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Pädagogik der frühen Kindheit
in der Schweiz

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Die kurze Übersicht hat gezeigt, dass mit Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit sehr Unterschiedliches, teils Widersprüchliches und Gegensätzliches gemeint sein kann. Nun geht es um die Frage, was die Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz darunter versteht und welche Konsequenzen das für die Ausgestaltung pädagogischen Handelns hat. Dies soll anhand von einigen ausgewählten Publikationen beantwortet werden.

Die Autoren des Berichts «Familien – Erziehung – Bildung» bevorzugen den Begriff Chancengerechtigkeit (beziehungsweise Equity), weil Chancengleichheit «missverständlich» sei (Moser & Lanfranchi 2008, S. 13). Die Autoren argumentieren, dass ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit in jeder Gesellschaft unvermeidlich sei – und das Bildungswesen deshalb nur beschränkt etwas daran ändern könne (ebd.). Auch der «Bildungsbericht Schweiz» der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung von 2010 macht sich für den Begriff Equity zur Umschreibung von Chancengerechtigkeit stark, da Chancengleichheit «nach einer langen ideologisch geprägten Debatte in den letzten Jahrzehnten nicht nur positiv besetzt» sei (Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung 2010, S. 32). Im Gegensatz zu diesen beiden Beispielen wird aber in vielen anderen Publikationen nicht systematisch unterschieden zwischen Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit, oder aber der Begriff Chancengleichheit wird bevorzugt verwendet.

Der Evaluationsbericht der Pädagogischen Hochschule Luzern «Integrationsförderung im Frühbereich» (Buholzer 2012) verwendet Chancengleichheit und -gerechtigkeit weitgehend gleichbedeutend. Die beiden Begriffe gelten als zentrale Ziele von früher Förderung und Bildung. Mit Chancengleichheit sind vor allem Startchancen beim Eintritt in Kindergarten und Schule gemeint. Allerdings ist unklar, ob diese Startchancen für alle wirklich gleich sein sollen oder ob es nur darum geht, Startchancen für benachteiligte Kinder zu verbessern, sie also den privilegierteren Kindern anzugleichen. Da die Verbesserung von Startchancen nicht nur auf Schule, sondern auch auf den Einstieg in die Arbeitswelt bezogen wird, stellt sich die Frage, ob dies auf eine Angleichung der Schulleistungen bei Ende der Schulzeit hinauslaufen würde, also eine angestrebte Gleichheit am Ziel. Die frühe Förderung richtet sich zwar formell an alle Kinder, jedoch liegt der Fokus auf Kindern «aus sozial benachteiligten Familien, vornehmlich solchen mit Migrationshintergrund». Diese sollen nicht separiert, sondern «innerhalb Regelstrukturen» (also in heterogenen Gruppen) gefördert werden (ebd.).

Die Bildungsdirektion des Kantons Zürich veröffentlichte 2009 den Hintergrundbericht «Frühe Förderung» (Bildungsdirektion Kanton Zürich 2009). Auch hier wird nicht systematisch zwischen Chancengleichheit und -gerechtigkeit unterschieden, beide Begriffe werden häufig schlagwortartig verwendet. Chancengleichheit meint die Abschwächung von Benachteiligungen gewisser Kinder durch frühe Förderung. Fremdsprachige Vorschulkinder sollen beispielsweise im Hinblick auf den Schulstart in der Zweitsprache Deutsch gefördert werden. Das Ziel ist also nicht, dass die Startchancen für alle gleich sind, sondern nur, dass sie für benachteiligte Kinder besser werden. Um das zu erreichen, sollen sowohl eine «allgemeine frühe Förderung» (für alle Kinder) als auch eine «besondere frühe Förderung» (für Kinder, die diese speziell benötigen) angeboten werden (ebd.).

Im Schlussbericht «Better together» der Hochschule Luzern (Hafen 2012) wird nur von Chancengleichheit gesprochen. Diese wird als zentraler Wert für moderne Gesellschaften bezeichnet und «bedeutet …, dass niemand aufgrund seiner sozialen Herkunft, seiner Geschlechtszugehörigkeit, seiner ethnischen Herkunft und anderer sozialer Merkmale im Bildungssystem benachteiligt werden darf» (ebd., S. 70). Daneben werden gleiche Zugangsmöglichkeiten zu Kindergarten und Schule genannt. Unterschiede aufgrund verschiedener Leistungen gelten als gerecht, aufgrund persönlicher oder familiärer Merkmale aber als ungerecht. Anders als in anderen Publikationen bedeutet Chancengleichheit hier auch, dass alle Kinder «gleich behandelt» werden sollen, wobei unklar ist, ob das bereits vor der Schule oder erst während der obligatorischen Schulzeit gelten soll (ebd.).

