Читать книгу Thwaites stirbt - Caspar Heyse - Страница 3
ОглавлениеVor nicht allzu langer Zeit lebte auf der Erde einmal ein Volk, das nannte man die Schildbürger. Sie waren einst durch ihre Dummheit berühmt geworden, und das kam so: Die Schildbürger waren aus dem Land der Dichter und Denker gekommen, anfangs sehr fleißig und klug gewesen, hatten Bücher geschrieben und Theaterstücke, philosophische Werke veröffentlicht, und damit hatten sie die Menschen beeindruckt. Um dies alles in die Welt zu tragen, waren sie aus ihrer Heimatstadt Schilda fortgegangen und hatten andere belehrt. Könige und Kaiser suchten ihren Rat, holten sie an ihre Höfe und versorgten sie dort mit dem Besten, was ihre Länder zu bieten hatten. Immer mehr Schildbürger gingen deshalb ins Ausland, so dass zu Hause nur noch die Frauen und Kinder waren. Wenn dort am Anfang auch noch alles gut ging, so wurde das Leben für die Frauen mit der Zeit doch immer schwerer. Sie mussten nämlich nicht nur die Arbeit der Männer machen – die Saat ausstreuen, die Früchte ernten und die Häuser reparieren –, sondern sie unterrichteten auch noch die Kinder, weil der Lehrer ebenfalls in der Fremde war. Und so trug es sich zu, dass die Schildbürger alsbald Briefe aus der Heimat erhielten: Briefe, in denen stand, dass sich zu Hause alles sehr zum Schlechten gewendet hätte und alles den Bach herunter ginge. Folglich blieb den Männern nichts anderes übrig, als Boten nach Schilda zu schicken, die sich in der Folge davon überzeugten, dass die Frauen wirklich nicht gelogen hatten.
Im Gegenteil: Sie berichteten den Schildbürgern, es stehe daheim noch schlechter, als ihnen geschrieben worden sei, und wenn sich nicht bald etwas ändere, werde schon bald nichts mehr übrig sein von dem, was sich die Familien einst erarbeitet hätten. Die Männer aus Schilda bekamen große Angst, verabschiedeten sich von den Königen und Kaisern und fuhren so schnell wie möglich nach Schilda zurück. Dort angekommen, erkannten sie ihre Heimat kaum wieder. Die Häuser waren kaputt, durch die Fenster pfiff der Wind, und auf den Dächern waren kaum mehr Ziegel. Die Straßen hatten große Löcher, die Räder der Wagen quietschten, und die Brunnen waren verstopft. Mit den Kindern kamen die Mütter schon lange nicht mehr zurecht, sie gehorchten ihnen nicht mehr und streckten nur ihre Zungen heraus, wenn sie ermahnt wurden.
„Das haben wir nun von unserer Klugheit“, sagten die Schildbürger und kratzten sich an den Köpfen. Sofort machten sie sich daran, die Dächer und Fenster zu reparieren, gaben den Kindern ein paar Klapse, so dass diese wieder gehorchten, und trafen sich dann einige Tage später im Wirtshaus zu einer Versammlung. Gegenseitig klagten sie sich ihr Leid, und jeder wusste etwas zu berichten, das noch schlimmer war als das, was er gerade vom Nachbarn gehört hatte.
Gemeinsam überlegten sie, um zu einer Lösung zu kommen. Schon wieder standen Leute aus fernen Ländern vor der Türe, die wollten, dass sie mitkommen sollten.
„Wir brauchen euch, denn ihr seid so klug, und ohne eure Ratschläge geht es bei uns nicht voran“, sagten sie.
Die Schildbürger versuchten es einstweilen mit einer Lüge. „Wir sind krank“, sagten sie, und jeder erfand schnell ein anderes Leiden, das ihn quälte: Der eine hatte starke Halsschmerzen, den anderen zwickte es im Bauch und wieder andere plagte ein fauler Zahn oder sie hatten ein wehes Bein.
Da gingen die Leute wieder weg. „Aber sobald ihr gesund seid, kommen wir zurück, und dann nehmen wir euch mit“, riefen sie zum Abschied.
Den Schildbürgern gefiel das gar nicht, und sie wollten die Zeit nutzen, um weiter nachzudenken.
Nach einiger Zeit kam dem alten Wirt des Gasthauses eine Idee. Er war als junger Mann lange Zeit im Krieg gewesen und hatte nur noch ein Bein.
