kapiert? Davon hängt alles weitere ab.«

Beleidigt schaute Will nach draußen. Worauf hatte er sich nur eingelassen? Er war kein Gigolo, verdammt!

»Und da ist noch etwas: Dein Speichel ist aphrodisierend. Hängt mit deinen Eigenschaften als Guhl zusammen. Du musst sie also nur dazu bringen, dich zu küssen. Dann ist sie dir wenigstens für ein paar Tage willig, was deinem Körper wertvolle Zeit verschafft, die verdächtigen Stoffe im Blut abzubauen.«

Will hörte, was Drágos sagte, doch wirkte alles so unwirklich. Er schaute aus dem Wagen und entdeckte an einigen Passanten eine grün, gelb oder rot beleuchtete Akkuladeanzeige im Brustbereich. Wegen der neuerlichen Hitzewelle trugen viele von ihnen Klimaanzüge. Ein Junge in kurzen braunen Shorts und grünem T-Shirt verkaufte Hot-Dogs an einem mobilen Stand. Mitten in der Nacht!

»Ich habe noch eine andere Frage. Kann man als Ghul die Zukunft voraussehen?«

Drágos‘ anfänglich überraschter Gesichtsausdruck wurde nachdenklich. Er stöhnte leise, als hätte Will in ihm etwas Verborgenes und Schmerzhaftes geweckt und soeben zu Tage gefördert. »Du hast also so etwas wie Visionen gehabt?«

Will nickte. Er erzählte ihm von dem Vorfall am Bahnsteig.

»Hm. Hast du ein gutes Gedächtnis oder hast du es während deines Studiums oft benutzt?«

Ein zögerndes Nicken.

»Du erinnerst mich daran, wie ich in jungen Jahren war. Damals machte ich ähnliche Erfahrungen. Es gibt verschiedene Hypothesen über dieses Thema. Eine besagt, dass diese Fähigkeit aus der erhöhten Sinnesschärfe, die du durch mein Blut erhalten hast, und aus einem durchtrainierten und stupendem Gedächtnis resultiert. Diese Meinung hat zumindest Dr. Eckhardt.«

Will machte ein ratloses Gesicht.

»Ein führender Vampir in der ›Wissenschaft des Blutes‹ und Kopf der Blut-Gilde. Vielleicht wirst du ihn eines Tages treffen.«

Die Häuser auf beiden Straßenseiten wurden höher. Bald würden sie Downtown erreichen.

Die Limousine parkte vor einem Hochhaus, dessen Glasfassade vom Vollmond hell beleuchtet wurde. Sie stiegen aus, überquerten den Gehsteig und betraten den Eingang des Gebäudes. Sie gingen an einer Rezeption mit einem Wachmann vorbei, die gut zehn Meter vom Eingang entfernt mitten im Eingangsbereich stand. Rechts und links davon führten je eine breite geschwungene Treppe mit fünf Stufen zum Aufzugsbereich hinter der Rezeption.

Alles war in schwarzem Marmor gehalten. Beeindruckend!

»Hallo Troy! Mr. Lazar erwartet uns. Wir haben heute Abend einen geschäftlichen Termin bei ihm.«

»Ich bin informiert. Haben Sie einen Schlüssel?«

Drágos hielt ihm einen kleinen Schlüssel entgegen.

»Okay. Gehen Sie doch bitte durch. Ich benachrichtige Mr. Lazar über Ihre Ankunft.«

Sie stiegen die rechte Treppe hinauf und betraten den Aufzugsbereich mit je drei Fahrstühlen auf beiden Seiten.

Will stutzte. »Ist der Wachmann auch …?«

»Nein. Ein zur Firma gehöriger, nicht eingeweihter Wachdienst ist billiger. Außerdem vermindert es das Risiko, dass die Wachleute ihr Wissen weitergeben. Wer nichts weiß, kann nichts verraten. Und wenn sie Vampire wären, müssten sie trotzdem tagsüber wachen, was sie aber bekanntermaßen nicht können.«

Dragos drückte auf den Knopf eines Fahrstuhls.

»Wieso stellt ihr keine Guhle zur Bewachung ein?« Die Fahrstuhltür glitt auf und sie betraten den Lift.

»Daran hat Lazar tatsächlich auch schon gedacht, wenn man den Gerüchten Glauben schenkt. Aber es ist wohl zu risikoreich.

In ihrem Blut könnten die staatlichen Drogenkontrollen die Vampirsubstanzen finden.« Will erinnerte sich, was er über das von einem Wachmann verübte Massaker von Philadelphia in der Geschichtsstunde gehört hatte. Viele Firmen hatten ihren Wachleuten zu Beginn der Wirtschaftskrise sinnerweiternde Drogen und Aufputschmittel gegeben. Lückenlose Sicherheit war wichtig in diesen Tagen, als alles den Bach runterging. Doch es kam vermehrt zu Psychosen und Paranoia sowie Gewalttaten im Rausch, weshalb die staatlichen Drogenkontrollen eingeführt wurden.

Drágos steckte den kleinen Schlüssel in ein Schloss, das sich am Bedienungsterminal des Fahrstuhls befand, drehte ihn um und drückte auf den Knopf für den achtzigsten Stock. Die Tür glitt zu und der Express-Aufzug schoss in Richtung Himmel, während Wills Herz in die Hose rutschte. Er hatte keine körperliche Angst vor der Begegnung mit dem Baron, dennoch machte sich ein beklemmendes Gefühl in seinem Magen breit. Lily hätte gesagt, es seien irgendwelche ›postmodernen Existenzängste‹. Sie hatte oft in diversen Kunst- und Philosophiebüchern gelesen, mit denen Will aber nicht viel anfangen konnte, denn schließlich hatte er sich auf sein naturwissenschaftliches Studium konzentriert und ihr die musischen überlassen. Außerdem war er der Meinung, dass man selbst solche Erfahrungen machen müsste, die nur in abstrakter Form in ihren Büchern standen.

Will wusste nicht so recht, wie er dem Baron gegenübertreten sollte und wurde immer nervöser. Seine Anspannung wuchs mit jedem Meter, den sich der Fahrstuhl dem Penthouse näherte. Fieberhaft versuchte er, seine Gedanken zu sortieren. Neben einem leisen Summen des Motors und der Klimaanlage hörte Will gelegentlich ein störendes Schmatzen. Er lugte vorsichtig zur Seite und sah Drágos in bestimmten Abständen seine langen Eckzähne blecken. Ihm wurde mulmig zumute, während er ihn so beobachtete, und richtete seinen Blick wieder auf die Fahrstuhltür, fragte sich jedoch, ob diese Eigenart generell bei Vampiren aufgrund der spezifischen Anatomie der Fall war oder nur eine schlechte Angewohnheit seines neuen Bekannten. Mit einem leisen Pling stoppte der Fahrstuhl schließlich und die Tür glitt mit einem digitalen Signalton auf.

»Folge mir einfach.« Drágos verließ den Aufzug, als wäre es eine Selbstverständlichkeit.

Will folgte ihm zögernd und trat in einen gedämpft beleuchteten Flur, der nach beiden Seiten gut zwölf Meter lang war. Zum Teil mit Antiquitäten, zum anderen mit hochmoderner Technik eingerichtet, verwirrte er selbst Wills Geschmack und Sinn für Ästhetik. Sie gingen nach rechts und kamen an einer aus dem achtzehnten Jahrhundert stammenden und mit Ornamenten versehenen kleinen Kommode vorbei, auf der eine ultramoderne Uhr stand, deren Design und Zifferblatt ein bekannter zeitgenössischer Künstler erschaffen hatte. Will erinnerte sich an den Künstler durch einen seiner Besuche mit Lily in den Galerien der Stadt, konnte aber mit seinen Werken nichts anfangen, ganz im Gegensatz zu Lily. Für das dämmerige Licht waren graue quadratische, fünfzig mal fünfzig Zentimeter große flache Lampenschirme aus Glas verantwortlich, in deren konvexen Mitte gedimmte LEDs steckten. Die Rokoko-Tapete bestand, wie Will vermutete, gänzlich aus Seide und zeigte feudale Muster und Schnörkel.

Sie kamen an einer offenen Tür aus duftendem Mahagoniholz vorbei, die eine Gruppe aus drei Männern mittleren Alters preisgab, die vor einem großen Flachbildschirm saßen, der an der linken Wand befestigt war. Sie trugen Schulterhalfter, in denen Pistolen steckten. Sprachfetzen eines News-Berichts drangen zu Will durch. Der Nachrichtensprecher berichtete über die Ankunft eines Sarkophags im Hafen von L.A. und über ein blutiges Gemetzel auf dessen Frachter. Will erinnerte sich an einen Radiobericht, den er am Abend gehört hatte: Es herrschte Unklarheit über die Zuständigkeit dieses Falles, da man nicht wusste, ob dieses Gemetzel auf hoher See oder im kalifornischen Hoheitsgewässer stattgefunden hatte. Aber es waren noch nicht einmal Leichen entdeckt worden. Die Besatzung war spurlos verschwunden. Nur die blutigen Spuren erbitterter Kämpfe waren die stummen Zeugen eines Geschehens, über dessen Urheber und Motive die Polizei wie immer im Dunkeln tappte. Will konnte sich an die Berichte über den Sensationsfund des mehrere tausend Jahre alten Sarkophags in China erinnern, die seit einigen Wochen im Fernsehen liefen.

Einer der Männer schaute zur offenen Tür Richtung Will. Seine Augen wirkten tot und gleichzeitig glühten sie lebendig in einem leuchtenden Rot.

»Die Leibgarde seiner Majestät«, erklärte Drágos.

Schließlich hielten sie an einer massiven weißen Doppeltür aus Holz. Will wusste nicht, ob es an seinen neuen Fähigkeiten lag, aber er konnte eine starke Präsenz, eine mächtige Entität hinter dieser Tür spüren.

»Okay, da wären wir. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe. Lass mich das Gespräch mit ihm beginnen und verbeuge dich gleich zu Anfang, denn du bist bereits eingeweiht und kennst seine wahre Identität. Und noch was: Reiz ihn besser nicht zu sehr.« Drágos klopfte an die schwere Tür, die gleich darauf von einem Diener geöffnet wurde.

Will sah einen großen, mit Kerzen beleuchteten Empfangsraum. Was für die Inneneinrichtung des Flurs galt, traf auch hier zu. In dem riesigen Salon vermischten sich barocke mit modernen Elementen. Ein gewaltiger Kronleuchter hing in der Mitte des Raumes von der offensichtlich handbemalten Decke herab. Will konnte im Kerzenschein die in Ölfarbe konservierten Szenen über ihm nicht erkennen, nur undeutlich Figuren ausmachen, doch das Deckengemälde erinnerte ihn an die berühmte Freskenmalerei Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. Auch hierüber hatte Lily ein Buch. Sein Blick wanderte wieder nach unten. Einige alte und kunstvolle Stühle standen an der hellen Wand, die ebenfalls seidig glänzte. Will und Drágos näherten sich einem Schreibtisch, der am anderen Ende der Halle stand und hinter dem jemand saß.

Als sie die Hälfte des Raumes erreichten, erkannte Will einen Holographic-Monitor auf dem Schreibtisch. Nur noch wenige Meter trennten ihn von der Person hinter dem Schreibtisch. Was Will ab dem Moment, als er den Raum betrat, unbewusst verspürt hatte, nahm er jetzt bewusst wahr: Je näher er kam, desto ruhiger wurde er. Als wäre er im Auge eines Tornados. Durch den Schein der Schreibtischlampe konnte Will mittlerweile deutlich die Gesichtszüge der Person erkennen. Es war irgendwie das, was er erwartet hatte: ein älteres Gesicht mit strengen versteinerten Zügen. So als hätten sich die unzähligen kompromiss- und gnadenlosen Geschäftstaktiken über die Jahrhunderte auf dieses Gesicht übertragen. Andererseits mussten diese strengen Konturen schon dagewesen sein, bevor dieser Lazar zum Vampir wurde. Schließlich bewirkt das Vampir-Gen, dass der Träger nicht altert und gewisse typische, ihm eigene Züge beibehält. Er hatte stechende rotschimmernde Augen, kurzgeschorene dunkle Haare mit grauen Schläfen und trug einen dunklen Business-Anzug mit schwarzer Krawatte.

Sie hatten den Schreibtisch erreicht. »Majestät«, Drágos verbeugte sich, »hier ist Ihre Kontaktperson. Will Compton im Entführungsfall Tevot.«

Zögernd verbeugte sich auch Will. Er wunderte sich über sich selbst, denn neben Wut und Hass kam in ihm auch ein Gefühl der Unterwürfigkeit auf, das er so nicht kannte. Als er wieder aufschaute, registrierte er ein merkwürdiges Zusammenspiel von Verstand, Leidenschaft und Schmerz in den glühenden Augen seines Gegenübers.

