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Der Boss schickt seine Killer los: Kriminalroman

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Von Cedric Balmore

Die Tote zu meinen Füßen war Corinna Price. Das besagte eindeutig der Ausweis in ihrer Handtasche.

Kurz darauf stand ich ihrem lebenden Abbild gegenüber, dieser selben Corinna: silberblondes Haar, seegrüne Augen, lange Wimpern. Sie trug eine dieser modisch geschnittenen weiten Hosen und dazu eine durchsichtige Chiffonbluse, unter der sie nur ihre Haut anhatte und das, was diese Haut umschloß.

Auch ein G-man ist ein Mensch, ich wollte sagen: ein Mann. Ich schloß für einen Moment die Augen, riß mich innerlich an meiner FBI-Moral hoch und blickte sie dann starr und sehr gefestigt an.

Wer war die Schöne, die mich auf der Straße erschießen wollte und dabei selbst erschossen wurde — brutal und gemein in den Rücken?

Die Tote Corinna war ebenso schön gewesen wie die lebende Corinna vor mir. Die eine behauptete, Corinna Price zu sein, die andere hatte den Ausweis einer Corinna Price in der Tasche gehabt. Wem sollte ich glauben? Wer war überhaupt Corinna Price? Und wer hatte sie getötet? Warum war dieses schöne junge Mädchen heimtückisch ermordet worden? Fragen über Fragen, Rätsel über Rätsel, die der Lösung harrten.

Die Puppe will zu dir, dachte ich. Sie kam geradewegs auf mich zu, ein starres Lächeln auf den Lippen, in den seegrünen Augen kühle Entschlossenheit. Dann sah ich, daß sie keine Puppe im üblichen Sinne war, sondern eine Lady — sofern man das mit zweiundzwanzig Jahren schon sein kann.

Sie machte vor mir halt, ein aufregendes Paket aus Luxus und Schönheit. Ihr starres Lächeln löste sich, es wurde weicher und weiblicher, aber in ihren Augen schienen sich alle strengen Winter ihrer Erinnerung versammelt zu haben, eiskalt und frostig.

»Jesse Trevellian«, sagte sie und verkrampfte beide Hände in die schwarze Lackledertasche. An ihrer linken Hand blitzte ein Solitär. Er war zwei Tausender pro Karat wert, und von dieser Gewichtseinheit hatte er mindestens fünf.

Ich erwiderte ihr Lächeln, eher vorsichtig als liebenswürdig. An dem Mädchen war etwas, das mir nicht gefiel, aber ich konnte nicht auf Anhieb sagen, was es war. Sie hatte alles, was einen Mann das große Kribbeln überkommen läßt: ein vollkommenes Gesichtsoval mit riesigen langbewimperten Augen, silberblondes Haar, einen hungrigen Mund, Beine, die Klasse waren, und eine Figur, die männlichen Kennerblicken eine Menge Parkplätze bot.

Ich stand in der Fulton Street, dem Hauser Building genau gegenüber. Ich hatte meinen alten Salz-und-Pfeffer-Anzug an. Er ließ mich stockkonservativ und ein wenig gestrig aussehen — als trüge ich die abgelegten Klamotten meines Chefs auf.

Das Girl lächelte noch immer. Sie öffnete ihre Handtasche. Im nächsten Moment umspannte sie mit der schlanken gepflegten Rechten den Griff einer Pistole.

Ich sah das Mädchen zum erstenmal in meinem Leben und wünschte mir, sie unter weniger sensationellen Aspekten kennengelernt zu haben. Es war nicht vorstellbar, daß sie den Wunsch hatte, mich mit der Waffe in der Hand um ein Rendezvous zu bitten. Ihre nächsten Worte bestätigten diese Annahme.

»Sie werden jetzt sterben, G-man«, sagte sie.

Es war kein Haß in ihrer Stimme, aber auch keine Fröhlichkeit. Was sie sagte, klang eher ein wenig bitter, aber auch abgeklärt und entschlossen. Sie machte nicht den Eindruck eines Menschen, der irgendeinem Argument zugänglich sein würde.

Sie hatte den Finger am Druckpunkt des Abzugs liegen. Es war klar, daß ich versuchen mußte, ihr die Waffe mit einem Handkantenschlag aus den Fingern zu fegen, aber ich tat zunächst nichts dergleichen.

»Jeder Verurteilte hat ein Anrecht, zu der gegen ihn erhobenen Anklage Stellung zu nehmen«, sagte ich. »Warum wollen Sie mich töten?«

»Sie haben Les erschossen. Nun erschieße ich Sie!«

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber in diesem Moment krachte es.

Die Puppe vor mir zuckte zusammen. Ich wußte jetzt, daß sie keine Lady war. Ladys töten nicht. Aber sie war schön, schön genug, um sich vorzustellen, wie es wohl wäre, wenn man seine Arme um sie schließen könnte.

Die Puppe ließ die Hand mit der Pistole fallen. Die Waffe löste sich aus ihren Fingern und krachte auf den Bürgersteig. Meine Umgebung kam zu einem plötzlichen Halt, als wäre sie Teil eines Films, dessen Projektion gestoppt worden war.

Der Schuß hatte die Leute versteinern lassen, aber schon im nächsten Moment kam Bewegung in die Masse. Die Menschen liefen schreiend auseinander. Sie suchten Schutz in Hauseingängen und hinter parkenden Fahrzeugen.

Das Girl fiel mir in die Arme. Sie war leicht, weich und elastisch. Um so erschreckender war die Feststellung, wie sie auf einmal starr und schwer wurde. Meine rechte Hand, die auf dem Mädchenrücken lag, berührte den häßlichen Rand einer Einschußwunde und fühlte die Wärme des hervorquellenden klebrigen Blutes. Ich ließ das Mädchen zu Boden gleiten und hob gleichzeitig den Blick, um zu sehen, wer geschossen hatte.

In diesem Moment sah ich meinen Freund und Kollegen Milo Tucker. Er stand nur sieben Schritte von mir entfernt, in der Rechten seinen Dienstrevolver.

Milo gab sich einen Ruck und kam auf mich zu. Er schaute dem Mädchen in die brechenden Augen. Ich sah, wie er schluckte.

»Aus«, sagte er dumpf.

Warum starb das schöne Mädchen?

Ich drehte das Mädchen behutsam auf die Seite. Meine Blicke hingen an seinen Lippen und warteten auf ein letztes Wort. Es kam nicht. Als ich mich erhob, war es mir zumute, als müßte ich eine Tonnenlast hochstemmen.

»Warum hast du das getan?« fragte ich. Ich schaute noch immer die Tote an. »Okay, sie hat mich bedroht. Sie wollte mich töten. Aber du hättest sie mit einem gezielten Schuß in den Arm außer Gefecht setzen können…«

»Sie wollte dich töten?« fragte Milo.

Ich blickte ihn stirnrunzelnd an. »Das hast du doch gesehen«, sagte ich.

Milo sah verblüfft aus. »Wovon redest du überhaupt?« fragte er. »Ich sah nur ein Mädchen, das mit dir sprach und mir dabei den Rücken zukehrte. Ich habe nicht auf sie geschossen. Ich riß die Waffe aus der Schulterhalfter, als ich den Schuß krachen hörte und das Mädchen zusammenzucken sah.«

»Der Schuß kam aus deiner Richtung.«

»Nein, er kam von da drüben, von der Fahrbahn her«, widersprach mir Milo und wies auf die Straße. Die Fahrer in der langen Autoschlange hatten nicht einmal bemerkt, was geschehen war. Die parkenden Fahrzeuge am Bürgersteig entzogen ihnen die Sicht auf die Tote. Zögernd kamen die geschockten Tatzeugen aus ihren Verstecken hervor. Um uns bildete sich ein dichter Ring von Neugierigen.

»Ich hab’ den Mann gesehen«, erklärte eine Frau aufgeregt. »Er hat aus einem Wagen geschossen!«

»Haben Sie sich die Wagennummer gemerkt?« fragte ich.

»Nein — es ging zu schnell.«

»Würden Sie den Mann wiedererkennen?« wollte ich wissen.

Die Frau zögerte. Sie fühlte alle Blicke auf sich gerichtet. Sie war eine einfache Frau. Möglicherweise geschah es zum erstenmal, daß sie auf diese Weise in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt wurde. Sie fühlte, daß sie sich bewähren mußte, und versicherte: »Ganz bestimmt sogar! Ich weiß genau, wie er aussah… Ein brutaler Kerl mit einer Boxervisage.«

»Unsinn«, widersprach ein hochaufgeschossener Endfünfziger. »Er hatte ein rundes, nichtssagendes Gesicht… Glatt rasiert, ohne besondere Merkmale. Der Kerl trug einen dunkelbrauen Filzhut mit hellem Band.«

Die Leute redeten wild durcheinander; Gefühlsmäßig hielt ich den Mann für den zuverlässigeren Beobachter, aber natürlich mußten wir dafür sorgen, daß jede Aussage detailliert zu Protokoll genommen wurde.

»Ich rufe die Polizei und die Mordkommission«, sagte Milo und drängte sich durch den Kreis der Neugierigen.

Ich bückte mich nach der Lackledertasche der Toten und hob sie auf. Der Führerschein des Mädchens lautete auf den Namen Corinna Price. In einem Seitenfach entdeckte ich die quittierte Rechnung eines exklusiven Modehauses. Sie lautete über zweihundertelf Dollar und enthielt Corinnas volle Adresse: West End Avenue 414.

Dann kam das übliche. Die Mordkommission, .Erklärungen, Fragen, Berichte und ani Ende das Unterschreiben der Protokolle. Milo und ich setzten uns eine halbe Stunde später in meinen Jaguar. Wir riefen das District Office an, gaben unseren Standort durch und berichteten, was geschehen war. Dann stoppten wir vor einem Schnellrestaurant, das für seine reiche Auswahl großer Steaks bekannt war.

»Ich kann jetzt nicht essen«, sagte ich, als Milo ausstieg.

»Ich kann mir denken, wie dir zumute ist«, meinte Milo. »Bloß mein Magen schafft das nicht.«

»Ich hol’ dich in einer halben Stunde hier ab«, sagte ich. »Bis zur West End Avenue sind es nur fünf Minuten. Ich, muß feststellen, wer das Mädchen war.«

»Das schaffst du auch mit ein paar Anrufen«, meinte Milo.

»Ich muß sehen, in welcher Umgebung sie lebte. Ich muß erfahren, warum sie mich töten wollte.«

»Sie hat es dir gesagt?«

»Sie sagte, ich hätte Les erschossen. Du weißt so gut wie ich, daß das nicht stimmt. Ich habe keinen Mann erschossen. Ich kenne keinen Les.«

»Sie hat dich angesprochen und kannte deinen Namen«, stellte Milo fest.

»Jemand muß ihr einen Bären aufgebunden haben«, meinte ich. »Es gibt dafür nur eine plausible Erklärung. Dieser Les war ihr Liebhaber. Er bedeutete ihr alles. Als er erschossen wurde, wollte sie seinen Tod rächen. Irgend jemand — vermutlich der Mörder — hatte den reizenden Einfall, dem Mädchen weiszumachen, daß ich Les getötet hätte. Was daraus wurde, haben wir erlebt.«

»Eine hübsche Geschichte«, spottete Milo. »Plausibel, wie du so schön sagst. Du hast nur vergessen, den zweiten Teil der Story zu analysieren. Wer erschoß Corinna Price — und warum?« Milo erwartete offenbar keine Antwort von mir, denn er fuhr fort: »Ich lasse mir etwas dazu einfallen. Ich denke beim Steak darüber nach.«

»Übernimm dich nicht dabei«, sagte ich und fuhr los.

Das Haus West End Avenue 414 gehörte zu jenen hochklassigen Apartmenthäusern, in denen zu leben weitaus teurer war als der Kauf eines Bungalows in den Vororten. Der goldbetreßte Portier vor der Kristalldrehtür zeigte, daß die Hausbewohner Wert auf Sozialprestige legten und keine Scheu vor Protzertum hatten.

Ich zeigte dem Goldjungen meinen Ausweis und versüßte ihm dessen Anblick mit einer Eindollarnote. Die kühle Reserve, mit der er den Schein in seinem Ärmelaufschlag verschwinden ließ, deutete an, daß er größere Trinkgelder gewohnt war.

»In welcher Etage wohnen die Prices?« fragte ich ihn.

»In der zweiten, Sir«, erwiderte er. »Sie gehört ihnen.«

Ich unterdrückte einen Pfiff der Anerkennung und registrierte, daß der Fünfkaräter am Finger der Toten offenbar nicht ihr einziger Vermögenswert gewesen war.

»Wovon leben die Prices?« erkundigte ich mich.

Der Portier schaute mich an, als hätte ich wissen wollen, ob New York in Amerika liegt. Soviel Dummheit konnte er nur mit Verachtung strafen.

»Von ihrem Geld natürlich«, schnarrte er.

»Eigentlich wollte ich wissen, womit sie es verdienen«, sagte ich bescheiden.

»Sie haben es«, meinte er knapp. »Das ist alles.«

»Hm«, machte ich beeindruckt. »Ist jemand von den Prices zu Hause?«

»Ich glaube.«

Der mahagoniholzgetäfelte Lift war fast so groß wie mein Wohnzimmer. Seine ledergepolsterten, daunengefüllten Sitze hatten sicherlich mehr gekostet als das, was ich in meinem Zimmer stehen hatte. Vom Lift zur Apartmenttür der Prices führte eine Teppichgalerie, die sich nahtlos in den Luxusrahmen einfügte und gut zu dem wohltönenden Dreiklanggong paßte, den mein Klingeln im Wohnungsinnren auslöste. Die Tür öffnete sich. Ich erlebte eine Sensation, die mich fast aus meinem Salz-und-Pf eff er-Anzug kickte. Vor mir stand Corinna Price!

Sie trug eine dieser modischen, sehr weit geschnittenen Hosen und dazu eine Chiffonbluse, unter der sie nur ihre I laut offerierte und das, was diese Haut umschloß. Ich hatte einige Mühe, meinen Blick auf das Gesicht des Mädchens zu konzentrieren. Silberblondes Haar, seegrüne Augen, lange Wimpern.

»Sie wünschen?« fragte mich die junge Dame. Die Stimme brachte mich auf den Erdboden zurück. Sie war um eine Nummer dunkler als die Corinnas.

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI«, stellte ich mich vor.

Der volle weiche Mund des Mädchens formte sich zu einem rotschillernden Krater. »Oh«, hauchte sie. »FBI?«

Ich hatte das Empfinden, daß sie meinen Namen zum erstenmal hörte.

»Ich habe heute Ihre Zwillingsschwester kennengelernt«, sagte ich ernst. »Corinna.«

»Ich bin Corinna«, meinte das Girl. »Wie heißt Ihre Schwester?«

»Lala«, sagte das Mädchen.

»Wie bitte?«

»Lala«, wiederholte sie. »Lala Price. Ein Einfall meines Vaters. Kommen Sie herein, bitte.«

Die Diele war hell beleuchtet. Als Corinna Price vor mir die Diele durchquerte, hatte ich Gelegenheit, die Bewegungen ihrer delikat geformten Schulterblätter unter dem durchsichtigen Chiffon zu bewundern. Das Wohnzimmer lenkte mich davon ab. Es hatte den Stil und den Pfiff eines Raumes, der von einem geschmackssicheren Innenarchitekten geformt worden war. Wir setzten uns. Corinna Price lehnte sich zurück. Der Stoff der Bluse modellierte ihren Oberkörper ebenso zärtlich wie herausfordernd.

»Was ist mit Lala?« fragte sie.

»Sie ist tot«, sagte ich.

Corinna Price setzte sich abrupt auf. »Nein!« hauchte sie.

»Sie wurde erschossen«, sagte ich. »Mitten auf der Straße.«

Das Mädchen starrte mich an. Ihr Gesicht wirkte wie gemeißelt. Es war von makelloser Schönheit. Es war unmöglich, zu erkennen, ob sie der Schreck, das Entsetzen oder die Trauer lähmten, oder alles zusammengenommen. Ich war nicht sehr stolz darauf, gleichsam mit der Tür ins Haus gefallen zu sein, aber die Erfahrung sprach dafür, Botschaften dieser Art direkt anzubringen. Jede andere Methode macht es nur viel schlimmer.

»Wer hat es getan?« flüsterte sie. Ihr Blick ging dabei starr ins Leere.

»Ich weiß es nicht. Der Schuß wurde aus einem vorüberfahrenden Wagen abgegeben.«

»Das ist… Es ist sinnlos«, murmelte Corinna Price. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ich holte eine Packung Zigaretten aus der Tasche. Mein Blick streifte die Bluse des Mädchens. Ich haßte mich dafür. Diese Situation ließ keinen Raum für Frivolitäten, andererseits wirkte das Mädchen wie ein Magnet, und sie selber war es, die diesen Magnet aufgeladen hatte. Ich hielt ihr das Päckchen unter die Nase. Sie griff mechanisch danach. Ich gab ihr Feuer, dann steckte ich mir selber eine Zigarette an.

»Es würde mich interessieren, zu erfahren, wer Les war und welche Rolle er in Lalas Leben spielte«, sagte ich.

»Les?«

Ich nickte. »Diesen Namen nannte Ihre Schwester, als sie mich mit der Pistole bedrohte. Sie wollte mich töten.« Corinna Price starrte mir in die Augen. »Lala… Sie töten? Sie haben den Verstand verloren! Mein Gott, und ich dachte schon, es wäre wahr.«

»Es ist wahr, auch wenn es wie der Bericht eines Verrückten klingt«, sagte ich. »Rufen Sie die Mordkommission an — oder warten Sie ihren Besuch ab. Der Fall wird von Lieutenant Baker bearbeitet. Er wird hier aufkreuzen, sobald er die Ermittlungen am Tatort abgeschlossen hat.«

»Wird er — wird er die Wohnung durchsuchen?« fragte mich das Mädchen. Ich bemerkte, daß sich ihre Muskeln ein wenig strafften. Ich fragte mich, was sie mit der Frage bezweckte und was sich dahinter verbarg.

