Читать книгу Eine übereilte Heirat. Historischer Roman - Catherine St.John - Страница 3

II

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Doch alle diese schönen Pläne wurden zunichte gemacht, da Ende Oktober Lord Weyhill dahingehend informiert wurde, dass seine Anwesenheit in Aachen dringend erforderlich sei, wo seit Ende September eine Konferenz der europäischen Mächte tagte. Ein Mitglied der britischen Delegation war erkrankt, und Lord Weyhills Erfahrung und Kenntnisse waren dringend erwünscht. Man bedauerte zwar, ihn so kurzfristig belästigen zu müssen, aber ob er Anfang November in Aachen eintreffen könne?

Um das Maß vollzumachen, stellte sich auch noch heraus, dass Viscount Castlereagh den sehnlichen Wunsch hegte, Lord Weyhill möge seine Pflichten in Stockholm bereits Mitte Dezember antreten, um Sir Anthony Brough, seinen Vorgänger, abzulösen, der wegen seines Gesundheitszustandes so rasch wie möglich nach England zurückkehren müsse.

Diese höflich formulierten Weisungen, die dennoch Befehlen gleichkamen, versetzten den Earl in äußerst üble Laune. Nachdem er ausgiebig und für einen Diplomaten erstaunlich derb geflucht hatte, auch seine Kollegen mit allerlei kräftigen Ausdrücken bedacht hatte, wovon „kränkliche Bande“ und „unbrauchbares Pack“ noch die mildesten waren, begab er sich zu Frau und Tochter, die im Salon gerade Einzelheiten der Hochzeit besprachen, und klagte ihnen sein Leid.

Sobald er seinem Unmut Luft gemacht, einige zynische Bemerkungen über den zu erwartenden Erfolg der Konferenz fallen gelassen und die Drohung ausgestoßen hatte, sich ins Privatleben zurückzuziehen, wenn man weiterhin so mit ihm umspränge, sah er seine Familie betreten an: „Was machen wir denn nun?“

Lady Weyhill, die ihres Gatten Ausführungen über die Freuden des Ruhestandes nicht weiter beachtet hatte, da sie wusste, wie viel Wert ihnen beizumessen war, zuckte mit den Schultern. Victoria erkundigte sich, wie lange die Konferenz noch dauern werde.

„Das weiß keiner, mein Kind. Wenn sie tagen, bis sie ein Ergebnis vorzuweisen haben, dann wahrscheinlich bis zum Jüngsten Tag. Aber vor Ende November kann ich keinesfalls zurückkommen, und dann haben wir knappe zwei Wochen Zeit, die Übersiedelung nach Stockholm vorzubereiten und deine Hochzeit zu feiern. Wie wir das schaffen sollen, ist mir ein absolutes Rätsel. Muss der vermaledeite Brough sich ausgerechnet jetzt auf seine schwache Gesundheit besinnen!“

Er schnaufte wütend.

Lady Weyhill legte Protest ein: „In den kurzen zwei Wochen zwischen unserer Rückkehr aus Aachen und unserer Abreise nach Stockholm kann Victoria unmöglich heiraten! Wie sollen wir das fertigbringen?“

„Ich dachte, wenn ich alleine nach Aachen fahre -“

„Unsinn!“, unterbrach ihn seine Gattin entschieden. „Natürlich werde ich dich wie gewöhnlich begleiten. Für Victorias Hochzeit muss eine andere Lösung gefunden werden.“

Lord Weyhill, der in der Tat nicht gerne ohne seine resolute Gattin verreiste, die ihm stets alle Alltagssorgen fernhielt und für sein Wohlbefinden sorgte, so dass er sich ganz seinen Aufgaben widmen konnte, war insgeheim erleichtert, doch er schämte sich dessen ein wenig, als er das ratlose Gesicht seiner Tochter sah.

Bevor ihnen aber eine geeignete Lösung einfallen konnte, trat wie ein deus ex machina die vierte Hauptperson auf: Lord Simon wurde gemeldet und wahrscheinlich mit größerer Freude denn je empfangen: Ihm würde gewiss etwas einfallen.

Er lauschte mit leicht verwirrtem Ausdruck der dreifach vorgetragenen Hiobsbotschaft, doch schließlich hatte er verstanden, worum es ging, und hatte auch tatsächlich sofort einen Vorschlag zu bieten: „Und wenn wir die Hochzeit noch weiter vorverlegen?“

„Wie meinen Sie das?“, erkundigte sich Lady Weyhill.