»Ich heiße dich in meinem bescheidenen Reich willkommen. Deine Fahrt hierhin war hoffentlich angenehm. Wie ich von Drágos gehört habe, bist du also schon über uns aufgeklärt worden. Es muss sehr befremdlich, verwirrend und mitunter auch bedrohlich für dich sein. Aber lass dir versichern, dass dir nichts geschieht, solange du die Regeln befolgst.« Während Lazar die letzten Worte sprach, änderte sich der Tonfall seiner ansonsten dunklen Stimme eine Oktave nach oben.

»Wie auch Lily sie befolgt hat?« Wills Stimme bebte vor Wut.

»Was mit ihr geschehen ist, war höchst bedauerlich. Einer der Vampire, die euch beschattet haben, konnte seinen Appetit nicht zügeln. Ich habe ihn schon zurechtgewiesen und hoffe, dass dir dieser Umstand eine gewisse Genugtuung bereitet.«

»Sie ist ein Vampir! Selbst wenn auch ich einmal zu euch gehören sollte, ob als Guhl oder Vampir, werden Lily und ich nie mehr dasselbe empfinden wie vor ihrer Verwandlung.«

»Wenn du irgendwann zu unserer Gesellschaft gehörst, wirst du es verstehen.«

»Nein, dazu wird es wohl nie kommen.« Wills verachtender Tonfall war nicht zu überhören.

»Majestät, ich denke, dass er seine Meinung ändern wird. Spätestens, wenn er versteht, dass die Mitgliedschaft ein Privileg für ihn bedeutet«, griff Drágos beschwichtigend ein.

»Zumindest will er seine kleine Freundin wiedersehen. Oder, Will? Sonst wärst du wohl nicht hier«, gab Lazar zurück.

Auch ohne dessen Einwand wusste Will um den Wert Lilys. In diesem Augenblick erkannte er die Sehnsucht nach ihr, dessen Tiefe er niemals zuvor so verspürt hatte. Trotzdem konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch seine Unterwürfigkeit war, die diesen Einwand ins Schwarze treffen ließ.

»Nun, wie du sicher schon gehört hast, ist ein ehrenhaftes Mitglied unserer Gesellschaft, Tevot ist sein Name, von dem Biotechnologie-Konzern ›DNA-Network‹ entführt worden. Er wird hier in der Stadt in einer Forschungs-Arkologie im Hochsicherheitstrakt zu Versuchszwecken festgehalten. Jegliche Versuche, an ihn heranzukommen, sind bereits unter Verlusten auf beiden Seiten gescheitert. Deshalb scheint uns die Rekrutierung eines Mitarbeiters dieses zweifelhaften Konzerns sinnvoll …«

»Ich glaube, dafür bin ich der falsche Mann. Ich bin nur ein Student. Außerdem wird der Konzern Jagd auf mich machen.«

»Beides stellt für uns kein Problem dar. Unser Verbindungsmann hat uns mitgeteilt, dass der Konzern mit der unfreiwilligen Hilfe Tevots unter anderem ein Protein herstellen will, das bestimmte positive Eigenschaften besitzt und mit dem menschlichen Körper kompatibel ist. Unsere Blut-Gilde, unter der Leitung des ehrenwerten Professor Eckhardt, hat ein ähnliches Protein mit fast denselben Eigenschaften schon seit längerer Zeit isoliert. Und nun kommst du ins Spiel: Du wirst dich wieder bei DNA-Network zum Studium melden. Dann werden wir dir alle Informationen bezüglich des Proteins geben und nach ein paar Tagen wirst du es als deine Entdeckung beim Konzern melden – unter der Bedingung, dass du fortan in der richtigen Forschungsabteilung, also im Hochsicherheitsbereich arbeiten kannst, womit du Zugang zu Tevot bekommst. Wie es dann weitergeht, besprechen wir, wenn es soweit ist.«

»Wieso gebt ihr denen eure Forschungsergebnisse bezüglich des Proteins nicht einfach im Tausch gegen Tevot?«

»Das haben wir schon versucht. Leider ohne Erfolg. Sie wollen durch Tevot noch weitere Patente erwerben, was wir ihnen natürlich nicht gestatten können.«

»Und was ist mit meiner Sicherheit? Sie werden mich irgendwann aufspüren …«

»Um deine Sicherheit brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Zumindest für die Zeit nach der Ausführung deines Auftrags. Wenn du die Aufgabe erfüllt hast, erhältst du eine völlig neue Identität inklusive neuem Pass. Außerdem werden dir eine Million Dollar als Starthilfe für dein neues Leben auf ein Schweizer Nummernkonto überwiesen. Na, wie klingt das?«

»Hm … Es fällt doch aber auf, wenn ich plötzlich mit einem Vampir-Protein ankomme, an deren Entdeckung namhafte Forscher seit Jahren arbeiten.«

»Dieses Protein besteht sowieso nur aus bekannten und deiner Abteilung zugänglichen Aminosäuren. Du sagst ihnen einfach, dass du dieses Protein aus bekannten Sequenzen rekombiniert hast, um diese positiven Eigenschaften zu erhalten. Natürlich musst du dich auch weiterhin naiv stellen.«

»Bleibt nur noch das Problem, wie ich in diese Abteilung reinkomme …«

»Dafür haben wir schon gesorgt. Der Abteilungsleiter ist seit ein paar Tagen vampirblutabhängig. Er wird dafür sorgen, dass du dort aufgenommen wirst.«

»Wieso benutzt ihr ihn nicht, um an euren Vampir zu kommen?«

»Das hatten wir auch anfangs ernsthaft in Erwägung gezogen. Sein Psycho-Profil prognostiziert aber einen Verrat uns gegenüber. Nun, ich will offen sein: Er wäre nie motiviert genug, den Hochsicherheitsbereich selbst zu infiltrieren.«

Will dachte sofort an Lily. Er schaute nach unten und sein Blick stellte sich auf unendlich.

»Nun, da wir über den Auftrag gesprochen haben, bin ich jetzt neugierig, ob du ihn auch übernehmen wirst.«

Langsam hob Will seinen Blick und schaute in die Augen des Barons. Viel Zeit hatte er nicht, doch er hatte seine Entscheidung getroffen. »Ja, aber ich bin auch aus einem anderen Grund gekommen. Ich will Rache …«

»Nun, deine neue Identität, das viele Geld und deine kleine Freundin sollten eigentlich Lohn genug sein. Findest du nicht auch? Deine Bedingung kann ich schwer erfüllen. Ich werde keinen Vampir töten, der sich durch zahlreiche Gefälligkeiten mir gegenüber einen guten Ruf erworben hat. Andererseits werde ich aber deiner Person nicht gerecht, wenn ich ihn nicht bestrafe. Deshalb bin ich zu dem Schluss gekommen, dass es das Beste ist, wenn ihr die Sache unter euch klärt. Dies macht aber nur Sinn, wenn du einer von uns geworden bist. Andernfalls kannst du den Kampf gegen ihn nie zu deinen Gunsten entscheiden. Das sollte dir klar sein, Junge. Sobald du den Auftrag erledigt hast, werde ich dir seinen Namen nennen. Allerdings kann ich dir versichern – und ich spreche aus Erfahrung –, dass du den Schmerz über ihre Verwandlung vergessen kannst, sobald du ein Mitglied unserer Gesellschaft geworden bist.«

Unentschlossen blickte Will sich in dem großen Saal um und überlegte, obwohl er sich doch eigentlich schon längst entschieden hatte. Er wog die einzelnen Möglichkeiten ab: Entweder den Verrat an seinem Arbeitgeber und den Racheakt verüben, was ihm im Falle eines Erfolgs ein sorgenfreies Leben mit Lily ermöglichte. Oder den Auftrag ablehnen und ohne Lily einsam und in deprimierendem Zustand weiterleben. Diese Entscheidung fiel ihm nicht schwer. Weitaus fragwürdiger war, den Namen des Vampirs, der Lily auf dem Gewissen hatte, durch Erledigung des Auftrags zu erwerben und ihn als Mensch zu jagen.

Intuitiv nickte er: »Also gut, abgemacht. Gebt mir nur seinen Namen, das Geld und den Pass, wenn ich für euch die Sache erledigt habe.«

»Möchtest du einen Drink?« Während der Fahrt zum Nachtclub ›Event Horizon‹ versuchte Drágos, seinen Gast auf die bevorstehenden Ereignisse einzustimmen. Als sie in die Limousine eingestiegen waren, hatte der Ex-Adlige Will angeboten, den berühmt-berüchtigten Nachtclub in Hollywood zu besuchen, und dabei erklärt, dass dieser Nachtclub von einem Vampir geführt würde und deshalb nicht nur bei Menschen angesagt wäre, sondern auch beliebt bei Vampiren war, die aus dem Ausland kamen. Da Will den ›Event Horizon‹ schon immer mal besuchen wollte, aber nie hineingelassen worden war, und er momentan nichts gegen ein bisschen Zerstreuung hatte, nahm er das Angebot an.

Will entschied sich für einen Bourbon on the Rocks. Nachdem Drágos ihm den Drink aus der Wagenbar zubereitet und Will einige Schlucke getrunken hatte, wurde er lockerer und konnte sich ein wenig mehr auf das Wesentliche konzentrieren, sofern es sein psychischer Zustand zuließ. Ihm fiel ein, dass er von Drágos einige Mythen über Vampire bestätigt haben wollte, die er schon früher als Kind gehört hatte. »Stimmt es, dass ihr Angst vor Kruzifixen und Knoblauch habt?«

Drágos schaute ihn mit großen Augen an. Dann pfiff er abwertend durch die Lippen, an denen links und rechts seine Eckzähne blitzen, und machte dabei eine beschwichtigende Handbewegung: »Kruzifixe und Knoblauch sind für uns völlig ungefährlich. Was für uns tatsächlich schädlich ist, kann ich dir aus Gründen der Sicherheit nicht anvertrauen. Das verstehst du sicherlich.«

Will dachte einige Zeit nach. Dann fiel ihm ein, dass er noch nichts über die Vampir-Gesellschaft wusste. »Erzähl mir mehr über eure Gesellschaft.«

Drágos lehnte sich zurück und blickte Will nachdenklich an. »Jetzt, da du sowieso eingeweiht bist, kann ich dir auch mehr über uns sagen. Tja, wo soll ich anfangen? Ich habe schon lange keinen Menschen mehr in unsere Gesellschaft eingeführt.« Unsicher schaute er nach draußen auf die nächtliche Kulisse des Speedways. Durch die schnelle Fahrt huschten geisterhaft von Laternen beschienene Bäume und Sträucher am Fenster vorbei.

»Wie ist sie zum Beispiel gegliedert? Wie viele verschiedene Arten von Vampiren gibt es? Du siehst zum Beispiel ganz anders aus als Baron Lazar.«

Drágos drehte interessiert den Kopf zu Will und sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, als hätte Will gerade einen Genozid verübt.

»Entschuldigung, war nicht so gemeint. Ich meine nur, dass …«

»Ja, du hast recht.« Langsam nahm Drágosʼ Gesicht wieder normale Züge an. »Es gibt verschiedene Vampir-Rassen beziehungsweise Clans. Ich gehöre den Vedrana an. Jeder Clan hat bestimmte Eigenheiten, die auf den Neugeschaffenen dann jeweils übertragen werden. Auch wenn es nicht den Anschein hat, ich habe die Gabe, die verschiedenen Modeströmungen aus dem Äther sehr schnell zu erkennen, bisweilen sogar schon vor ihrer Umsetzung in die Realität. Außerdem sind wir Vedranas in fast allen Bereichen der Technik und Elektronik sehr versiert. Und zu guter Letzt …«, er hielt den Zeigefinger nach oben, »… bin ich ein berüchtigter Hacker.«

»Also arbeitest du normalerweise nicht für Lazar?«

»Nein, natürlich nicht. Ich schulde ihm einen Gefallen. Wie du dir denken kannst, arbeite ich eigentlich im Untergrund, im Verborgenen.«

»Werden die spezifischen Vampir-Eigenschaften auch auf Guhls übertragen?

Ich meine, bin ich …?«

»Nein, das gilt nur für die Neugeschaffenen.«

»Wer bestimmt, welcher Clan einen Menschen zum Vampir macht? Baron Lazar?«

»Nein, in den meisten Fällen das Schicksal. Glaubst du an das Schicksal?«

Mit schmerzerfüllten Augen sah Will aus dem Fenster in die Nacht. Nach einigen Momenten zuckte er mit den Schultern. Schließlich fragte er: »Kennst du den Vampir, der meine Lily verwandelt hat?«

Zweifelnd sah Drágos seinen menschlichen Gast mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du sinnst immer noch auf Rache, oder?« Unmissverständlich sah Will ihn jetzt an.