»Nur wenn jer die Notwendigkeit dafür sieht — und wenn er einen Haussuchungsbefehl vorweisen kann«, sagte ich. »Aber der ist nicht so leicht zu bekommen.«

»Ich verstehe«, sagte das Mädchen. »Ich möchte vermeiden, daß die Polizei Lalas Sachen durch wühlt.«

»Haben Sie etwas zu verbergen?«

»Nein, nein«, meinte sie hastig. »Was bringt Sie denn darauf?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich finde, Sie sollten der Polizei keine Schwierigkeiten machen und den Beamten erlauben, Lalas Zimmer anzusehen. Schließlich geht es darum, einen Hinweis auf die Motive Ihrer Schwester und des Täters zu bekommen.«

Corinna 'Price betrachtete das glühende Ende der Zigarette. Ich hätte etwas darum gegeben, in diesem Moment Gedanken lesen zu können.

»Wohnen Sie hier bei Ihren Eltern?« erkundigte ich mich.

»Nein — das Apartment gehört Lala und mir.«

»Wo leben Ihre Eltern?«

»Wir haben nur noch einen Vater«, sagte sie.

Ich wurde ungeduldig. Ich hatte Verständnis für die Verwirrung, die die Nachricht von Lalas Ende in dem Mädchen ausgelöst hatte, andererseits kam ich nicht von dem Verdacht los, daß Corinna Price’ Einsilbigkeit andere Ursachen hatte als die eines Schocks. Mir schien es so, als sei sie bestrebt, Zeit zu gewinnen oder meine Ermittlungsbemühungen zumindest zu bremsen.

»Wer ist Ihr Vater?« fragte ich sie. »Raymond Kenneth Price«, antwortete sie.

Ich starrte sie an. »Ist er unter dem Namen Ken Price bekannt?«

»Ja«, sagte sie.

Ken Price! Er lebte in Chicago. Er war möglicherweise der letzte große Syndikatsboß aus der Capone-Ära. Niemand wußte genau, wie er es geschafft hatte, das Sterben der großen Syndikate zu überdauern. Ken Price war bereits eine Legende. Ich hatte nicht gewußt, daß seine Töchter in New York lebten.

»Wann war er zuletzt hier?«

»Papa kommt nie nach New York«, erklärte Corinna Price. »Sie sind der erste, der erfährt, daß Lala und ich seine Töchter sind. Selbstverständlich gibt es ein paar Eingeweihte, die die Wahrheit kennen. Meine Schwester und ich hatten keine Ursache, damit hausieren zu gehen. Papa war strikt dagegen. Er hat viele Feinde, das wissen Sie. Er wollte diesen Feinden keine Gelegenheit geben, uns zu entführen, er wollte sich nicht auf diese Weise erpressen lassen. Price ist ein häufiger Name, fast Dutzendware. Niemand in New York denkt sich was dabei, wenn man ihn trägt. Und doch ist es ein besonderer Name«, schloß sie bitter. »Lalas schreckliches Ende beweist es.«

»Wäre Lala einfach so erschossen worden, hätte ich annehmen können, daß es dem Täter darum ging, Ihren Vater zu treffen. Aber Lala sprach mich an. Sie sagte wörtlich, daß ich sterben müßte, weil ich Les erschossen hätte.«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich nicht verstehe, wie das zusammenhängt.«

»Sie waren Zwillinge. Schwestern. Sie müssen sich doch in- und auswendig gekannt haben!«

»Äußere Gleichheit muß nicht innere Harmonie voraussetzen«, widersprach Corinna. »Wir haben uns nicht verstanden. Wir gingen uns aus dem Weg.«

»Die Wohnung ist sicherlich groß genug, um das möglich zu machen«, sagte ich.

»Sonst hätten wir es nicht zusammen ausgehalten. Wir teilten nur dieses Wohnzimmer — aber wir betraten es nur einzeln«, sagte sie. »Wenn Lala hier war, blieb ich draußen, und wenn ich mich in diesem Raum aufhielt, kam Lala nicht herein. Jede von uns hat ein paar eigene Räume, jede ein eigenes Bad.«

»Wie groß ist der Scheck, den Sie von Ihrem Vater erhalten?« fragte ich.

»Für jede von uns sechzehnhundert im Monat«, antwortete das Girl. »Keine Miete. Das Apartment ist auf unseren Namen eingetragen. Papa hat es uns geschenkt.«

»Jetzt gehört es Ihnen«, stellte ich fest. »Es muß rund hunderttausend wert sein.«

»Etwas mehr«, meinte Corinna Price. »Vielleicht ziehe ich jetzt aus. Die Wohnung ist zu groß für mich. Sie birgt Erinnerungen, die ich nicht mag. Lassen Sie uns offen miteinander sprechen. Ich weine um Lalas Schicksal, aber ich werde meine Schwester nicht vermissen. Im Gegenteil, Lalas Gegenwart war für mich zuweilen unerträglich, ein Alpdruck. Ich weine, weil ich eine Schwester hatte, die mir niemals nahestand.«

»Sie waren mit ihr zerstritten?«

»Wir haben kaum miteinander gesprochen, nur das Notwendigste«, sagte Corinna Price.

»Empfing sie oft Besuch?« fragte ich. »Kannten Sie Lalas Freunde?«

»Nein, sie verbrachte die meisten Nächte außer Haus. Sie war beständig unterwegs.«

»War das Ihrem Vater recht?«

»Nein, aber gegen Lalas Dickkopf kam er nicht an.«

»Ken Price ist ein mächtiger, auf seine Sicherheit bedachter Mann«, stellte ich fest. »Wie erklärt es sich, daß er seine Töchter nicht beschützen läßt?«

»Oh, wir haben unsere Leibwache«, meinte das Mädchen bitter. »Das ist das Schlimmste an meinem Leben — nie wirklich allein zu sein.«

»Lala war allein, als sie der tödliche Schuß traf. Ich habe jedenfalls keinen Wächter bemerkt, der sie zu schützen versuchte.«

»Wahrscheinlich ist sie ihm entwischt. Dafür hatte sie eine besondere Begabung.«

»Würden Sie mir bitte erlauben, einen Blick in das Zimmer Ihrer Schwester zu werfen?«

Corinna Price drückte ihre Zigarette in einem Ascher aus. »Nein«, sagte sie nach kurzem Nachdenken. »Papa würde mich schelten, wenn ich das zuließe. Wer und wie Lala auch gewesen sein mag — sie war meine Schwester. Es ist meine Pflicht, alles zu tun, um ihren Tod nicht zur Ursache dunkler Skandalgeschichten werden zu lassen.«

Es war klar, was Corinna Price meinte. Sie wollte Lalas Briefe und andere persönliche Dinge aus dem Zimmer der Schwester entfernen, um der Öffentlichkeit keinen Einblick in die Intimsphäre der Ermordeten zu geben. Corinna Price wünschte, daß diese Öffentlichkeit Lala als das unschuldige Opfer eines brutalen Killers sehen sollte. Ich wußte, daß dieses Bild nur zur Hälfte stimmte und daß Corinna Price kein Recht hatte, die Tatsachen zu unterdrücken oder zu verfälschen. Ich sagte ihr das mit ein paar passenden Worten.

Das Mädchen blieb davon unbeeindruckt. »Ich bleibe bei meinem Nein«, sagte sie.

Ich wies mit dem Kopf auf das Telefon. »Wollen Sie nicht Ihren Vater anrufen?«

»Später«, sagte sie. »Wenn Sie gegangen sind.«

»Haben Sie ihn oft besucht?«

»Zwei-, dreimal im Monat«, sagte Corinna Price. »Lala war noch häufiger bei ihm. Sie'verstand es, ihren Vorteil zu wahren.«

»Ich werde im Haus herumfragen müssen, um mehr über Ihre Schwester zu erfahren«, sagte ich und stand auf.

»Muß das sein?« fragte Corinna Price pikiert. Sie begleitete mich in die Diele.

»Sie ziehen ja sowieso aus«, sagte ich obenhin. »Ich muß versuchen, die Informationen, die Sie mir vorenthalten, auf andere Weise zu bekommen.«

»Was für Informationen?«

»Ich weiß, daß Ihre Schwester ermordet wurde, als sie mich umbringen wollte. Ich weiß, daß sie die Tochter eines Syndikatsbosses war, und ich weiß, daß Sie sich mit ihr nicht verstanden. Das ist nicht genug. Ich muß herausfinden, wer dieser Les ist und in welchen Kreisen Ihre Schwester verkehrte. Ich muß erfahren, warum sie mich töten wollte und dabei selbst erschossen wurde.«

»Wenn ich etwas erfahre… Ich kann Sie ja anrufen«, murmelte Corinna Price. Es klang nicht sehr überzeugend.

»Wie kommt es, daß Lala Ihren Ausweis benutzte?«

»Vielleicht hat sie die Tasche verwechselt. Das ist schon oft passiert.«

»Woher hatte sie die Waffe?«

»Ich weiß es nicht.«

In diesem Moment hörte ich die Paukenschläge. Jedenfalls hörten sich die Geräusche so an, dumpf und laut, ein alarmierender Resonanzwirbel.

Ich fragte nicht, woher sie kamen und was sie zu bedeuten hatten. Ich ging einfach auf die Tür zu, hinter der die Laute erzeugt wurden.

»Bitte nicht!« rief mir das Girl scharf hinterher. »Bleiben Sie hier!«

Corinna Price’ Aufforderung erzielte das Gegenteil des gewünschten Effektes. Meine Neugierde war geweckt. Ich riß die Tür auf. Vor mir lag ein teppichbelegter kurzer Korridor. An seinen elfenbeinfarbig tapezierten Wänden hingen kostbare alte Stiche. Ich eilte bis zum Ende des Ganges und öffnete eine weißlackierte Tür.

Ich stoppte auf der Schwelle. Als erstes sah ich die beiden Männer. Einer lag rücklings auf dem Boden, der andere kniete auf ihm und hielt seinem Gegner mit beiden Händen den Mund zu, um ihn am Schreien zu hindern.

Der auf seinem Rücken liegende Mann hatte sich trotzdem verständlich gemacht. Er hatte mit seinen beschuhten Füßen gegen einen Schrank getrommelt.

Das weißgelackte Holz, die duftigen Voilegardinen, die dicken Teppiche und die betont feminin wirkende Einrichtung machten deutlich, daß dies das Schlafzimmer von Lala oder Corinna war.

»Lassen Sie ihn los!« sagte ich scharf.

Der kniende Mann starrte mich an. Er nahm seine Hände vom Mund seines Gegners und erhob sich. Der Mann, der unter ihm gelegen hatte, rührte sich nicht. Er lag da wie tot, mit geschlossenen Augen.

»Wer, zum Teufel, sind Sie?« stieß der Mann hervor. Er rückte sich das Jackett und seine Krawatte zurecht. Jedenfalls schien es so, als ob das seine Absicht sei. Im nächsten Moment hatte er einen Revolver aus der Schulterhalfter gerissen. Die Geschwindigkeit, mit der er das zustande brachte, ließ auf langjährige Routine schließen.

Ich schätzte das Alter des Mannes auf Dreißig. Er hatte ein schmales hartes Gesicht mit dunklen tiefliegenden Augen und war modisch gekleidet. Sein Haarschnitt paßte sich dieser Linie an. Er zog sich bis tief in den Nacken und glänzte durch auffallend lange Koteletten.

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI«, sagte ich. »Und wer sind Sie?«

Die dunklen Augen des Mannes wurden schmal. Unter seiner glatten Gesichtshaut spannten sich die Wangenmuskeln. Sicherlich war mein plötzliches Auftauchen für ihn eine böse Überraschung. Umgekehrt fand ich es wenig erbaulich, in den Lauf seines Revolvers starren zu müssen.

»Ich bin der Botschafter des Satans«, höhnte er.

»Den wollte ich schon immer mal kennenlernen«, sagte ich und streckte meine Hand aus. »Her mit der Kanone!«

Er drückte ab und schoß.

Die Kugel peitschte dicht an meinem Kopf vorüber. Mir war zumute, als würde meine Schläfe von der Spitze einer knallenden Peitsche berührt.

Der Gangster grinste, als er meinen Schock sah. »Das nächstemal treffe ich ins Schwarze«, versicherte er. »Das war nur ein Warnschuß.«

Ich blickte über die Schulter. Wie erklärte es sich, daß Corinna Price nicht auftauchte? Die Kugel war dicht neben der Tür in die Wand gedrungen.

»Das machen Sie nicht noch einmal«, sagte ich leise und wandte mich wieder dem Schützen zu.

Er lachte kurz und rauh. »Sie haben recht. Ich warne Sie nicht zum zweitenmal.«

»Was ist hier passiert?« fragte ich.

»Das wollte ich gerade herausfinden. Sie haben mich dabei gestört.«

»Miß Price!« donnerte ich.

»Lassen Sie Corinna aus dem Spiel!« sagte der Mann.

Im Flur kamen Schritte näher. Corinna Price trat auf die Schwelle. Das Mädchen sah sehr blaß aus. Es zuckte zusammen, als sie an mir vorbeiblickte. Ich vermochte nicht zu sagen, ob sie der Revolver in der Hand des Mannes oder der Mann auf dem Boden erschreckte oder beides zusammen.

»Bitte, Stan«, sagte sie mit gepreßter Stimme. »So geht es nicht. Haben Sie geschossen?«

»Was hätte ich denn tun sollen?« fragte der mit Stan Angesprochene. »Ich hatte keine Lust, wie der da zu enden.« Er wies mit dem Daumen seiner linken Hand über die Schulter auf den am Boden liegenden Mann.

»Um Himmels willen — ist er tot?« murmelte Corinna Price, deren Augen sich angstvoll weiteten.

»Er war noch sehr l'ebendig, als ich ihn hier erwischte«, sagte der Mann. »Allerdings lag er schon auf dem Boden, mit einer Schußverletzung, Ich hatte gerade angefangen, ihn in die Mangel zu nehmen und ein paar Fragen an ihn zu richten, als er plötzlich munter wurde und verrückt spielte. Dann kam dieser Kerl herein und mimte den strammen Otto. FBI! Da muß ich wirklich lachen.«

»Aber es stimmt«, sagte das Girl. »Mr. Trevellian ist Special Agent.«

Der Mann lachte. »Diesen Quatsch glauben Sie? Diesen Trick hat er sich ausgedacht, um hier herumschnüffeln zu können. Kennen Sie ihn?«

Corinna Price nickte. »Er hat sich ausgewiesen«, sagte sie.

Ich gab mir einen Ruck und machte ein paar Schritte nach vorn auf den am Boden liegenden Mann zu. »Mal sehen, was mit ihm los ist«, sagte ich.

»Stecken Sie endlich den Revolver ein, Stan!« befahl das Girl ungeduldig.

»Nichts für ungut, Miß — aber in dieser Situation muß ich selbst entscheiden, was zu…«

Weiter kam er nicht.

Als ich mit ihm auf gleicher Höhe war, zog ich einen Handkantenschlag ab. Er kam ansatzlos aus der Hüfte heraus und traf den Mann genau dort, wo es wirkte. Der Revolver flog in hohem Bogen durch die Luft und krachte gegen die Fußbodenleiste. Die sensible Mechanik reagierte gekränkt und feuerte einen Protestschuß ab, der glücklicherweise nur das Schrankbein traf.

Mein Gegner hielt sich nicht damit auf, Erschrecken oder Resignation zu zeigen. Er marschierte sofort mit den Fäusten auf mich los. Daß er damit umzugehen verstand, merkte ich an der Art, wie er meine Deckung unterlief. Ich konterte mit ein paar knochentrockenen Schwingern und brachte ihn auf Distanz.

Ein flüchtiger Blick auf den Spiegel zeigte mir Corinna Price’ blasses, schreckverzerrtes Gesicht. Ich bemerkte, daß nicht unser Kampf und seine möglichen Folgen sie entsetzten, sondern der Anblick des reglos am Boden liegenden Mannes.

Stan steigerte das Tempo. Es war klar, daß er eine rasche Entscheidung erzwingen wollte. Mir war das nur recht. Ich ging klaglos mit, blockte einige seiner Haken ab und kam zweimal hart mit det Linken durch.

Er hatte fabelhafte Nehmerqualitäten, aber als ich ihn zum drittenmal traf, begannen seine Augen wie Sülze zu wabbern. Ich roch Morgenluft und legte noch ein paar Touren zu. Das war mehr, als mein Gegner verkraften konnte. Er baute rasch ab. Als meine Rechte genau auf dem Punkt landete, fiel er um und blieb reglos liegen.

Ich nahm seinen Revolver an mich und klopfte meinen Gegner nach Waffen ab. »Wie heißt er?« fragte ich das Mädchen.

»Stan Pollock.«

»Er ist einer Ihrer Gorillas, nicht wahr?«

»Ja, er wird von Papa bezahlt.«

Ich richtete mich auf und trat an den zweiten Mann heran. Ich sah, daß der Mann eine Stichwunde in der Brust hatte und bewußtlos war.

»Wer ist das?« fragte ich sie.

»Ich kenne ihn nicht«, meinte Corinna Price mit bebender Stimme. »Sie haben doch gehört, was Stan sagte. Er hat diesen Mann hier in Lalas Schlafzimmer überrascht.«

Ich blickte zum Fenster. Es war geöffnet. Die duftigen Gardinen bauschten sich im Wind. »Rufen Sie die Ambulanz und die Polizei an«, sagte ich, ehe ich mich aus dem Fenster beugte.

Corinna Price machte kehrt.