„Nun, wir könnten doch schon vor Lord Weyhills Abreise nach Aachen heiraten – mit einer Sondergenehmigung. Dann könnten Sie sich beruhigt Ihren Aufgaben widmen, Sir, und Sie, Mylady, in aller Ruhe Ihre Übersiedelung vorbereiten.“

Victorias Eltern waren von dieser Idee begeistert, doch Victoria selbst warf ihrem Zukünftigen einen bestürzten Blick zu, den dieser mit ausdrucksloser Miene quittierte.

Himmel, das war ja praktisch schon in den nächsten Tagen – wie sollte sie in dieser kurzen Zeit Klarheit über Simons Gefühle erlangen?

Ihren Eltern allerdings erschien dieser Vorschlag, nachdem einige Einwände, das Unschickliche einer so überstürzten Heirat betreffend, leicht entkräftet worden waren, im Lichte einer äußerst befriedigenden Lösung, doch selbst sie erschraken ein wenig, als Simon in aller Seelenruhe den einunddreißigsten Oktober vorschlug.

„Schon so bald?“, entsetzte sich Mylady. „Wie sollen wir in dieser Zeit denn ein Brautkleid machen lassen, und die Gäste! Werden sie eine so kurzfristige Einladung nicht arg seltsam finden?“

Lord Simon erinnerte seine Schwiegermutter höflich daran, dass seine Familie sich noch in Trauer befinde und daher eine stille Hochzeit mit möglichst wenigen Gästen angezeigt erscheine.

„Ach ja, richtig, verzeihen Sie. Aber Ihre Familie! Kann sie denn in so kurzer Zeit nach London kommen? Sie werden doch nicht ohne Ihre Familie heiraten wollen?“

Er lächelte so strahlend, wie Victoria es noch nie an ihm gesehen hatte. Verblüfft und fasziniert registrierte sie den jungenhaften Charme, den seine gut geschnittenen und sonst so kühlen Züge plötzlich ausstrahlten, und vergaß einen Moment lang ihre Besorgnis.

„Nein, Mylady, das wird wohl nicht gehen, aber wir werden sofort nach der Hochzeit nach Lynham fahren, so dass sie alle Victoria gleich kennen lernen können. Victoria, sind Sie mit diesem Termin einverstanden?“

„Der Tag der Reformation - oder Hallowe´en“, murmelte die so Angesprochene, geistesabwesend lächelnd. „Ein schönes Datum. Ja, ich bin einverstanden. Ob in unserer Hochzeitsnacht Hexen durch die Luft fliegen werden – was glauben Sie?“

„Victoria, bitte lass diese unangebrachten Scherze!“, rügte Lady Weyhill, während der Earl schallend lachte.

„Hexen in der Hochzeitsnacht! Das ist gut – sogar sehr gut!“ Er verstummte, als er bemerkte, dass niemand seine Heiterkeit teilte; seine Frau wirkte ein wenig verstimmt, Victoria sah abwesend drein, und Lord Simon betrachtete seine Verlobte nachdenklich, als vermute er einen tieferen Sinn hinter ihren Worten. Er wollte gerade bemerken, dass man von einer Hochzeitsgesellschaft doch wohl etwas fröhlichere Gesichter erwarten dürfe, doch etwas in den Gesichtern seiner Tochter und seines Schwiegersohnes in spe hielt ihn davon ab.

*

Die wenigen Tage bis zur Trauung vergingen mit hektischen Vorbereitungen und der Klärung letzter Fragen (auch finanzieller Natur) in Windeseile, und ehe Victoria es sich recht gewahr wurde, stand sie neben Simon vor dem Altar von St. George am Hanover Square und versprach, ihn in guten und schlechten Tagen, in Reichtum und Armut zu lieben, zu ehren, ihm zu gehorchen und ihm die Treue zu halten – bis dass der Tod sie schied.

Als sie an seinem Arm die Kirche verließ und die Kutsche bestieg, die sie zur Brook Street zurückbringen sollte, fragte sie sich im Stillen unablässig, ob sie nicht eine entsetzliche Torheit begangen habe. Sie hatte Simon geheiratet, weil sie ihn liebte, gut – aber liebte er sie auch? Warum hatte er um sie angehalten? Sie hoffte immer noch, auch er hege zärtliche Gefühle für sie, aber nun, da sie nicht mehr zurückkonnte, gestand sie sich ein, das für diese Hoffnung eigentlich wenig Anlass bestand; er war ihr in den letzten Tagen kein bisschen vertrauter geworden, hatte nie versucht, zärtlich zu werden oder auch nur, sie ein wenig besser kennenzulernen – konnte man da noch glauben, er sei nur schüchtern?

