Читать книгу Löwenschwester - Catrina Balis - Страница 2
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ОглавлениеWie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln tänzele ich auf der Mauer meines Abgrundes entlang. Auch wenn jeder Schritt mit so viel Bedacht gesetzt ist, könnte das hier trotzdem mein Ende sein. Es ist seltsam, wie der Wind meine schwarzen Haare verweht und dafür sorgt, dass ich nichts mehr sehen kann. Es scheint, als wollte er, dass ich die Orientierung verliere, die breite Mauer verfehle und zehn Stockwerken ungehalten herabstürze.
Ich weiß nicht, ob ich das wirklich will.
Über mir ist der Himmel eiskalt und die glasblaue Dämmerung hüllt mich ein wie eine raue Decke. Es ist wolkenlos, aber es ist extrem kalt für Oktober. Normalerweise ist der Herbst bei uns noch relativ gemütlich. Unten in der Stadt fällt das wohl keinem auf. Hier oben ist alles anders.
Ein Schritt und ich bin tot.
Ich balanciere – in eine dicke Kuscheljacke und einen selbst gestrickten Schal gewickelt – am möglichen Ende meines Lebens entlang.
Aber kann ich das einfach so? Kann ich mich irgendwann nach vorn fallen lassen und wegfliegen? Ich stelle mir diese Fragen beinahe jeden Tag. Jede Sekunde jedes einzelnen Tages. Die Antwort versteckt sich vor mir. Womöglich gibt es sie überhaupt nicht. Ich weiß nicht, ob ich es könnte, ob ich sterben könnte. Ich weiß nur, dass ich es irgendwann muss.
Es ist Oktober und ich stehe hier oben und bete. Ich bete, obwohl ich nicht glaube, dass es einen Gott gibt, der mich hört. Wunschtraum. Keine Realität. Nein, Realität nicht.
Ich bin unberechenbar, habe keine Kontrolle über das, was ich tue und über das, was ich will. Weil ich nicht weiß, was ich will.
Über all diese Dinge denke ich gleichzeitig nach, während ich nach Antworten suche, nach Auswegen. Ehrlich gesagt liegen sie mir schon seit Jahren direkt vor den Füßen. Und weil ich erkenne, dass ich keine Wahl mehr habe, wenn sie mir erst einmal über die Lippen gegangen sind, drehe ich mich um und steige hastig die Leiter herab. Jage die Treppen herunter, bis ich wieder auf dem schmalen Gehsteig stehe. Ich muss weg vom Abgrund, denn ich will fliehen, solange ich es kann.
Der Abgrund verfolgt mich.
Am Fuße des Hochhauses ist es gar nicht mehr windig. Da oben ist einfach alles völlig anders. Es gibt keine Zeit. Auf dem Gehweg. Auf dem Boden der Tatsachen gibt es das Leben und es gibt Helena. Helena, die gegen das Leben kämpft. Vielleicht auch dafür, ich bin mir noch unschlüssig. Das erste Mal, dass ich dort oben gestanden habe, ist bestimmt drei Jahre her. Da war ich dreizehn. Und heute ist mein sechzehnter Geburtstag.
Es ist der siebte Oktober und niemand hat mir bisher gratuliert. Selbstverständlich gibt es wichtigere Dinge zu erledigen. Ich weiß, dass meine Mom um diese Uhrzeit in der Küche steht und kocht. Ich weiß, dass mein Dad in seiner Kanzlei über einem dringenden Fall brütet und meine Schwester Evelynne seit Stunden im Ballettstudio trainiert. Seit sie vier ist, streben Mom und sie die große Karriere als Primaballerina an. Aber das schafft Evie nicht. Sie ist tatsächlich gut, aber in dieser Branche ist gut nicht gut genug. Dann gibt es noch Tyler, der sich garantiert an meinen Geburtstag erinnert, doch ich kann ihm heute nicht in die Augen sehen. Für uns beide ist es besser, wenn ich ihm heute aus dem Weg gehe. Ich bin also allein an meinem Geburtstag. Es ist nicht so, dass ich traurig bin. Im Laufe der Jahre gewöhnt man sich an eine Vielzahl von Dingen. Gleichgültigkeit zählt dazu.
Mittlerweile wandele ich wie ein Geist durch den Park. Die Welt wird allmählich von der Nacht eingeholt. Ich träume heimlich vor mich hin. Von einer Torte und Geschenken. Von Familie. Nein ... es ist schon okay.
»Hey! Vorsicht!« Vor lauter Schreck bleibt mir die Luft weg. Der Knall verhallt noch in meinen Ohren. Wie? Was? Plötzlich sitze ich am Boden, schaue mich verwirrt um. Erst Sekundenbruchteile später realisiere ich die Hand, die nach mir ausgestreckt wird, greife sie und stehe wieder auf den Beinen. Meine Umgebung verwandelt sich in ein unscharfes, sich drehendes Panorama.
»Ist alles okay?« Die Stimme dringt langsam zu mir vor. Sie klingt neblig. Mein Kopf brummt, meiner Kehle entfleucht ein gequältes Jammern.
»Geht’s? Du solltest dich setzen.« Zwei Hände packen mich an den Schultern und dann befinde ich mich auf einer Bank. Wo kommt die plötzlich her? Meine Handflächen sind aufgeschürft, doch ich spüre keinen Schmerz.
»Was ...?« Neben mir sitzt ein junger Mann, den ich nicht kenne.
»Ich habe dich gar nicht gesehen. Tut mir echt leid. Ich konnte nicht mehr bremsen.« Er lächelt beschämt. Ich kann das Fahrrad ausmachen, das vor uns an einem Baum lehnt.
»Nein. Ich muss mich entschuldigen«, sage ich leise und hole tief Luft, die ich nicht sofort wieder ausatme.
»Passiert dir das öfter?« Ich will mit Ja antworten, aber das Wort geht mir nicht über die Lippen. Stattdessen halte ich mir den Kopf. Das wird bestimmt eine ordentliche Beule. Irgendwann lege ich den Kopf in den Nacken und schaue nach oben. Der Himmel ist blauviolett. Ich mag den Herbst wirklich. Ich mag die bunten Blätter und ich mag Halloween. Ich mag die Luft und den Wind. Die ganze Atmosphäre. Es ist viel zu selten Herbst.