»Von hier, bitte!« rief ich ihr zu. »Ich möchte hören, was Sie zu sagen haben.«

»Die Notrufnummer?« fragte das Girl. Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Das Fenster wies zum Hof. Von der Feuerleiter aus war es ohne Mühe über einen ziemlich breiten Steinsims zu erreichen. Ich sah die frischen Kratzspuren auf dem Sims und schloß das Fenster. Ich hörte mir an, was Corinna Price zu sagen hatte, und beugte mich über den Bewußtlosen. Sein Blutverlust hielt sich in Grenzen. Soweit ich es beurteilen konnte, bestand keine Gefahr für sein Leben.

Ich holte ihm die Brieftasche aus dem Jackett. Sie enthielt zwei brandneue Hundertdollarnoten und einen Führerschein auf den Namen Bernie Hobson.

»Sagt Ihnen der Name Hobson etwas?« erkundigte ich mich bei dem Girl, das gerade den Hörer auflegte.

»Nein.«

Ich schaute mich in dem Zimmer um. Auf dem Toilettentisch herrschte ein funkelndes Durcheinander von Parfümflakons und anderen Schminkutensilien. An einem Badeölfläschchen lehnte ein kleines Ledersäckchen. Es nahm sich auf dem Tisch wie ein Fremdkörper aus.

Ich blickte in den Spiegel, als ich das Säckchen ergriff. Corinna Price schenkte mir keine Aufmerksamkeit. Sie starrte noch immer die am Boden liegenden Männer an.

Ich öffnete das Säckchen. Aus seinem halbdunklen Innern leuchtete es mir kalt entgegen. Ich schüttete den Inhalt auf meine Handfläche. Die scharfkantigen, ungeschliffenen Steine verursachten auf meiner Haut ein seltsames kribbelndes Gefühl.

Corinna Price trat neben mich. Sie starrte die Steine an. »Was ist das?« fragte sie.

»Rohdiamanten«, erwiderte ich.

»Wie kommen sie in Lalas Zimmer?«

»Keine Ahnung. Sehen Sie die Diamanten zum erstenmal?«

»Ja«, antwortete Corinna Price. »Was sind sie wert?«

»Ich bin kein Fachmann — aber ich sehe, daß selbst nach dem Schliff im Durchschnitt drei- bis vierkarätige Brillanten übrigbleiben dürften. Grob geschätzt enthält der Beutel Rohdiamanten im Wert von zweihunderttausend Dollar.«

»Vielleicht handelte Lala damit«, sagte Corinna Price. »Sie machte gern Geschäfte.«

»Mit wem?«

»Mit dem Tod«, sagte Corinna Price bitter. »Das haben Sie doch inzwischen festste!len können.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn ich die Steine zur Untersuchung mitnehme und unserem Labor anvertraue? Sie erhalten dafür eine Quittung.«

»Nicht nötig«, meinte Corinna Price und winkte ab. »Ich vertraue Ihnen.«

»Vorhin sah das nicht so aus.«

»Weil ich mich weigerte, Ihnen Lalas Zimmer zu zeigen? Das glaubte ich ihr und unserem Namen schuldig zu sein. Es war nicht böse gemeint.«

Ich ließ das Säckchen in meine Jackettasche gleiten. Stan Pollock wälzte sich auf den Rücken. Er starrte mich an, ohne dabei zu zeigen, was er dachte. Ich fragte mich, ob er das Gespräch zwischen Corinna Price und mir mitgehört hatte.

Er stemmte sich hoch, schleppte sich zu einem Stuhl und ließ sich aufatmend, mit gespreizten, weit ausgestreckten Beinen, darauffallen. »Sie hatten Glück«, knurrte er. »Solche Sonntagstreffer gelingen nur Anfängern.«

Ich ignorierte die lendenlahme Entschuldigung für seine Niederlage und sagte: »Sie haben ihn niedergestochen, nicht wahr? Die Stichwunde ist noch keine zehn Minuten alt.«

Stan Pollock riß die Augen auf. »Was sagen Sie da? Wen soll ich niedergestochen haben?«

»Diesen Mann hier. Bernie Hobson.«

»Ich wußte nicht mal, wie er heißt«, behauptete Stan Pollock. »Natürlich sah ich, daß er blutete. Ich dachte, er hätte eine Schußwunde abgekriegt und sich hier verkrochen.«

»Meinen Sie, er hätte es geschafft, mit einer Schußwunde über die Feuerleiter und den Steinsims in dieses Zimmer zu gelangen?«

»Es gibt zähe Burschen«, meinte Stan Pollock. »Ich wurde aufmerksam, als ich im Zimmer ein Geräusch hörte. Ich öffnete die Tür und sah diesen Burschen am Schrank lehnen. Er preßte eine Hand auf seine Brust und sah im Gesicht aus, als hätte er zuviel Pfefferminzlikör getrunken. Ich hatte keine Mühe, ihn zu überwältigen.«

»Eine beinahe hübsche Geschichte«, sagte ich. »Halten Sie es für möglich, daß Bernie Hobson uns eine andere Version des Geschehens geben wird?«

»Was geht mich das an?« raunzte Pollock gereizt. »Dann steht eben Aussage gegen Aussage!«

»Warum hielten Sie Hobson den Mund zu, als er zu schreien versuchte?«

»Sie haben Humor«, meinte Stan Pollock. »Ich wußte, daß Corinna Besuch hat. Ich wollte vermeiden, daß es wegen dieses Einbrechers Krach gibt. Ich hatte vor, mich mit ihm unter vier Augen zu unterhalten.«

»Als Botschafter des Satans, nicht wahr?« spottete ich.

Seine Augen funkelten. »Warum nicht? Es zahlt sich erfahrungsgemäß aus, wenn man die Leute einschüchtert.«

»Ich beweise Ihnen das Gegenteil«, sagte ich. »Ein Schuß auf einen G-man läßt keinen Richter unbeeindruckt — vor allem dann nicht, wenn der Schütze, wie ich vermute, eine Latte von Vorstrafen hat.«

Stan Pollock starrte mich an. »Ich wollte Sie nicht treffen. Das habe ich gesagt.«

»ich weiß, was Sie gesagt haben«, nickte ich. »Es wird in der Anklageschrift stehen.«

Er stand auf und schob die Daumen in seinen Hosenbund. Er stand mit gespreizten Beinen vor mir wie ein verhinderter Cowboy. »Sie werden keine Anzeige erstatten«, sagte er. »Das würde Ihnen nämlich nur Ärger einbringcn. Sie vergessen, daß ich für einen verdammt einflußreichen Mann arbeite.«

»Ich weiß«, sagte ich. »Für Ken Price. Ich befürchte freilich, daß er Ihnen nicht die gewünschte Rückendeckung bieten wird. Im Gegenteil. Er hat allen Grund, auf Sie sauer zu sein. Sie konnten nicht vermeiden, daß Lala ermordet wurde, und das Ungeschick, das Sie in dieser Situation bewiesen haben, dürfte Price zweifellos auf die Palme bringen.«

Stan Pollock sah betreten aus. Er blinzelte. Ihm schien erst jetzt zu dämmern, was ich gesagt hatte. »Lala wurde ermordet?« murmelte er.

Irgendwo in der Wohnung klingelte ein Telefon. Corinna Price machte kehrt und ging hinaus.

»Erschossen«, sagte ich. »Vor meinen Augen!«

»Und das haben Sie nicht verhindert?« stieß Pollock hervor.

»Es ist schwer, mit einem Meuchelmörder fertig zu werden«, sagte ich. »Ich habe ihn nicht einmal gesehen. Lala stand zwischen ihm und mir. Er schoß aus einem vorüberfahrenden Wagen. Hatten Sie den Auftrag, Lala zu beschützen?«

»Nein — ich bin für Corinna zuständig«, meinte Pollock. »Wo ist denn bloß Fred gewesen? Er trug die Verantwortung für das Mädchen!«

»Wie lautet sein voller Name?«

»Fred Harper.«

»Wo finde ich Les?«

Ich beobachtete ihn scharf bei meiner Frage. Er machte nicht den Eindruck, als ob er etwas zu verbergen hätte. »Von welchem Les reden Sie? Ich kenne mehrere.«

»Ich meine den, der erschossen wurde.«

Er schüttelte den Kopf. »Da müssen Sie mir schon den vollen Namen nennen. Ich weiß von keinem Les, den es erwischt hat. Soviel ich weiß, sind sie alle noch gesund und munter.«

»Das meinten Sie yor einei' Minute auch von Lala zu wissen«, sagte ich.

»Da haben Sie recht«, meinte er und zählte mir die Namen einiger Männer auf, die sich Les oder Lester nannten. Es handelte sich dabei um zwei Barbesitzer, um den Inhaber eines Wettbüros, um einen Autohändler und um einen Theateragenten.

Ich notierte mir die Namen und fragte dann: »Wo wohnen Sie?«

»Ich? Hier im Haus. Fred und ich haben je ein Zimmer in der Mansarde.«

»Wann hat Fred Harper heute das Haus verlassen?«

»Zusammen mit Lala Price, gegen zehn Uhr, würde ich sagen, also kurz nach dem Frühstück.«

»Wohin gingen die beiden?«

»Keine Ahnung. Sie gingen nicht zusammen. Lala konnte Fred nicht leiden. Sie haßte ihn. Sie nahm seine Gegenwart nicht zur Kenntnis. Ihm war das egal. Er folgte ihr, wohin sie ging. Das war sein Auftrag, und daran hielt er sich.«

Corinna Price kehrte zurück. »Der Anruf war für Sie«, teilte sie mir mit. Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. Milo war an der Strippe.

»Das Steak war phantastisch groß«, sagte er, »aber nicht groß genug, um sich eine Stunde daran festzuhalten. Darf ich daran erinnern, daß du mich abholen wolltest?«

»Es ist einiges dazwischengekommen«, sagte ich. »Schnapp dir ein Taxi, und fahr zurück zum District Office. Merke dir die Namen Fred Harper, Stan Pollock und Bernie Hobson. Kannst du sie behalten? Ich möchte, daß du unsere schlaue Kartei befragst und feststellst, ob sie diese Namen enthält.«

»Okay«, sagte Milo. »Für dich und einen fetten Spesensatz tue ich beinahe alles.«

Als ich auflegte, klingelte es an der Tür Sturm. Die Polizei traf ein. Ich war dabei, als sie den noch immer bewußtlosen Bernie Hobson abtransportierten, und gab zu Protokoll, was ich erlebt hatte. Als ich meinen Namen daruntersetzte, kreuzte Lieutenant Baker auf. Er blinkerte ein bißchen, als er Corinna Price’ durchsichtige Bluse sah. Seinem Assistenten fielen fast die Augen aus den Höhlungen. Ich wiederholte, was schon gesagt worden war, zeigte Baker die Brillanten und verabschiedete mich von ihm, nachdem er mir zugesichert hatte, Lala Price’ Zimmer gründlich zu durchleuchten.

Ich fuhr zum District Office. Als ich die Rezeption passierte, sagte mir ein Beamter: »Sir, Mr. McKee erwartet Sie.«

Ich bedankte mich und fuhr mit dem Lift nach oben. Eine Minute später stand ich dem Chef gegenüber. Ich glaubte, er wünschte über die seltsamen Umstände von Lala Price’ Tod unterrichtet zu werden, aber ich täuschte mich.

Mr. McKee war alles andere als uninteressiert, wenn es um Verbrechen ging, aber er achtete streng auf die Einhaltung der Kompetenzbereiche und kümmerte sich nur um die Fälle, die das FBI betrafen.

»Milo muß gleich hier sein«, meinte er und wies einladend auf einen Besuchersessel. Ich setzte mich. Mr. McKee sichtete einige Zettel, die auf seinem Schreibtisch lagen. Er blickte hoch, als Milo das Office betrat.

»Neuigkeiten aus dem Fernschreiber?« erkundigte er sich gespannt.

»Nicht in dieser Sache, Sir«, erwiderte Milo und nahm neben mir Platz. Ich hatte keine Ahnung, was während meiner Abwesenheit geschehen war und worum es ging. Mr. McKee lehnte sich in seinem Drehsessel zurück und schaute mich an.

»Milo ist bereits informiert«, meinte er. »Die Hartford-Diamanten sind gestohlen worden. Zwei Rohdiamantenhändler — Will Hartford und Amery Broadstairs — wurden mit ihrer Privatmaschine auf dem Flug von Philadelphia nach New York abgeschossen. Die Händler kamen bei dem Absturz ums Leben. Als man die Leichen und das Wrack entdeckte, waren die Diamanten verschwunden. Der Absturz ereignete sich drüben in Jersey, unweit von Applegarth.«

»Ziemlich einsame Gegend«, warf Milo ein.

»Abgeschossen?« fragte ich verblüfft. »Wie im Krieg?«

»Wie im Krieg, wenn auch nicht mit Raketen oder Bordwaffen«, bestätigte Mr. McKee. »Das Flugzeug wurde mit Geschoßgarben aus einigen Maschinenpistolen zur Strecke gebracht.«

»Von einer auf gleicher Höhe fliegenden Maschine?« fragte ich.

Mr. McKee nickte. »Offenbar. Die Lage und die Einschußwinkel der Geschosse sprechen jedenfalls dafür. Die Schüsse wurden aus einer Entfernung von zwanzig Yard abgegeben. Der Pilot der Killermaschine muß ein routinierter Flieger sein, denn er unterschritt mit diesem Manöver bei weitem den Sicherheitsabstand. Wir haben inzwischen die Start- und Landelisten aller in Frage kommenden Flugplätze studiert. Viel ist dabei nicht herausgekommen. Gestern abend waren zur fraglichen Zeit über Jersey genau einhundertsiebenundneunzig Privatmaschinen in der Luft. Ich befürchte freilich, daß das von uns gesuchte Flugzeug weder eine Bordbucheintragung erhielt noch von einem lizenzierten Platz gestartet wurde.«

»Wann sind die Diamantenhändler losgeflogen?« fragte ich.

»Gestern abend um neunzehn Uhr«, sagte Mr. McKee. »Der Abschuß erfolgte zwölf Minuten später. Die Borduhr erhielt einen Treffer und blieb um neunzehn Uhr zwölf stehen.«

»Wurde der Abschuß beobachtet?«

»Nein«, erwiderte Mr. McKee. »In Applegarth wurde lediglich der Rauchpilz bemerkt, der beim Verbrennen der Maschine entstand. Man nahm an, daß auf dem Highway ein Unfall geschehen sei, und schickte sofort die Feuerwehr los, aber die kehrte unverrichteterdinge in ihr Quartier zurück. Gegen neun Uhr erhielt der Sheriff eine routinemäßige Suchmeldung, die sich auf die vermißte Privatmaschine bezog. Der Sheriff fuhr sofort los, weil ihm dämmerte, was es mit dem Rauchpilz für eine Bewandtnis gehabt hatte, aber es wurde acht Uhr morgens, ehe er das Wrack entdeckte.«

»Von Philadelphia nach New York ist es ein Katzensprung«, sagte ich. »Warum benutzten die Juweliere ein Flugzeug?«

»Sie glaubten, das sei das sicherste Transportmittel. Auf den Straßen befürchteten sie einen Hold-up.«

»Die Gangster waren über den Abflug und den Kurs der Maschine genau orientiert«, sagte Milo. »Sie verfolgten die Hartford-Maschine und griffen sie in einer Gegend an, die kaum bewohnt ist. Die Aktion war generalstabsmäßig vorbereitet. Der Sheriff fand in der Nähe des Wracks frische Autospuren, die darauf schließen lassen, daß die ›Bodentruppen‹ der fliegenden Gangster den Absturz abwarteten, die Diamanten aus dem Wrack holten und…«

»Nein, nicht aus dem Wrack«, unterbrach Mr. McKee. »Die beiden Männer wurden mit ihrem Koffer und den Bordbüchern aus der Maschine geschleudert. Die Unglücklichen lagen etwa siebzig Yard von dem Flugzeug entfernt. Ihre Brieftaschen, die immerhin zusammen sechshundert Dollar und je ein Scheckbuch enthielten, wurden nicht angerührt.«

»Welchen Wert hat die Beute?« erkundigte ich mich.

»Der reine Verkaufswert liegt bei zweihundertzehntausend Dollar netto«, antwortete Mr. McKee. »Es sind hochwertige Rohdiamanten, blauweiße Ware. Selbst Hehler zahlen dafür noch gut und gern einen Hunderttausender.«

»Eine harte Nuß«, sagte Milo und sah skeptisch aus. »Der Sheriff von Applegarth hat versucht, sie für uns anzuknacken. Er hat sämtliche Tankstellenpächter in der Umgebung befragt, aber niemand konnte sich erinnern, einen Wagen mit verdächtig wirkenden Männern auf getankt zu haben.«

»Es ist anzunehmen, daß die Gangster mit der Beute in New York untergeschlüpft sind«, sagte Mr. McKee. »Die Diamanten befinden sich in einem hellbraunen Beutel aus Saffianleder.«

»Ich weiß«, sagte ich, griff in die Tasche und stellte das Ledersäckchen auf den Tisch. »Hier sind sie.«

Rohdiamanten im Wert von 210 000 Dollar

Ich kam mir vor wie ein Zauberlehrling, der zum erstenmal vor Publikum ein Kaninchen aus seinem Zylinder holt. Aus der Art, wie Milo mich sprachlos anstarrte, hätte man freilich schließen können, daß es ein Elefant gewesen war. Milo griff nach dem Beutel und schüttete seinen funkelnden Inhalt auf den Tisch.

»Was für Klunkern!« hauchte er andächtig.

»Wie haben Sie das fertiggebracht?« fragte Mr. McKee. Sogar er zeigte Erstaunen, und das passierte nicht sehr häufig.

»Ich entdeckte sie in Lala Price’ Schlafzimmer und hielt es für eine gute Idee, sie mitzunehmen.«

Mr. McKee nahm den Beutel in die Hand und stülpte die Innenseite nach außen. Auf dem Boden des Säckchens war ein winziges Metallschild mit dem Namen Will Hartford angebracht. »Das sind die Steine«, sagte er.