»Vergiss es. Wenn ich dir seinen Namen nenne, würde es dir nichts nützen. Er ist zu mächtig für dich. Selbst wenn du dich doch noch dafür entscheiden solltest, nach Erfüllung des Auftrags ein Vampir zu werden. Selbst dann kannst du ihn nicht besiegen. Du willst also wirklich kein Vampir werden?«

»Glaub nicht. Und wie mächtig ist Lazar?«

»Wenn du es unbedingt wissen willst: Er ist ein paar hundert Jahre alt und der Herrscher über ganz New California. Tja … und da wäre noch seine Leibgarde.«

Mit bitterem Lächeln schluckte Will seinen Hass hinunter und konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart. »Was für Clans gibt es noch? Existieren noch viele andere?«

»Ein interessanter Clan stellen die Duh-th dar. Ein Haufen roher und relativ unkultivierter Individuen, die besonders ihrer großen Körperkraft und Kampferfahrung vertrauen. Man kann sie ruhig als anarchistisch bezeichnen. Die Duh-th sind ernstzunehmende Oppositionelle von Baron Lazar und seines Clans, da sie nichts von den Gesetzen und Vorschriften der herrschenden Vampire halten. Es besteht zwar kein Krieg zwischen beiden Blutlinien, dennoch ist die Lage recht angespannt, was den Clan der Motengomotha unter Baron Lazar aber dummerweise nicht abhält, durch immer neue Sanktionen den Konflikt weiter zu schüren. Tja, so sind sie halt, die lieben Adligen mit ihrem immensen Reichtum und großen Einfluss.«

»Die Motengomotha sind also Adlige?«

»Ja, natürlich. Und wer immer von ihnen als Vampir neu erschaffen wird, ist es auch. Aber derzeit gibt es sehr strenge Gesetze auf dem nordamerikanischen Kontinent, was die Neuerschaffung angeht, und nur Baron Lazar oder der Gouverneur des jeweiligen Distrikts entscheiden darüber. Ich an deiner Stelle würde das Angebot von Lazar kein zweites Mal ausschlagen.

Wenn du eine politische Laufbahn einschlagen willst, sind die Motengomotha genau das Richtige für dich, allerdings sind sie für mich zu dekadent. Ich jedenfalls empfehle dir …«

»Darf ich mir etwa aussuchen, welcher Sippe ich mich anschließe?« Interessiert beugte sich Will nach vorn, obwohl es ihm zutiefst missfiel, sich auch nur vorzustellen, ein Vampir zu sein – gleich welcher Sippe.

»Ich denke schon. Allerdings rate ich dir vom Clan der Neism ab, da sie bisweilen sehr schizoid sein können. Zugegeben, sie haben ihre lichten Momente und sind sehr intellektuell. Außerdem, so sagt man, können sie Gedanken lesen.«

»Wie das?«

»Hat was mit den Archetypen zu tun. Mit den kollektiven Denkmustern, die im Unterbewusstsein von uns Menschen verankert sind.«

»Versteh ich nicht.«

»Na ja, nach Professor Eckhardts Theorie steht das Bewusstsein der Neism manchmal in Kontakt mit dem ererbten kollektiven Anteil. In ihm sind die Erfahrungen der Menschheit als Archetypen verdichtet. Diese äußern sich in Träumen, Phantasien, Mythen und Religionen. Wenn ein Neism zum Beispiel mit einem Menschen redet, ordnet er demjenigen ganz intuitiv das für den jeweiligen Menschentypus entsprechende Verhalten oder Gedankenmuster zu. Der Neism ›hört‹ dann eine Stimme in seinem Kopf. Aber das Gedankenlesen klappt nicht immer.«

»Wieso?«

»Liegt am freien Willen des Menschen. Manchmal verhindert der, dass sich das Verhalten ans kollektive Verhaltensmuster anpasst. Nichtsdestotrotz steht ihnen ein wahrer Schatz der Gedanken zur Verfügung. Aber trotzdem würde ich meine geistige Gesundheit nicht gegen diese geistige Klarheit mit ihren manchmal schizoiden Zügen eintauschen.«

»Wieso? Geistige Klarheit schließt doch geistige Gesundheit nicht aus.« In dem Moment, als Will dies sagte, bereute er es auch schon. Seine Selbstreflexion führte ihm die Dummheit seines Kommentars vor Augen.

»Ja, aber auf Dauer schon.« Drágos‘ Worte klangen bitter. »Es sei denn, du bleibst ein Mensch und übst deinen Körper in völliger Demut und geistiger Kompromisslosigkeit.«

»Moment! Du meinst, jeder Vampir ist krank?« Will war überrascht. Der Mythos oder Begriff des seelenlosen Blutsaugers war fester Bestandteil seines Glaubens.

»In gewisser Hinsicht schon. Unser Wesen ist sehr ambivalent. Jeder Vampir steht im Konflikt mit seinem inneren Tier. Die einen entfesseln es nur mehr, die anderen weniger. Kommt ganz auf die Persönlichkeit an. Und auch darauf, wie hungrig du bist. Wir müssen regelmäßig Blut trinken. Aber das alles ist Ansichtssache. Und eines ist sicher: Wir Vampire mögen uns nicht mehr für die glitzernden Fontänen des Tages und der Jugend interessieren, obwohl auch wir uns manchmal nach dem Tage sehnen und bestimmte Aspekte der Jugend aufgreifen, wie den Modezwang oder die Liebe zur Technik und zum Fortschritt. Und eins darfst du nicht vergessen: Wir Vampire sehen Dinge, die Menschen normalerweise nicht sehen.«

Der Wagen bog in den Hollywood Boulevard ein und Will sah sofort den berühmten Walk of Fame. Er erinnerte sich, dass vor ein paar Tagen der viertausendste Stern in den berühmten Gehweg eingelassen worden war. Bilder von der Live-Übertragung gingen ihm durch den Kopf und er erinnerte sich, wie Iggy Selby mit einem noblen Lächeln seine Abdrücke im Gehweg hinterlassen und stolz auf seinen Stern in der Kategorie ›Cyber-Film‹ gedeutet hatte.

Drágos bemerkte, wohin Will auf dem Boulevard schaute und grinste wissend. »Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen. Nimm dich vor den Gondrgin in Acht. Es sind schöne und anmutige Geschöpfe und sie verführen und paralysieren ihre Opfer besonders gern, um von ihrem Blut zu kosten. Im Gegensatz zu anderen Vampiren können sie dich becircen, ohne dich in Trance zu versetzen und ohne, dass dir auch nur bewusst ist, dass du beeinflusst wurdest. Außerdem ist schon von Fällen berichtet worden, in denen die von ihnen geschaffenen Guhls ihnen ein Leben lang dienlich sind. Koste also niemals ihr Blut, wenn dir deine Freiheit lieb ist. Außerdem sind sie Gestaltwandler, das heißt, sie können sich jederzeit in ein Tier, Menschen oder anderes Wesen verwandeln. Schließlich gibt es noch die letzte Gruppe von Vampiren, die den Großteil unserer Gesellschaft darstellt: die Deriba. Sie haben keine besonderen Eigenschaften. Es sind ganz normale Vampire mit geschärften Sinnen und gesteigerten körperlichen Fähigkeiten wie jeder andere Vampir auch.«

Sofort vernahm er wieder die obligate Mischung aus Pheromonen und Alkohol, als sie aus dem Auto stiegen. Sie bahnten sich ihren Weg durch die Menge bis zum vorderen Clubeingang. Die lange Schlange der Leute davor ignorierend, nickte Drágos dem Türsteher zu: »Hallo, Terance! Schon gut, er gehört zu mir.« Sofort ließ Terance sie mit einem bestätigenden Nicken durch. Als sie schon halb drinnen waren, hörte Will die Bemerkung eines Wartenden: »He, was haben die, was wir nicht haben?«

»Das wollen wir doch besser nicht sagen, oder?«, bemerkte Terance leise mit einem zwinkernden Auge, als Will ihn fragend ansah. Er hielt es für besser, sich umzudrehen und Drágos zu folgen. Sie durchschritten einen Tunnel oder eine Art Gewölbe, an dessen spärlich rot beleuchteten Wänden vereinzelt zusammengekauerte Gestalten standen und ihren Drogenrausch auskurierten.

»Bei denen ging wohl der Schuss nach hinten los«, bemerkte Drágos trocken. »Obwohl, der Begriff ›Schuss‹ ist wohl veraltet. Spritzen benutzt man natürlich nicht mehr, bei den Designerdrogen heutzutage«, korrigierte er sich feixend.

Befremdliche Klänge drangen ihnen entgegen. Irritiert lauschte Will. Es hörte sich fast wie in einer Spielhalle an, nur dass die Töne moduliert und künstlich zu einer Melodie zusammengefügt wurden.

»Falls du dich wunderst: Nein, wir sind in keiner Spielhalle. Es läuft momentan ein Event in diesem Club. Künstler aus aller Welt wurden eingeladen, um ihre Musikkreationen aus Automaten- und Videospieleffekten zu präsentieren.«

Schließlich erreichten sie das Ende des Tunnels und traten in den ebenfalls gedämpft beleuchteten Bar- und Tanzraum. Außer der Bar auf der linken Seite des Raumes, der kleinen Tanzfläche im Zentrum und der trüben Beleuchtung war nahezu alles in einem dunklen Rotton gehalten. Wie in einem Diner waren rings des Raumes rote Sitzecken mit schwarzen Tischen angebracht und ein zweites kleineres Rechteck von Sitzgelegenheiten um die zentrale Tanzfläche angeordnet. Wie Will erwartet hatte, war der Club gut besucht.

Drágos steuerte die Bar an und Will entschloss sich ein weiteres Mal, ihm einfach zu folgen. Drágos unterhielt sich mit dem Barkeeper, doch Will war zu aufgeregt und abgelenkt von der neuen Umgebung und der Musik, um zu verstehen, was die beiden besprachen. Stattdessen richtete sich sein Blick auf die Tanzfläche und er beobachtete die exotisch und geradezu spastisch anmutenden Bewegungen der Tänzer.

»Okay, die Besitzerin dieses Ladens ist anwesend. Wir können sie in ihrem Büro im hinteren Teil besuchen. Aber ich warne dich! Koste nicht ihr Blut. Erinnere dich an das, was ich dir über die Gondrgin erzählt habe. Lass dich also nicht von ihrem Aussehen blenden und unter keinen Umständen von ihr paralysieren oder becircen. Vermeide um jeden Preis längeren Blickkontakt. Hast du mich verstanden? Du musst noch einen Bluttest absolvieren!«

Will nickte gedankenverloren. Sie gingen rechts neben der Bar durch eine Tür mit der Aufschrift ›Privat‹ in einen engen, durch lauter Unrat vollgestopften Korridor. Kaltes, flackerndes Neonlicht fiel auf eine Kiste mit Champagnerflaschen und einen Kasten Root Beer. Will entdeckte einen Behälter, auf dem das Logo eines Blutspenderzentrums zu sehen war.

Auch Drágos schien die Kühlbox bemerkt zu haben. »Merkwürdig. Ist sonst nicht ihre Art, so unvorsichtig zu sein.«

Schließlich hielten sie an einer Tür, hinter der gedämpfte Sprachfetzen einer Unterhaltung hörbar waren. Die Musik von der Tanzfläche war hier nur noch leise wahrnehmbar. Drágos hielt den rechten krallenbewehrten Zeigefinger an den Mund. Trotz der geschlossenen Tür und der Musik war Will in der Lage, dem Gespräch im Innern des Raumes zu folgen.

»… und wenn du weiterhin so nachlässig bist, werde ich dich mein Blut kosten lassen oder feuern. Kommt ganz drauf an, was du noch anstellst. Und es ist mir scheißegal, was dein Onkel zu Letzterem sagt. Da kann er noch so gute Geschäftsbeziehungen haben.«

»Wenn sie mich feuern, werde ich Ihre wahre Identität preisgeben.«

Sekunden der Stille. Drágos verzog sein Gesicht zu einem Grinsen und lauschte weiter.

»Ich glaube, du lässt es wirklich drauf ankommen, wie? Hast du mein Blut denn so gern? Wenn du irgendwas deinem Onkel erzählst, mache ich dich zu meinem Sklaven. Außerdem wird dir sowieso niemand glauben, sondern dich für verrückt erklären und einsperren.«

»Sie können mich nicht einfach zu Ihrem Guhl machen. Lazar hat Ihnen verboten, noch jemanden von ihrem Blut trinken zu lassen.«

»Ach! Wer hat dir das denn erzählt? Wahrscheinlich wieder dieser Irving, was? Verschwinde jetzt und mach deine Arbeit! Aber gefälligst gründlich!«

Die Tür wurde aufgerissen und Drágos wich ihr in echsenhafter Geschmeidigkeit aus. Mit erschrockener Miene starrte der Mann, der sie öffnete, Drágos an, fing sich aber gleich wieder mit wissendem Blick, ging an ihnen vorbei und verschwand im Korridor.