Sie versuchte, ihre düsteren Gedanken, die sich so gar nicht für eine Braut an ihrem Hochzeitstag ziemten, damit zu verdrängen, dass sie sich sagte, genauso gut hätte sie eine Vernunftehe schließen können: Simon war höflich und freundlich zu ihr und sie war ihm darüber hinaus auch noch zugetan – waren das nicht eigentlich recht günstige Voraussetzungen für eine glückliche Ehe? Obendrein war er auch noch eine angemessene Partie, so dass man bestimmt wegen finanzieller oder gesellschaftlicher Fragen nie Probleme haben würde.

Victoria kannte ein junges Mädchen aus recht guter und auch nicht gerade armer Familie, das darauf bestanden hatte, einen Marineleutnant in ungünstigen Verhältnissen zu heiraten, und schließlich mit ihm durchgebrannt war; einmal hatte sie sie nach der Heirat besucht und festgestellt, dass die beengten Umstände ihrer Freundin doch arg aufs Gemüt schlugen und sie sich mit ihrem Mann über lauter Kleinigkeiten zankte, weil sie ihm nicht offen ihre wahren Vorwürfe machen konnte – dass sie nämlich seinetwegen in so unangenehmen Verhältnissen leben müsse und außerdem noch den Kontakt zu ihren angeseheneren Bekannten gänzlich verloren habe. Victoria hatte sich zwar ein wenig über die junge Frau gewundert, die doch schließlich schon vor der Hochzeit gewusst hatte, dass ihr Mann weder von Stand noch von Vermögen war; aber dass es den Beginn einer Ehe durchaus erschwerte, wenn man mit solchen Problemen zu kämpfen hatte, konnte sie durchaus verstehen.

Nun, bei ihr war das gewiss nicht der Fall – wenigstens ein Trost. Außerdem hatte Simon ja auf Lynham seine Familie, und Victoria, die bisher eigentlich mit allen Menschen glänzend zurechtgekommen war, konnte sich nichts anderes vorstellen, als dass Simons Mutter und seine Brüder ganz entzückend zu ihr sein würden. Ja, wenn man es recht betrachtete, sprach tatsächlich eine ganze Menge für diese Ehe! Sie begann, etwas optimistischer in die Zukunft zu sehen, und brachte es auch fertig, die Hochzeitsfeier im Hause ihrer Eltern zu genießen, obwohl Lady Weyhill, ein Opfer ihrer Rührung, heftig in ihr Taschentuch schluchzte und es wortreich bedauerte, dass die Hochzeit ihrer einzigen Tochter so schmucklos und schlicht verlaufe.

Schon am Nachmittag jedoch drängte Simon zum Aufbruch. Dieses Zeichen ehelicher Ungeduld schmeichelte ihr, und sie fragte lächelnd zurück: „Warum hast du es denn so eilig?“

Er wandte sich ab und richtete vor einem Spiegel seine Krawatte. „Nun, ich möchte gerne vor Anbruch der Dunkelheit zu Hause sein – du nicht?“

„Vor Anbruch der Dunkelheit? Das schaffen wir nie und nimmer! Sieh mal, in zwei oder drei Stunden wird es schon dunkel, und in dieser Zeit werden wir höchstens den halben Weg zurückgelegt haben. Außerdem müssen wir uns noch umziehen. Warum willst du nicht im Dunklen reisen? Hast du Angst vor heidnischen Bräuchen?“

Er warf ihr einen seiner unergründlichen Blicke zu. „Vielleicht.“

Sie zuckte mit den Schultern. „Gut, ich gehe mich umkleiden. Wenn du in der Zwischenzeit das Gepäck verstauen lässt, können wir bald fahren. Einverstanden?“

Ein flüchtiges Lächeln belohnte ihre Fügsamkeit. „Einverstanden. Beeil dich, bitte!“