»Ich hätte Lala gern gefragt, wie sie auf ihren Toilettentisch gekommen sind. Das ist nicht mehr möglich. Jedenfalls weiß ich jetzt, was Bernie Hobson in ihrem Zimmer suchte. Er wurde dabei von Pollock überrascht und niedergestochen.«

Ich erklärte Mr. McKee und Milo mit wenigen Worten, was geschehen war. »Wir müssen uns an Bernie Hobson halten und herausfinden, für wen er arbeitete«, schloß ich. »Außerdem ist es wichtig, diesen Fred Harper aufzutreiben. Er ist — war Lalas Leibwächter und kann uns sagen, mit wem die junge Dame bevorzugt Umgang pflegte.«

»Warum halten wir uns nicht an die Schwester?« fragte Milo.

»Wenn es stimmt, was sie sagte, waren die beiden wie Hund und Katze«, sagte ich. »Sie gingen sich aus dem Weg.«

»Vielleicht ist das nur eine Schutzbehauptung«, meinte Milo skeptisch.

»Schon möglich«, räumte ich ein. »Es ist noch zu früh, das zu beurteilen. Hast du die Namen weitergegeben?«

»Ja«, erwiderte Milo. »Fred Harper und Stanley Pollock sind mehrfach vorbestraft. Bernie Hobson ist in unserer Kartei nicht enthalten. Ich habe vorsichtshalber Washington eingeschaltet. Wenn die Zentralkartei etwas hat, wissen wir es in spätestens einer halben Stunde.«

Ich blickte Mr. McKee an. »Wer war über den Flug der Juweliere informiert?« wollte ich wissen.

»Mehr Leute, als uns lieb sein kann«, sagte er. »Da waren zunächst einmal die Angestellten der Firma — elf Leute. Soweit uns bekannt ist, handelt es sich um loyale, unbescholtene Angestellte, aber wer kann sagen, ob nicht einer von ihnen gegen Bezahlung oder unter Druck für die Gangster arbeitet? Dann die Angehörigen der Juweliere, der Geschäftspartner, der die Steine in Empfang nehmen sollte, und schließlich das Hotel, in dem Hartford und Broadstairs abzusteigen beabsichtigten.«

»Nicht zu vergessen die Abfertigungsbeamten im Kontrollturm des Flugplatzes«, sagte Milo.

»Wir nehmen den Faden bei den Prices auf«, schlug Mr. McKee vor.

»Wie heißt der Mann, der die Diamanten in Empfang nehmen wollte?« fragte ich.

»Lester Norwich«, sagte Mr. McKee. Ich stand auf. »Das ist mein Mann.« Mr. McKee sah zum zweitenmal an diesem Tag erstaunt aus. »Norwich ist seit zwanzig Jahren in der Branche. Er gilt als seriöser Geschäftsmann. Ich habe mich erkundigt.«

»Er heißt Lester«, sagte ich. »Seine Freunde nennen ihn sicherlich Les — und ich bin hinter einem Les her.«

»Okay«, sagte Mr. McKee. »Nehmen Sie ihn unter die Lupe.«

Ist dieser Les der Les, den ich suche?

Ich trat ans Telefon und suchte Lester Norwich’ Nummer heraus. Er hatte ein Büro an der 5. Avenue.

»Willst du ihn telefonisch bekrabbeln?« fragte Milo erstaunt.

»Ich will nur wissen, ob der gute Mann noch lebt. Der Lester, von dem die aufgebrachte Lala sprach, ist tot. Erschossen.«

Ich kurbelte die Nummer herunter. Eine samtene Mädchenstimme gurrte durch die Leitung.

»Ist Mr. Norwich im Office?« fragte ich sie.

»Ja, Sir. Wen darf ich melden?«

»Augenblick noch, bitte. Ich habe eine Frage. Wie lautet der Kosename Ihres Chefs?«

»Erlauben Sie mal!« entrüstete sich die junge Dame. »Ich würde mir nie erlauben…«

»Es geht nicht um Sie«, warf ich ein. »Wird er von seinen Freunden Les genannt?«

»Ja.«

»Wann war er das letztemal mit Lala Price zusammen?« wollte ich wissen. Kurze Pause.

»Was sollen diese Fragen?« erkundigte sich die Teilnehmerin indigniert. Das Samtene war aus ihrer Stimme verschwunden. »Sind Sie von der Polizei — oder von der Konkurrenz?«

»Weder das eine noch das andere«, sagte ich. »Ich melde mich später noch einmal.«

Ich legte auf.

»Er heißt Les«, berichtete ich, »aber er lebt noch. Das hat freilich nicht viel zu besagen.«

»Für ihn schon«, spottete Milo. »Offen gestanden kann ich dir nicht mehr folgen.«

»Lala behauptete mir gegenüber, daß ich Les erschossen hätte. Sie sagte nicht, daß sie den Toten gesehen hatte. Es gibt keinen Beweis dafür, daß ein Toter dieses Namens existiert. Möglicherweise wurde Lala geblufft. Irgend jemand hetzte sie auf meine Fährte.«

»Warum?«

»Weil er eine alte Rechnung mit mir begleichen wollte, oder weil ihm gerade mein Name,einfiel.«

»Klingt nicht sehr wahrscheinlich — oder?« fragte Milo.

Ich zuckte mit den Schultern und wählte eine weitere Nummer. Das Leichenschauhaus meldete sich. Ich fragte, ob ein Toter namens Les oder Lester eingeliefert worden wäre.

»Nein, aber ein Unfallopfer, das noch nicht identifiziert werden konnte. Ein Siebzehnjähriger.«

Ich bedankte mich. Mein dritter Anruf galt Lieutenant Baker. »Bernie Hobson ist nicht vor morgen früh vernehmungsfähig«, teilte er mit. »Ich habe inzwischen herausgefunden, daß er aus Brooklyn stammt und arbeitslos ist. Vor zwei Monaten arbeitete er noch als Lastwagenfahrer. Er wurde wegen eines kleineren Diebstahls entlassen, die Firma hat jedoch auf eine Anzeige verzichtet. Sie hielt die Entlassung für eine ausreichende Strafe. Es ging ihm zuletzt ziemlich dreckig. Verbindungen zur Unterwelt konnte ich bislang nicht entdecken.«

»Haben Sie eine Spur von Fred Harper gefunden?«

»Nein, er ist noch nicht wieder aufgetaucht, aber sein Kollege Stan Pollock hat gestanden, Hobson in Lalas Schlafzimmer mit einem Messer niedergestochen zu haben. Er warf die Waffe nach der Tat aus dem Fenster. Wir haben sie gefunden — mit Pollocks Fingerabdrücken.«

»Die Diamanten gehörten Hartford«, sagte ich. »Ich nehme an, Sie haben von dem Flugzeugabsturz gehört. Sie erhalten von uns noch einen detaillierten Bericht.«

Ich legte auf. Mr. McKee entschied, daß Milo versuchen sollte, das Killerflugzeug ausfindig zu machen, während ich den Auftrag bekam, die New Yorker Spuren weiterzuverfolgen. Ich entschied mich dafür, Lester Norwich einen Besuch abzustatten.

Seine Officeräume lagen in einem repräsentativen zwölfstöckigen Gebäude. Die mit Palisanderholz getäfelten Räume und die Eleganz der Einrichtung machten klar, daß Lester Norwich zu den Großverdienern gehörte. Eir empfing mich in seinem Privatbüro, einem saalartigen Raum, dessen Office-Look durch ein paar bequeme Polstermöbel aufgelockert wurde.

Lester Norwich war der Golfspielertyp, schmal und drahtig, mit gebräuntem Gesicht, hellen Augen und tadellosen Zähnen. Ich schätzte ihn auf fünfundvierzig. Er trug eine saloppe Jacke aus englischem Tweed mit einer dazu passenden Wollkrawatte. Seine Herzlichkeit wirkte auf Anhieb überzeugend, aber wenn man ein bißchen Menschenkenntnis besaß, spürte man sehr schnell, daß sein Charme nur aufgesetzt war. Darunter verbarg sich der smarte, clevere Geschäftsmann, den im Leben nichts anderes interessierte als die Aufstockung seines Bankkontos.

»Obwohl die Weltmarktpreise für Diamanten beständig steigen, bleibt für uns Zwischenhändler nicht viel Luft darin«, meinte er. »Der Hartford-Posten sollte nach Amsterdam weiterverkauft werden. Meine Vermittlerprovision hätte günstigstenfalls zwei Prozent der Rechnungssumme betragen. Sie können daraus ersehen, daß mir kein großes Geschäft in die Brüche gegangen ist. Andererseits bin ich entsetzt und schockiert, daß dieses Verbrechen passieren konnte. Hartford und Broadstairs waren prächtige Menschen.«

»Morgen könnte Ihnen etwas Ähnliches zustoßen«, sagte ich und war mir durchaus darüber im klaren, daß diese Bemerkung wenig taktvoll war. »Schon deshalb liegt es in Ihrem Interesse, unsere Ermittlungen zu unterstützen.«

»Aber das steht doch außer Frage, Sir!«

»Übrigens haben wir die Beute gefunden.«

»Phantastisch!« murmelte er.

Ich fand, daß sein Blick starr wurde, aber ich konnte mich irren.

»Das wird insbesondere die Versicherung freuen«, meinte er.

»Wollen Sie nicht wissen, wie und wo wir die Diamanten entdeckten?«

»Natürlich«, sagte er eifrig. »Das interessiert mich brennend.«

»Ich fand sie auf dem Toilettentisch einer jungen Dame, die heute morgen vor meinen Augen erschossen wurde.«

»Das — das ist ja kaum glaublich«, murmelte Norwich. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Seine Augen wirkten hart und glasig, aber es war nicht die Glasigkeit eines Betrunkenen.

»Ich spreche von Lala Price«, sagte ich.

Lester Norwich griff nach einem Holzkästchen. Er öffnete es und entnahm ihm eine Zigarette. Als er sie ansteckte, zitterte seine Hand.

»Ich kenne — pardon, kannte das Mädchen«, sagte er.

Ich war fast ein wenig überrascht, daß er das zugab. Schweigend wartete ich auf weitere Erklärungen.

»Ich bin einige Male mit ihr ausgegangen«, fuhr er fort. »Einmal war auch Hartford dabei — ich glaube, das Ereignis wurde sogar im Bild festgehalten.« Er öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und kramte darin herum. Endlich hatte er gefunden, was er suchte. Er überreichte mir ein postkartengroßes Foto, eine typische Nachtklubaufnahme. Das Bild zeigte Lala Price zwischen zwei Männern. Sie trug ein schulterfreies Cocktail- oder Abendkleid und strahlte in die Kamera. Links von ihr saß Norwich, auf der rechten Seite ein Mann, den ich nicht kannte — Hartford, wenn Norwich die Wahrheit sagte. In das Bild hinein ragte der von einer Serviette umwickelte Hals einer Champagnerflasche. Norwich sah auf dem Bild ernst, sogar ein wenig mürrisch aus. Hartford lachte. Er hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt.

»Wo war das?« fragte ich.

»Im Copa«, antwortete er.

»Darf ich das Bild behalten?«

»Bitte, ich lege keinen Wert auf seinen Besitz«, meinte er kühl. »Das war nämlich der Abend, an dem Hartford mir das Mädchen ausspannte.«

»Soll das heißen, daß er mit ihr befreundet war?«

»Davon bin ich überzeugt, aber ich kann es nicht beweisen«, sagte Lester Norwich. »Die Wahrheit ist, daß ich beleidigt war. Nach diesem Abend wollte ich Lala Wiedersehen, aber sie wimmelte mich immer wieder mit dummen, durchsichtigen Ausreden ab. Da begriff ich, daß Hartford sie mir weggeschnappt hatte. Die Bestätigung dafür erhielt ich vor zwei Monaten in Philadelphia, wo ich die beiden zufällig in einem Restaurant sah. Ich glaube nicht, daß sie mich bemerkten. Jedenfalls ging ich hinaus, ohne sie begrüßt zu haben.«

»War Hartford verheiratet?«

»Ja, er hatte sogar zwei Kinder.«

»Hartford war zehn Jahre älter als Sie…«, begann ich.

»Fünfzehn«, korrigierte Norwich, »aber er sah blendend aus und war sehr vital. Außerdem war er millionenschwer.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß sein Geld Lala reizte«, sagte ich. »Sie hatte keine finanziellen Sorgen.« Norwich zuckte mit den Schultern. »Aber sie war auf Geld scharf«, behauptete er. »Dafür habe ich ein Gespür.«

»Gut. Unterstellen wir einmal, daß die beiden bis zuletzt befreundet waren. Wenn das zutraf, wußte Lala doch gewiß, daß Hartford nach New York zu kommen beabsichtigte?«

»Das ist anzunehmen.«

»Sie trat mir heute morgen überraschend in den Weg, kühl und entschlossen. Sie zog eine Waffe und bedrohte mich damit. Sie sagte, daß ich sterben müßte, weil ich Les erschossen hätte. Können Sie mir verraten, was sich dahinter verbirgt?«

Lester Norwich starrte mich an. »Es muß ein Versprecher gewesen sein — eine typische Fehlleistung.«

»Wie meinen Sie das?«

»Es ist schwer zu erklären«, sagte Norwich. »Wahrscheinlich wußte sie zu diesem Zeitpunkt, daß es Will Hartford erwischt hatte. Irgend jemand muß ihr eingeredet haben, daß Sie an dem Absturz die Schuld tragen. Sie beschloß, Wills Tod zu rächen und Sie niederzuschießen. In ihrer begreiflichen Erregung nannte sie jedoch nicht Wills Namen, sondern meinen — den Namen des Mannes, durch den sie Will kennengelernt hatte.«

»Sie werden zugeben, daß das wenig einleuchtend klingt«, sagte ich.

»Ich kann es nicht ändern«, meinte er. »Ich kann nur Theorien entwickeln. Es liegt an Ihnen, die Wahrheit herauszufinden.«

»Sie sind ein Routinier des Diamantenhandels«, sagte ich. »Wer hätte die Beute auf kaufen können?«

»Es ist nicht schwer, Rohdiamanten unter die Leute zu bringen«, sagte er. »Sie sind nicht so leicht zu identifizieren wie geschliffene Stücke. Allein in New York gibt es fünf oder sechs Leute, denen ich illegale Geschäfte dieser Art zutraue — aber da ich nicht beweisen kann, daß sie Hehler sind, werde ich mich hüten, einen Namen zu nennen.«

Ich verabschiedete mich und ging. Ich hatte nicht alle Fragen gestellt, die mir am Herzen lagen, aber ich hatte einen ersten und sehr konkreten Eindruck von Lester Norwich gewonnen.

Wenn ich das Nachtklubfoto zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen machte, dann hatte Lala gewußt, daß Will Hartford nach New York zu fliegen beabsichtigte. Wenn sie tatsächlich auf Geld scharf gewesen war und, wie ihre Schwester Corinna bestätigt hatte, gern Geschäfte machte, bestand die Möglichkeit, daß Lala mit ein paar Gangstern gemeinsame Sache gemacht hatte.

War die Beute zunächst von Lala Price übernommen worden? Hatte das Girl beabsichtigt, die Beute Lester Norwich zum Kauf anzubieten? Dazu war es nicht mehr gekommen. Lala Price war vor meinen Augen erschossen worden.

Das Tatmotiv bot sich an: Die an dem Flugzeugabschuß beteiligten Gangster hatten keine Lust gehabt, die Beute mit Lala Price zu teilen. Vielleicht hatte sie einen Anteil gefordert, der den Gangstern entschieden zu hoch gewesen war. Kurz und gut — Lala war erschossen worden. Die Gangster hatten Bernie Hobson in die Wohnung der Prices geschickt, damit er die Diamanten herausholen konnte. Dabei war Hobson von Corinna Price’ Gorilla überrascht worden.

Leider hielt diese Theorie einer gründlichen Beleuchtung nicht stand. Erstens war es zweifelhaft, ob die Gangster einen Neuling vom Schlage Bernie Hobsons die Sicherstellung der Beute übertragen haben würden. Zweitens blieb offen, warum Lala mich wegen der Erschießung eines gewissen Les hatte töten wollen. Schließlich und endlich mußte geklärt werden, welche Rolle der verschwundene Fred Harper, Lalas Leibwächter, in dem Verbrechen spielte.

Als ich auf der Straße stand, fiel mir die Rechnung ein, die ich in Corinnas Lackledertasche gefunden hatte. Sie trug den Namen eines Modeateliers, das für seinen Chic und für seine gepfefferten Preise bekannt war. Es befand sich nur drei Häuserblocks von Norwich’ Office entfernt.

Wenn ich Glück hatte, war auch Lala eine Kundin des Salons gewesen. Ich ließ meinen Wagen stehen und machte mich zu Fuß auf den Weg. Die Empfangsdame, die mir im Salon entgegentrat und nach meinen Wünschen fragte, war jung, rotblond und,enorm attraktiv, aber sie brachte mir gegenüber nur ein Minimum an Verbindlichkeit zustande. Mein abgetragener Salz-und-Pfeffer-Anzug schien ihr zu verraten, daß ich kein potentieller Kunde des Hauses zu werden versprach.

»Ich hätte gern ein paar Worte mit Ihrer Chefin gewechselt«, sagte ich.

»In welcher Angelegenheit, bitte?«

»Es geht um Mord — um mehrfachen Mord«, erwiderte ich und fand es im Grunde tadelnswert, daß ich diese Fakten mit einem strahlenden Lächeln servierte.

Der Erfolg blieb nicht aus. Das arme Mädchen prallte zurück. Ihre makellose High Society-Fassade fiel in sich zusammen. »Um Mord?« stammelte sie fassungslos.

Sie machte kehrt und stürmte davon. Dabei verhaspelte sie sich in dem burgunderroten Samtvorhang, der den Salon von den dahinterliegenden Räumen trennte, fand endlich einen Durchschlupf und verschwand.