»Oh, Drágos! Ich habe dich erwartet. Tritt ein.«

»Katrina, es ist mir wie immer eine Ehre.« Drágos breitete seine Arme aus und betrat den Raum, gefolgt von Will.

Katrina war mittleren Alters, zumindest dem Aussehen nach zu urteilen. Rote Bluse unter schwarzem Blazer – lässig über eine hautenge, ebenfalls schwarze Jeans drapiert, die in hochhackigen Stiefeletten mündeten. Ihre langen roten Haare sowie ihre Augen schimmerten wie Feuer und Will fragte sich unwillkürlich, wie sie sich so in der Öffentlichkeit zeigen konnte, ohne Aufsehen zu erregen. Heute vermutete er, würde man das Feuer als technisches Gimmick abtun. Doch was wäre mit ihr beispielsweise im Mittelalter geschehen? Historische Bilder von Hexenverbrennungen gingen ihm durch den Sinn. Dann blickte Will in ein mit Ausnahme der hohen Wangenknochen ebenmäßiges Gesicht, das für ihn das Vollkommenste war, das er jemals gesehen hatte.

»Ah, wen haben wir denn da?« Elegant trat das weibliche Wesen auf Will zu und streckte ihm grazil die Hand entgegen. Zögernd erwiderte Will den Gruß. Sein Mund stand offen.

Mit sichtlichem Vergnügen nahm Drágos die Sprachlosigkeit Wills zur Kenntnis. »Katrina, das ist Will Compton. Er arbeitet im Moment für uns beziehungsweise für Lazar. Will, das ist Katrina Cindi, die Herrscherin dieses Etablissements und ihrer zahllosen Untergebenen.«

»Hören Sie nicht auf ihn, Mr. Compton. Seine Phantasie spielt unserem Drágos mal wieder einen Streich.«

»Hm.«

»Zweifeln Sie nicht. In Wirklichkeit bin ich ganz harmlos.«

»Ja. Bis du deinen Opfern dein Blut zum Kosten anbietest. Ich warne dich, meine Liebe: Zügle deine Leidenschaft bei ihm.« Drágos zeigte auf Will. »Du hast gehört, was Lazar gesagt hat. Keine weiteren Kostproben deines Blutes. Außerdem brauchen wir den Jungen in einem unversehrten Zustand.«

»Aha. Es ist also ein richtiger Auftrag, was? Etwas sehr Wichtiges?« Sie schaute fragend in Wills Augen.

Während er in ihre starrte, hatte er nicht nur das Gefühl, von diesem Feuer beherrscht zu werden, sondern sich in dieses Feuer zu verwandeln. Will spürte, wie dieses Wesen langsam die Kontrolle über ihn gewann. Genauso war es ihm in der Nacht von Lilys Verwandlung ergangen. In Will blitzte die Erkenntnis, als Drágos zwischen ihn und dieses bezaubernde Wesen trat und mit seiner Hand vor Wills Augen herumfuchtelte, während er Katrina mit einem wütenden Blick bedachte. »Du kannst wohl einfach nicht genug kriegen, oder Katrina?« Der Bann war gebrochen. Übrig blieben die wehmütige Erinnerung an Lily und eine sehr tiefe Traurigkeit.

»Hey, man kann‘s doch mal versuchen. Das musst du und deine Brut doch erst recht verstehen. Wer treibt sich denn so oft im Netz herum, um Informationen zu sammeln? Aber jetzt haben wir uns zur Reviermarkierung genug ans Bein gepinkelt. Wo bleibt denn meine berühmte Gastfreundschaft? Setzt euch doch erst einmal hin. Kann ich euch einen Drink anbieten?«

Katrina ging zur Minibar hinter dem Schreibtisch und schenkte sich aus einer Karaffe eine zähe rote Flüssigkeit in ein Kristallglas, während Will und Drágos sich hinsetzten.

»Auch für dich alten Blutsauger ist was dabei. Gerade frisch eingetroffen von der Blutbank. Dieser Schwachkopf Billy hat mal wieder vergessen … na ja, egal.«

Will dachte an die Blutbeutel von eben im Flur. Katrina erhob derweil ihr Glas. »Ich meine, ist zwar nicht ganz so gut wie frisch gezapftes … Also, ein Schluck gefällig?«

Will und Drágos schüttelten den Kopf.

»Okay, eigentlich habt ihr ja recht. Ich mag es auch nicht. Ist nur eine von Lazar auferlegte Strafe, bis ich meinen Blutrausch unter Kontrolle habe. Ich darf meine Beißerchen für zwei Monate nicht mehr in Menschenfleisch graben und für eine noch längere Zeit nicht mehr mein Blut anbieten. Aber genug von meinen Problemen. Widmen wir uns nun deinen.«

»Ich glaube, es befindet sich etwas in deinem Besitz, was wir haben wollen. Und jetzt tue bloß nicht so unschuldig«, sagte Drágos mit Nachdruck, als er die Reaktion in ihrer Miene betrachtete. »Du weißt genau, was ich meine. Eckhardt hat es dir gegeben …«

»Ach so, die Kleinigkeit. Na ja, ich weiß nur, dass es ein neuartiges Protein ist. Ich schätze, es hat was mit deinem Auftrag zu tun, was?« Mit einem Gesichtsausdruck, halb wissbegierig und halb unschuldig, sah sie Will hoffnungsvoll an.

»Und mehr wirst du wohl auch nicht erfahren, Katrina.« Damit hielt Drágos ihr seine offene Hand entgegen und wartete. Mit zusammengekniffenem Mund öffnete sie ihre Schreibtischschublade, griff hinein und übergab ihm einen unscheinbaren Speicherstick. Mit einer eleganten Bewegung ließ er ihn in der Innentasche seines Brokat-Jacketts verschwinden. Katrina knallte theatralisch die Schublade zu, stützte sich mit beiden Händen auf den Schreibtisch und schaute sie mit ihren lodernden Augen an, als ob sie ihnen Feuer anbieten wolle.

»Nun, wenn ihr mich dann entschuldigt. Ich habe heute Nacht noch wichtige Geschäfte zu erledigen. Aber wie sagt man doch so schön?

Mi casa es su casa. Bestellt euch, was ihr wollt. Nur den Kaviar muss ich euch berechnen. Ist halt zu teuer geworden.«

Drágos stand auf. »Es war mir wie immer ein Vergnügen, Katrina. Und deine Gastfreundschaft nehme ich selbstverständlich dankend an. Ach, noch eins: Ich hoffe, du hast nicht versucht, die Daten auf dem Stick zu kopieren. Das Passwort hast du nicht geknackt, oder?« Sie zog einen Schmollmund und ließ sich diesbezüglich nichts weiter anmerken.

Will war noch immer ganz in Katrinas Augen verloren. Erst nach einer Weile merkte er, dass Drágos ihn auffordernd ansah. Verwirrt und mit roten Wangen stand Will auf und folgte ihm nach draußen. Als er die Tür hinter sich zuzog, hörten sie ihr Gelächter bis nach draußen auf den Flur schallen. Ihr Lachen war auch noch zu hören, als sie an der Stelle vorbeigingen, wo vorhin die Blutbeutel lagen. Jetzt waren sie verschwunden.

»… und die installierte Software scannt jeden in der Nähe befindlichen Satelliten nach den neuesten Signalen. Vorausgesetzt, sie hat das aktuellste Update auf dem kristallinen Chip installiert. Das heißt aber auch, dass ich den maximalen Speicher an multimedialen Informationen besitze. Kann mir also jeden Film ansehen oder jedes Musikstück anhören, die der Chip gespeichert hat. Außerdem ist es die aktuellste Generation der kristallinen Speicherchips.«Will schaute in die blauesten Augen und weißesten und kompaktesten Zähne, die er je gesehen hatte. Erinnerungen an eine azurblaue Lagune auf Hawaii in seinen Semesterferien kamen in ihm hoch. Er konnte ein kleines Firmenlogo im Weiß ihres rechten Auges erkennen, in ihrer perfekt-blauen Iris jedoch keine organische Entität ausmachen. Wahrscheinlich sind die Zähne auch nicht echt, vermutete er. Irgendetwas ließ ihn frösteln, obwohl es eigentlich nicht kalt war. Über der Stirn ragten kornblonde Locken aus einem knallroten Etwas, das Ähnlichkeiten mit einem Motorradhelm hatte. Doch statt eines Sichtschutzes war eine schwarze Cyberbrille nach oben geklappt und eine hyperleistungsstarke Parabolantenne in Miniatur ragte auf dem Helm in die Sonne. Immer bereit für den Sprung nach den neuesten Hypes.

»Das Stück, was wir im Moment hören, ist inspiriert von einem Videospiel des vorigen Jahrhunderts. Es heißt ›Pacman forever‹ und setzt sich größtenteils aus der Soundkulisse dieses Spiels zusammen«, flötete sie melodiös und Will hatte nach zwei Stunden Aufenthalt und mehreren Drinks intus seine Probleme, der Lady konzentriert zuzuhören. Er nahm an, dass Alkohol und Vampirblut keine gesunde Mischung waren und seine Vermutung wurde bestätigt, als Drágos verstohlen hinüberschaute. Er hielt sich im Hintergrund und lauschte nur interessiert der Unterhaltung oder der Musik.

»Ja«, entfuhr es Will schließlich, als er sich daran erinnerte, »ich habe es in einem Museum in New York gesehen, allerdings war die Konsole als Kunstwerk verfremdet.«

»Stimmt, es war letztes Jahr im Museum of Modern Art ausgestellt. Ich wollte auch hin und es mir ansehen, hatte aber letzten Endes keine Zeit gehabt. Hab‘s aber im Fernsehen gesehen. Warst du allein dort?«

»Nein, mit meiner Freundin. Ich bin aber nicht mehr mit ihr zusammen.«

»Aha, wer hat denn Schluss gemacht?«

»Keiner. Sie ist gestorben.« Mist! Aber irgendwie stimmte es ja auch. Trotzdem verfluchte er den Alkohol in seinem Körper.

»Oh, tut mir leid …« Außer einem Mundverziehen war keine deutliche Gefühlsregung im Gesicht der Lady erkennbar. Die himmelblauen Augen blieben starr auf ihn gerichtet.

»Na ja … Sie musste nicht lange leiden«, log er. Obwohl Lilys Schicksal schlimmer als der Tod ist, dachte er im Stillen. »Darf ich mal deinen Helm benutzen?«, fragte er, um das Thema zu wechseln. Wieder der Blick von Drágos.

Verwirrt schaute sie ihn an. Er glaubte zumindest, diese Reaktion aus ihrem emotionslosen Gesicht abzulesen. »Ja … klar. Warum nicht. Moment …« Vorsichtig hob sie den Helm von ihrem Kopf. Ein blonder Lockenkopf kam zum Vorschein.

»Hast du das schon mal gemacht?«

»Nee.«

»Bedenke, das Interface ist gedankengesteuert. Während der Prozedur müssen deine Gedanken fließen. Lass einfach los und dich treiben. Trotzdem musst du konzentriert bleiben. Verstanden?«

Will nickte. Sie setzte ihm behutsam den Helm auf.

»Warte! Der Helm muss sich einen Moment auf deine Gehirnwellen einstellen und sich dementsprechend konfigurieren.« Nach ein paar Sekunden ertönte ein Piepsen. »So, jetzt.« Interessiert schaute Drágos zu. Will zog die Helmbrille über seine Augen. Dunkelheit. Dann bauten sich am virtuellen Horizont kleine silberne Punkte in gerader horizontaler Linie auf. Sie erinnerten ihn an den Traum in der Nacht kurz nach Lilys Verschwinden. Nur diesmal war es erdiger. Schnell wurden die Punkte größer. Kamen mit zunehmender Geschwindigkeit auf ihn zu. Sie verschmolzen zu einer Linie. Quecksilber. Will hatte das Gefühl, als ob sich kühles Quecksilber über seine Großhirnrinde legte und durch die Gehirnwindungen schlängelte. Dann füllte die Linie sein Sichtfeld ganz aus und er sah nur noch ein silbernes Leuchten. Wie in einem psychedelischen Origami-Trick teilte sich das helle Rechteck in ein rautenförmiges schwarzes Muster. Die hellen Flächen dazwischen nahmen die drei Farben Rot, Grün und Blau an. Dann vermischten sich additiv Grün mit Rot zu Gelb, Rot mit Blau zu Magenta und Blau mit Grün zu Cyan. Will kam der berühmte Farbkreis mit jeweils gegenüberliegenden Komplementärfarben in den Sinn, den Lily ihm gezeigt hatte, während ihrer Studien der Farben. Durch additive Farbmischung wurde das Muster immer bunter, bis fast sämtliche Farben zu sehen waren. Schließlich teilte sich das Muster und es wurde daraus eine unwillkürliche Anordnung von Buchstaben und Zahlen, die sich zu einem Menü zusammenfügten. Endlich. Das knallbunte Benutzermenü zeigte verschiedene Optionen zur Auswahl, wie etwa Speicherzugriff und Liveausstrahlung. Will entschied sich für die Liveausstrahlung und simulierte mit einem sanften Kopfnicken den konventionellen Mausklick. Prompt erschien eine Liste verschiedener Medien wie Musikstücke, Musikvideos, Filme, Cyber-Filme, Nachrichten und so weiter. Intuitiv entschied er sich für die Kategorie ›Cyber-Filme‹ in unwillkürlicher Auswahl. Dann stellte er noch den Modus auf ›männlich‹: Denn unabhängig vom eigenen Geschlecht war es im Bereich der Unterhaltungs-Elektronik möglich, in den virtuellen Körper des jeweils anderen zu schlüpfen. Wieder Dunkelheit.