Der Bericht «Integrationsförderung im Frühbereich» des Universitären Zentrums für frühkindliche Bildung Fribourg (ZeFF) der Universität Fribourg (Stamm et al. 2011) legt gegenüber den anderen Publikationen Wert auf eine Trennung von Chancengleichheit und -gerechtigkeit. Chancengleichheit meint «die gleiche Chance zu Leistungsentfaltung und -bestätigung» für alle, möglichst unabhängig von ihrer sozialen Herkunft (ebd., S. 67). Die Autorinnen und Autoren sprechen hier also explizit nicht von gleichen Chancen auf Förderung oder Bildung, sondern betonen den Leistungsaspekt. Mit Chancengerechtigkeit ist die «Verteilung von Chancen in Abhängigkeit der individuellen Bedarfslage» gemeint (ebd.). Die Überlegung ist hier, dass nicht alle Kinder dieselbe Förderung brauchen. Deshalb müssen sie unterschiedlich behandelt werden, damit alle das ihnen «Entwicklungsangemessene» erhalten (ebd.). Chancengleichheit soll bei Schuleintritt gewährleistet werden, wobei die Startchancen nicht zwingend gleich, sondern ebenfalls «entwicklungsangemessen» sein sollen. Es bleibt unklar, was das genau bedeutet, wie beispielsweise Bedarf und Angemessenheit bestimmt werden können. Klar ist aber zumindest, dass benachteiligte Kinder mit Migrationshintergrund eine «andere Begleitung und Betreuung … als nicht benachteiligte Kinder» brauchen und auf «zusätzliche Unterstützung» angewiesen sind (ebd., S. 21). Vorschulangebote sollen demzufolge besonders für benachteiligte Kinder ausgebaut werden (ebd.).

Im «Aktionsplan ‹PISA 2000›-Folgemassnahmen» (Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren [EDK] 2003) sind der Frühbereich und die Vorschulstufe (Kindergarten) und dabei besonders die Forderung nach Chancengleichheit bzw. -gerechtigkeit wichtige Ansatzpunkte für Maßnahmen, welche im Anschluss an die PISA-2000-Untersuchung beschlossen wurden. Chancengleichheit soll als «Orientierung für die Systementwicklung» dienen, sie wird im Sinn einer Startchancengleichheit für alle verstanden (ebd., S. 18). Auch hier wird das Leistungsprinzip betont und Ungleichheit aufgrund der sozialen Herkunft als Problem dargestellt. Gefordert wird auch «Chancenfairness»: Für die Selektion im Bildungswesen sollen «adäquate Leistungskriterien und nicht sozio-kulturelle Kriterien ausschlaggebend» sein (ebd., S. 19). Um die Leistung derjenigen Jugendlichen zu verbessern, die bei PISA schlecht abgeschnitten haben, braucht es gemäß der EDK eine gezielte Förderung bereits in der Vorschulzeit, vor allem für «Fremdsprachige und bildungsferne Schichten» (ebd.).

Zusammenfassend kann man sagen, dass beide Begriffe, Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit, in der Pädagogik der frühen Kindheit in der Schweiz gebräuchlich sind. Sie werden aber häufig nur als Schlagworte verwendet und nicht systematisch voneinander unterschieden. Meist ist damit die Vorstellung verbunden, dass die Startchancen von benachteiligten Kindern beim Eintritt in Kindergarten oder Schule verbessert oder den Startchancen von privilegierten Kindern angeglichen werden sollen. Die Forderung nach Gleichheit dieser Startchancen wird aber in der Regel aufgegeben mit dem Hinweis, dass dies sowieso nicht erreichbar sei. Mit einer Ausnahme1 beschränkt sich Chancengleichheit auf den Schulbeginn und nicht auf die obligatorische Schulzeit oder den Übergang in den Beruf. Man möchte allen Kindern einen guten Einstieg ins Bildungswesen bieten. Was aber danach bezüglich der Verteilung der Chancen passiert, welche Kinder mit welchem Hintergrund Aussichten auf welche weiterführende Bildung oder später Beschäftigungsmöglichkeiten haben, steht weniger im Zentrum des Interesses. Angestrebt wird also höchstens annäherungsweise die Gleichheit der Zugangschancen (beim Start), nicht aber Gleichheit im Ergebnis (beim Ziel).

Dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit wird ein wichtiger Stellenwert eingeräumt. Ungleiche Bildungschancen gelten als gerecht oder fair, wenn sie durch unterschiedliche Leistungen entstehen, aber als ungerecht, wenn sie durch die soziale Herkunft (z.B. den sozialen Status der Familie) oder persönliche Merkmale (z.B. das Geschlecht) zustande kommen. Allerdings bleibt unklar, ob das Leistungsprinzip auch schon für die Vorschulzeit gelten soll. Der Begriff «Entwicklungsangemessenheit» deutet eher darauf hin, dass bestehende Fähigkeiten und Begabungen (die sich zwischen den Kindern unterscheiden) gefördert werden sollen. Aber bedeutet das, dass benachteiligte Kinder intensiver zu fördern sind, damit sie ihren Rückstand bis zur Einschulung aufholen können (gleiche Chancen für alle beziehungsweise uneingeschränktes Gleichheitsprinzip)? Oder sollen umgekehrt die begabteren Kinder bessere Förderung erhalten, weil ihnen mehr Potenzial zugesprochen wird (gleiche Chancen bei gleichen Voraussetzungen beziehungsweise Begabungsgerechtigkeit)? Die untersuchten Publikationen deuten darauf hin, dass in der Vorschulphase eher das Gleichheitsprinzip, im Verlauf der obligatorischen Schulzeit aber eher die Begabungs- oder Leistungsgerechtigkeit gelten sollen.2

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