„Ich weiß es jetzt“, sagte er. „Wenn einem Menschen etwas fehlt, dann ist das manchmal auch zu seinem Vorteil. Seht mich an: Ich habe nur noch ein Bein, und weil das so ist, musste ich nicht mehr in den Krieg. Mit zwei Beinen würde ich vielleicht nicht mehr leben.“
Die anderen verstanden nicht, was er ihnen sagen wollte und wurden ungeduldig.
„Nun verrate uns schon, worauf willst du hinaus?“ und „Lass uns nicht länger warten!“, riefen sie durcheinander.
Wie ein Studierter hob da der Wirt den Zeigefinger und sah sie mit einem Blick voller Weisheit an, so dass sie alle sofort still waren: „Nun, was ich damit sagen will: Offenbar ist es für mich gut gewesen, dass ich nur ein Bein hatte und das andere war zu viel. Genauso ist es mit unserer Klugheit! Sie ist zu viel, und sie fügt uns nur Schaden zu!“ Ein leises Raunen ging durch die Runde, weshalb der Wirt nachsetzte: „Lasst es euch sagen: Die Klugheit ist an allem schuld. Ich habe in meinem Leben gelernt, wie gut es ist, wenn einem etwas fehlt.“ Er klopfte auf seinen Beinstumpf und fügte hinzu: „Wir müssen die Klugheit aus unseren Köpfen schneiden, so wie sie mir einst mein Bein abgeschnitten haben!“ Er machte eine kleine Pause, um es spannender zu machen. Danach fuhr er fort: „Und was ist das Gegenteil von Klugheit? Dummheit! Nur die Dummheit kann uns retten!“
Die anderen verstanden nicht gleich. „Wie meinst du das? ‚Nur die Dummheit kann uns retten‘?“
„Nun“, antwortete der Einbeinige und zog klug die Augenbrauen hoch, „wir müssen uns dumm stellen, dann lassen uns die Könige und Kaiser ganz gewiss endlich in Ruhe.“
„Aber wie stellt man sich dumm?“, fragte der Bürgermeister von Schilda und kratzte sich dabei an der Nase: „Mir scheint, Dummheit vorzugaukeln, ohne in Wirklichkeit dumm zu sein, ist nicht so leicht.“
„Ach was“, meinte der Wirt voller Zuversicht. „Wir sind klug und werden das schon hinbekommen.“
“Bravo!“, riefen jetzt einige aus der Runde.
„Dumm zu sein ist mal was ganz anderes“, rief einer von ganz hinten, und „Lasst es uns doch versuchen!“ ein anderer. Immer mehr Schildbürgern gefiel der Plan, bis sie sich endlich einig waren: Sie wollten ihr Glück ab jetzt mit der Dummheit versuchen.
Die Versammlung wurde beendet, und in der nächsten Zeit übten sie alle das Sich-dumm-Stellen im Verborgenen. Das ging besser und schneller, als sie gedacht hatten: Sie brauchten nur wenige Wochen, bis sie schon ziemlich zufrieden mit sich waren.
„Ich habe kaum mehr kluge Gedanken“, sagte der Bürgermeister bei der nächsten Versammlung, und auch die anderen meinten, dass sie nur noch dumme Ideen in ihren Köpfen hätten.
„Meine Kinder fragen manchmal: Was redest du nur für dumme Sachen?“, meinte einer. „Das hast du doch früher nicht getan!“
„Genau wie bei mir“, meldete sich ein anderer Schildbürger zu Wort: „Sie sagen, wenn sie mich reden hören, dreht sich ihnen der Magen um!“ Dabei hielt er sich vor Lachen den Bauch fest.
„Passt nur auf: Wer lange genug tut, als wäre er dumm, der wird es am Ende wirklich sein!“, warnte der kluge Lehrer sie. Doch die Schildbürger lachten ihn nur aus und waren froh, weil ihnen das Dummsein so gut gelungen war. Dann gingen sie an ihren ersten Streich.
Sie bauten ein Rathaus, das sah ganz besonders aus, denn es war dreieckig. Nach einigen Wochen war es fast fertig, und sie mussten nur noch das Dach darauf setzen. Als sie auch das hinbekommen hatten, gingen sie stolz in das neue Gebäude. Doch kaum waren sie drinnen, da stolperten sie auch schon über die Beine der anderen, stürzten und taten sich weh.