»Ich bin Damien.« Diese Information kommt aber nicht weit, denn ich kann mich nicht konzentrieren.
»Helena.« Normalerweise sage ich fremden Leuten meinen Namen nicht. Es kommt selten vor, dass ich neue Bekanntschaften schließe.
»Dein Fahrrad ist Schrott, oder?«, frage ich vorsichtig. Habe ich genug Geld, um es zu ersetzen?
»Kein Problem. Ich wohne nicht weit weg von hier.« Trotzdem fühle ich mich schuldig.
»Ich sollte jetzt aber langsam gehen«, flüstere ich und versuche aufzustehen, schwanke.
»Soll ich dich begleiten?«, fragt Damien höflich. Doch ich lehne ab. Ich gehe natürlich nicht direkt nach Hause. Er soll nur nicht sehen, wohin mich mein Weg um diese Uhrzeit tatsächlich noch führt. Wir verabschieden uns flüchtig.
»Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, Helena!«, ruft er mir hinterher, als ich schon wieder in meinen Gedanken versunken bin.
Ich gehe den Weg entlang, Beine und Hände schmerzen. Aber ich gehe weiter. Es gibt weitaus Schlimmeres als Schmerzen. Schmerzen werden völlig überbewertet. Zwang ist zum Beispiel schlimmer. Oder Angst. Oder Todesangst. Wobei Tod schon wieder erträglich wäre. Als ich realisiere, was mir da durch den Kopf geht, weiche ich innerlich noch ein Stück weiter vor mir selbst zurück.
Am Wegrand fallen mir drei einsame Kornblumen ins Auge, die meine Finger ganz von allein pflücken. Mit Sicherheit hat Oma schon eine Weile keine frischen Blumen mehr bekommen.
Die Gänsehaut, die mir das Quietschen der Tür über den Rücken gejagt hat, spüre ich immer noch. Jetzt ist es schon fast vollständig dunkel. Erschöpft lege ich mich ins Gras neben den großen, schwarzen Stein. Eigentlich mag ich weder Dunkelheit noch Nacht noch Kälte, aber heute lassen sich alle drei Dinge einfach nicht vermeiden.
»Hallo«, flüstere ich. »Ich hab dir Blumen mitgebracht.« Ich schlucke die Tränen herunter, die meine Fassade durchbrechen wollen, weil Oma nicht antworten kann. Weil sie mir nicht zum Geburtstag gratulieren kann und sie mich allein gelassen hat. Ich bin ihr keinesfalls böse, bin nur traurig. Es ist okay, dass alle meinen Geburtstag vergessen, aber es ist absolut nicht okay, dass so liebe Menschen wie Oma einfach aus ihrem Leben gerissen werden. Oma hat mich immer aufgefangen. Seit sie weg ist, falle ich. Und ich falle und ich falle. Es ist zwecklos, vor dem Abgrund zu fliehen. Ich bin doch mittendrin!
Keiner hört mich, als ich zu Hause durch die Tür schleiche und in mein Zimmer verschwinde. Keiner darf mich sehen. Ich setze mich auf mein Bett und schaue die Tür an, weiß gar nicht, ob ich sie abgeschlossen habe. Ein Zittern durchjagt meinen Körper vor Kälte. Ich habe lange im Gras gelegen. Jetzt ist es schon nach zehn. Morgen ist ein ganz normaler Schultag. Zumindest sollte ich da hingehen. Gerade, weil ich heute schon nicht dort war, sondern den Tag auf dem Dach verbracht habe. Kurz denke ich darüber nach, wie ich eigentlich auf die Idee gekommen bin, dort oben auf der Mauer entlangzulaufen. Es ist ein ganz gewöhnliches Wohnhaus mit vielleicht zehn Stockwerken. Es gibt sogar einen Fahrstuhl, aber der ist schon defekt, seit ich das Gebäude kenne. Die Wohnungen in den letzten drei Etagen sind nicht bewohnt, weil niemand so viele Treppen steigen will. Ich glaube, ich habe irgendwann einfach gedacht, dass man bestimmt auf das Dach kommt. Und es war tatsächlich so. Der Rest hat sich ergeben.
Zehn Minuten später stehe ich vor dem Kleiderschrank. Ich muss Duschen. Auch wenn ich heute besonders ungern mein Zimmer verlasse, weil ich den anderen Menschen, die hier wohnen, nicht wirklich gern begegne. Doch was bleibt mir anderes übrig, als dieses Risiko einzugehen. Ich kann mich nicht permanent hier verstecken. Also schnappe ich meine Sachen und laufe so schnell und so vorsichtig, wie ich kann, den Flur entlang. Ich habe es fast geschafft, als ich hinter mir eine Tür aufgehen höre.
»Hellie, warte mal!« Ich will Tylers Stimme heute bitte nicht hören, verschwinde hektisch im Badezimmer und schließe die Tür ab. Mir schlägt das Herz bis zum Hals. Sonst bin ich immer für ihn da, doch dafür habe ich in diesem Moment wirklich keine Energie. Vielleicht ... will er mir auch nur mein Geschenk überreichen, mich herzlich in den Arm nehmen und mir gratulieren. Vielleicht ist er ja heute mein ganz normaler großer Bruder. Fürsorglich und pflichtbewusst. Als ich in den Spiegel schaue, muss ich tatsächlich über mich selbst lachen.
Ich koche mich selbst unter dem heißen Wasser. Das ist sie einzige Strategie, die verhindert, dass ich zu schmerzhafteren Mitteln greife. Auch diesmal mildert es den Druck, der sich in mir schon den ganzen Tag über aufgebaut hat. Zumindest so lange, bis mein Blick doch auf die vielen Linien trifft. Fast alle verheilt. Bis auf fünf. Ich habe es ja versucht, aber manchmal hilft es mir auch nicht, mir brühendes Wasser über den Rücken laufen zu lassen, wenn meine Seele Blut sehen will. Mit diesem Gedanken flüchte ich in mein Zimmer und schließe die Tür hinter mir sorgfältig ab. Ich fühle mich nicht sicher. Nirgendwo in diesem Haus. Noch nicht einmal, wenn ich allein bin. Doch ich muss damit zurechtkommen, weil ich mich nicht vierundzwanzig Stunden am Tag kochen kann.