Sie eilte die Treppe hinauf und ließ sich ein letztes Mal von ihrer Zofe – die in den nächsten Tagen ebenfalls heiraten wollte und deshalb den Dienst aufgekündigt hatte – in ein Kleid helfen, ein graues Reisekleid aus schwerem Wollstoff, mit schwarzer Posamentverzierung und einer dazu passenden grauen Kappe. So geschmückt begab sie sich wieder nach unten; während sie die Treppe hinabschritt, streifte sie ihre grauen Ziegenlederhandschuhe über und bemerkte, als ihr Blick durch die offene Haustüre auf die Straße fiel, dass Simon tatsächlich bereits all ihr Gepäck – das nicht allzu umfangreich war, da der Trousseau nachgeschickt werden sollte – hatte aufladen lassen. Die Kutsche stand wartend da, bespannt mit vier unruhigen Grauschimmeln, die eine rasche Reise verhießen. Nach einem rührenden Abschied von ihren Eltern und den wenigen Gästen und dem Versprechen, den Eltern so bald wie möglich zu schreiben und von ihrem neuen Heim zu berichten, schob Simon seine junge Frau schließlich energisch in den Wagen und kletterte selbst hinterher. Der Schlag klappte zu, der Kutscher ließ die Zügel schießen und der Wagen ratterte um die Ecke zur New Bond Street, um die Richtung zur Westminster Bridge einzuschlagen.

Eine Zeitlang herrschte zwischen den beiden Wageninsassen verlegenes Schweigen. Erst als sie schon beträchtliche Zeit über offenes Land gefahren waren, brach Simon das Schweigen mit der Frage: „Freust du dich auf Lynham?“

Victoria schloss daraus, dass er mindestens so unsicher sein musste wie sie selbst, wenn ihm nichts Besseres als Gambit einfiel. Sie lächelte ihn ermutigend an und antwortete freundlich: „Oh ja, sehr. Ich freue mich vor allem auf deine Familie. Erzähl mir doch ein bisschen von ihnen!“

„Ach, da gibt´s nicht viel zu erzählen. Du wirst sie ja bald alle sehen. Ich hoffe, du wirst dich auf Lynham wohlfühlen.“

„Gewiss“, antwortete sie kurz, etwas verärgert darüber, dass er sie so gar nicht auf ihre neuen Verwandten vorbereiten wollte. Natürlich war es nie ganz einfach, die eigenen Brüder und die Mutter treffend zu beschreiben, wenn man nicht für solcherlei Dinge eine ausgesprochene Begabung besaß – aber etwas mehr Mühe, fand Victoria, hätte Simon sich ruhig geben dürfen.

Der Rest der Reise verlief in Schweigen, das nur gelegentlich durch einen Ausruf Victorias unterbrochen wurde, wenn sie zu wissen begehrte, durch welchen Ort man gerade fahre oder wie dieses oder jenes in der Ferne erkennbare Schloss oder Herrenhaus heiße. Simon erteilte jedes Mal mit der ihm eigenen Knappheit die gewünschte Auskunft, doch bald brach die Dunkelheit herein und selbst diese Gesprächsfetzen blieben aus.

Victoria war insgeheim erleichtert, als die Fahrt ihr Ende nahm und der Wagen eine lange, kiesbestreute, aber dem Holpern der Kutsche nach zu urteilen arg vernachlässigte Auffahrt entlangrollte und schließlich vor dem Portal von Schloss Lynham zum Stehen kam. Das Schloss erwies sich als mächtiger heller Steinbau, doch in der Dunkelheit konnte Victoria keine Einzelheiten wahrnehmen; außerdem trat, kaum dass das Räderrasseln verstummt war, eine hochgewachsene blonde Frau in mittleren Jahren aus der Tür und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.

„Willkommen, meine Liebe – Victoria, nicht wahr? Simon hat uns alles geschrieben. Ich freue mich ja so für euch! Hoffentlich gefällt es dir hier!“

Victoria, die sich an den Busen ihrer Schwiegermutter gedrückt und herzlich auf beide Wangen geküsst fand, konnte nicht umhin, festzustellen, dass Simon seine Zurückhaltung gewiss nicht von seiner Mutter geerbt haben konnte. Die Herzoginwitwe hakte ihre neue Schwiegertochter unter.

„Komm ins Haus, meine Liebe, nicht dass du dich hier noch erkältest! Im Haus ist es zwar, wie du nur zu bald merken wirst, nicht viel wärmer, aber es zieht drinnen doch etwas weniger.“

„Ja, Euer Gnaden“, pflichtete Victoria ihr etwas verwirrt bei. War das Haus wirklich so kalt oder machte Simons Mutter sich über sie lustig?