Ich folgte ihr und gelangte in einen Raum, der die Umkleidekabinen enthielt. Von hier führte ein Korridor zur Schneiderei und .dem Büro. Ich sah die Empfangsdame vor einer Tür mit der Aufschrift »Privat« stehen.

»Miß Hastings!« rief sie aufgeregt. »Miß Hastings, bitte!« Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen das Holz, als würde sie verfolgt.

Ich trat neben sie. Das Girl zuckte herum und starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an.

»Da stimmt etwas nicht«, stieß sie hervor. »Die Tür ist abgeschlossen. Das ist sonst nicht Miß Hastings’ Art…«

Aus dem Innren des Raumes drangen seltsame Geräusche. Ein Gurgeln, dann ein Stöhnen. Dumpfe Laute, die sich wie Schläge anhörten, Gemurmel.

»Hat das Büro einen zweiten Zugang?« fragte ich das zitternde Mädchen.

»Nein, Sir.«

Ich warf mich mit voller Wucht gegen die Türfüllung. Erst beim dritten Anlauf segelte ich mit dem splitternden Holz über die Schwelle. Ich hatte Mühe, dabei auf den Beinen zu bleiben.

Die Frau lag mit dem Oberkörper quer über dem Schreibtisch. Von ihrem Gesicht konnte ich nicht viel sehen, da es in der Beuge des Ellenbogens ruhte. Der zweite Arm hing wie leblos nach unten. Die Frau saß auf dem vorderen Ende ihres Schreibtischsessels, der langsam unter der ungleichen Gewichtsverteilung zurückgedrückt wurde.

Die Empfangsdame stieß einen schrillen Schreckensruf aus.

Ich sah gerade noch, wie jemand durch das offenstehende Fenster verschwand.

»Fangen Sie sie auf!« rief ich dem Mädchen zu. »Rufen Sie einen Arzt und die Polizei…«

Ich durchquerte den Raum und jumpte aus dem Fenster. Es wies auf einen asphaltierten Hof, der mit parkenden Autos vollgestellt war. Ich blieb stehen, um zu sehen oder zu hören, wohin sich der Flüchtende gewandt hatte, aber dieses Bemühen blieb erfolglos. Ich sah und hörte niemand.

Es war klar, daß der Bursche sich hinter einem der Fahrzeuge verborgen hielt. Mit gespannten Muskeln bewegte ich mich vorwärts. In diesem Moment tauchte der Kerl wieder auf. Er rannte zwischen den parkenden Wagen hindurch auf die Hofausfahrt zu.

Ich sprintete hinterher. Mein Gegner hatte etwa fünfzehn Yard Vorsprung. Ich sah ihn nur von hinten. An der Art, wie er sich bewegte, war zu erkennen, daß er nicht älter als fünfundzwanzig Jahre sein konnte. Überraschenderweise ließ er die Ausfahrt links liegen. Er jumpte in eine schwarze Bodenöffnung und war verschwunden.

Als ich die Öffnung erreichte, sah ich, daß es eine in den Keller führende Einstiegsluke war. Eine breite Stahlblechtreppe führte in die Tiefe. Unten brannte Licht.

Ich lauschte. Stille. Ich hatte keine Lust, beim Hinabklettern ein selbstmörderisches Ziel zu bilden, und schaute mich um. Irgend jemand mußte doch in der Nähe sein, der für die geöffnete, ungesicherte Bodenklappe verantwortlich war. Vielleicht hatte der Keller keinen zweiten Ausgang, und der Gangster saß jetzt in der Falle.

Ein Mann im blauen Overall kam durch die Hauseinfahrt auf mich zu. »Fallen Sie da nicht ’rein, Mister«, meinte er lächelnd. »Das ist unser Giftkeller.«

»Ihr Giftkeller?« echote ich.

Er lachte. »Der Weinkeller«, stellte er richtig. »Ich habe gerade eine neue Sendung verstaut. Ich bin der Kellermeister, wissen Sie.«

»Hat der Keller einen zweiten Ausgang?«

»Den Lift«, sagte der Mann. »Den Lastenaufzug, um genau zu sein. Er verbindet den Keller mit unseren Geschäftsräumen im zweiten Stock.«

»Hält er auch im Erdgeschoß?«

»Selbstverständlich, Mister.«

Ich zeigte ihm meinen Ausweis. »Schließen Sie die Klappe und sorgen Sie dafür, daß niemand durch die Luke den Keller verläßt«, bat ich ihn und flitzte davon, ohne mich mit weiteren Erklärungen aufzuhalten.

Ich erreichte den Lastenaufzug im Erdgeschoß genau im richtigen Moment. Ein Mann verließ ihn mit demonstrativ zur Schau getragener Unbekümmertheit. Als er mich sah, zuckte er zusammen. Im ersten Moment glaubte ich, er würde kehrtmachen und in den Fahrstuhl rennen, aber dann entschloß er sich zur Flucht nach vorn.

Er ging mit beiden Fäusten auf mich los. Ich ließ ihn kommen und stoppte seinen Kampfeseifer mit einer kerzengerade herausgestochenen Linken. Er ließ sich davon nicht beeindrucken und zahlte mir den harten Treffer mit ein paar soliden Schwingern heim, von denen ich nicht alle abblocken konnte.

Wir waren nicht allein in der Halle. Zwei wie versteinert am Lift stehende Frauen und zwei Männer schauten uns zu. Die Männer waren in meinem Alter, aber sie sahen keinen Grund, in das Geschehen einzugreifen. Wahrscheinlich hielten sie die Auseinandersetzung für eine harmlose Schlägerei.

Mein Gegner trug eine Sportkombination mit einem dazu passenden Oberhemd, das durch seine aufdringlichen Streifen ins' Auge fiel. Er war fast so groß wie ich und zeigte durch seine Beinarbeit, daß er etwas vom Boxen verstand. Seine Regelauffassung war allerdings recht anfechtbar. Dieser Eindruck verstärkte sich, als er sich immer mehr in die Enge gedrängt fühlte und merkte, daß sein Zug abgefahren war. Mit ein paar Tiefschlägen versuchte er die Situation in den Griff zu bekommen. Ich schaffte es, ihm immer wieder mit einem Sidestep auszuweichen, und beendete den Fight mit einer knallharten Linken auf den Punkt.

Mein Gegner fiel um und blieb liegen. Jetzt kam Leben in die Zuschauer, zumindest in die beiden Frauen. Wütend eilten sie auf mich zu. »Sie Flegel!« zeterte die eine. »Wie konnten Sie den armen Jungen nur -so zusammenschlagen?«

Die Männer lachten und verließen die Halle. Das Zusehen war für sie reizlos geworden.

»Es ist Ihnen offenbar entgangen, daß ich von ihm angegriffen wurde«, sagte ich höflich.

»Angegriffen!« prustete die Frau empört. Sie hatte sich zur Sprecherin gemacht und war nicht bereit, diese Rolle aufzugeben. »Der bedauernswerte Junge!« rief sie aus. »Er hatte keinen Grund, jemand zu überfallen, dazu noch am hellichten Tag. Wir haben doch gesehen, wie Sie ihn mitleidlos zusammengeschlagen haben. Sie sollten sich wirklich schämen! Lieber Himmel, was ist nur aus unserer Jugend geworden!«

»So jung bin ich nun auch nicht mehr«, sagte ich. »Die Zugehörigkeit zum FBI erfordert ein bestimmtes Mindestalter.«

Ich kam nicht mehr dazu, mich an der Verblüffung der beiden Damen zu weiden, denn mein Gegner rührte sich und kam auf die Beine. Er atmete schwer und sah' nicht so aus, als ob er auf einen zweiten Kampf versessen wäre.

»Gehen wir zu Miß Hastings«, schlug ich ihm vor. »Dort wird in ein paar Minuten die Polizei eintreffen.«

Der junge Mann starrte mich an. Er hatte ein knochiges Gesicht mit unreiner, pickeliger Gesichtshaut. Seine Augen standen weit auseinander. Er machte schweigend kehrt und ging voran. Ich blieb einen Schritt hinter ihm.

Von der Halle führte ein windfangähnlicher Durchgang zur Straße. Als ich ihn betrat, spürte ich neben mir die unerwartete, aus dem Halbdunkel kommende Bewegung.

Ich zuckte herum und riß instinktiv meinen Ellenbogen vor das Gesicht, aber die Reaktion kam zu spät. Der Schlag, der mich am Kopf erwischte, wurde mit einem stumpfen Gegenstand ausgeführt und traf mich genau dort, wo es wirken mußte. Ich fiel um und verlor das Bewußtsein.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einer Sitzbank in der Halle, umringt von Neugierigen. Jemand hatte mir eine Damenhandtasche unter den Kopf geschoben.

Ich richtete mich behutsam auf und schloß die Augen, als hinter meiner Stirn ein Kettenkarussell seinen Betrieb eröffnete. Der Schmerz ebbte nur langsam ab. Blinzelnd hob ich die Lider. Ich horte Worte und Sätze, die ich abwehrte, um selbst ein paar Fragen stellen zu können. Dabei fand ich heraus, daß niemand gesehen hatte, wem ich die unerwünschte Vollnarkose verdankte.

Ich erhob mich vorsichtig, bedankte mich bei der Dame, die mir fürsorglich ihre Handtasche unter den Kopf geschoben hatte, und machte mich auf den Weg in den Modesalon von Miß Hastings.

Die Polizei war noch nicht eingetroffen. Miß Hastings sah ziemlich ramponiert aus. Sie war leichenblaß. Ein paar frische Kratzer auf ihrem hübschen Gesicht und eine aufgeplatzte Lippe ließen erkennen, daß der Gangster mit ihr keineswegs zärtlich umgegangen war.

Als ich ihr Office betrat, saß sie am Schreibtisch und rauchte. Vor ihr stand ein gefüllter Kognakschwenker. »Das ist der Mann, von dem ich Ihnen erzählte«, berichtete die rotblonde Empfangsdame, die an der Schmalseite des Schreibtisches stand.

Miß Hastings nickte. »Danke, Betty. Lassen Sie uns allein, bitte.« Sie wies einladend auf den Besucherstuhl, während das rotblonde Mädchen hinausging. Ich setzte mich.

Miß Hastings war von schwer bestimmbarem Alter. Es lag irgendwo zwischen fünfunddreißig und fünfundvierzig. Wie es sich für eine Frau ihres Berufs gehörte, war sie sehr elegant gekleidet. Sie hatte das graublonde Haar hochgesteckt, um ihr Gesicht schmaler erscheinen zu lassen. Das Make-up war dezent. Sie machte einen tüchtigen Eindruck und war sicherlich eine clevere Geschäftsfrau. Im Augenblick bestimmte freilich die Angst ihr Verhalten.

»Betty sagte etwas von einem Mord«, begann sie, den Blick ihrer großen goldbraunen Augen fest auf mich gerichtet.

»Darauf kommen wir noch«, sagte ich. »Wer war der Mann, der Sie überfallen hat?«

»Ich kenne ihn nicht«, antwortete Miß Hastings. »Es war einfach furchtbar! Haben Sie ihn gefaßt?«

»Ich weiß, wie er aussieht«, sagte ich. »Was wollte er von Ihnen?«

»Geld natürlich. Die Kasse.«

»Wie ist er hereingekommen?«

»Durch das Fenster«, sagte Miß Hastings und wies mit dem Daumen über die Schulter. Sie hatte das Fenster inzwischen geschlossen. »Er sprang einfach herein und würgte mich am Hals.«

»Was sagte er?«

»Ich war so erschrocken, daß ich seine ersten Worte gar nicht richtig verstand. Ich glaubte allen Ernstes, daß mein letztes Stündlein gekommen sei.«

»Bewahren Sie Geld im Büro auf?«

»Wechselgeld, im Safe«, nickte sie. Sie hielt meinem Blick während der Unterhaltung stand, aber das geschah auf eine forcierte, beinahe verkrampfte Weise. Ich kam nicht davon los, daß sie mir ein Märchen erzählte. Aber warum hätte sie das tun sollen?

Ich blickte auf die Uhr. »Die Polizei läßt auf sich warten«, sagte ich irritiert.

»Ich habe Betty verboten, die Polizei zu alarmieren«, meinte Miß Hastings. »Warum denn das?«

»Es ist ja nichts passiert«, sagte sie. »Na, hören Sie mal! Ich denke, der Bursche wollte Ihr , Geld? Es war ein versuchter Raubüberfall! Er hat Sie geschlagen! Ihnen muß doch daran gelegen sein, daß der Mann gefaßt und abgeurteilt wird.«

Miß Hastings betastete mit ihren Fingerspitzen die aufgeplatzte Lippe. »Das geht rasch vorüber«, murmelte sie. »Nein, ich möchte keine Anzeige erstatten. Protokolle, Presseberichte… Davon halte ich nichts.«

»Das müssen Sie wissen«, sagte ich. »Wie lange sind die Price-Schwestern schon Ihre Kundinnen?«

Ich hatte das Gefühl, daß sich Miß Hastings kaum merklich straffte, fast so, als gälte es, sich gegen eine besondere Gefahr zu wappnen.

»Ich kenne die Prices nicht«, sagte sie.

»Lala und Corinna Price. Sie wohnen in der West End Avenue«, erklärte ich.

»Es kann sein, daß sie' gelegentlich hier waren und sogar etwas kauften… Aber sie stehen nicht in meiner Kundenkartei«, meinte Miß Hastings. Sie schob mir einen mit Karteikarten gefüllten Holzkasten zu, der auf einer Ecke des Schreibtisches stand. »Bitte, überzeugen Sie sich.«

Der Kasten interessierte mich, aber ich verzichtete darauf, den Buchstaben P durchzublättern. Ich interessierte mich für einen anderen Namen. Ich fand ihn sofort.

»Wie ich sehe, kauft auch Lester Norwich bei Ihnen«, stellte ich fest.

Eine leichte Röte legte sich auf Miß Hastings’ Wangen. »Das hätte ich Ihnen sagen können, wenn Sie mich danach gefragt hätten.«

»Hier sind ein paar Rechnungsbeträge genannt«, sagte ich. »Er ist ein guter Kunde, nicht wahr?«

»O ja.«

»Für wen kauft er die Sachen?«

»Darüber darf ich nicht sprechen, Sir. Sie können von mir keine Indiskretion erwarten. Mr. Norwich hat Anspruch auf meine Verschwiegenheit.«

»Warum lügen Sie mich an?« fragte ich sie.

Miß Hastings erstarrte förmlich. »Wie können Sie es wagen…«, begann sie murmelnd.

»Der unbekannte Eindringling wollte kein Geld von Ihnen«, erklärte ich. »Er kam her, um Sie einzuschüchtern. Er sagte Ihnen klipp und klar, wie Sie sich zu verhalten haben, falls das FBI oder die Polizei auftauchen sollten. Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, bedachte er Sie mit ein, paar Schlägen. Jetzt haben Sie keinen Mut mehr, den Mund aufzumachen. Sie haben Angst vor einem zweiten Überfall, Angst vor allem davor, daß der Gangster seine Drohungen wahr machen könnte. Deshalb schweigen Sie, und deshalb füttern Sie mich mit Halb- und Unwahrheiten. Sie kennen Lala Price. Sie kennen auch Corinna. Ich kann es beweisen.«

Miß Hastings hob mit einem Ruck ihr Kinn. Ihr Blick ging an mir vorbei ins Leere. Ihre Wangenmuskeln traten deutlich hervor. »Es ist mir egal, wie und was Sie darüber denken«, meinte sie leise. »Ich kann Ihnen nichts anderes sagen als das, was Sie bereits von mir hörten.«

»Es geht um die Aufklärung mehrerer Morde«, machte ich ihr eindringlich klar. »Wollen Sie sich an der Vertuschung dieser-, Verbrechen mitschuldig machen? Können Sie es verantworten, diese Mörder zu decken?«

Miß Hastings griff nach ihrem Glas. Ihre Hand zitterte dabei sehr stark. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich jetzt allein ließen«, sagte sie.

Ich erhob mich. »Hoffentlich bereuen Sie diese Haltung nicht«, sagte ich und ging hinaus. Ich marschierte die 5. Avenue zu meinem Wagen hinab. Als ich noch zehn Yard vom Eingang zu Norwich’ Office Building entfernt war, trat ein Mann aus dem Haus.

Er trug einen hellen, offenstehenden Trenchcoat und war barhäuptig. Er fiel mir sofort auf, ohne daß ich auf Anhieb sagen konnte, warum.

Vielleicht lag es daran, daß er pfeifend zum Himmel hochblickte und eine heitere Gelöstheit demonstrierte, die nicht zu der Eile passen wollte, die die übrigen Passanten zeigten. Weshalb kam mir sein Gesicht so bekannt vor?

Er hatte beide Hände tief in die Manteltaschen geschoben, drehte sich auf den Absätzen herum und ging auf einen vorschriftswidrig in der Haltezone parkenden Dodge zu. Er stieg hinein und fuhr los, ohne sich urr den Strafzettel zu kümmern, der unter dem Scheibenwischer klemmte.

Ich kletterte in meinen Jaguar und schloß zu dem Dodge auf, ließ aber einen Wagen zwischen ihm und mir rollen. Ich gab mir Mühe, das Gesicht des Mannes aus meiner Erinnerung zu lösen, in der es irgendwo verschüttet lag, hatte damit aber keinen Erfolg.

Der Jagdinstinkt, der in meinem Beruf so wichtig ist wie die Akribie der Detailarbeit, ließ mich am Ball bleiben. Ich folgte dem Dodge den Broadway aufwärts. Wir durchquerten den Theaterdistrikt, passierten die Riverside Church und überquerten in Höhe der 14. Straße den Harlem River. Ehe wir die Bronx erreichten, leuchtete das Signallämpchen ari meinem Funktelefon auf. Ich griff nach dem Handmikrofon und meldete mich.