Meine innere Unruhe lässt mich auch in dieser Nacht nicht tief schlafen. Ich muss immer wieder daran denken, dass ich hier nicht zur Ruhe kommen kann. Ich bin ein Fluchttier, eine Antilope, die stets und ständig auf der Hut sein muss.
Als mein Wecker losschellt, schlage ich die Augen auf und stelle fest, dass ich eigentlich schon lange wach bin.
»Ich habe dich gestern gar nicht nach Hause kommen hören«, stellt meine Mutter fest, als ich zum Frühstück in die Küche komme. Sie hat immer noch gar nichts dazu gesagt, dass ich gestern sechzehn Jahre alt geworden bin. Sie haben es tatsächlich alle vergessen. Nicht, dass ich daran irgendwelche Zweifel gehabt hätte, aber ein wenig Hoffnung hatte ich schon.
»Hellie, kannst du nächstes Mal bitte erst ins Wohnzimmer kommen und uns sagen, dass du da bist, bevor du dich in deinem Zimmer einschließt?« In Dads Stimme liegt ein grantiger Unterton, den ich gekonnt ausblende. Er ist eigentlich nicht wirklich sauer, sondern nur immer noch verwirrt, dass ich mein Zimmer so verbarrikadiere. Wenn überhaupt bin ich es, die verärgert sein dürfte – nur ich! Das weiß meine Familie aber nicht, weil sie vergessen haben, dass ich da bin, obwohl ich direkt neben ihnen sitze.
»Helena, wenn du heute Nachmittag aus der Schule kommst, müssen wir uns mal unterhalten«, erklärt Mom. Unterhalten. Warum? Warum große Worte wechseln, wenn sie der nonverbalen Komponente eh widersprechen werden?
»Okay«, sage ich nur. »Worum geht’s?«
»Das besprechen wir dann.« Hoffnung keimt in mir auf. Es ist ein absonderlicher, kleiner Wunsch, der sich sowieso nicht erfüllen wird. Der aber ausreicht, dass mich meine Beine wenig später zur Schule tragen.
Ich habe nicht viele Freunde oder Leute, die sich mit mir sehen lassen. Ich bin die Unbekannte mit den schwarzen Haaren aus der letzten Bankreihe, mit der kaum einer ein Wort wechselt. Eigentlich nehme ich mich nicht bewusst aus den Gesprächen heraus. Aber es spricht keiner mit mir und deshalb habe ich es auch nicht nötig, den Mund aufzumachen. Die Einzige, die bemerkt, dass ich heute überhaupt zum Unterricht erscheine, ist Madison Roland, die auf dem Platz vor mir sitzt.
»Helena! Du bist ja wieder da. Warst du krank?« Ich mag ihre flötende Stimme nicht, obwohl Madison eigentlich wirklich nett ist. Ich bin eine Antilope. Der Gedanke ist plötzlich wieder da, sodass ich nicht antworten kann. Ich bin ein Fluchttier. Ich habe gelernt, mit offenen Augen zu schlafen. Nirgendwo bin ich in Sicherheit. Ich unterdrücke das Bild in meinem Kopf genauso wie den Reflex, aufzustehen und das Klassenzimmer zu verlassen.
»Helena ...« Ohne dass ich sie bemerkt habe, steht mein Lehrer Mr. Owland plötzlich neben mir.
»Ja?« Ich zwinge mich, ihm in die Augen zu sehen, halte es dann aber doch nicht aus und starre wieder auf meinen Tisch.
»Du hattest gestern Geburtstag. Alles Gute.« Er reicht mir seine Hand. Gedankenlos schüttele ich sie, bevor wir nahtlos zur Mathestunde übergehen. Zahlen sind meine Freunde, auch wenn ich keine Einserschülerin bin. Ich mag Gleichungen und Funktionen und alles, was einen genauen Wert und einen festen Rahmen hat. Zahlen sind nicht relativ, Zahlen sind nicht subjektiv. Zahlen lassen nicht zu, dass irgendetwas Unerwartetes passiert. Sie haben Hand und Fuß und Regeln. Mein Leben hat keine Regeln und ich mag prinzipiell erst einmal alles, was sich von diesem unterscheidet.
»Stimmt ... ich glaub, ich hab dir bei Facebook gratuliert.« Madison dreht sich kurz um, aber ich mache mir nicht die Mühe, aufzublicken. So geht dieser Schultag schließlich vorbei, hinterlässt eine Spur aus Antriebslosigkeit und Schwermut, die ich auf dem Heimweg hinter mir her schleife.
Mom empfängt mich mit geschlossenen Armen, als ich zur Tür hereinkomme. Sie ist nicht der Typ Mutter, der seinen Kindern die endlose Zuneigung durch pausenloses Umarmen zeigt. Abgesehen von meiner Schwester natürlich. Man kann Evelynne nicht mit Tyler und mir vergleichen und ihre Beziehung zu Mom deshalb genauso wenig.
»Auch erst mal Hallo.« Ich will schon wieder verschwinden, mich oben einschließen. Für den Rest meines Lebens, doch das ist wie immer chancenlos.
»Wir müssen mal reden. Deine Lehrerin hat gestern bei uns angerufen. Warum bist du nicht zur Schule gegangen?« Erwischt, das war’s. Ich hätte wirklich lieber springen sollen. Wenn meiner Mutter die Zügel über irgendetwas aus den Händen rutschen, dreht sich ihre Haltung zu mir um einhundertachtzig Grad. Was vorher als völliges Desinteresse zu beschreiben war, verwandelt sich in blanke Kontrollsucht.
»Vielleicht habe ich es vergessen«, sage ich trocken. Ich bin eine Schulschwänzerin. Das steht außer Frage. Aber ich komme aus dieser Sache nur wieder raus – und schnell genug heraus -, wenn ich den Spieß umdrehe. Nur so kann ich verhindern, dass sie mir ihre durchaus vernünftigen Argumente vor die Füße wirft.
»Wie meinst du das?«, will Mom ungläubig wissen.