Plötzlich wurde Will in ein adrenalingetränktes Durcheinander katapultiert. Erst nach ein paar Augenblicken der Verwirrung erkannte er, das er bereits an einem Leitungsrohr hinunterhangelte und gab sein anfängliches Bedürfnis auf, ins Geschehen einzugreifen. Er konnte sich an die Passivität der Cyber-Filme einfach nicht gewöhnen. Im virtuellen Tageslicht konnte er die Höhe auf gut dreißig Meter schätzen. Dann ein Sprung auf die weiter unten befindliche Feuerleiter. Schüsse. Hektisch schaute er nach oben. Vage Umrisse der Verfolger auf dem Dach. Wieder Schüsse. Ein Blick nach vorn auf das gegenüberliegende Dach, das sich knapp unter ihm befand. Das Geländer der Feuerleiter wurde überwunden. Kurzes Durchatmen. Will glaubte, den Atem von Iggy Selby zu spüren; jeder Cyber-Schauspieler hat seine eigene Signatur in Bezug auf die Sinneseindrücke. Dann der Sprung aufs Dach. Unsauberes Aufkommen wurde durch Abrollen kompensiert. Will merkte, wie ihm schlecht wurde. Der Alkohol. Schnell stand er wieder auf und rannte weiter über das flache Dach. Sein Magen drehte sich. Er entschied sich, auf den nächsten Film umzuschalten. Wieder Schwärze.

Und hinein in einen schlüpfrigen Traum zweier Liebenden. Rhythmisch stieß Wills virtuelles Ego in der Hocke sein steifes Glied in seinen weiblichen Geschlechtspartner. Er schaute nach unten und erkannte Stine Sera, dem schon etwas in die Jahre gekommenen Star des Cyber-Pornos. Sie lag auf dem Rücken in einem riesigen Bett, ganz nackt, die Beine lasziv angezogen, sodass er tief in sie eindringen konnte. Der blonde Star verdrehte wollüstig die blauen Augen und stieß synchron zu den Stößen ein leises Stöhnen aus dem rotgeschminkten sinnlichen Mund. Ihre dicken aber festen Brüste wippten im Takt des Liebesspiels auf und ab. Will spürte, wie er eine Erektion bekam, die seine reale Hose langsam ausbeulte. Obwohl ihm der Gedanke unangenehm war, dass seine Begleiter am Tisch es möglicherweise merken würden, konnte er nicht von der stöhnenden Stine Sera ablassen. Sein Cyber-Ego, er konnte den Namen immer noch nicht herausfinden, keuchte ekstatisch und lutschte genüsslich an Miss Seras Nippeln. Der süße Geruch eines Frauenparfüms stieg ihm in die Nase. Sie stöhnte laut auf und er spürte, wie ein gewaltiger Orgasmus ihren Luxuskörper durchzuckte. Dann war auch er soweit. Doch bevor er seinen Saft auf ihren virtuellen Bauch spritzen konnte, merkte Will das heftige Pulsieren in seinen Lenden. Er schaltete schnell um, doch es war zu spät. Er spürte, wie seine Hose feucht wurde. Mist! Während seine Augen in die virtuelle Dunkelheit starrten, versuchten seine realen Hände, die feuchte Wölbung in seinem Schoß zu verbergen. Will schaltete schnell auf den nächstbesten Cyberfilm um. Dann stand er plötzlich am Steuerruder einer Segelyacht. Die steife Meeresbrise wehte ihm die salzige Gischt um die Ohren und zerzauste seine Haare. Er schrie irgendwelche Anweisungen, verstand aber als Laie des Segelsports ihre Bedeutung nicht. Hektisches Treiben auf dem Deck. Ein halbes Dutzend Frauen und Männer, in lässiges Weiß gekleidet, wuselten herum und verrichteten die ihnen zugeteilten Aufgaben wie in einem coolen, perfekt choreografierten Ritual. Dann griffen zwei in einem langärmeligen Wollpullover gekleidete Arme um seinen Torso. Eine Frau. Er konnte perfekt lackierte Nägel sehen. Sie schmiegte sich an seinen Rücken und legte ihr Kinn in seinen Nacken. Ihr Atem roch nach Hustenbonbon.

»Na, Käpt´n Russel. Schleifst du mal wieder deine Crew?«

Also doch. Es war Linden Russel. Holländisch-dänischer Sportsmann und Abenteurer mit amerikanischem Pass.

»Du weißt ganz genau, dass das nötig ist. In einer Woche ist das große Regattasegeln in Sydney.«

Jetzt erkannte er auch die Frau: Hedvig Karina, bekanntes schwedisches Supermodel und Geliebte von Linden. Wieder drehte sich der Magen von Will. Er vergaß, dass er seekrank war. Der Wind frischte auf. »He Tine, raff das Segel.« Leise zu Hedvig hinter ihm: »Der Wind wird zu stark.« Besorgnis in seiner Stimme.

»Relax, Linden. Der Wind ist längst nicht so stark wie früher.« Früher, vor ungefähr vier Jahren geschah das große Unglück. Unter Lindens Führung ist bei einer großen Regatta sein Boot gekentert. Obwohl ein starker Wind blies und sein Schiff schon stark gekrängt war, hatte er das Segel nicht gerefft. Er wollte keine Geschwindigkeit verlieren und das Turnier unbedingt gewinnen. Jesper, sein bester Freund, verlor dabei sein Leben.

Will musste an Lily denken. Ein Brechgefühl mischte sich in seine Sinne. Er wollte umschalten, doch seine heute Abend konsumierten Drinks waren schon auf dem Weg nach oben. Er erbrach sich auf den Tisch. Der Helm wurde ihm vom Kopf gerissen. Sein Kopf knallte auf seine Arme, die vor ihm auf dem Tisch lagen. Mit verschwommenen Blick schaute er zunächst zur Seite: Neben ihm der blonde Wuschelkopf, wie er sorgenvoll seinen Helm inspizierte. Dann geradeaus auf Drágos, der wissend und etwas schadenfroh dreinblickte. Er merkte, wie sich die Aufmerksamkeit der Gäste an den Nachbartischen auf ihn richtete. Will stöhnte und ließ seinen Kopf auf seine Arme zurücksinken. Vor Scham schloss er seine Augen.

Eine Stimme, deren Geschlecht er nicht zuordnen konnte, erhob sich aus der Menge um ihn herum. »Relax, Will. Relax!«

Der dezente Weckruf seines digitalen Haushaltsystems zerrte Will sanft aus seinen Träumen. Instinktiv schaute er auf die Uhr, die neben den aktuellsten Tagesinformationen auf die Zimmerdecke über seinem Bett projiziert wurde. Es war acht Uhr vierzehn, leicht bewölkt, die Außentemperatur betrug siebzehn Komma drei Grad im Schatten, mit schwülen fünfundsiebzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Das jetzt lauter und eindringlicher werdende Signal veranlasste ihn, die Projektion näher zu studieren: Ein gebäudeinterner Anruf von einem gewissen Dr. Singh.

»Auf audio-visuell durchstellen«, antwortete er müde dem Computer. Die Projektion zeigte jetzt eine attraktive Frau mittleren Alters mit langen blonden, leicht gewellten Haaren. Sie war auffällig geschminkt mit roten vitalen Wangen. Dunkler Lidschatten rahmte ihre grün-blauen Augen ein.

»Guten Morgen, Mr. Compton. Entschuldigen Sie die frühe Störung. Mein Name ist Dr. Singh und ich möchte Sie fragen, ob Sie heute Nachmittag Zeit hätten für ein kleines Gespräch und einen Gesundheitscheck in meiner Praxis. Sicher haben Sie schon von mir gehört und ich …« Dann fiel es Will ein: Sein neuer Psychologe.

»Hören Sie, mir geht es momentan nicht sehr gut. Könnten wir diese Untersuchung nicht um ein paar Tage verschieben?«

»Die Firma besteht auf diese Untersuchung, wenn nichts Besonderes dazwischenkommt.« Trotz der Nachdrücklichkeit eine sanfte Stimme. »Wie ich sehe, sind Sie kein besonders guter Lügner und ich glaube, Ihnen geht es gar nicht so schlecht. Deswegen muss ich darauf bestehen …«

Will dachte an die regenerativen Eigenschaften des Vampirblutes in ihm und ärgerte sich, dass er nicht nur auf Audio-Verbindung gestellt hat.

»Also gut, ich komme. Um wieviel Uhr hätten Sie es denn gern?« Seine Stimme war nur mehr ein Knurren.

Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Will so etwas wie Betroffenheit in ihren Augen erkennen. Dann blitzten sie keck auf und sie antwortete mit übertrieben einfühlsamer Stimme: »Würden Sie bitte um siebzehn Uhr dreißig in meiner Praxis erscheinen? Und ich würde mich an Ihrer Stelle noch etwas aufs Ohr legen. Den Rändern unter Ihren Augen nach zu urteilen, haben Sie es wohl auch nötig. Auf Wiedersehen!«

Das Bild wurde schwarz und durch die Wetterdaten ersetzt. Dann scrollte von unten die Wetterprognose ins Bild: Gewitterwahrscheinlichkeit für heute Abend: achtundsiebzig Prozent. Will stöhnte und drehte sich noch einmal auf die Seite.

Er träumte von dem Kurzurlaub in Houston, Texas. Von dem Hotel in mexikanischem Stil gebaut und von dem Tag, als der Himmel die Erde berührte. Als Lily und er per Weltraumlift das Weltall besuchten.