Mr. McKee war am Apparat. »Hallo, Jesse«, sagte er. »Haben Sie bereits mit Lester Norwich gesprochen?«

»Ja«, antwortete ich. »Es war keine sehr ergiebige Unterhaltung, aber sie hat mich in die Lage versetzt…«

Mr. McKee fiel mir ins Wort. Das war sonst nicht seine Art. Es gehörte zu seinen Prinzipien, jeden Gesprächspartner geduldig anzuhören.

»Es ist gut, daß Sie das bereits hinter sich gebracht haben«, meinte er. »Jetzt könnte Norwich Ihre Fragen nicht mehr beantworten. Auf ihn wurde ein Attentat verübt.«

»Ist er tot?«

»Nein, aber die Ärzte geben ihm nur eine geringe Uberlebenschance.«

»Wann ist es passiert?«

»Ungefähr vor zehn Minuten«, sagte Mr. McKee.

»Wie ist es möglich, daß schon ein Kommentar mehrerer Ärzte vorliegt?« wunderte ich mich.

»Sie wohnen im gleichen Haus und waren nach der Tat als erste zur Stelle. Auf Norwich wurden drei Schüsse abgegeben, aus einer Waffe mit Geräuschdämpfer. Wo sind Sie jetzt, Jesse? Was tun Sie im Augenblick?«

Ich holte tief Luft. Zum zweitenmal an diesem Tag hatte ich das Zauberlehrlingsgefühl. Ich dachte an den Überraschungseffekt, den ich in Mr. McKees Office mit dem Diamantensäckchen erzielt hatte, als ich ihm antwortete: »Ich bin dem Mörder von Lester Norwich auf den Fersen, Sir.«

Ein Akt — was soll's?

»Sie haben eine heiße Spur?« fragte Mr. McKee beeindruckt.

»Mehr als das. Ich folge ihm. Er fährt einen Dodge mit der Nummer LX-4719. Mich würde es interessieren, auf wessen Namen der Wagen zugelassen ist.«

»Ich habe mir die Nummer notiert«, meinte Mr. McKee. »Brauchen Sie Verstärkung?«

»Danke, vorerst nicht.«

»Waren Sie in der Nähe, als es in Norwich’ Office krachte?« frage Mr. McKee.

»Ich habe die Schüsse nicht gehört. Ich wußte nicht einmal, daß Norwich angegriffen worden ist, aber mir fiel der Mann auf, der das Gebäude verließ. Er benahm sich so, wie jemand auf treten würde, der besonders unbefangen und normal erscheinen will und damit genau das Gegenteil erreicht. Mein Instinkt sagte mir, daß es nicht schaden könnte, ihm zu folgen. Ich hatte Glück, das ist alles. Natürlich kann sich heraussteilen, daß meine Nase mich im Stich gelassen hat und daß der Bursche für den Mordversuch nicht verantwortlich gemacht werden kann. Liegt Ihnen eine Beschreibung des Täters vor?«

»Sie ist nicht sehr genau. Fest steht eigentlich nur, daß der Mann einen hellen Trenchcoat trug und schütteres blondes Haar hatte. Er stellte sich der Vorzimmerdame als Burt Forster vor, aber dieser Name ist mit Sicherheit erfunden.«

»Der Mann, dem ich folge, tragt einen Trenchcoat und hat schütteres blondes Haar«, sagte ich.

»Wo sind Sie im Augenblick?«

»In der Bronx. Wir fahren den Major Deegan Expressway hinab und passieren gerade die Bronx Station in der 138. Straße«, antwortete ich.

»Weiß der Mann, daß Sie ihm folgen?«

»Ich glaube, daß er mich noch nicht bemerkt hat. Zwischen ihm und mir fahren zwei Wagen.«

»Ich rufe zurück, sobald ich erfahren habe, wem der Dodge gehört«, sagte Mr. McKee.

Der Dodge verließ den Major Deegan Expressway. Wenig später stoppte er in einer schmalen Seitenstraße in einer Parklücke. Ich rollte an ihm vorüber und hielt vergeblich nach einem Parkplatz Ausschau. Kurz entschlossen setzte ich den Jaguar in eine Hofdurchfahrt.

Ich stieg aus. Beim Betreten der Straße sah ich gerade noch, wie der Mann im Trenchcoat eine Treppe hochstieg, die zum Eingang einer fünfstöckigen mausgrauen Mietskaserne führte. Er hatte seine Hände aus den Manteltaschen gezogen. Ich bemerkte, daß er trotz der Wärme Handschuhe trug.

Ich eilte die Straße hinab, hastete die Treppe zum Eingang hinauf und ließ meine Blicke über die Namensschilder an den Briefkästen gleiten. Ihre Zahl ließ vermuten, daß auf jeder Etage mindestens fünf Familien wohnten. Das Haus hatte keinen Lift. Im Flur spielten Kinder. Sie verursa'chten dabei einen Heidenlärm.

Ich griff mir einen Zehnjährigen, der frech, aber intelligent aussah. »Hallo, Chef«, sagte ich. »Wohin ist der Mann im Trenchcoat gegangen? Er ist vor mir hereingekommen. Du hast ihn doch gesehen?«

Während ich fragte, klimperte ich mit dem Kleingeld, das ich in der Tasche hatte.

Der Junge rümpfte die Nase. »Klar habe ich ihn gesehen«, sagte er. »Er wohnt nicht hier. Ich nehme an, er ist zu Chum gegangen.«

»Wer ist Chum?«

»Er hat das Hofgebäude gemietet. Ein Maler. Macht Pop. Große Klasse!«

Ich drückte dem Jungen fünfzig Cent in die Hand und betrat den Hof. Er war klein und .häßlich, so häßlich wie der einstöckige Ziegelschuppen, der seine hintere Begrenzung bildete. An der Außenseite führte eine Holztreppe zur Tür in der ersten Etage hoch. Der Bewohner des Hauses hatte ein großes Atelierfenster in die Hauswand einbauen lassen, dessen sachliche Modernität in dem baufälligen Gebäude geradezu grotesk wirkte. Ich stieg die Treppe hinauf und stoppte vor einer Holztür, die mit knallbunten Popmotiven bemalt war und kein Namensschild trug. Ich klopfte. Als niemand antwortete, öffnete ich die Tür und trat ein. Mein erster Blick fiel auf das Girl.

Es stand in der Mitte des Ateliers auf einem Holzpodest, groß, schlank und völlig nackt. Das Mädchen hatte eine wundervolle Figur, aber mehr noch als die glatte Vollkommenheit ihres Körpers irritierte mich die flackernde Angst in ihren großen grünen Augen.

Das Mädchen rührte sich nicht. Sie machte nicht einmal den Versuch, seine Blöße mit den Händen zu verdecken. Sie stand einfach da, reglos, mit an den Seiten herabhängenden Armen, und starrte mich an.

»Ich hatte geklopft«, sagte ich entschuldigend und schaute mich um. Ich fühlte mich in einen Antiquitätenladen versetzt, dessen Inhaber vornehmlich mit Bildern handelte, nur waren diese Bilder nicht von der Art, wie man sie in einem solchen Geschäft erwartet. Sie waren ausnahmslos abstrakt. Ich fragte mich, wozu ein Maler für derlei Kompositionen ein Modell benötigte.

Alte Schränke und Truhen, Kolonialstil neben Louis Seize, ein paar Skulpturen, Rodin-Kopien, Tische, Stühle und Standuhren — dazwischen, darauf und darunter Bilder, Bilder, Bilder. Wer sich in diesem Raum bewegte, mußte bei jedem Schritt achtgeben, nicht irgend etwas umzustoßen oder zu beschädigen.

»Sehr hübsch«, sagte ich und wandte mich erneut dem Mädchen zu. Die Angst, die sie empfand, machte sie unempfindlich für den Doppelsinn des Komplimentes.

»Was wollen Sie hier?« fragte sie kaum hörbar und mit bebender Stimme.

»Ich suche einen Mann. Er hat schütteres blondes Haar und trägt einen Trenchcoat. Ist er vor ein oder zwei Minuten hereingekommen?«

»Nein«, sagte sie.

»Wo ist der Maler?« wollte ich wissen.

»Chum ist im Bad«, antwortete sie. »Es ist niemand hereingekommen, niemand außer Ihnen. Ich muß es wissen. Ich war die ganze Zeit hier.«

Mein Blick wurde auf einen kleinen Scherbenhaufen gelenkt, der in einem der schmalen Durchgänge auf dem Boden lag. Ich ging darauf zu und bückte mich danach. Die Bruchstücke waren frisch. »Wann ist das passiert?« fragte ich.

»Was passiert?«

»Das mit der Schale. Wer hat sie vom Tisch gestoßen?« fragte ich.

»Ich — ich weiß es nicht«, murmelte das Mädchen.

Ich überlegte. Alle Anzeichen sprachen dafür, daß ein Fremder die Schale vom Tisch gefegt hatte. Das Malheur hatte nur deshalb geschehen können, weil der Mann sich in der Enge des Raumes zu schnell und zu unvorsichtig bewegt hatte. Dem Maler und seinem Modell wäre das vermutlich nicht passiert.

»Wie heißen Sie?« fragte ich das Mädchen.

»Liz Gaylord«, antwortete sie. Das Beben war noch immer in ihrer Stimme. Ich hörte nur mit halbem Ohr hin. Meine Sinne konzentrierten sich auf die Umgebung, vor allem auf die beiden Türen am anderen Ende des Raumes und auf das, was dahinter vor sich ging. Geräusche waren nicht zu hören.

»Wohin führen diese Türen?« erkundigte ich mich.

»Wieso interessiert Sie das?« fragte mich das Mädchen. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich bin Jesse Trevellian vom FBI.«

Das Mädchen bückte sich und griff nach einem auf dem Podest liegenden Morgenmantel. Sie hüllte sich hinein und verknotete den Gürtel. Ich fragte mich, warum sie sich erst jetzt dazu aufraffte. Ich fand dafür nur eine Erklärung. Sie hatte ein paar Minuten gebraucht, um die Wirkung eines Schocks abschütteln zu können. Es lag auf der Hand, daß dieser Schock von äußeren Einflüssen erzeugt worden war — zum Beispiel von einem Fremden, der mit einer Pistole in das Atelier eingedrungen war und den Maler mit vorgehaltener Waffe dazu gezwungen hatte, ihm in einen der Nebenräume zu folgen.

Wahrscheinlich hatte der Pistolenheld dem Mädchen angedroht, den Maler zu erschießen, wenn sie nicht bereit sein sollte, mir bei meinem Auftauchen ein paar Lügen unterzujubeln. Er hatte von ihr verlangt, daß sie seine Anwesenheit bestreiten sollte.

»Wie heißt der Maler?« fragte ich das Mädchen.

»Chum. Das ist auch sein Künstlername. Einfach Chum.«

»Ich möchte den Namen erfahren, der in seinem Ausweis steht«, sagte ich.

»Jack Gardner.«

Ich näherte mich der Tür, die mir am nächsten lag. Mit einem Ruck öffnete ich sie. Ich blickte in eine kleine, unaufgeräumte Küche. Auf dem Herd brodelte Kaffee in einem elektrischen Automaten. Ich warf einen Blick in den eingebauten Besenschrank. Dann machte ich kehrt und wandte mich der zweiten Tür zu. Ich prallte mit einem Mann zusammen. Er trug Kordhosen und ein kariertes Sporthemd mit hochgekrempelten Ärmeln. Der Mann war etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Sein wuchernder Vollbart und die Farbflecken an seinen Hosen machten klar, daß ich Jack Gardner alias Chum vor mir hatte.

»He«, sagte er. »Was suchen Sie denn hier?«

Ich blickte über Gardners Schulter in eine kleine rechteckige Diele, von der zwei Türen abzweigten. Ich hatte plötzlich das Gefühl, auf einer falschen Fährte zu sein. Gardner machte einen völlig gelassenen Eindruck. Im nächsten Moment erinnerte ich mich an das Erscheinen des Killers vor Lester Norwich’ Haus. Auch der Mann im Trenchcoat war so betont ruhig gewesen.

»Ich suche den'Mann mit dem schütteren Blondhaar«, sagte ich.

Der Maler runzelte die Augenbrauen. »Sie haben wohl ’ne gebrochene Kardanwelle?« fragte er. »Hier ist niemand.«

»Wohin führen diese Türen?« wollte ich wissen.

»Was geht Sie das an?«

Ich zeigte ihm meinen Ausweis. Er nahm ihn in die Hand. Ich sah, wie er die Unterlippe zwischen die Zähne zog. Zweifel und Skepsis erschienen in seinen Augen. Er gab mir die ID-Card zurück.

»Was soll ich damit?« fragte er laut und mürrisch. »Sie müssen mir schon glauben. Hauen Sie ab, Mann!«

Während er sprach, gab er mir mit dem Kopf ein Zeichen. Er wies auf die links von mir liegende Tür.

»Wenn ich sage, daß ich keinen Mann mit schütterem Blondhaar kenne, dann stimmt das«, fuhr er laut fort. Es war klar, daß seine Worte nicht für mich, sondern für den Mann hinter der Tür bestimmt waren. Ich pirschte mich auf Zehenspitzen an diese Tür heran, während Gardner fortfuhr, ein paar ärgerlich klingende Sätze in die Luft zu sprechen.

Ich riß die Tür auf. Der Mann im Trenchcoat lehnte mit dem Rücken am Rahmen, den Kopf lauschend nach vorn gebeugt. Die Aktion kam für ihn völlig überraschend. Er riß die Pistole hoch, die er in der Hand hatte, er versuchte es wenigstens. Mein Karateschlag fegte ihm die Waffe aus den Fingern. Er starrte mich aus weit aufgerissenen Augen an. Seine Schrecksekunde währte nicht lange. Er gab sich einen Ruck und ging mit den Fäusten auf mich los.

Seine Angst und die Wut über das Entdeckt-Worden-Sein schienen seine Kräfte zu verdoppeln. Er praktizierte ein Temperament, als müßte er mich binnen weniger Sekunden von den Beinen holen. Ich hatte alle Hände voll zu tun, diese erste, wilde Attacke abzuwehren.

Als er eine kurze Verschnaufpause einlegte, marschierte ich nach vorn. Er sah sich plötzlich in die Defensive gedrängt und gab sich Mühe, nochmals die Oberhand zu gewinnen. Es gelang ihm nicht. Ich hatte seine Tricks schnell durchschaut und mich darauf eingestellt.

Ich bediente ihn mit ein paar kräftigen Linken, mischte einige Körperdubletten dazwischen und rundete das Ganze mit einem knochentrockenen Rechtshaken ab.

Mein Gegner sackte in die Knie. Er kam nochmals hoch, mit glasigem Blick und leicht staksigen Beinen. Ich legte einen kurzen, kräftigen Spurt ein und brachte ihn mit zwei soliden Treffern erneut auf die Matte.

Diesmal blieb er liegen. Ich bückte mich und klopfte ihn nach Waffen ab, fand aber keine. Dann hob ich seine Pistole auf. Ich schnupperte an der Mündung. Die Waffe war in letzter Zeit nicht benutzt worden. Das wunderte und irritierte mich. Ich nahm das Magazin heraus und überprüfte seinen Inhalt. Es war voll.

Das paßte nicht zu meinen Vorstellungen und Erwartungen. Norwich war von drei Kugeln niedergestreckt worden. De.r Täter hatte dabei einen Geräuschdämpfer verwendet. Ich hatte bei dem Mann im Trenchcoat nichts gefunden, was diese Feststellungen untermauerte.

»Kennen Sie ihn?« fragte ich schwer atmend und blickte Gardner an.

»Nein«, meinte der Maler kopfschüttelnd. »Er tauchte plötzlich mit seiner Puste in meinem Atelier auf. Er zwang mich dazu, mit ihm in die hinteren Räume zu gehen. Er drohte, mich abzuservieren, falls Liz es nicht schaffen würde, seinen Verfolger — also Sie — mit ein paar Lügen abzuschütteln. Ich konnte ihn davon überzeugen, daß ich in meiner Bleibe kein Blutbad wünschte und daß er gut beraten sei, wenn er mich nach vorn gehen lassen würde. Das ist alles.«

»Er ließ Sie so einfach gehen?«

»Er pflasterte meinen Weg mit ein paar handfesten Drohungen. Ich habe sie ernst genommen und war bereit, seine Forderungen zu erfüllen, aber als ich Ihren Ausweis sah, stellte ich die Weichen anders.«

»Hm«, machte ich und blickte den am Boden liegenden Gangster an. »Ich frage mich, warum er gerade hier haltmachte.«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich den Kerl noch niemals zu Gesicht bekommen habe.«

»Warten wir ab, bis er wieder zu sich kommt«, sagte ich.

Als der Gangster sich hochquälte, machte er einen ziemlich ramponierten Eindruck. Ich schob ihm einen Stuhl zurecht. Er ignorierte ihn und lehnte sich gegen die Wand.

»Warum haben Sie es getan?« wollte ich wissen. »Warum haben Sie auf Lester Norwich geschossen?«

Der Gangster starrte mich an. Er atmete mit offenem Mund wie nach einem Geländelauf. »Wovon reden Sie überhaupt?« murmelte er.