»Vielleicht habe ich genauso vergessen, zur Schule zu gehen, wie ihr meinen Geburtstag.« Ein letzter eisiger Blick, dann stehe ich auf, lasse meine Mutter völlig entgeistert im Wohnzimmer sitzen. Eins zu null für mich. Eins zu null für die Gegenseite, weil ich selbst nicht hinter mir stehe. Der Ball prallt an der Glaswand ab, hinterlässt nur einen winzigen Riss, der schneller wieder zuwächst, als dass er sich vergrößern kann. Unglaublich, was ich für ein Talent habe, mich aus der Affäre zu ziehen. Ich habe gelernt, die wenigen Worte, die ich benutze, so anzusetzen, dass ich nicht gezwungen bin, in irgendeiner Art sozial zu sein. Ich bin nicht sozial, bin nicht gern unter Leuten. Leute sind gefährlich, alle gleich. Ich schließe mich da selbst nicht aus.
Vor meine Zimmertür habe ich meinen Schreibtisch gezerrt. Keiner darf hier rein. Ich bin nicht sicher, kann es in diesem Haus niemals sein. Ist meine Zimmerdecke wirklich so weiß? Das ist mir noch nie wirklich aufgefallen. Ich liege auf meinem Bett, regungslos, ich bin völlig außer Atem, aber ich weiß gar nicht warum. Ich bin eigentlich immer träge. Draußen klopft meine Mutter an die Tür.
»Helena? Können wir reden?«
»Nein«, will ich sagen. »Nein, ich rede nicht mit dir. Weil du meine Sprache nicht sprichst. Weil kein Mensch dieser Welt in der Lage ist, meine Sätze zu entschlüsseln. Hinter jedem Wort verbirgt sich nur eine einzige Botschaft. Und weil du die nicht hörst, obwohl sie ein so lauter Schrei ist, rede ich nicht mit dir. Mit niemandem.« Aber ich sage gar nichts. Ich liege nur auf meinem Bett und sehe verlassen nach oben – schwitzend und frierend zugleich.
So verlasse ich mein Zimmer auch für den Rest des Tages nicht und ziehe mir irgendwann die Decke über den Kopf.
Dad kommt, ruft meinen Namen. Er entschuldigt sich bei mir. Eve kommt, bringt ihre lächerliche Ausrede an, warum sie mich vergessen hat: zu viel Stress wegen der Vorbereitung für das Casting, das demnächst ansteht. Und als Tyler kommt, schlage ich die Decke zurück, reiße die Nachttischschublade auf, schiebe meinen Ärmel hoch und fange an zu zeichnen. Ich esse heute nichts, ich trinke nichts. Erst als alle schlafen, traue ich mich aus meiner Höhle und verriegele das Badezimmer von innen.
Es ist Nachmittag. Die Schule habe ich schon überstanden. Aber auch wenn ich im Englischtest der letzten Woche als Klassenbeste abgeschlossen habe, fühle ich mich nicht wirklich besser. Alles ist schwer, zieht sich in die Länge und ich kann das Ende nirgendwo entdecken. Auf dem Dach des alten Wohnhauses lasse ich die Beine über dem Abgrund baumeln. Ich bin so gern hier oben. Hier gehört die Kontrolle m i r a l l e i n. Ich habe mein ganzes Leben selbst in der Hand. Es ist unmöglich, nach Hause zu gehen. Mom und Dad werden nicht da sein. Seit mir heute Mittag der Begriff »Betriebsfeier« durch den Kopf geschossen ist, hören meine Hände nicht auf zu zittern. Ich werde den ganzen Abend allein sein. Mit Evelynne und Tyler. Nein, nur mit Tyler, weil Evelynne sich völlig ihrem Training hingibt. Evie ist der Star der Familie. Tyler ist die Flamme und ich bin die Asche, nahezu von beiden zu gleichen Teilen verbrannt. Dad ist das Wasser, das immer zu spät kommt und Mom ist in den meisten Fällen Spiritus, der alles noch ein wenig aufpeitscht. Mir fehlt die löschende Decke. Warum also springe ich nicht? Was hält mich davon ab, mich freizumachen von all diesen Dingen, die ich nicht beeinflussen kann. Gründe habe ich mehr als einen. Niemand bis auf Tyler würde mich wirklich vermissen. Ich lege mich rücklings auf den kalten Steinboden, winkle meine Beine an. Der Himmel ist blaugrau, sieht irgendwie traurig aus. Es kommt mir beinahe so vor, als würden mich die grau melierten Wolken wie verzweifelte Augen anschauen.
»Oma«, denke ich. »Wo bist du?« Es gab eine Zeit, da ging es mir noch gut. Da war alles okay. Mit jedem Tag verschwindet diese Erinnerung mehr, wird vertrieben von der Gegenwart.
Es gibt zu viel, was ich sagen müsste, was ich ans Licht bringen sollte. Irgendwie von meiner Sprache in die andere übersetzen müsste. Ohne Wörterbuch. Ich habe keine Vokabeln gelernt. Prüfung ohne Aussicht auf ein passables Ergebnis. Ich falle durch. Immer wieder.
Meine Gedanken wandern zu meinem Bruder, der jetzt zu Hause sitzt und wartet, dass ich komme und ihn tröste. Ich bin drei Jahre jünger als er. Theoretisch müsste es umgekehrt sein, denn ich bin doch die kleine Schwester. Er sollte mich beschützen. Schon ganz früh haben wir diese Rollen getauscht.
Und dann weiß ich, warum ich nicht springe. So sehr ich mich auch selbst davor zu schützen versuche, ich kann diesen Tausch nicht mehr rückgängig machen. Ich kann Tyler nicht hassen. Weil wir unsere eigene Familie sind. Auch wenn ich davon nichts spüren kann, ist es dennoch meine Aufgabe, ihm dabei zu helfen, dass sich seine Welt nicht ebenso verdunkelt. Wir haben diesen Deal niemals ausgemacht, haben niemals geschworen, uns daran zu halten. Er tut es auch nicht, aber er ist in manchen Momenten wie in diesem das Einzige, was mich noch hält.