„Ach Mensch, es ist ja völlig dunkel in unserem Rathaus“, sagte der Bürgermeister. „Was können wir machen?“
„Ich habe eine Idee“, meinte der Wirt. „Wir müssen das Licht nur in das Haus hineintragen, und schon wird es hell!“
Gesagt, getan: Sie schaufelten vor der Tür das Sonnenlicht in Säcke, Töpfe und Eimer und trugen es hinein. Als sie die Behälter ausgeschüttet hatten, merkten sie, dass es drinnen immer noch dunkel war. Verdutzt sahen sie sich an, denn sie verstanden nicht, warum ihre Arbeit umsonst gewesen war.
Sie wussten sich keinen Rat mehr, und auch dem Wirt fiel nichts ein. Zum Glück kam ein Besucher vorbei, der vom dreieckigen Rathaus angelockt worden war, und der hatte eine Idee: „Ihr müsst das Dach abdecken, dann wird es wieder hell!“
Begeistert folgten die Schildbürger seinem Rat, und in weniger als einem Tag hatte das Rathaus kein Dach mehr. Zufrieden gingen sie hinein: „Nun ist es hell“, sagten sie. „Manchmal muss man auch auf einen Rat von anderen hören!“
Als der Herbst kam, begann es zu stürmen und zu regnen. Die Schildbürger wurden in ihrem Rathaus klatschnass und liefen schnell davon. Offenbar war der Ratschlag des Fremden doch nicht so gut gewesen.
Wie immer, wenn es notwendig war, trafen sie sich im Wirtshaus und überlegten hin und her.
„Was ist erst, wenn es schneit?“, jammerte der Wirt. „Dann haben wir einen Berg voll Schnee im Rathaus und können es gar nicht mehr betreten.“
„Es hilft alles nichts“, sagte der Bürgermeister streng. „Wir müssen dem Rathaus wieder ein Dach geben!“
Sofort machten sie sich an die Arbeit, und weil sie dabei sehr geschickt zu Werke gingen, waren sie noch vor dem Winter mit dem Dach fertig. So konnten sie nun wieder in ihr Rathaus gehen, ohne nass zu werden.
„Aber jetzt haben wir wieder das Problem mit der Dunkelheit!“, sagte der Wirt.
„Man kann nicht alles haben im Leben“, erwiderte der Bürgermeister. „Entweder du hast es trocken oder du hast es hell. Beides geht nicht!“
„Vielleicht doch“, widersprach der Wirt. „Lasst uns Streichhölzer anzünden!“
Flugs zündete jeder von ihnen ein Streichholz an, und schon wurde es etwas hell im Rathaus. Leider dauerte dies nicht lange, denn als die Streichhölzer abgebrannt waren, war es sofort wieder stockdunkel.
Da zeigte einer von ihnen plötzlich an die Decke. „Seht mal, von da oben kommt Licht herein!“
„Richtig“, rief ein anderer. „Da ist ein kleines Loch im Dach!“
„Oh nein!“ Der Bürgermeister wollte sich mit der Hand an die Stirn schlagen, traf aber, weil es so dunkel war, nur seine Nase, so dass er vor Schmerzen laut brüllte.
„Was ist passiert?“, fragten alle wie aus einem Munde.
„Nichts ist passiert, nichts, verdammt noch einmal!“, fluchte der Bürgermeister. Er wollte doch sein Missgeschick nicht zugeben und hatte sich rasch wieder im Griff.
„Mir ist nur etwas auf den Kopf gefallen“, sagte er darum. „Wahrscheinlich kam es durch das Loch geflogen. Aber das ist auch jetzt egal. Die Hauptsache ist, dass ich die Lösung gefunden habe!“
„Welche Lösung?“, fragten die anderen dumm.
„Die Lösung für unser Problem! Wir brauchen nämlich Löcher in den Wänden, und dann ist es auch nicht mehr dunkel hier drinnen. Habt ihr verstanden?“
Keiner von den anderen sagte etwas, offenbar waren Sie noch am Überlegen.
„Begreift ihr nicht?“, rief der Bürgermeister ungeduldig. „Fenster müssen her! Wir haben die Fenster vergessen!“
„Oh ja, wir Dummköpfe! Wir haben die Fenster vergessen!“ Es war der Wirt, der als Erster verstanden hatte, und jetzt ging auch allen anderen ein Licht auf.