»Von Ihrer Flucht. Können Sie mir verraten, wovor Sie geflohen sind?«

Sein linker Mundwinkel begann zu zucken. Er sah bitter und zermürbt aus. »Ich bin vor drei Wochen aus dem Knast gekommen«, sagte er. »Niemand hat mich haben wollen. Ich kriegte keinen Job. Ich habe es immer wieder versucht. Umsonst. Wer stellt schon einen Knastbruder ein? Heute war das Maß voll. Ich nahm mir vor, eine Kasse auszuräumen. Ich betrat ein Haus in der 5. Avenue, aber dann verließ mich plötzlich der Mut. Ich machte kehrt und fuhr weg. Unterwegs merkte ich, daß mir jemand folgte — ein roter Jaguar. Ich kriegte es mit der Angst zu tun. Wenn man mich mit der Puste erwischte, war ich geliefert. Ich fuhr kreuz und quer und stoppte vor einem Haus, das so aussah, als ob man es auf der anderen Seite wieder verlassen könnte. Den Rest wissen Sie.«

»Nicht ganz«, sagte ich. »Vergessen Sie nicht, daß man Sie Norwich’ Vorzimmerdame gegenüberstellen wird.«

»Verdammt noch mal, wer ist dieser Norwich?«

»Das sage ich Ihnen gleich. Erst möchte ich mal Ihren Namen hören.«

Er präsentierte mir schweigend seinen Führerschein. Das Papier lautete auf den Namen Hugh Parrish. Ich stieß einen Pfiff aus. »Jetzt erinnere ich mich an Sie. Sie waren vor fünf Jahren an dem Kenwood-Bankraub beteiligt.«

»Ich habe bloß Schmiere gestanden«, sagte er bitter. »Trotzdem haben sie mir fünf Jahre aufgebrummt.«

»Bei dem Bankraub wurden drei Menschen getötet«, sagte ich und gab Parrish den Führerschein zurück. »Von den vier verhafteten Tätern wollte es keiner gewesen sein…«

»Ich war es jedenfalls nicht!«

»Ich halte nur fest, daß Sie schon einmal in einen Mordfall verwickelt waren. Sie können sich leicht ausrechnen, was geschehen wird, wenn Lester Norwich seinen Verletzungen erliegen sollte.«

»Sie haben mir noch immer nicht gesagt, wer dieser Lester Norwich ist.«

»Ein Diamantenhändler. Er wurde ungefähr zü dem Zeitpunkt erschossen, als Sie das Haus in der 5. Avenue verließen und mit Ihrem Dodge davonfuhren.«

»Mein verdammtes Pech!« preßte Hugh Parrish durch die Zähne. »Immer gerate ich in Sachen, die andere drehen. Es ist, als wäre ich darauf abonniert.«

»Okay, sehen wir uns einmal Ihren Dodge an«, sagte ich.

»Es ist nicht mein Dodge«, murmelte der Gangster. . »Das war der zweite Grund, weshalb ich nicht geschnappt werden wollte. Ich habe versucht, Sie hier abzuschütteln. Der Wagen ist geklaut.«

»Es hat den Anschein, als brauchten Sie sich um Ihre weitere Zukunft keine Sorgen zu machen«, stellte ich fest. »Ihre Aussichten, Staatspensionär zu werden, sind denkbar gut.«

Wir gingen ins Atelier. Das Mädchen saß mit hochgezogenen Knien auf einem Stuhl. Den Morgenmantel hatte sie um ihre Beine gezogen. Sie zitterte, als ob sie fröre.

»Es ist alles vorbei, Liz«, sagte der Maler tröstend.

»Es war widerlich!« hauchte sie. »Ich hatte schreckliche Angst…«

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Ich zuckte herum und hob die Pistole.

Der Mann erstarrte beim Anblick der Waffe. Er war groß und breitschultrig, ein Endfünfziger in einem auffälligen, tadellos gearbeiteten Maßanzug, ein Mann, der nach Geld und Macht roch. Ich hatte ihn schon tausendmal auf Fotos gesehen. Jetzt traf ich ihn zum erstenmal persönlich.

Es war Ken Price, der Syndikatsboß. Es war der Vater der ermordeten Lala.

Aus Chicago kommt der Gangsterboß

Hugh Parrish war ein Mann, der seine Chance zu nutzen wußte. Er wartete nicht ab, daß ich mich von meiner Überraschung erholte. Da er jetzt hinter mir stand, hatte er keine Mühe, einen blitzschnellen und knallharten Handkantenschlag anzubringen. Er setzte ihn auf meinen Hals. Ich fiel um und hörte auf, an etwas zu denken.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf einem mit rotem Plüsch bezogenen Biedermeiersofa. Am Fußende des Polstermöbels saß Ken Price. Der Maler stand hinter ihm. Ich wandte den Kopf. Liz Gaylord und Hugh Parrish waren verschwunden.

Ich schwang die Füße auf den Boden und setzte mich behutsam auf. »Wo ist er?« fragte ich.

»Er hat nicht viel Zeit verloren«, sagte der Maler bitter. »Als Sie zu Boden gingen, riß er Ihnen die Pistole aus der Hand. Damit schüchterte er uns ein. Wir mußten zusehen, wie er mit Liz türmte, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. Er hat sie als Geisel mitgenommen.«

Ich massierte mir den Hals. »Sie hatten einen großartigen Auftritt«, sagte ich zu Price. Der Spott in meiner Stimme war unüberhörbar, aber Price tat so, als sei alles okay.

»Ich habe nichts getan«, meinte er. »Ich bin nur hereingekommen. Sie wußten, daß der Mann gefährlich war. Mr. Gardner erzählte es mir, während Sie bewußtlos waren. Es war Ihre Schuld, daß Sie sich unter diesen Umständen von dem Mann überrumpeln ließen.«

»Was tun Sie in New York?« fragte ich ihn.

»Blöde Frage!« knurrte er. »Wie Sie wissen, wurde meine Tochter ermordet.«

Ich bemerkte erst jetzt das schmale schwarze Bändchen am Knopfloch seines Anzugrevers. Ken Price roch nach einem aufdringlichen Rasierwasser. Er hatte plumpe, weiche Hände, denen man die Pflege einer Maniküre anmerkte.

Er hielt meinem Blick ruhig stand. Er hätte hundert Prozesse und tausend Kämpfe mit der Polizei überstanden. Er war gerupft, aber ungebrochen aus diesen Auseinandersetzungen hervorgegangen, ein Mann, der sich mit Geld und Gewalt gekauft hatte, was er gerade brauchte — Zeugen, Alibis und Anwälte.

In den letzten Jahren war es stiller um ihn geworden. Selbst in Chicago war die Zeit der blutigen Bandenkriege und der nackten Gewalt eleganteren Spielarten des Verbrechens gewichen. Kfen Price hatte sich rechtzeitig umgestellt. Die meisten der von ihm kontrollierten Firmen operierten auf legaler Basis und zahlten brav ihre Steuern — aber es waren Betriebe, die mit Blutgeld finanziert worden waren, mit geraubten und erpreßten Vermögen.

Ken Price hatte einen faszinierenden Kopf, ein scharfes Raubvogelprofil, das Brutalität und Intelligenz verriet und durch eine starke Ausstrahlung imponierte. Seine Stimme paßte dazu. Sie hatte den sonoren Klang eines Bühnenschauspielers. Wenn Price den Mund aufmachte, waren die anderen still. Am merkwürdigsten waren seine Augen. In seiner Jugend waren sie wegen ihres metallischen, hellen Glanzes berühmt gewesen, und selbst jetzt noch lag etwas Zwingendes in ihnen. Es war zu verstehen, daß Ken Price seinefi Weg gemacht hatte. Ohne Zweifel hatte er das Zeug dazu, andere Menschen zu führen. Dummerweise hatte er mit dieser Gabe die verkehrte Richtung eingeschlagen.

»Hier ist weder das Leichenschauhaus noch der Friedhof«, sagte ich. »Weshalb kamen Sie her?«

»Ich suche den Mörder«, gab er zu.

»In Mr. Gardners Atelier?«

Ken Price wandte den Kopf. »Sagen Sie es ihm, Chum«, meinte er.

»Ich habe Lala Price porträtiert«, sagte Gardner.

»Wann?« fragte ich überrascht.

»In der vergangenen Woche.«

»Ich habe davon erfahren«, schaltete sich Ken Price ein. »Ich kam her, um festzustellen, für wen sie sich malen ließ und wer sie begleitete.«

»Well?« fragte ich und schaute Gardner an.

»Sie kam stets allein«, sagte er.

»Wann war sie das letztemal hier?«

»Vorgestern. Sie holte das Bild ab.«

»Was zahlte sie dafür?«

»Zweitausend in bar.«

»Was ist es für ein Bild?« wollte ich wissen.

»Ein Halbakt«, sagte Gardner. »Ich war sehr stolz darauf. Das Bild hatte Pfiff.«

»Ich dachte, Sie malen nur abstrakte Sachen«, sagte ich.

Gardner schüttelte den Kopf. »Von Zeit zu Zeit muß ich mir und meinen Kritikern beweisen, daß ich handwerklich mit ihnen durchaus Schritt halten kann. Viele meinen nämlich, hinter meinen Popbildern verberge sich pure Stümperei.«

»Wie ist Lala Price an Sie geraten?« wollte ich wissen. »New York kennt prominentere Porträtisten — womit ich Ihnen nicht zu nahe treten will.«

Gardner winkte ab. »Ich bin nicht empfindlich. Sicher gibt es bekanntere Maler als mich — aber die sind auch wesentlich teurer. Sie kam eines Tages her und wollte wissen, ob ich sie malen könnte. Ich sah ihr an, daß sie nicht von der Wohlfahrt lebte, und forderte forsch zwei große Lappen. Sie willigte ein, ohne mit den Wimpern zu zucken. Auf diese Weise kamen wir zusammen.«

»Wie oft war sie hier?«

»Lassen Sie mich mal nachdenken. Neun- oder zehnmal würde ich sagen. Jeweils anderthalb Stunden.«

Ich blickte Price an. »Befindet sich das Bild in der Wohnung Ihrer Töchter?«

»Nein«, sagte er. Er wandte sich an Gardner. »Und Sie sind sicher, daß sie niemals abgeholt wurde?«

»Ziemlich sicher«, meinte Gardner. »Dafür gibt es eine plausible Erklärung. Ich vermute, daß das Bild als ein Geschenk für ihren Freund bestimmt war. Da sie ihn damit überraschen wollte, ließ sie sich nicht von ihm begleiten, wenn sie zu den Sitzungen erschien.«

»Ich glaube, wir sind ein wenig vom Thema abgekommen«, sagte ich. »Es geht nicht um das Bild. Es geht um den mehr als auffälligen Umstand, daß Lala Price sich ausgerechnet hier malen ließ — in einem Atelier, das Norwich’ Mörder als Zuflucht benutzte.«

»Ist Norwich denn tot?« fragte Price stirnrunzelnd.

»Er schwebt in Lebensgefahr. Der Angriff auf jhn war ein Mordanschlag. Kennen Sie Norwich?«

»Nein, ich hörte auf dem Wege nach hier im Autoradio, was ihm zugestoßen ist.«

Ken Price sprach höflich, mit einem Unterton von Desinteresse. Ich starrte ihn an. Er war allein in Gardners Atelier erschienen. Das war ebenso auffällig wie sein Erscheinen schlechthin. Price war kein Mann, der sich frei zu bewegen wagte. Normalerweise wurde er stets von ein oder zwei Leibwächtern begleitet.

»Was sagen Sie dazu, Gardner?« wandte ich mich an den Maler.

Er schrak zusammen. »Wozu?«

»Zu Hugh Parrish’ Auf tauchen in Ihrem Atelier.«

»Das hat er Ihnen doch erklärt! Es war mehr oder weniger ein Zufall.«

»Erwarten Sie, daß ich das glaube? Zwischen dem Überfall auf Norwich und Lala Price’ Tod besteht ein Zusammenhang — ein Zusammenhang aus blitzenden Diamanten. Lala Price wurde hier gemalt. Welcher Zufall sollte Norwich’ Angreifer ausgerechnet in dieses Atelier verschlagen haben — in einen Raum, der Minuten später vom Vater der Toten besucht wird?«

»Ich gebe zu, daß das reichlich verworren wirkt«, sagte Gardner, »aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich weiß. Lala Price wurde von mir gemalt. Sie hat für das Bild zweitausend Dollar bezahlt und es vorgestern mitgenommen. Ich kenne den Mann nicht, der mit dem Bild beglückt werden sollte — falls es einen solchen Mann überhaupt gibt. Lala Price hat niemals darüber gesprochen, was sie mit dem Bild anzustellen beabsichtigte. Sie war ziemlich zugeknöpft. Ich hielt sie für arrogant, um ehrlich zu sein.«

Irgend jemand in diesem Haus log. Vermutlich taten das alle beide. Ich war ein paar Minuten ohne Bewußtsein gewesen. Jack Gardner und Ken Price hatten sich während dieser Zeit arrangieren und eine Absprache treffen können.

»Wie wollen Sie Lalas Mörder finden?« fragte ich den Syndikatsboß.

»Mit den gleichen Methoden wie Sie«, meinte er. »Indem ich jede Spur verfolge. Mr. Gardner war nur eine von vielen.«

»Woher stammt die Information, daß Lala sich hier malen ließ?«

»Das ist nicht wichtig«, sagte er.

»Von Harper?« fragte ich.

»Vielleicht.«

»Ich brauche ihn. Wo hält er sich auf?«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, meinte Ken Price und produzierte ein dünnes, maliziöses Lächeln. »Selbst wenn ich es wüßte, würden Sie es nicht von mir erfahren. Machen wir uns nichts vor, mein Bester. Wir sind Gegner. Ich habe zeit meines Lebens eine Zusammenarbeit mit der Polizei und dem FBI vermieden… Eine Einstellung, die durchaus auf Gegenseitigkeit beruht. Ich habe nicht vor, mit diesem Prinzip zu brechen. Ich werde den Mörder meiner Tochter finden und bestrafen. Sie müssen sich verdammt beeilen, wenn Sie mir dabei zuvorkommen wollen — und jetzt möchte ich mich verabschieden. Guten Tag, meine Herren.«

Er stand auf und ging zur Tür. Er verließ den Raum, ohne sich nochmals umzudrehen.

»Was für ein Tag!« meinte Gardner und setzte sich auf das andere Ende des Sofas. »Was soll ich jetzt bloß machen? Was kann ich tun, um Liz zu retten? Das arme Ding stirbt sicherlich vor Angst.«

»Parrish wird nicht wagen, sie anzurühren«, sagte ich. »Ich glaube nicht mal, daß er Norwich niedergeschossen hat.«

Gardner blickte mich fragend an. »Sie haben Ihre Meinung geändert?«

»Das passiert oft in meinem Beruf. Hauptsache, die Richtung stimmt, wenn die Anklage zurechtgezimmert wird. Warum haben Sie mich belogen, Chum?«

»Das habe ich Ihnen doch erklärt«, sagte er mürrisch. »Ich wurde von Parrish dazu gewungen.«

»Das meine ich nicht… Ich spreche von dem, was geschah, während ich ohnmächtig’war. Warum ist Price hergekommen? Hat er Sie unter Druck gesetzt?«

»Nein«, sagte Gardner. »Sie haben ja gehört, was er von mir wollte.«

Ich verabschiedete mich und ging. Als ich die Straße betrat, war der Dodge verschwunden. Der Junge, dessen Auskünfte ich mit fünfzig Cent belohnt hatte, kam grinsend auf mich zu. »Haben Sie den Mann gefunden, Mister? Ich habe ihn gesehen. Er ist mit Chums Biene weggefahren. In einem roten Dodge.«

Ich nickte. »Hast du auch den anderen Mann gesehen?« fragte ich. »Er trug einen beigefarbenen Anzug.«

»Den reichen Pinkel?« fragte der Junge. »Klar, er war mit einem Taxi hier.«

»Allein?«

»Ganz allein, der Taxifahrer mußte auf ihn warten.«

»Hast du den Mann schon mal hier gesehen?«

»Nein, noch nie.«

Ich nickte und kehrte zu meinem Jaguar zurück. Ken Price ohne Gorillas! Dahinter steckte etwas. Ich begann ein paar Zusammenhänge zu ahnen, aber das Bild wurde dadurch nicht deutlicher. Es war, als sähe ich es durch ein falsch eingestelltes Prismenglas, unscharf und verschwommen.

In der Einfahrt, wo mein Wagen stand, schimpften ein paar Männer herum, denen mein Jaguar im Wege stand. Ich entschuldigte mich und fuhr los. In der nächsten Parklücke machte ich halt.

Ich gab ein Rundtelegramm auf, das Hugh Parrish und seinen roten Dodge betraf. Dann sprach ich mit Milo. Ich berichtete ihm von dem, was sich in Jack Gardners Atelier zugetragen hatte. »Sorge bitte dafür, daß Norwich’ Vorzimmerdame ein Foto von Hugh Parrish vorgelegt bekommt«, sagte ich. »Ich muß wissen, ob er der Täter war.«

»Ich fahre sofort hin«, versprach mir Milo.

»Nicht sofort«, bat ich ihn. »Kratz ein paar Informationen über ihn zusammen und laß sie mich wissen. Ich brauche seine Adresse.«

Drei Minuten später hatte ich die gewünschte Auskunft. Hugh Parrish war nach seiner Entlassung aus Sing-Sing in die Greenpoint Avenue gezogen. Die Straße lag im Stadtteil Queens. Auf meiner Fahrt dorthin telefonierte ich mit dem für Parrish zuständigen Polizeirevier. Er hatte sich dort wöchentlich zweimal melden müssen und war dieser Pflicht korrekt nachgekommen.

»Hat er ein Mädchen?« fragte ich den Sergeant, mit dem ich telefonierte.

»Brokat-Lilly — aber ich glaube nicht, daß das etwas Ernstes ist.« .

Ich ließ mir die Adresse des Girls geben und stoppte um siebzehn Uhr fünfzig vor dem Haus Greenpoint Avenue Nummer 137. Es war eine triste Mietskaserne aus den vierziger Jahren. Parrish’ Wohnung lag in der dritten Etage. Ich war nicht überrascht, daß auf mein Klingeln niemand öffnete. Als ich das Haus verließ, entdeckte ich auf der anderen Straßenseite einen Revierdetektiv, den ich kannte. Ich sprach ihn an und erfuhr, daß er vor einer Minute eingetroffen war, um Parrish’ Domizil im Auge zu behalten. Mein Rundtelegramm zeigte seine ersten Auswirkungen.