Als es dunkel wird, liege ich immer noch auf dem kühlen Beton, fixiere den Himmel und überhöre mein klingelndes Handy. Ich weiß, wer das ist, aber ich reagiere nicht. Nicht jetzt. Es reicht, wenn ich später nach Hause gehe. Ich bin seine Schwester, vielleicht auch seine Seelentrösterin, doch ich habe meine Grenzen und es ist keinem geholfen, wenn ich diese noch weiter überschreite. Gedankenverloren verlasse ich meine kalte Festung, schlendere die Treppen herunter, irre durch den Park. Ich überlege, ob ich zu Oma gehe, aber ich lasse es dann, es ist kalt. Irgendwann setze ich mich in ein Café, bestelle einen Cappuccino nach dem anderen, solange bis mir die grimmige Kellnerin mitteilt, dass Ladenschluss ist. Es ist kurz nach zehn. Wie lange dauert so eine Feier wohl? Wie ich Dad kenne, wird er gekonnt übersehen, wie meine Mutter ihn wortlos auffordert, endlich zu gehen. Sie hasst Betriebsfeiern, weil sie eine schlechte Lügnerin ist und auf die Frage, als was sie denn arbeite, immer mit der ernüchternden Wahrheit antworten muss. Dass sie nur eine Halbtagsstelle in einer Unterwäscheboutique hat. Eigentlich hat sie Design studiert, bewirbt sich fleißig bei zahlreichen Werbeagenturen. Doch bisher ohne Erfolg. Indirekt arbeitet sie sowieso nur als Managerin meiner Schwester und treibt den Plan von der großen Karriere voran. Neben Dad, dem aufstrebenden Anwalt, der bis in die Nacht in seiner Kanzlei bleiben muss, damit er sein Arbeitspensum erreichen kann, wirkt Mom weniger ansehnlich.
Ungefähr zwei Stunden später tragen mich meine Füße dann doch zu unserem Haus. Das Licht ist aus. Ich muss mich jetzt stellen. Noch nie habe ich mich gegen meine Aufgabe zu wehren versucht, aber ich weiß, dass es nichts bringt. Nur vergeudete Kraft. Also fange ich gar nicht erst damit an.
Als ich die Tür aufschließe, geht die Lampe im Flur plötzlich von selbst an.
Halb eins morgens: Ich bin todmüde, habe noch nicht mal mehr Angst. Und als Tyler mit seinem doch ekelhaften Grinsen um die Ecke kommt, will ich noch nicht mal mehr eine Antilope sein.
Später im Bett liegend sind meine müden Augen bereits zugefallen. Um der erniedrigenden Erinnerung zu entgehen, stelle ich mir vor, wie ich ins Zimmer meines Bruders schleiche und ihm still und heimlich ein Kissen aufs Gesicht drücke.
Drei Tage später: Ein unscheinbarer Samstag.
Es hat sich nicht viel geändert. Oder vielleicht doch: Ich habe eine Verabredung. Im Prinzip nichts Großes. Für mich schon.
Ich komme nicht oft unter Menschen. Wenn Madison mich nicht eingeladen hätte, würde ich jetzt vermutlich zu Hause sitzen und vor mich hin starren. Weil ich mich sonst zu nichts anderem aufraffen kann. Ich weiß noch nicht einmal, wessen Geburtstagsparty das überhaupt ist, habe einfach zugesagt. Kommentarlos genickt, teilnahmslos, aber mit dem Gedanken an den kleinen Lichtblick, der sich auftut. Jetzt hänge ich mit drin und stehe im Bad vorm Spiegel, schaue Helena in die eisblauen Augen. Sie will nicht wegschauen, also wende ich mich meinen Haaren zu. Ein riesiger schwarzer Busch, der mir vor die Augen fällt, als wolle er, dass ich mein Abbild nicht ansehe. Normalerweise lasse ich ihn einfach so. Dann erkennt mich keiner. Dann kann ich mich besser verstecken, heute jedoch versuche ich, ein bisschen mehr aus mir zu machen. Das ist eine Chance, erinnere ich mich. Das ist die Chance, einen Abend ohne meine Familie zu verbringen: Ohne meine vielseitig beschäftigten Eltern. Ein Abend ohne Evelynne, meine ballettsüchtige Schwester. Wobei sie eigentlich süchtig ist nach allem, was ihr Anerkennung verschafft. Und ein Abend ohne Tyler. Weil er die letzten beiden Tage so scheinheilig freundlich zu mir war, vermute ich, dass er heute spätestens den Hammer fallen lässt. Und er kommt mit sehr viel Schwung und Zorn auf mich zugeflogen. Ich sehe es regelrecht vor mir, wie Tyler mein Zimmer betritt, den riesigen Eisenklotz mit beiden Händen um seinen Körper kreisend. Beinahe fange ich an zu weinen, doch dann höre ich Evies Stimme unten im Flur: »Hellie, Madison ist da!«
»Find ich echt cool, dass du so spontan mitkommst. Suzan freut sich über jeden.« Wir sitzen im Auto, Madison fährt. Den Gedanken, warum sie einen Führerschein hat, verwerfe ich schnell wieder, um unnötige Unruhe zu vermeiden.
»Ich dachte mir, warum nicht?«, lächele ich. Aus Vorfreude, die sich in mir ausbreitet und meine Kälte zurückdrängt.
»Tut dir bestimmt mal gut. Und die sind auch alle ganz nett.« Maddie sieht hübsch aus. Sie hat ihren blonden kinnlangen Bob recht frech geföhnt und sieht jetzt irgendwie aus wie eine Elfe. Das elegante schwarze Minikleid passt gar nicht dazu. Ich frage mich, ob ich passend angezogen bin. Mein Kleid ist blau. Es ist das dunkelste Blau, das ich je bei einem Stoff gesehen habe, schimmert leicht. Eve hat es mir geschenkt. Ich glaube letztes Jahr zu Weihnachten und heute hat es Premiere, denn ich habe es noch nie vorher getragen. Ich erschrecke, als Madison plötzlich das Radio aufdreht und den Song laut mitsingt:
»What is love? Baby, don‘t hurt me, no more«
Ich muss lachen, als sie mich ansingt und ihren Kopf dabei bewegt wie ein Huhn. Ich kenne das Lied, natürlich, wer nicht. Ab sofort wird es mich auf ewig an diesen Tag erinnern, ewig mit ihm in Verbindung stehen. Das ahne ich schon jetzt. Hoffentlich enttäuscht mich mein Schicksal nicht. Alles ist besser als negative Flashbacks.
Als Maddie und ich den Club betreten, in dem die Party steigt, sind plötzlich alle Blicke auf uns gerichtet. Ich werde gesehen, schießt es mir durch den Kopf. Es fühlt sich nicht normal an, aber es ist komischerweise gar nicht so schwer auszuhalten, wie ich immer vermutet habe. Neunzig Prozent der Gesichter hier sind mir unbekannt. Ich habe nicht wirklich viel zu verlieren.