Nachdem die letzte Klausur des Semesters geschrieben war, flogen Lily und Will in freudiger Erwartung auf die Bewertung seiner Arbeiten mit einem Shuttle nach Houston. Dort bekam dann Will am nächsten Tag die Benotung seiner Klausur über ›Allgemeine genetische Prozesse‹ auf seinen Laptop geschickt: Eine Eins minus. Ein Ergebnis, auf das er besonders stolz war, denn die Arbeit enthielt ein seiner Meinung nach besonders schwieriges Thema. Es handelte von Mutationen, also von DNA-Schäden und ihren Reparaturen, und er fragte sich zum Zeitpunkt der Klausur-Vorbereitung, ob es Parallelen zu seinem eigenen Leben beinhaltet: Lebewesen, fleischgewordene Phäne – äußerlich erkennbare Merkmale von Informationen, Gene. Und diese Gene wiederum würden – und davon war Will überzeugt – das Handeln und Wissen, also das Karma oder Schicksal des jeweiligen Menschen beeinflussen und umgekehrt vom eigenen Handeln beeinflusst werden. Würde es also, fragte sich Will während der Klausurvorbereitung, zu Schäden am Erbgut kommen, wenn ein Mensch seine Sequenz zur Perfektionierung seiner Fähigkeiten, sei es im handwerklichen oder akademischen Bereich, durch Vernachlässigung der Arbeit unterbrechen würde? Vielleicht war er gerade aus eigener Erfahrung auf diesem Gebiet so gut. Doch irgendwann hatte er sich diese metaphysischen Gedankengänge aus dem Kopf geschüttelt und weiter auf seine Arbeit konzentriert. Und nachdem dann also die erfreuliche Nachricht seiner guten Note eintraf, hatte er Lily zur Feier des Tages zur Besichtigung und Fahrt des Weltraumlifts in Houston eingeladen. Da im unteren Teil des Lifts nur Güter für die orbitale Industrie transportiert wurden, waren Lily, Will und die restlichen zwanzig Passagiere in den oberen Teil des zylindrischen Lifts gestiegen. Die Passagierkabine selbst war recht komfortabel eingerichtet und im Durchmesser etwa zehn Meter groß. Will und Lily hatten mit den übrigen Fahrgästen in zum Kreis angeordneten Sitzen mit Blick auf das große Panoramafenster, welches sich rund um die Kabine erstreckte, Platz genommen und währenddessen der Stewardess gelauscht, die in nüchternem Tonfall in ein Mikro sprach: »Das Grundkonzept des Weltraumlifts ist denkbar einfach: Ein Satellit im geosynchronen Orbit, der sich also mit der Erdrotation bewegt, ist per Kabel mit der stationären Plattform auf der Erde verbunden. Ein Aufzug kann sich an diesem Kabel für den Bruchteil der sonstigen Kosten, den zum Beispiel ein Raketentransport verursachen würde, auf- und abwärts bewegen. Allerdings mussten noch einige Probleme gelöst werden. Ein Kabel musste hergestellt werden, was stärker und gleichzeitig leichter war als alle bisherigen. Die aussichtsreichsten Kandidaten für das Kabelmaterial stellten Kohlenstoffnanoröhren dar. Doch Berechnungen ergaben, dass bei der Verwebung von Kohlenstoffnanoröhren zu längeren Kabeln die Reißfestigkeit des Kabels um zirka siebzig Prozent gegenüber der Reißfestigkeit einzelner Nanoröhren aufgrund von Kristallbaufehlern abnimmt. Deshalb würde sich die Belastbarkeit des Kabels auf circa dreißig Gigapascal reduzieren. Doch laut den Berechnungen der NASA wäre ein Material mit der Belastbarkeit von zweiundsechzig Gigapascal notwendig, um den auftretenden Kräften zu widerstehen. Dann trat ein neues, noch weitgehend unerforschtes Material namens Graphen in den Fokus der Wissenschaft. Mit circa tausendzwanzig Gigapascal entspricht es dem von Graphit und seine Dichte ist fast die eines Diamanten. Seine Zugfestigkeit ist rund hundertfünfundzwanzig Mal höher als bei Stahl, und da Stahl eine drei Komma fünf Mal höhere Dichte als Graphen hat, ist seine Reißlänge rund vierhundertsechsunddreißig Mal größer als die von Stahl. Nachdem man sich des Graphens als Kabelmaterial bedient hatte, musste noch ein weiteres Problem gelöst werden, nämlich das der Energieversorgung: Da der elektrische Widerstand bei einer Kabellänge von gut sechsunddreißigtausend Kilometer zu groß und der Energieverlust zu hoch wäre, schied eine im Seil integrierte Stromleitung aus. Die Idee eines Lasers als Energiequelle musste anfangs auch aufgegeben werden. Erst später gab es Laser, die stark genug waren, um den Energieverlust auszugleichen. Dabei wird der Laser an der Basisstation sehr präzise auf an der Gondel befestigte Solarzellen gestrahlt, woraus der Lift schließlich seine Energie bezieht. Und die letzte Bedingung für den Liftbau wurde von Mutter Erde persönlich diktiert: Da er nur bis zu einem Breitengrad von dreißig errichtet werden konnte, entschieden sich die westlichen Industriestaaten für Houston als Standort. China und Japan als östliche Industriemächte entschieden sich für Hongkong beziehungsweise Naha auf Okinawa als weitere Standorte.«

Wirklich aufgeregt war nur Will gewesen, da Lily bereits als Kind auf einer Ferien-Spindel im Weltall war, von dessen Erlebnissen sie manchmal berichtete.

»Da der Aufstieg zur sechsunddreißigtausend Kilometer entfernten Aufzugstation in geostationärer Umlaufbahn trotz der hohen Aufzuggeschwindigkeit gut eine Woche in Anspruch nehmen würde, wird der Lift in vierhundert Kilometern Höhe in der Exosphäre stoppen«, plärrte die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher. »Genau genommen würden wir also nicht ins Weltall fliegen.« Sie hatte tatsächlich fliegen gesagt. »Trotzdem kommt dieses Erlebnis einem Weltraumbesuch verdammt nahe. Zum Schluss möchte ich Sie nur noch bitten, solange sitzen zu bleiben, bis die Endgeschwindigkeit von vierhundert Stundenkilometern erreicht ist und die grüne Lampe leuchtet. Dies wird allerdings nur einige Minuten in Anspruch nehmen. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Und nun wünschen wir Ihnen viel Vergnügen. Bon Voyage.«

Das Aufheulen der Motoren signalisierte den Aufstieg der Gondel. Während Will und Lily händehaltend die Fahrt im Panoramafenster beobachteten und der Zylinder Kilometer um Kilometer an Geschwindigkeit zunahm, bekam Will vor lauter Aufregung feuchte Hände. Der Gedanke, dass Lily dies bemerken könnte, trieb ihn schließlich dazu, seine Hand wegzuziehen. Doch sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln und nannte ihn seither, wenn sie sich stritten, ›Löschpapier‹, was ihn in solchen Situationen immer noch wütender gemacht hatte.

Nachdem sie die Tropo-, Strato-, Meso- und schließlich die Thermosphäre hinter sich gelassen hatten und nach knapp einer Stunde Fahrt in die Exosphäre eintraten, blieb der Lift schließlich stehen; wodurch die Passagiere jetzt eine halbe Stunde Zeit hatten, gemeinsam andächtig das Gebiet zu betrachten, das früher einmal die USA gewesen war und jetzt in verschiedene unabhängige Staaten aufgeteilt war. Die aufgehende Sonne war gerade dabei, im Osten ihre Strahlen majestätisch auszubreiten und erlaubte einen weiten und klaren Blick von Kalifornien im Westen über den Lake Michigan im Norden bis nach New York im Osten. Wie von Zauberhand war Wills Aufregung verschwunden. Stattdessen hatte ihn dieser erhabene Anblick mit Frieden und Zuversicht erfüllt. Ein Gefühl der Transzendenz. Er hatte sich überlegt, was dafür verantwortlich war, dass er diesen Frieden spüren konnte. War es sein Ehrgeiz, seine Härte? Ähnlich wie bei dem aus Graphen bestehenden Kabel des Lifts, dessen extreme Reißfestigkeit und hohe Toleranz gegenüber Temperaturschwankungen dem Lift, aber auch Will erlaubte, in diese erhabene Höhe zu gelangen? Oder war es die Liebe?

In seinem Traum stand Will nun wieder mit Lily vor dem Panoramafenster. Doch im Gegensatz zu jenem Tag in Houston verdrängte jetzt ein anderes Gefühl den Frieden, die Transzendenz. Ein Gemütszustand, der einige Wochen nach dem Ausflug in ihm regierte. Angst. Angst davor, dass die Liebe nicht ausreichen würde.

Schließlich erwachte Will und schaltete müde über einen Fernschalter am Nachttisch die Sonnenblenden der Fenster aus. Die getönten Scheiben veränderten ihre Farbe und ließen die Vormittagssonne ins Zimmer scheinen. Er lag noch einige Minuten auf dem Rücken, den Blick auf die weiße Zimmerdecke gerichtet, und stellte sich vor, wie hinter ihr in einigen Kilometern Entfernung in der Stratosphäre die Luft-Moleküle durch den geringeren Druck der mangelnden Schwerkraft frei und ohne große Reibungen in der Atmosphäre schwebten. Er dachte wieder an die Harmonie des Augenblicks, die er letztes Jahr, zusammen mit Lily, dort oben gespürt hatte. Seufzend stand er auf und schlurfte ins Bad.

Der Geruch von geröstetem Toast und frisch gebrühtem Kaffee stieg ihm in die Nase, als er am Küchentisch auf seinem Laptop ihr Dossier einsah. Der Computer war mit der Firmendatenbank verbunden. Es war ein offizielles Dossier. Ans Inoffizielle kam er nicht ran. Zu hohe Sicherheitsstufe. Er las, was vor ihm auf dem Schirm stand:

Name: Singh, Dr. Delia

Geboren: 2037 in Kalkutta

Alter: 32 Jahre

Universitätsabschlüsse: London 2066, Doktor in Humanmedizin; 2067, Doktor in Psychiatrie und Abschluss in einer angesehenen Psychotherapieschule in Belgien; seit 2068 angestellt bei DNA-Network als Psychoanalytiker/Firmenpsychologe.

Will stutzte. Trotz der drei Abschlüsse hätte sie zumindest ihren ersten Doktortitel früher machen müssen und vermutete als Ursache eine persönliche Krise. Er hörte ein lautes Klacken und zuckte erschreckt zusammen. Der Toast war fertig. Will ging zum Toaster und bestrich das geröstete Brot mit Marmelade. Dann schenkte er sich Kaffee in die Tasse ein und setzte sich schließlich mit beiden Sachen an den Küchentisch. Er schaute wieder zum Bildschirm und entnahm dem Dossier, dass die Eltern von Dr. Singh – Mutter: eine Schwedin namens Sigrun Solveig, Vater: ein Inder namens Prabhakar Singh – beide Doktoren der Humanmedizin waren. Sie arbeiteten als Ärzte in den provisorischen Gesundheitszentren der Slums von Kalkutta, die als Beitrag zur Entwicklungshilfe von der UNO errichtet worden waren.

Trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs Indiens gab es immer noch eine nicht geringe Anzahl von Gebieten, wo die Menschen weit unterhalb der Armutsgrenze lebten.

Sigrun und Prabhakar lernten sich bei der Arbeit kennen und knapp zwei Jahre später erfolgte Delias Geburt. 2047 Übersiedlung nach Schweden. Sigrun nahm eine Stelle als Ärztin in einem Stockholmer Krankenhaus an. Prabhakar blieb in Indien und arbeitete in Neu-Delhi als Oberarzt in einem Krankenhaus, blieb aber in Kontakt mit den anderen beiden Familienmitgliedern. Wieder stutzte Will. Es stand nichts von Scheidung dort. Er las weiter. Delia ging zunächst auf die Grundschule in Stockholm. Wuchs weiterhin mehrsprachig auf und wurde, wie es scheint, konservativ und doch liberal erzogen. Dann Gymnasium in Stockholm und anschließend die Universität in London. Seit der Uni frönte sie einem Hobby: Fechten. Ende. Nichts weiter.

Im Gegensatz zu den vorigen Wochen hatte er jetzt einen gesunden Appetit und biss ins Toast, während er überlegte, was die Ursache für ihre vermutete Krise gewesen sein mochte. Er musste ihre Schwäche herausfinden und sie ausnutzen. Nervös schaute er auf die Uhr; nur noch knapp eine Stunde bis zum Termin. Sein Blick wanderte weiter bis zu einer kleinen Neuronen-Engel-Box auf der Kommode im Flur neben der Wohnungstür. Ein in schwarzem Klavierlack gehaltener Würfel, nicht größer als die Faust eines kleinen Kindes. Vage sah er an der Seite die kleine Öffnung für den Anschluss an einen Computer. Er dachte an den verregneten Tag im letzten Frühling zurück. Lily hatte ihn, nach einem kleinen Streit, als Friedensgeschenk und Andenken überreicht. Sie hatte ihm erzählt, dass all ihre Persönlichkeit samt ihren Erinnerungen bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Frieden mit ihm gemacht hat, in dem Würfel gespeichert sind.

Will stand auf, ging zu der Kommode, auf der auch die ausrangierte Spielekonsole stand, die er schon wochenlang nicht mehr angerührt hatte, und nahm den Würfel. Er wog ihn bedächtig in seiner rechten Hand. Immer wieder wunderte er sich über das relativ geringe Gewicht. Nicht viel mehr als ein Hühnerei. Lilys Seele in einem Ei. War wirklich alles dort drin, in diesem Speicher? Oder war etwas abhandengekommen, als der Techniker einige Tage nach Ostern auf den Aufnahmeknopf gedrückt hatte und ihre persönlichen Erinnerungen und Persönlichkeitsmerkmale von dem USB-Anschluss hinter ihrem Ohr über Hochleistungsglasfaserkabeln in den Würfel strömten, der in einer schrankgroßen Maschine vorübergehend integriert war? Will selbst weigerte sich, sich digitalisieren zu lassen. Er hielt die Speicherung einer Persönlichkeit oder Seele für unmöglich, egal wie groß der verfügbare Speicherplatz war. Erst recht in diesem kleinen Würfel. Doch seit Lilys Verschwinden dachte er anders.

Er griff nach dem Würfel und schloss ihn über ein Kabel an sein Laptop an. Dann drückte er an dem Würfel auf eine fingerkuppengroße konkave Vertiefung mit roter Leuchtdiode, die sofort grün blinkte. Ein Konfigurationsbalken auf dem Bildschirm des Laptops füllte sich zunehmend. Nach einer Minute war er voll.

»Hallo, Will.«

Er fühlte eine kalte, körperlose Hand seine Wirbelsäule hinabstreichen und schaute in die Kamera des Laptops. »Hallo …?«

»Lange nicht gesehen. Nach meiner Uhr sind es fast drei Monate.« Die körperlose Stimme klang vorwurfsvoll.