„Oh bitte, sag nicht Euer Gnaden zu mir – das finde ich furchtbar. Du bist doch keine knicksende Zofe! Redest du Simon etwa mit Euer Lordschaft an?“

„Nein“, musste Victoria zugeben, „aber wie soll ich Sie denn dann nennen?“

„Sag du zu mir und - wie wär´s denn einfach mit Schwiegermama?“

„Gut, Schwiegermama“, stimmte Victoria zu und küsste sie liebevoll auf die Wange. Mittlerweile hatte Simon, der etwas zwecklos herumstand, seitdem das Gepäck ausgeladen war, die Aufmerksamkeit seiner Mutter erregt.

„Ach, Simon! Dich hatte ich vor lauter Freude über deine reizende junge Frau ja ganz vergessen! Willkommen daheim, mein Junge! Du könntest Horley das Gepäck gleich auf eure Zimmer schaffen lassen, und dann habt ihr doch sicher Hunger, nicht wahr? Wir haben zwar schon vor Stunden gegessen, kein Wunder, es ist ja schon dunkel, nicht wahr? Aber für euch wird sich sicher noch etwas finden. Ich werde mit Victoria noch etwas plaudern, ich weiß ja noch so wenig über sie. Komm in den Salon, wenn du alles erledigt hast. Nun los, worauf wartest du noch?“

„Ja, Mama“, murmelte Simon und verschwand gehorsam im Haus. Die Herzoginwitwe folgte mit Victoria etwas langsamer und führte sie die Treppe hinauf in den Salon. Hier musste Victoria feststellen, dass ihre Schwiegermutter tatsächlich nicht gescherzt hatte – der Salon war eisig kalt, obwohl ein gewaltiges Feuer im Kamin brannte; aber selbst dieses Feuer, unterstützt von den vielen Kerzen, die den Raum erhellten, war gegen das riesige Zimmer mit den vielen höchstwahrscheinlich undichten Fenstern machtlos. Ihre Schwiegermutter, der Victorias Erschauern nicht entgangen war, lachte und sagte nur:

„Komm, setz dich hier vor das Feuer, dort wird dir schon warm werden, ganz bestimmt. An die Kälte in diesem Haus wirst du dich rasch gewöhnen, mir ging es dereinst genauso. Ich sage Vincent dauernd, er soll endlich etwas unternehmen, aber er rafft sich nie auf – kein Wunder, die Bibliothek ist leichter zu heizen, und so fällt ihm wohl gar nicht auf, wie kalt und zugig der Rest des Hauses ist. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass diese Kälte und die Feuchtigkeit gut für die Mauern ist, nicht wahr? Aber er lässt einfach nicht mit sich reden – genauso wie sein Vater vor ihm. Ich habe immer Angst, dass das Haus eines Tages über uns zusammenstürzt, weil der Schwamm die Mauern ruiniert hat. Aber Vincent scheint das egal zu sein, dabei weiß ich genau, dass er ebenso an Lynham hängt wie Simon und Christopher – und Mary natürlich auch, aber jetzt ist sie natürlich verheiratet und lebt in Brighton und kommt nur noch selten hierher, mit den süßen Kinderchen. Sie hat drei, wie du ja sicher weißt, den kleinen Jack (ganz die Mutter, und Mary war wirklich ein ganz bezauberndes Kind) den kleinen Martin und die kleine Sarah – und dazu natürlich noch die kleine Elaine, nicht wahr? Jedenfalls… wo war ich stehengeblieben? Ach ja! Jedenfalls hängen sie alle sehr an Lynham, und da ist es doch schade, wenn man das Haus so verkommen lässt, findest du nicht?“

Sie wartete Victorias Antwort gar nicht ab, sondern sprach sofort weiter: „ich tue ja wirklich mein Bestes, um dieses Haus trocken zu halten, aber es bräuchte wirklich eine gründliche Renovierung, und dann die vielen unbenutzten Räume, die auch nicht beheizt werden und in denen teilweise die Fenster zerbrochen sind und wo es manchmal sogar hineinregnet. So jammerschade, findest du nicht auch?“

Dieses Mal gelang es Victoria, eine hastige Zustimmung zu äußern, bevor die Herzoginwitwe fortfuhr:

„Nun, Simon wird dir über diese Probleme ja sicher schon alles erzählt haben, und es soll dich auch alles gar nicht belasten; ich hoffe eben nur, dass du dich hier wohlfühlst und dir das Leben hier nicht allzu unzivilisiert erscheint. Deshalb habe ich dir, was du mir hoffentlich verzeihen wirst, auch für den Anfang ein relativ kleines Schlafzimmer herrichten lassen, das sich einigermaßen heizen lässt. Mit vereinten Kräften können wir vielleicht Vincent dazu bewegen, wenigstens die Fenster abdichten zu lassen, hoffe ich. Simon würde das Haus ja auf der Stelle renovieren lassen, und Christopher auch, aber die beiden haben hier eben gar nichts zu sagen, obwohl Simon ja die ganze Arbeit hier tut, was ich irgendwie ungerecht finde, weil er jedes Mal, wenn er eine Verbesserung plant, Vincent um Erlaubnis fragen muss. So niederdrückend für einen Mann, findest du nicht? Leider sind Vincent und Christopher gerade nicht da, aber sie wollen in einigen Tagen zurückkommen; das hat sich etwas unglücklich getroffen, aber Simons Brief, in dem er eure vorgezogene Hochzeit ankündigte, kam erst vorgestern hier an, und da waren die beiden schon unterwegs. ich hoffe nur, du bist ihnen nicht böse, dass sie dich nicht sofort bei deiner Ankunft willkommen heißen konnten?“

„Aber nein, keinesfalls“, beruhigte Victoria ihre Schwiegermutter, leicht betäubt von dem Redeschwall, der sich über sie ergossen hatte. Die meisten der darin vorgebrachten Informationen sagten ihr nicht das Geringste. Sie konnte zwar erraten, dass Vincent offenbar der Älteste und Christopher der jüngste der de Torcy-Brüder war und Mary wahrscheinlich deren Schwester, aber alles Übrige hatte sie eher verwirrt als aufgeklärt. Dennoch scheute sie sich, ihre Schwiegermutter um klarere Informationen zu bitten, da sie nicht gerne eingestehen wollte, dass Simon ihr überhaupt nichts über seine Familie erzählt hatte. Die Herzoginwitwe holte schon wieder tief Luft, um eine neue Rede zu beginnen.

„Aber was rede ich da ohne Punkt und Komma auf dich ein, liebes Kind! Du musst doch schrecklich müde und erschöpft sein, nicht wahr? Schließlich habt ihr erst heute Mittag geheiratet und dann die lange Fahrt – obwohl Simon uns ja extra gebeten hatte, uns die Kutsche vierspännig zu schicken, damit die Fahrt nicht so lange dauert; hier auf dem Land begnügen wir uns meist mit einem Paar, da die Entfernungen ja nicht so groß sind, aber die lange Strecke von London bis hierher würde sich zweispännig doch furchtbar hinziehen, meinst du nicht? Aber was wollte ich eigentlich sagen? Ach so, ja, du musst furchtbar müde sein, und gewiss hast du Hunger; ich werde Horley sagen, er soll etwas herrichten lassen und das Feuer in deinem Zimmer anzünden, damit du dich nachher gleich zurückziehen kannst, ja?“

„Ja, danke“, seufzte Victoria, die tatsächlich einigermaßen erschöpft war, allerdings weniger von der Reise, die so lange und anstrengend auch wieder nicht gewesen war, als vielmehr von dem pausenlosen Gerede ihrer Schwiegermutter, die auf sie den Eindruck machte, als habe sie seit Jahren keine Gesellschaft mehr gehabt und bringe deshalb alles, was ihr einfiel, schon in den ersten fünf Minuten vor.

Simon kehrte nun von der Überwachung der Gepäckverteilung zurück und man konnte sich mit einem kleinen Imbiss stärken, nach dem Victoria tatsächlich ihrer Schwiegermutter eine gute Nacht wünschte und sich in ihr Schlafzimmer zurückziehen wollte. Simon hingegen machte zu ihrer beträchtlichen Verwunderung keinerlei Anstalten, ihr zu folgen, sondern wünschte ihr freundlich eine gute Nacht und erinnerte sie daran, aufzupassen, was sie träume, bekanntlich gingen ja die Träume der ersten Nacht in Erfüllung. So bewahrte Victoria mühsam Haltung, schluckte die Kränkung hinunter und wünschte ihm noch einen angenehmen Abend. Danach begab sie sich in ihr Schlafzimmer, um ihre Hochzeitsnacht alleine zu verbringen. Bevor sie aber lange darüber nachdenken konnte, warum ihr junger Gemahl kein Interesse daran hatte, das Bett mit ihr zu teilen (ihre Mutter hatte ihr die unumgänglichen Tatsachen, höchst verlegen, mitgeteilt, und Victoria hatte genug verstanden, um zu wissen, dass es nicht unbedingt ein Kompliment darstellte, wenn Simon sie „damit“ verschonte), schlief sie ein.

Eine übereilte Heirat. Historischer Roman

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