»Hellie?« Madison legt mir eine Hand auf die Schulter. Ich muss wohl stehen geblieben sein vor lauter Schreck. Anstatt irgendwas zu sagen, fange ich an zu lachen. Das ist so ein merkwürdiges Erlebnis. Ich komme mir seltsam vor. Seltsam, aber nicht fremd. Vielleicht deshalb.
»Mädels, das ist Helena«, stellt Maddie mich vor. »Hellie, das sind Riley, Charlotte und Jayleen.« Sprachlos. Kein Wort geht mir über die Lippen. Noch nicht mal ein winziges Hi, das vielleicht aber angemessen wäre. Paralysiert schaue ich allen nacheinander in die Augen.
»Naja, wie auch immer, wir gehen, glaub ich, erst mal was trinken.« Es gefällt mir, dass Madison die Unterhaltung für mich führt, denn ich brauche ein bisschen Zeit, um mich an die Situation zu gewöhnen. Sekundenbruchteile später sitzen wir an der Bar.
»Ich nehme einen Tequila Gold und ein großes Glas Wasser. Wie immer.« Sie schaut mich auffordernd an. Sag etwas!
»Eine Cola light.« bestelle ich, aber Maddie fällt mir ins Wort.
»Mach da mal eine Wodka Cola light draus. Sonst wirst du ja nie lockerer.« Madison lacht, ich nehme es einfach hin. Irgendwo hat sie ja recht. Aber ich bin sechzehn, sie gerade siebzehn geworden. Bis zur Einundzwanzig ist es noch ein ganzes Stück. Ich frage mich wirklich, warum der Barkeeper uns unsere Getränke einfach so ausschenkt. Innerlich meldet sich die Angst, dass diese Party hier vor der Polizei gestürmt wird. Wenn ich Maddie jedoch anschaue, muss ich feststellen, dass ich wohl einfach zu brav bin.
Ich nippe vorsichtig an meinem Glas, habe so was ja noch nie probiert. Aber es schmeckt überraschend lecker, auch wenn es im Abgang stark an Desinfektionsmittel erinnert. Dass man den Geschmack von Cola so enorm verzerren kann! Ich beginne, mich ein wenig zu entspannen und mit jedem Schluck treten mein Leben und seine fragwürdige Art von Humor weiter in den Hintergrund. Ich wage mich nach einem weiteren Glas sogar zusammen mit Madison auf die Tanzfläche, bewege mich tatsächlich ein wenig hin und her, auch wenn alles gezwungen ist. Doch als das Lied zu Ende ist und ich mich suchend nach meiner neu gewonnenen Freundin umschaue, stelle ich fest, dass ich allein bin. Keine Spur von Maddie. Da sind sie wieder, diese Zweifel, und alles erscheint wieder grau. Weg sind die Farben. Ich hätte nicht herkommen sollen. Was soll ich denn allein hier machen? Ohne Maddie bin ich hier doch verloren. Der Gedanke, von diesem Ort zu verschwinden, schiebt sich zwischen meine Zufriedenheit. Wird jedoch von der Hand auf meiner Schulter unterbrochen.
»Ich kenne dich doch!« Ich blicke in die Augen eines Jungen, der mir tatsächlich irgendwie bekannt vorkommt.
»Ja, ich kenne dich auch.« Wir lachen, weil wir im selben Augenblick verstehen, dass wir einander keiner Begegnung zuordnen können.
»Du bist Helen, oder?« Er weiß ja sogar beinahe meinen Namen. Hellie, verdammt, sage ich mir, reiß dich zusammen, erinnere dich oder tu wenigstens so!
»Fast, Helena. Aber woher kennst du mich?« Ich bin ihm dankbar, dass ich seinetwegen zumindest nicht mehr verlassen in der Menge herumstehe.
»Ich bin Damien.« Und da kracht die Erleuchtung durch die Tür. Damien. Klar, ich bin ihm vors Fahrrad gelaufen!
»Hast du dein Rad retten können?« Verwundert über mich selbst, dass mir das Sprechen plötzlich so viel leichter fällt, sehe ich ihm in seine tiefbraunen Augen.
»Ja, alles gut, mach dir darüber mal keinen Kopf.« Ich atme unbemerkt auf.
»Tut mir echt leid. Das passiert mir sonst nie.« lüge ich, um nicht allzu verpeilt zu wirken. Ob das so leicht funktioniert?
»Und was machst du hier so alleine?«, fragt er. Ich habe spontan keine Antwort, also lächele ich. Wie leicht sich das alles plötzlich anfühlt. Der Druck in der Magengegend ist weg, die Bilder aus meinem Kopf sind verschwunden. Ich fühle mich fast schon frei.
»Hey, Damien! Neue Freundin gefunden?« An Damiens Seite steht auf einmal ein ziemlich klein geratenes, blondes Mädchen, das lässig den Arm in die Seite stützt.
»Könnte man so sagen, Suzie, stimmt schon«, antwortet er ruhig. Meine Gedanken bleiben kurz an diesem Namen hängen, lösen sich dann aber wieder. Ich darf nicht schon wieder abdriften.
»Du bist Helena, stimmt’s? Maddie hat mir gesagt, dass sie dich mitbringt.« Ich nicke einfach nur.
»Ich glaube, ich lasse euch beide mal alleine und sehe mal nach Drake. Der kippt schon wieder einen Martini nach dem anderen.« Ehe ich mich versehe, hat die tanzende Menge Damien verschluckt.
»Vielleicht sollten wir nach nebenan gehen. Da ist es etwas ruhiger.« Sie gibt mir zu verstehen, ihr zu folgen. Wobei ich vorhin schon feststellen musste, dass ich die Musik eigentlich allgemein lauter erwartet hätte.
»Wie findest du die Party?«, fragt sie mich.
»Ganz gut. Ich gehe nicht so oft weg. Sollte ich aber öfter tun.« Und Wodka Cola light trinken, mich befreien. Und alles vergessen.
»Das hört man doch gerne. Ich bin ja von der ganzen Idee gar nicht so begeistert«, gibt sie schließlich zu.
»Welche Idee?«
»Na in meinen Geburtstag reinzufeiern. Ich bin kein Partytyp, aber sag das mal meinem Schwesterherz.« Sie lacht.