Will schluckte hart, aber fürs Weinen war er zu versteinert und deprimiert. Er war so schockiert ihre Stimme zu hören, dass er ein paar Minuten in die Leere starrte. Schließlich kam aus ihm raus: »Tut mir leid …« Dann kam in ihm die Überzeugung auf, dass es nur eine Maschine, ein Würfel ist, zumindest versuchte er sich das einzureden: »Hör mal: Ich habe gleich ein wichtiges Treffen. Mit Dr. Delia Singh, mein vorübergehender Seelenklempner. Ich versuche, gewisse Schwächen bei ihr festzustellen, um einen eventuellen Vorteil daraus zu ziehen. Ihr Profil ist auf diesem Computer, aber ich bezweifle, dass …«

»Ja, ich habe es gerade gescannt. Du willst, dass ich dir dabei helfe, diese Person eventuell mit einem Flirt rumzukriegen?«

»Nicht unbedingt das. Nur, wenn es nicht anders geht. Kannst du mir irgendwelche Strategien diesbezüglich geben? Schließlich wurdest du von Lily geschaffen, damit du mir vorbehaltlos gehorchst.«

Nichts.

»Lily?«

»Ja, Will?«

»Ich weiß, es kostet dich einige Überwindung, dies zu tun.«

Wieder nichts.

»Na ja … ich tue es auch nur, um wieder bei der wirklichen Lily zu sein.«

Immer noch nichts.

»Hallo? Lily?«

»Ihr recht oberflächliches Dossier weist einige Parallelen zu deinem von Zerrissenheit geprägten Leben auf. Ihr beide wurdet recht unterschiedlich erzogen. Mehr kann ich dir dazu nicht sagen. Dafür hat das Dossier zu wenig Informationen.«

»Hm.«

Er reflektierte sein verkorkstes Leben und seine innere Zerrissenheit und dachte über ihr gerade Gesagtes hinsichtlich seiner Erziehung nach. Mochte darin vielleicht die Ursache liegen? Und wenn schon. Was für einen Nutzen konnte er daraus schon ziehen beim bevorstehenden Treffen? Schließlich war er kein Gigolo oder Aufreißer.

Er schaltete den Würfel aus und schaute sich noch einmal das aktuelle Portraitfoto von Dr. Singh im Dossier an. Sie war eine attraktive, schöne Frau. Trotzdem hatte sie bei näherem Hinschauen einen Ausdruck im Gesicht, der im leichten Widerspruch zu ihrer Attraktivität stand. Er blickte tief in ihre Augen, versuchte das Geheimnis ihrer Person zu ergründen. Dann kam ihm ein Wort in den Sinn: Verruchtheit.

Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es noch fünfundvierzig Minuten bis zum Termin waren. Er wurde immer nervöser. Oder war es schließlich doch ein bisschen Angst? Angst vor ihr?

Ungeduldig wartete Will im Vorzimmer der Praxis und schaute aus dem Fenster. Da er in der fünfzehnten Etage war, hatte er einen guten Ausblick auf den hässlichen Stadtteil. Die Sonne stand schon etwas schräg und tauchte die Szenerie in rhapsodisches Licht. Kleine Gestalten flanierten in einem Park oder wuselten auf dem Spielplatz. Durch das offene Fenster hörte er Hundegebell. Am Horizont näherte sich langsam aber unaufhaltsam eine Gewitterfront.

Er fragte sich, was Drágos und die anderen Vampire jetzt wohl taten, während sie auf die Nacht warteten. Schliefen sie in einem Bett oder wohl doch in einem Sarg? Er ärgerte sich, vergessen zu haben, Drágos danach zu fragen.

Schließlich schaute er sich in dem Zimmer um, er musste sich von diesem dunklen Thema ablenken. Direkt am Wartezimmer angrenzend, wo er sich gerade befand, stand eine lange Rezeption aus stabiler heller Eiche, die teuer aussah für Will, da sie eine geschwungene moderne Form ohne viel Ecken oder Kanten hatte. Rechts daneben zweigte ein Flur zum Ausgang bzw. Eingang ab. Als er zur Sprechstundenhilfe hinübersah, die hinter dem Tresen saß, ertappte er sie dabei, wie sie ihn beobachtete. Er sollte ein Anmeldeformular ausfüllen, konnte sich aber nicht darauf konzentrieren. Sein Blick schweifte weiter durch den Raum. Die Wände waren mit modernen Gemälden behangen, die man sonst in Banken und Geldinstituten ausgestellt sieht. Abstrakte Gemälde mit Klecksen und geometrischen Figuren in verschiedenen Farben. Lily hatte ihm früher oft diese Bilder in Büchern gezeigt und ihm Vorträge darüber gehalten. Doch als er sie nur einfach in den Büchern anschaute, musste er sich eingestehen, sie nicht begreifen zu können. Lily hatte ihm gesagt, man müsse große weiße Quader aus Luft im Schädel haben, um sie zu begreifen. Dann hatte sie laut gelacht. Damals wusste er nicht, was sie damit meinte, doch jetzt begann er zu verstehen.

Draußen verdeckten gewaltige Gewitterwolken die Sonne und tauchten den Raum und die Bilder in ein unwirkliches bläuliches Zwielicht. Will blickte erneut aus dem Fenster. Bäume und Sträucher bogen sich im aufkommenden Sturm. Ein Blitz zuckte am Himmel und einige Sekunden darauf hörte er den Donner. Die unheilvollen Vorzeichen hatten wohl auch die Parkbesucher mitbekommen, die sich jetzt daranmachten, eilig den Park zu verlassen. Es lag eine ungewöhnliche Spannung in der Luft.

In einem Winkel des Wartezimmers zeigte ein dreidimensionales Hologramm mit etwa einhundertzwanzig Zentimetern Diagonale einen wilden Fluss in einer rauen Gebirgslandschaft. Das National Geographic-Logo prangte unten rechts im Bild. Wahrscheinlich Pay-TV. Dann Totale auf einen mittelgroßen Fisch, der gegen die Strömung ankämpfte. Eine reißerische Stimme, passend zum reißenden Strom, quäkte aus dem Lautsprecher des schwarzen faustgroßen Projektions-Würfels.

»Der gemeine Wildlachs, auch bekannt als ›Salmo Salar‹, kämpft in seinem letzten Lebensabschnitt die gleiche Flussströmung nach oben, in der er als Jungfisch flussabwärts schwamm. Auf seinem strapaziösen Weg muss er zahlreiche Gefahren wie hungrigen Bären oder Menschen und scheinbar unüberwindbare Hürden wie kleine Wasserfälle überwinden.«

Die Projektion zeigte jetzt einen Bären, der auf der oberen Stufe eines kleinen Wasserfalls stand und geduldig wartete, bis ihm ein Fisch geradewegs ins Maul sprang. Dann fraß er zuerst seinen Kopf, »… damit er aufhört zu zappeln …«, wie die Stimme verkündete, und schließlich nur noch die ölige nährstoffreiche Haut und den Kaviar. Dann zeigte das Bild einen Gebirgssee vulkanischen Ursprungs, in dessen Gewässer die Paarung einiger Lachse gezeigt wurde. »… doch am Ziel seiner Reise angekommen, seinem Geburtsort, dem Quell seines Lebens, paart sich der Lachs, bevor sein Immunsystem schließlich völlig zusammenbricht und er schließlich vor Erschöpfung stirbt …«

Will sah tote Fische auf der Wasseroberfläche treiben. Und da war es wieder. Dieses Gefühl im Magen. Dieses Ziehen.

Plötzlich, und nicht zu früh, ging die Tür des Untersuchungszimmers auf und Dr. Delia Singh erschien. Sie war, wie Will fand, aufreizend sommerlich gekleidet, trug ein enges, cocktailfarbenes, bis zu den Knien reichendes Kleid aus gepuffertem synthetischen Stoff. Im Dekolleté und an den Armen war der Stoff dünner und durchscheinend, sodass ihre Haut darunter zum Vorschein kam. Im Gegensatz zum Portrait ihres Dossiers war sie jetzt sonnengebräunt. Wahrscheinlich war sie vor Kurzem im Urlaub gewesen. Ihre mittelblonden Haare waren mit einer Spange zusammengehalten. Sie wirkten heller als auf dem digitalen Foto, das Will vorhin genau studiert hatte. Sie sah aus wie eine Frau, die zu einer Party gehen wollte und nicht wie eine Psychotherapeutin mit dreifachem Doktortitel.

Während sie im Türrahmen blieb, betrachtete sie ihn mit einer dynamischen Kopfbewegung. »Guten Abend, Mr. Compton. Es freut mich, dass sie sich doch die Zeit genommen haben. Treten Sie doch bitte ein.«

Er stand auf und näherte sich ihr zögernd. Irgendetwas stimmte nicht. Was war das …? Und da fiel ihm plötzlich wieder ein, dass er mit dem Vampirblut in seinen Adern weitaus intensiver Reize verarbeiten konnte. Er wusste nicht, warum diese Sinne manchmal da waren und manchmal nicht, aber jetzt nahm er die Auren der Lebewesen um ihn herum wahr. Mit jeder Minute schien die Wahrnehmung stärker zu werden und er sah jetzt auch die Aura von Delia Singh, die irgendwie plüschig frisiert wirkte.

Dann wieder dieser dynamische Kopfschwenker. Diesmal in die Richtung des Empfangs.

»Ach, Ms. Hoover, da Mr. Compton der letzte Patient für heute ist, können Sie Feierabend machen.«

»Aber Frau Doktor, ich brauche noch zwei Unterschriften von Ihnen«, reagierte die Sprechstundenhilfe mit aufgeregter Stimme.

»Mr. Compton, bitte setzen Sie sich doch solange in mein Zimmer. Ich bin gleich bei Ihnen.« Will folgte ihrer Aufforderung und ging an ihr vorbei, während Dr. Singh zum Tresen lief, um die fehlenden Unterschriften zu leisten. Das einzige, was von ihr an der Tür blieb, war ihr auffälliges, doch nicht zu aufdringliches Parfüm – vermischt mit dem Duft ihrer Pheromone. Fasziniert blieb er stehen und konzentrierte sich ganz auf Delia Singhs Erscheinung. Ihr Körper schien bei jeder ihrer Bewegungen mit der ihr umgebenen Luft elektrostatisch zu reagieren. Er dachte an die Atmosphäre vor dem Gewitter, die er eben noch vor dem Fenster erlebt hatte. Delia Singh sprühte nur so vor sexueller Vitalität und hatte den Charme einer aufgeladenen elektrischen Spule. Einer sehr attraktiven, wie er sich eingestand. Dennoch hatte sie etwas Leichtes, Unbeschwertes … ja, man konnte sagen, Elegantes an sich.

Sie beugte sich kokett über den Empfangstresen und zwinkerte ihm plötzlich zu. Will zuckte erschrocken zusammen, fühlte sich ertappt und versteckte sich hinter dem Türrahmen. Er zählte bis fünf und schaute dann zurück zum Empfangstresen, wo Dr. Singh sich nun wieder mit ihrer Angestellten unterhielt. Ihre Füße steckten in cremefarbenen Stöckelschuhen. Die Muskulatur ihrer langen graden Beine war relativ stark ausgeprägt. Wahrscheinlich Joggerin oder Schwimmerin. Im alten Griechenland hätte man sie als ›Schenkelblitzer‹ bezeichnet, ging es ihm durch den Kopf. Ihr Gesäß war wohlgeformt. Nicht zu dick und nicht zu flach, wie er fand. Was auch auf ihre Brüste zutraf.

Trotz einer Entfernung von gut fünf Metern meinte er, hinter dem dünnen Stoff ihres Dekolletés einen Schweißtropfen von ihrem Hals auf ihre Brust perlen zu sehen. Es zog in seinen Lenden und er spürte, wie er einen Steifen bekam. Kopfschüttelnd wandte er sich ab und nahm im Untersuchungszimmer vor ihrem Schreibtisch Platz.

Der Regen platzte jetzt los und wurde vom Sturm gegen die Fensterscheibe gepeitscht. Die prasselnden Tropfen waren so laut, dass er glaubte, nichts anderes mehr hören zu können, doch dann erregte ein klackendes Geräusch seine Aufmerksamkeit, das aus einer kleinen Apparatur auf dem Schreibtisch drang. Es war eine kinetische Skulptur. Sie bestand aus mehreren kleinen hintereinander aufgehängten Metallkugeln, wobei eine der beiden äußeren jeweils zur Seite schwang und gegen die verbliebenen stieß. Die dadurch entstandene kinetische Energie bewirkte, dass die Kugel auf der anderen Seite zur Seite stieß und wieder zurück gegen die anderen Kugeln fiel und damit den Zyklus wieder von Neuem in Gang setzte. Irgendwie erinnerte ihn das sogenannte ›Newtonpendel‹ an sein gegenwärtiges Leben, in dem er und seine Mitmenschen, ähnlich wie die Kugeln, bloß reagierten. Reaktion und Gegenreaktion. Ihm kam der Gedanke, dass er sein Leben nicht mehr unter Kontrolle hatte und erinnerte sich an die gemeinsame Zeit mit Lily, als dies noch ganz anders schien. An die Zeit ihres kurzen Weltraumbesuchs im Lift, an ihre Liebesnächte in dem billigen mexikanischen Hotel in Veracruz und an das quecksilberfarbene Wasser, als sie, während einer Vollmondnacht, am Golf von Mexico den Strand entlangspaziert und sich dort geliebt hatten.