„Fenster!“, brüllten die Schildbürger im Chor. „Wir brauchen Fenster!“
„Dann lasst uns nicht lange fackeln und gleich mit der Arbeit beginnen“, schlug der Wirt vor. In wenigen Stunden waren die Fenster fertig, und es strömte von allen drei Seiten Licht ins Rathaus. Die Männer von Schilda freuten sich über ihre Erfindung, und nun kamen aus allen Richtungen Leute herbei, die sehen wollten, wie dumm die Schildbürger waren.
„Seht ihr“, sagte am Abend im Wirtshaus der Bürgermeister stolz. „Seht ihr, nun müssen wir nicht mehr in die Fremde gehen, denn die Leute kommen zu uns und lassen ihr Geld in unserer Stadt!“
„Ja, für was Dummheit nicht alles gut ist“, stimmte der Wirt zufrieden zu und nahm einen großen Schluck aus seinem Weinkrug. Seitdem er so dumm war, tat er das immer häufiger.
Im ganzen Land hörten die Menschen von den Streichen der Schildbürger, und deren Dummheit sprach sich überall herum. So kam es, dass ihr Rat mit der Zeit sehr begehrt war, und sie wurden reich und mächtig.
Für jeden dummen Rat gab es gutes Geld, und es gab nichts, dass so dumm gewesen wäre, dass die Menschen es nicht befolgt hätten.
„Das haben wir nur dem dreieckigen Rathaus zu verdanken“, sagte der Bürgermeister bei der nächsten Versammlung. „Wenn wir noch mehr besondere Dinge erfinden, dann werden wir noch reicher!“
So entbrannte mit der Zeit ein richtiger Wettstreit darüber, wer sich denn die dümmsten Sachen ausdachte. Jeder wollte darin der Beste sein, und alle wollten sie die dümmsten Erfindungen machen. Weil aber selbst die dummen Schildbürger begriffen, dass dies nicht möglich war und immer nur einer gewinnen konnte, kamen sie zu dem Schluss, dass jeder von ihnen etwas Besonderes machen musste, wo ihm dann keiner mehr die Führung streitig machte. Überhaupt reichte es ihnen schon lange nicht mehr, im Frühjahr die Felder zu bestellen und im Herbst die Ernte einzufahren, denn in ihrer Dummheit glaubten sie nun, ganz einzigartige Talente an sich zu entdecken, mit denen sie sich gegenseitig in den Schatten stellen konnten. Und so kam es, dass der eine Baumeister wurde, der zweite Ingenieur und der dritte Erfinder, und das, obwohl sie in Wirklichkeit gar keine Begabung dazu hatten. Manche, die sich noch an ihr Rathaus ohne Dach erinnerten und daran, wie gut sie den Mangel damals behoben hatten, wurden Dachbearbeiter, und solche, die diese wiederum übertrumpfen wollten, nannten sich Dachverständige. Und so ging es immer weiter nach oben mit der Wichtigkeit: Einer, der glaubte, es besonders gut beim lieben Gott stehen zu haben, wurde Pfaffe, ein anderer, der sich schon immer für den Krieg begeisterte, wurde Feldmarschall, solche, denen es darum ging, viel Geld zu verdienen, wurden Geschäftemacher, und diejenigen, die sich die allergrößten Talente zutrauten, wurden Minister und Staatenlenker. Nur Lehrer wollte keiner sein, denn dazu hätte man nach Ansicht der Schildbürger nur einfach klug sein müssen, und das war nun wirklich das Letzte, das sie wollten.
Immer mehr Berufe kamen hinzu, bis schließlich alle zufrieden waren, und es war das gemeinsame Ziel aller, die Welt mit Dummheiten zu überschütten. Jeder wollte die besten Ideen haben, und so wetteiferten die Schildbürger auch schon wieder darum, wer sich denn wohl die verrücktesten Neuerungen einfallen ließe. Das war im Großen so wie im Kleinen: Erfanden die einen dies, bastelten die anderen jenes zusammen, hatte der eine den größten Wagen, so wollte der andere einen noch größeren haben, war das Haus des Ersten schon riesengroß, so musste das des Zweiten noch gewaltiger sein. Der Wettkampf erfasste schließlich die ganze Welt: Schwangen diese sich hoch in die Lüfte und trachteten sogar danach, die Sterne zu erobern, so tauchten jene am Grund des Meeres entlang und suchten der Erde ihre kostbaren Schätze zu entlocken, und wenn die im Osten eine Rakete erfanden, mit der man bis zum Mond und wieder zurück fliegen konnte, so bauten die im Westen eine, mit der sie auf der gesamten Milchstraße spazieren fuhren.