»Du bist also wirklich Suzan, ja?«, frage ich sicherheitshalber. Sie nickt grinsend.
»Ja. Aber alle nennen mich Suzie. Oder Sue. Such dir etwas aus.« So hatte ich mir Madison Rolands ältere Schwester eigentlich nicht vorgestellt. Eher einen Kopf größer und sportlicher. Eben wie Maddie selbst.
»Naja, ich feiere nicht so gern.« Suzan wendet den Blick ab und schaut auf die Tischplatte.
»Ist Damien dein Freund?« hake ich nach, ohne darüber nachzudenken. Was macht dieses Getränk aus mir? Und wie kannst du diese Frage nur so frei von der Leber weg stellen, Helena?
»Damien? Oh Gott, nein, nicht Damien! Aber sein Bruder. Drake. Deshalb ist er doch überhaupt hier. Weil Maddie und Drake die ganze Partysache eingefädelt haben.« Suzan lacht sich schlapp. Ich kann mir allerdings nicht erklären wieso, kann den Witz nicht finden. »Ohne Drake wäre er wahrscheinlich gar nicht hier. Das ist genauso wenig sein Ding wie unseres.«
»Ich dachte nur. Hätte ja sein können.«
»Nein, nein. Damien ist schon lange überzeugter Single. Der interessiert sich echt für keine. Aber woher kennt er dich eigentlich?« Ich berichte Suzan die Fahrradgeschichte, und dass ich an diesem Tag ebenfalls Geburtstag hatte, woraufhin sie mich in den Arm nimmt und mir herzlich gratuliert. Das alles geht so schnell, dass mir die Zeit fehlt, vor ihr zurückzuweichen. Wir unterhalten uns noch über dies und das und setzen uns später an die Bar. Ich beschließe jedoch, dass es für heute genug Erfahrungen waren und ich nicht noch betrunken sein muss, weshalb ich mir eine normale Cola light bestelle – ohne Wodka. Suzan dagegen trinkt sich durch die halbe Cocktailkarte, aber die alkoholfreie, woran sie mich immer wieder erinnert. Weil sie zu verantwortungsbewusst ist und keinen Alkohol anrührt. Sie ist allgemein sehr gesprächig, erzählt mir von Maddie und ihrem Studium. Ich bin so viel Offenheit und Kontaktfreude von anderen Menschen überhaupt nicht gewöhnt. Auf einmal wird die Musik auf ein Minimum reduziert.
»Hallo? Ist dieses Mikro an? Hiihiihii« Maddie steht in der Mitte eines Halbkreises aus Menschen, der sich ganz von selbst gebildet hat. Erst nachdem sie dreimal mit der Handfläche auf das Mikrofon geschlagen und ein unangenehmes Geräusch erzeugt hat, redet sie weiter.
»Alle wissen ja, dass das heute hier Suzans großer Tag ist. Weshalb ich sie augenblicklich zu mir bitte!« Madison betont das Adjektiv so stark, als würde Suzan bei Verweigerung in großer Gefahr schweben. Diese bewegt sich nur widerwillig von ihrem Platz neben mir an der Bar weg und stellt sich neben ihre Schwester. Halbschwester, auch das hat sie mir erzählt. Als Damien auf einmal wieder neben mir auftaucht, bleibt mir - augenblicklich- die Luft weg.
»Die arme Suzie.« Ich lächele ihn nur ungläubig an.
»Also, meine liebe Suzan«, beginnt Madison. »Es ist gleich Mitternacht und deshalb setze ich dir jetzt diesen Hut auf.« Alle applaudieren, als Maddie ihrer Schwester eine große Geburtstagstorte aus Plüsch, auf der eine Zwanzig an einer Feder hin und herschwingt, auf den Kopf setzt. Ich klatsche allerdings nicht. Weil Damien es auch nicht tut.
»Und jetzt ... Bill, machst du bitte mal den Beamer an ... COUNTDOWN!«, trällert Maddie und an der Wand hinter ihr erscheint eine übergroße Uhr. Suzan tut mir wirklich leid. Sie steht da vor den ganzen Menschen, die nur sie anschauen. Ab und zu holt sie tief Luft, die sie dann schwer wieder ausatmet.
Zehn, neun, acht.
Ich muss erschrocken feststellen, dass Madisons Stimme noch kreischender ist, wenn sie angetrunken ist und damit auch noch unerträglicher.
Drei, zwei, eins.
Mit einmal bricht ein lautstarkes Jubeln aus. Alle stürzen auf Suzan zu, umarmen sie, gratulieren ihr. Ein paar Jungs heben sie hoch, feiern sie wie den größten Star dieser Welt. Ich stehe nur am Rand und schüttele innerlich den Kopf. Nur zu gut kann ich mir vorstellen, wie unangenehm Suzan das sein muss, fühle mit ihr. Aber da muss sie durch. Mir fällt mein eigener Geburtstag wieder ein und fast verfalle ich in meine gewohnte, depressive Stimmung. Doch die Realität ist auf einmal da und stützt mich, als sei ich gerade beinahe ohnmächtig geworden.
Zeit vergeht. Die anfängliche Euphorie verläuft sich wieder, als die Masse auseinandergeht.
Es wird später. Maddie hat den Karaokeabend eröffnet, hat Suzan gezwungen, mit ihr ein Duett zu singen. Ich stehe immer noch an der Bar, trinke eine Cola light nach der anderen, als das Geburtstagskind plötzlich wieder neben mir auftaucht.
»Ich bringe Madison irgendwann um!« Daraufhin bestellt sie erst einmal knallhart eine Apfelschorle.
»Du bist auch kein Partymensch, oder?« Ich schüttele den Kopf. Nein, aber dabei bin ich doch heute schon wirklich gut drauf!
»Wie lange geht die Feier eigentlich?«, frage ich, weil es mittlerweile schon nach zwei ist und ich müde werde. Und weil ich gern wissen möchte, wie lange ich noch ohne große Erklärung wegbleiben kann.
»Weiß nicht. Ich gehe generell um drei Uhr nach Hause, weil Drake nie viel länger durchhält. Hast du mal beobachtet, was der in sich reinkippt, wenn die Nacht lang ist?« Sie lacht, ich schüttele den Kopf.