Sein sehnsuchtsvolles Schwelgen in Erinnerungen wurde von einer Frauenstimme hinter ihm jäh unterbrochen. Dr. Singh erschien jetzt hinter ihrem Schreibtisch und machte ein fragendes Gesicht. Da Will sie nicht verstand, stieß er nur ein »Was?« hervor, als wäre er aus einem Traum erwacht.

»Ich hatte gefragt, ob ihnen das Kugelstoßpendel gefällt.«

Erst jetzt merkte er, dass er nur wenige Zentimeter vor der gefragten Konstruktion eines Perpetuum mobiles hockte. Wie von einer Biene gestochen, schrak er zurück, setzte ein verlegenes Lächeln auf und sprach, als würde er ihr ein teures Auto verkaufen wollen. »Ja! Ein fantastisches Objekt!« Dann senkte er seine Stimme: »Na ja … es ist halt faszinierend.« Um sie gleich darauf wieder eine Oktave zu erhöhen. »Läuft es ewig so weiter?«

»Nicht wahr? Ich finde es auch faszinierend. Nein. Leider ist es immer noch Utopie, dass etwas ohne Energiezufuhr ewig läuft. Ich finde es trotzdem faszinierend. Können Sie noch andere Gründe für Ihre Faszination finden?« Wieder dieses National Geographic-Gesicht. Nervös rutschte er auf dem Stuhl herum. »Ich weiß nicht. Vielleicht erinnert es mich an mein eigenes Leben.«

»Aha.« Sie reagierte, als hätte er ihr gerade die Zusatzzahl im Lotto aufgesagt. »Interessant.« Sofort schrieb sie etwas in ihren Laptop, der auf dem Schreibtisch stand. »Warum meinen Sie, hat dieses Pendel Ähnlichkeit mit Ihrem Leben?« Sie hörte auf zu schreiben, lehnte sich zurück und blickte ihm geradewegs in die Augen.

»Tja. Keine Ahnung.« Da er so aufrichtig wie möglich sein wollte, ging ihm die Fragerei langsam auf die Nerven; das hat man davon, wenn man ehrlich ist. Wieder rutschte er auf seinem Stuhl unruhig hin und her. Außerdem wollte er nichts sagen, was den Verdacht der Firma beziehungsweise Dr. Singhs auf Wills angeblichen Drogenkonsum erhärten würde. Doch das war wohl längst geschehen, er saß in der Falle, hatte bereits zu viel gesagt und verfluchte jetzt seinen aufgeblühten und in voller Pracht stehenden Stumpfsinn. Deshalb entschied er sich dafür, vorsichtiger zu sein und zunächst nur einen Teil der Wahrheit zu erzählen. »Genau wie dieses Kugelspiel beruht mein Verhalten bloß auf Reaktion.«

Ihre Finger klapperten auf der Laptoptastatur. »Sie meinen, ihr Leben ist aus den Fugen geraten. Richtig?«

Da ihm auf die Schnelle keine ausflüchtige Antwort einfiel, bestätigte er jetzt doch ihre Annahme zähneknirschend, zog dabei aber ein Gesicht, als würde er Werbung für Zahnpasta machen. Wieder die tippenden Finger. »Aber …«, begann er hastig, »ich kriege das schon wieder hin. Bin im Moment nur etwas durcheinander.«

Sie hörte auf zu schreiben und blickte ihn mit verständnisvollem Lächeln an. »Keine Sorge. Das schaffen wir schon. Dafür sind Sie ja hier.«

Er ertappte sich dabei, ihr zu glauben. Er wollte es so gern. Die Verzweiflung trieb ihn dazu. Doch die Realität zerschnitt seine Hoffnung wie ein kaltes und präzises chirurgisches Werkzeug. Auch wenn er zugeben musste, dass er im Moment tatsächlich durch den Wind war und psychologische Hilfe nötig hatte: Was konnte sie schon gegen seine Probleme ausrichten? Dafür wäre zumindest eine halbwegs wahrheitsgetreue Schilderung seiner Probleme die Voraussetzung, doch diese Option schloss er schnell wieder aus.

Er lauschte dem unregelmäßigen Rhythmus des Regens, der immer noch laut gegen das Fenster trommelte. Dann hatte er einen Geistesblitz. Er schloss seine Augen und hob den Kopf, als würde er nach oben schauen. Andächtig begann er: »Hören Sie den Regen, wie er gegen die Scheibe trommelt?«

»Wie? Äh … ja. Ganz nett.« Verwirrung in der Stimme.

»Wenn ich nachts im Bett liege und unter Schlaflosigkeit leide, freue ich mich über schlechtes Wetter. Ich lausche dann dem Regen, wie er unstetig gegen das Fenster klopft. Erst dann gleite ich langsam die Spirale des Schlafs herab. Wollen Sie es auch mal versuchen? Na los. Machen Sie die Augen zu.«

»Ich glaube nicht, dass das der richtige Zeitpunkt ist zum …«

»Sie nehmen mich ja gar nicht ernst.« Vorwurfsvoll blinzelte er sie an und schloss dann wieder die Augen. »Wie wollen Sie mir denn helfen, wenn Sie mein Problem nicht kennen? Das können Sie nur, wenn Sie wissen, was meine Leiden, also meine Schlafstörungen kuriert. Oder?«

Inzwischen war ihre plüschige Aura bis etwa dreißig Zentimeter über ihrem Kopf angewachsen. Vielleicht macht sie Yoga? Ihre Beweglichkeit ist hoffentlich so perfekt wie ihre Aura, dachte Will unwillkürlich.

»Hm, also gut …« Erwartungsvoll schloss sie ihre Augen und befeuchtete ihre Lippen, als würde sie dadurch ihre Konzentration erhöhen können. Einige Sekunden blieb sie voller Andacht, dann öffnete sie ungeduldig eins ihrer Augen und blickte Will damit an.

»Nein. Sie müssen beide Augen geschlossen halten. Sonst klappt es nicht. Nur so werden Sie verstehen, was ich meine. Sie wollen mir doch helfen, oder?«

Mit leisem Zweifel in dem Auge machte sie es wieder zu und lehnte sich zurück. Nach einigen Sekunden hatte es tatsächlich den Anschein, als würde sie dem Regen lauschen. Jetzt sah Will seine Zeit gekommen, die aphrodisierende Kraft seines Speichels auf die Probe zu stellen. Mit wild pochendem Herzen stand er leise auf und schlich mit schneller, unglaublicher Geschmeidigkeit um den Schreibtisch herum auf sie zu … und stolperte über das Stromkabel ihres Laptops. Er knallte der Länge nach hin und hielt sich vor Schmerzen sein rechtes Schienbein.

»Nanu! Was ist passiert? Was hatten Sie vor?« Aufgeschreckt durch das Poltern beendete sie ihre Kontemplation in den Regen und blickte überrascht nach unten auf Will, der neben ihr auf dem Boden lag und wütend vor sich hin fauchte.

»Au, verdammt! Dummer Schreibtisch! Blödes Kabel! Ich wollte mir nur etwas die Beine vertreten …«

»Hm. Warten Sie. Ich helfe Ihnen hoch …«

Plötzlich sah er doch noch seine Chance. Er nahm ihre einladende Hand und statt sich an ihr hochzuziehen, zog er Delia Singh nach unten. Sie verlor ihr Gleichgewicht und fiel in seine Arme, während er seinen Mund auf den ihren drückte. Ihre Verwirrung nutzte er für sich aus und gewann dadurch wertvolle Zeit. Und während er ihr seine Zunge in den Mund steckte und sich von beiden der Speichel vermischte, spürte er ein kurzes Prickeln im Mund. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als er sich darüber freute, wie das Brausepulver auf seiner Zunge zischte. Wahrscheinlich eine chemische Reaktion, vermutete er im Stillen. Sie stöhnte auf, stützte sich mit ihren Händen auf seiner Brust ab und zog ihren Kopf nach hinten. Verwirrt und mit Schamesröte im Gesicht schaute sie ihn an, als wäre er gerade einem extraterrestrischen Raumschiff entstiegen. Mit lausbübischem Grinsen erwiderte er ihren Blick und wartete auf die erhoffte Wirkung. Doch nichts geschah. Er setzte ihr nach und presste erneut seine Lippen auf die ihren.

Blitzschnell zog sie ihren Kopf nach hinten, stieß sich von ihm ab und stand mit Hilfe des Rückstoßes gekonnt auf.

»Ich weiß zwar nicht, was Sie zu sich genommen haben, aber wenn Sie mich noch einmal berühren, rufe ich den Wachdienst.« Ihre Stimme klang, als hätte sie gerade einen Hundertmetersprint hinter sich und Will konnte ihre Unsicherheit jetzt deutlich heraushören. Mehr noch, er konnte es in ihrem Gesichtsausdruck erkennen, als sie jetzt mit zerzaustem Haar vor ihm stand und sich verlegen eine Strähne hinters Ohr schob, die sich aus der Spange gelöst hatte.

Merkwürdigerweise legte sich ihre Verwirrung und ihre Verlegenheit von einer Sekunde zur nächsten. Wahrscheinlich wirkte sein Speichel jetzt doch. Vorsichtig stand er auf und stellte sich geckenhaft vor ihr hin. Wieder dieses irre Grinsen im Gesicht.

»Sie sind ja komplett irre.« Ihre Stimme klang wieder etwas sicherer und sie wischte mit zwei Fingern über ihre Lippen. »Was immer Sie haben, was immer Ihnen fehlt: Sie müssen entweder ausnüchtern oder die richtigen Medikamente nehmen. Bitte bleiben Sie hier für einen Moment stehen.« Sie griff nach dem Telefon auf ihrem Schreibtisch.

»Moment. Warte bitte …«, hauchte er wie ein Don Juan und legte seine Hand auf die ihre mit dem Telefon. Dann trat er sehr nahe an sie heran und ihre Körper berührten sich beinahe. »Ich weiß, das klingt abgedroschen, aber als ich dich heute Morgen auf dem Bildschirm gesehen habe, da war ich schon verrückt nach dir.« Immer noch diese Zärtlichkeit in der Stimme.

Sie zögerte und schaute ihn nachdenklich an. Wieder diese Unsicherheit in ihrem Gesichtsausdruck. Er streichelte liebevoll ihre Hand, mit der sie das Telefon hielt. Dann zuckte es in ihrem Mundwinkel. Das ist das Zeichen, oder?, überlegte er. Langsam näherte er sich mit seinen Lippen ihrem offenen keuchenden Mund. Er spürte ihren heißen Atem und küsste sie innig und doch zärtlich. Er fragte sich, ob sie wohl auch dieses Prickeln im Mund spürte. Lustvoll stöhnte sie auf.

Gierig griff er unter ihr Kleid, seine Finger glitten in ihren Schlüpfer. Dann Verwirrung und schließlich Schock. Seine Finger umfassten einen halberigierten Penis. Er zog seine Zunge aus ihrem Mund und stieß sie blitzschnell von sich.

»Oh Gott! Das kann nur mir passieren … Was zum Teufel bist du? Ne Transe …?«

Betroffen schaute sie ihn an. Dann setzte sie ein schelmisches Grinsen auf. »Nein, mein Lieber. Keine Transe. Ein Hermaphrodit. Wenn du etwas tiefer runter gegriffen hättest, wärst du zum Ziel deiner Träume vorgedrungen.«

»Was, ein Hermaphro…?« Jetzt war er es, der keuchte.

»Ein Zwitter, du Schlauberger.« Lässig lehnte sie sich mit zerzausten Haaren an den Schreibtisch. Immer noch grinsend. Ihre Aura war jetzt wild und turbulent. Wie Protuberanzen auf der Sonnenoberfläche. Er fühlte sich, als wäre er in einem bösen Traum erwacht und ging nervös auf und ab. Was sollte er machen? Er brauchte schließlich ihre Hilfe. Nur sie entschied darüber, ob und wann er eine Blutprobe abliefern musste.

»Na, gefällt dir das denn nicht, was du siehst?« Aufreizend hielt sie mit ihren beiden Händen ihre strammen Brüste und zog dabei eine ihrer Augenbrauen nach oben. Zögernd hob er wieder den Kopf und schaute sie prüfend an. Er musste zugeben, dass ihm gefiel, was er sah. Er konnte seinen ersten Eindruck von ihr nicht revidieren. Und er war immer noch geil.

Langsam ging er auf sie zu, schob seine Hand wieder unter ihren Rock und fand, wonach er gesucht hatte.

Opus Sanguis

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