»Ich denke, ich gehe dann auch. Wobei ich gar nicht weiß, wie ich nach Hause kommen soll.« Ich habe einen Plan. Der ist ganz plötzlich in meinem Kopf. Ohne Ursprung. Ohne Zusammenhang. Mein Unterbewusstsein leistet gute Arbeit. Und Suzan springt tatsächlich darauf an.
»Also wenn du willst, kannst du auch bei uns übernachten. Das Gästezimmer ist frei und Maddie kennst du ja ein bisschen besser.« Ich bin gerettet. Fast zwanzig Stunden keinen Gedanken an den Hammer, der langsam zur Axt geschliffen wird.
»Wenn das geht ... ich meine, meine Eltern würden mich zwar auch abholen, aber das dauert halt ...« Suzan strahlt mich an.
»Du kommst mit, Helena. Ich kenn dich zwar seit ungefähr zwei Stunden, aber du scheinst irgendwie die einzig normale Person hier zu sein ... und die Einzige, die nicht betrunken ist!« Dann wäre das ja geregelt. Ich bin ... zufrieden, nahezu glücklich. Für einen kurzen Moment ohne Blut und Zeichnungen auf meiner Seele. Ich bin frei für diese Nacht, bin ein ganz normales Mädchen. Ich werde akzeptiert, gehöre auf fast schon skurrile Weise zu einer Gruppe dazu, die Interesse an mir als Person zeigt. Nicht als Gegenstand, nicht als Schatten, den keiner sieht, vor dem sich aber trotzdem alle erschrecken. Ich bin Helena und ja! Es geht mir gut! Suzan packt plötzlich meinen Arm und zieht mich auf die Tanzfläche. Aber am Ende stellen wir uns doch wieder an die Wand und reden. Weil wir die Einzigen sind, die das noch können, ohne zu lallen.
Ich gehe mit Suzan allein nach Hause, unbehaglich und gar nicht mehr so gut gelaunt. Wir sind nur zu zweit, weil Damien seinen Bruder mit zu sich genommen hat, damit Suzie in ihrer Geburtstagsnacht ruhig schlafen kann. Ganz offensichtlich hat der einen über den Durst getrunken. Meiner Mutter habe ich eine kurze Nachricht geschickt und Tyler einen winzigen, schadenfrohen Gedanken: Du kriegst mich nicht, nicht heute Nacht.
Ich bin sechzehn. Ich bin schon groß und in einigen Dingen stärker, als ich mir selbst eingestehe. Wenn ich will, kann ich kämpfen. Ich habe schon Dinge gesehen, die niemand kennt. Weil Geheimnisse Schnittwunden hinterlassen. Ich bin unschuldig. Genau deshalb. Vielleicht bin ich unsicher, doch ich bin nicht dumm.
Aber ich bin nicht bereit, allein irgendwo zu übernachten. Worauf zur Hölle habe ich mich da nur eingelassen!
Suzan bemerkt meine Gedankengänge nicht. Wie denn bitte? Ich kann nichts besser, als mich verstecken und abblocken. Und auf Hochhäusern sitzen, ohne zu wissen, auf welchem Weg ich wieder unten ankomme. Wo soll ich mich diese Nacht nur verstecken? Die Wahrheit einschließen? Ich weiß es nicht. Immerhin habe ich wenigstens frei, wenn ich schon nicht frei sein kann.
»Hellie?«, fragt Suzan. »Alles gut?« Verwirrt nicke ich nur. Wie kommt sie darauf, dass etwas nicht stimmen könnte? In nächsten Moment begreife ich, dass ich unvermittelt vor der Haustür stehengeblieben bin und mich nicht mehr von der Stelle bewege.
»Entschuldige. Ich war in Gedanken.« Sie schließt die Tür hinter uns ab. Mein Herz schlägt bis zum Hals.
»Du musst doch jetzt gar nicht fliehen.«, denke ich. »Du bist doch in Sicherheit.«
»Komm erst mal ins Wohnzimmer.« Die Wohnung ist klein aber fein. Das eine Fensterbrett steht voller weißer Orchideen, die allesamt um die Wette blühen. Als Suzan meinen skeptischen Blick bemerkt, lacht sie laut auf.
»Ich züchte sie. Ja, schon klar, ich bin ein Freak.« Sie wirft ihre kleine Persönlichkeit auf das große, cremefarbene Sofa. »Mensch, Hellie! Setz dich!«
Und wieder bleibt mir nichts anderes übrig, als mich bei ihr zu entschuldigen.
»Ich mache das nicht oft.« Wir lachen. Über meine unbeholfene Art. Suzan tut mir gut, das merke ich. Ich will ich selbst sein. Wo ist der Schlüssel zu meiner Seele? Warum ist die Tasche so groß, in der ich ihn versenkt habe. Oder der See im Park? Oder war es der Pazifische Ozean? Als Suzie aufsteht und mir Schlafsachen sucht, kommt für einen Augenblick Panik in mir auf. Wegen eines Gedankens an die Zeichnungen auf meinen Unterarmen, auf den Beinen. Aber bevor ich etwas sagen kann, ist das Oberteil, das sie mir reicht, langärmlich und alles ist in Ordnung. Alles ist in Ordnung, auch wenn eigentlich nichts gut ist.
Wirklich lange unterhalten wir uns schließlich aber doch nicht mehr. Es ist inzwischen auch gleich fünf Uhr morgens. Und als ich dann im Bett liege, schlafe ich sofort. Das hätte ich niemals gedacht, dass gerade ich es schaffe, in einer fremden Wohnung zu entspannen. Aber kaum habe ich die Decke bis zum Kinn gezogen, fallen mir die Augen zu, und ich kann es zulassen. Ich bin weg von zu Hause. In diesem Moment gibt es keinen sichereren Ort für mich auf dieser Welt.
Ich schlafe lange, habe eine Menge nachzuholen. Als ich aufwache und auf mein Handy schaue, ist es fast fünfzehn Uhr. Zehn Stunden sind verstrichen und es geht mir gut. Ich bin fit, bin bereit für den Tag, der fast schon wieder zu Ende ist. Ich habe das erste Mal nichts geträumt. Es war eine lange, friedliche Nacht ohne Hammer, Tyler und Angst. Ohne ständiges Aufwachen oder Wachliegen. Ich bin erholt. Ich bin ich selbst. Genau so lange, bis ich meine Nachrichten lese.