Ich fuhr zu Brokat-Lilly. Ihr voller Name war Lilly Tanner. Sie war ein Tingeltangelgirl, das stets irgendeinen heruntergekommenen Freund betreute. Sobald sich die Objekte ihrer Betreuung erholt hatten, hörte das Mädchen auf, sich für sie zu interessieren.

Brokat-Lilly wohnte in der Jackson Avenue, nur ein paar Fahrminuten von Parrish’ Wohnung entfernt. Als ich bei ihr klingelte, öffnete sie mir die Tür in einem Mini rock, dessen Kürze selbst bei einem jüngeren Mädchen Aufsehen erregt hätte. Brokat-Lilly hatte tadellose Beine, aber ihrem Gesicht war anzusehen, daß sie ihre Nächte nur dann im Bett verbrachte, wenn sie meinte, ihrer Rolle als Trösterin gerecht werden zu können.

Lilly Tanners Wohnzimmer sah aus, als hätte sie sich von jeder Spielzeugpuppe einen Prototyp gekauft. Sie saßen überall herum, in allen Größen. Sie saßen auf dem Sofa, auf der Kommode, auf den Stühlen und Sesseln, sogar auf dem Fernsehapparat und auf einer Stehlampe.

»Ich suche Hugh«, sagte ich knapp. »Welchen Hugh?«

»Hugh Parrish.«

»Bin ich etwa sein Kindermädchen?« schnarrte Broka.t-Lilly.

Die Fürsorge, die sie ihrem jeweiligen Freund entgegenbrachte, erstreckte sich nicht auf Fremde. Brokat-Lilly war ebenso bekannt für ihre scharfe Zunge.

»Er hat ein Ding gedreht und befindet sich jetzt in Gefahr«, sagte ich. »Ich muß ihn warnen.«

»Sie sehen eher so aus, als wollten Sie ihn hoppnehmen«, höhnte Brokat-Lilly. Sie hatte tizianrot gefärbtes Haar und ein Make-up, das abrupt am Hals endete und ihrem Gesicht etwas Maskenhaftes gab.

»Vielleicht stimmt das sogar«, sagte ich, »aber ich finde, daß er bei den Behörden besser aufgehoben sein wird als im Jenseits.«

»Wer will ihm denn an den Kragen?« fragte das Mädchen.

»Das möchte ich ihm gern selber mitteilen. Wo finde ich ihn?«

»Keine Ahnung«, sagte das Mädchen. »Hauen Sie ab. Los, gehen Sie!«

Ich zuckte mit den Schultern und verschwand. Dann setzte ich mich in meinen Jaguar und wartete. Meine Rechnung ging auf. Brokat-Lilly erschien knapp drei Minuten später auf der Straße. Sie schaute sich nach links und rechts um, dann kletterte sie in einen älteren Metropolitan. Ich wartete, bis sie sich mit dem Wagen in den Fahrzeugstrom eingeordnet hatte, und folgte ihr mit meinem Jaguar.

Zehn Minuten später stoppte das Mädchen im nördlichen Brooklyn vor einem abbruchreifen Haus. Ich schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Jaguar in eine Hauseinfahrt zu lenken. Als ich ausstieg und die Straße betrat, hatte Brokat-Lilly bereits ihren Wagen verlassen.

Ich bummelte die Straße hinab und blieb vor dem Haus stehen, in dem ich das Girl vermutete. Im Erdgeschoß wurde eine Wäscherei betrieben. Die Fenster der darüberliegenden vier Etagen waren gardinenlos und leer. Einige davon waren zerbrochen. Ich betrat den Hausflur, der von dem Dunst und dem Geräusch einiger Wäschereimaschinen erfüllt war.

An der nach oben führenden Treppe war eine Absperrung befestigt, ein dicker Strick, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Betreten verboten« hing. Darunter, etwas kleiner, war zu lesen, daß das Haus baufällig war und vor dem Abbruch stehe.

Noch während ich das Schild musterte, ertönte ein Schrei. Er war schrill und hysterisch und erreichte eine Höhe, die ihn umkippen ließ. Es war ein Schrei, der von Grauen und Entsetzen geprägt wurde. Ihm folgte ein Wimmern. Dann war Stille.

Ich schwang mich über den Strick und hastete die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf. Die Türen zu den Wohnungen waren bereits ausgehängt. Auf dem Boden lag Unrat. Ich durchkämmte die einzelnen Wohrträume, ohne jemanden zu finden. Ich sprintete in die zweite Etage. Als ich das leise Wimmern hörte, stoppte ich, aber nur eine Sekunde, dann folgte ich dem Geräusch.

Durch einen kurzen dunklen Flur gelangte ich in ein Zimmer, dessen Fenster zum Hof wiesen. Brokat-Lilly lag dicht hinter der Schwelle mit angezogenen Knierj, den Kopf in die Armbeugen gebettet.

Aus ihrem Mund kam unentwegt dieses leise und klagende Wimmern. Ich schenkte dem Mädchen nur einen kurzen Blick. Mein Herz hämmerte heftig, als ich den Mann sah.

Er hing an einem Strick von der Decke herab. Das obere Ende war an dem Haken befestigt worden, der einmal eine Lampe getragen hatte. Unter dem Mann lag ein umgekippter Stuhl. Ein Blick in das blau angelaufene Gesicht des Mannes genügte zu der Feststellung, daß für ihn jede Hilfe zu spät kam.

Hugh Parrish war tot.

Wer hat Hugh Parrish erhängt?

Ich schaute mich um.

Auf dem Fußboden stand eine Kiste. Sie diente als Untersatz für einen Petroleumkocher. Im Innern der Kiste befanden sich einige Lebensmittel: Konserven, Brot, ein paar Tüten.

In der Ecke lehnte ein Besen. Der Fußboden war sauber gefegt. Links von der Tür befand sich eine zusammengerollte, mit blauem Drell bezogene Matratze. Auf ihr lag eine braune Wolldecke.

Ich machte kehrt und warf einen Blick in die anderen Räume. Von Liz Gaylord keine Spur.

Als ich die Inspektion beendet hatte, stemmte sich Brokat-Lilly mühsam hoch. Ich half ihr dabei. Ihr Gesicht war tränenüberströmt.

»Warum hat er das nur getan — warum? Ich wollte für ihn sorgen, aber er lehnte das ab. Er sagte, er sei Manns genug, sich allein zu behaupten. Nur das Versteck nahm er von mir an…«

»Sie haben ihm dieses Haus empfohlen?«

Brokat-Lilly nickte. »Ich hörte von einem Penner, daß es frei geworden ist.«

»War er bei Ihnen?«

»Wer? Hugh? Nein, er rief mich an. Er sagte, daß die Bullen hinter ihm her wären und daß er sich verstecken müßte. Ich empfahl ihm dieses Haus — mehr kann ich dazu nicht sagen.«

»Als ich bei Ihnen aufkreuzte und Ihnen erklärte, daß Parrish gefährdet sei, fuhren Sie her, um ihn zu warnen.«

»Verdammt noch mal, das war ich ihm schuldig«, sagte das Mädchen. Ihre kraftlose, ausgelaugte Stimme stand in seltsamem Kontrast zu ihren Worten. Sie wandte dem Toten den Rücken zu, um ihn nicht ansehen zu müssen.

»Hat er etwas von dem Mädchen gesagt?« fragte ich.

»Er hat kein Mädchen erwähnt«, meinte Brokat-Lilly. »Meinen Sie, ich hätte auch nur den kleinen Finger für ihn krumm gemacht, wenn er mit einer anderen Puppe unterwegs gewesen wäre?«

»Er war heute in der 5. Avenue. Wer hat ihn hingeschickt?« fragte ich.

»Ich will weg von hier«, murmelte Brokat-Lilly mit starr werdendem Blick. »Lassen Sie mich ’raus!«

»Einverstanden«, sagte ich. »Setzen wir uns in meinen Wagen.«

Brokat-Lilly gehorchte ohne Widerspruch. Als ich die Mordkommission verständigte, schaute mich das Mädchen erschreckt an. Sie wartete, bis ich den Anruf beendet hatte, und fragte dann: »Wieso Mordkommission? Er hat es doch selbst getan. Es war doch Selbstmord!«

»Das bezweifle ich«, sagte ich. »Es sollte nur so aussehen.«

Brokat-Lilly biß sich auf die Unterlippe. »Geben Sie mir eine Zigarette«, sagte sie. Ich tat ihr den Gefallen und reichte ihr Feuer. Das Mädchen inhalierte tief und mit zurückgelegtem Kopf. »Wer war es?« fragte sie dann scharf.

»Einer von denen, die ihn zur 5. Avenue schickten«, sagte ich. »Wer war es?«

»Ich weiß es nicht, ehrlich nicht!« sagte Brokat-Lilly. Die Tränen hatten ihr dickes Make-up aufgeweicht und verwaschen. Sie klaubte sich einen Tabakkrümel von der Lippe. »Männer!« fuhr sie bitter und verächtlich fort. »Die nehmen, was sie kriegen: Geld, Liebe, Vertrauen. Und was bieten sie einem dafür? Nichts! Frauen sind für sie Geschöpfe zweiter Ordnung, die weiht man nicht in seine Sorgen und Geheimnisse ein. Als ob ich es mir jemals hätte einfallen lassen, einen Freund zu verpfeifen. Aber das kümmert sie nicht. Sie sind groß im Nehmen, aber sie kneifen, wenn es zum Geben kommt. Hugh war genauso. Um keinen Deut besser. Ach, zum Teufel mit ihm. Er hat keine Träne verdient.«

»Dessen bin ich keineswegs sicher«, sagte ich. »Jeder, der wie Hugh Parrish endet, verdient unser Mitleid.«

»Das können Sie sich sparen. Fangen Sie lieber seinen Mörder — falls es wirklich einen gibt«, sagte Brokat-Lilly.

»Ich bin schon dabei. Wen haben Sie von Hugh Parrish’ Versteck unterrichtet? Der Mörder kann nur von Ihnen erfahren haben, wo Parrish untergeschlüpft war.«

»Ich habe mit niemandem darüber gesprochen«, versicherte das Mädchen.

Ich dachte an die Lebensmittelkiste in der zweiten Etage. Hugh Parrish konnte das Zeug unmöglich so rasch beschafft haben. »Wer wohnte vor ihm da oben?« fragte ich.

»Der Penner, den ich vorhin erwähnte. Er benutzt das Quartier in unregelmäßigen Abständen — wenn er gerade mal in New York ist. Ich weiß nicht, wo er sich jetzt auf hält. Ich kenne nicht mal seinen richtigen Namen.«

»Setzen Sie sich in Ihren Wagen und warten Sie daä Eintreffen der Mordkommission ab«, sagte ich. Brokat-Lilly gehorchte schweigend. Ich stieg aus und betrat die Wäscherei.

Hinter dem Tresen des kleinen Vorraums stand eine knochige bebrillte Frau. Sie war damit beschäftigt, einen Stapel Bettlaken zu zählen. Ich stellte mich vor und wies mich aus.

»Haben Sie gesehen, wie Hugh Parrish das Haus betrat?« erkundigte ich mich.

»Wer ist Hugh Parrish?«

Ich beschrieb ihr sein Aussehen.

Sie schüttelte den Kopf. »Das Haus steht seit Wochen leer«, sagte sie. »Ich kümmere mich nicht um die Leute, die manchmal ’reingehen. Es sind sehr unerfreuliche Typen. Penner. Ich kann nicht jedesmal die Polizei rufen, wenn einer aufkreuzt. Die meisten sind harmlos. Warum soll ich mich auf regen? In zwei Wochen ziehen wir um. Das Haus wird abgerissen.«

Ich blickte über die Schulter zur Tür. »Von Ihrem Platz aus können Sie genau sehen, wer das Haus betritt und verläßt. Versuchen Sie sich bitte zu erinnern, wer innerhalb der letzten Dreiviertelstunde hier gewesen ist.«

»Ich habe meine Arbeit«, meinte sie. »Ich kann nicht fortwährend nach draußen schauen. Ich würde Ihnen gern helfen — aber ich habe niemanden gesehen. Was ist denn passiert?«

»Ein Mann wurde ermordet — in der zweiten Etage.«

Der spitze Adamsapfel der Frau glitt auf und nieder. »Ermordet«, murmelte sie. »Lieber Himmel, und ich habe nichts ahnend hier unten gearbeitet…«

Ich machte kehrt und ging hinaus. Ich hatte einen säuerlichen Geschmack im Mund. Brokat-Lilly saß mit geschlossenen Augen in ihrem Metropolitan und bewegte murmelnd ihre Lippen. Ich betrat das Haus und begann damit, jede einzelne Wohnung zu durchsuchen. Die meisten ließen erkennen, daß sie nachts von Pennern und Stadtstreichem benutzt wurden. Leere Flaschen und Bierdosen machten klar, daß es recht fröhliche Nächte gewesen waren.

Zuletzt betrat ich erneut den Raum in der zweiten Etage, in dem der tote Hugh Parrish hing. Sein Gesicht zeigte weder Kratz- noch Kampfspuren, die Kleidung war nicht derangiert. Selbstmord? Ich glaubte nicht an diese Theorie, obwohl sie sich offenkundig anbot. Hugh Parrish war auf der Flucht gewesen und hatte sich vor der drohenden Verhaftung fürchten müssen, aber er hatte gewiß nicht zu denen gehört, die zur Panik oder zu Kurzschlußhandlungen neigten.

Warum war er auf diese Weise umgebracht worden? Die Tatsache, daß man ihn aufgehängt hatte, ließ sich damit erklären, daß die Polizei und die Mordkommission an einen Selbstmord glauben sollten. Aber wer hatte einen Grund gehabt, Hugh Parrish aus dem Weg zu räumen?

Ich verließ die Wohnung und ging ins Erdgeschoß. Mir fiel ein, daß das Haus einen Keller haben mußte. Der Ordnung halber stieg ich in ihn hinab. Dabei mußte ich feststellen, daß der Strom bereits abgedreht worden war. Ich knipste mein Feuerzeug an. Vor mir lag ein langer schmutziger Gang, von dem zu beiden Seiten Lattenrosttüren abzweigten. Die meisten von ihnen waren auf der Innenseite mit alten Säcken verhängt.

Irgendwo tropfte Wasser auf den Boden. Die Wäschereimaschinen sorgten für ein konstantes Brummgeräusch und eine kaum wahrnehmbare Vibration der Mauer.

Ich öffnete die erste Tür zu meiner Linken. Der Kellerboden war mit Unrat bedeckt. Dicke Spinnweben am Eingang machten deutlich, daß der Keller seit Monaten nicht mehr betreten worden war. Ich ging zur nächsten Tür und traf die gleiche Feststellung. Als ich die dritte Tür öffnete, prallte ich zurück. Mir war zumute, als erhielt ich einen Faustschlag ins Gesicht.

Die hochgedrehte Flamme meines Gasfeuerzeugs traf auf ein Paar große, grünlich leuchtende Augen. Ich blickte in das Gesicht von Lala Price.

Das Bildnis der Ermordeten

Das Bild hing mir genau gegenüber. Es war von einem Goldrahmen eingefaßt. Ich trat langsam darauf zu. Die zitternde Flamme erweckte die Illusion, daß Lala Price’ Züge sich bewegten und veränderten. Es war, als husche ein spöttisches Lächeln darüber. Ich stoppte vor dem Bild und erkannte Jade Gardners Initialen in der rechten unteren Ecke.

Ich mußte dem Maler recht geben. Dieses Gemälde war ihm fabelhaft gelungen. Das in Öl gemalte Gesicht war von faszinierender Lebendigkeit, die Augen waren mit einem Ausdruck untergründigen Spottes auf mich ger ichtet, fast schien es so, als enthielten sie eine Portion wissender Grausamkeit.

Ich hörte ein Geräusch. Es kam von der Kellertreppe her. Ich verlöschte die Flamme und huschte an die Tür. Stille. Ich wartete fast eine Minute, dann wiederholte sich das Geräusch. Schritte kamen die Treppe herab. Durch die Ritzen des Lattenrostes blitzte Licht. Der Lichtkegel einer Taschenlampe huschte durch den Gang. Er wurde heller und intensiver, als die Person mit der Lampe näher kam.

Ich preßte mich mit dem Rücken flach an die Wand. Die Schritte stoppten vor der Tür. Mit einem leisen Knarren schwang sie nach innen und deckte mich dabei ab. Ich sah, wie der Lichtkegel das Gemälde traf. Er hielt es fest, zehn oder zwanzig Sekunden lang. Ich hörte das rasche Atmen eines Menschen dicht neben mir, dann betrat dieser Mensch den Keller. Der Mann, den ich jetzt von hinten sah, war nicht sehr groß und ziemlich stämmig. Unter seinem linken Arm klemmte eine Decke. Ein Penner? Nein, dazu paßten weder sein Hut noch der Schnitt seines Anzugs. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen. Ich bemerkte jedoch die auffällig abstehenden Ohren des Mannes.

Er trat an das Bild heran, nahm es ab und wickelte es in die Decke. Als er die Lampe auf den Boden legte, um mit beiden Händen arbeiten zu können, knipste ich das Feuerzeug an. Der Mann ließ vor Schreck das Bild fallen und wirbelte auf seinen Absätzen herum.

»Hallo«, sagte ich. »Freut mich, einen kunstsinnigen Mann kennenzulernen. Mit wem habe ich das Vergnügen?«

Der Schock nahm ihm den Atem. Er keuchte vor Aufregung. Ich schätzte sein Alter auf dreißig. Er hatte ein rundes, glatt rasiertes Gesicht, das durch seine wulstigen Lippen auffiel. Ich sah ihn zum erstenmal.

»Mensch, haben Sie mich erschreckt«, murmelte er.

Ich bückte mich nach seiner Lampe, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Wer schickt Sie?« erkundigte ich mich.

»Was geht Sie das an?« fragte er.

»Eine ganze Menge«, sagte ich. »Das Mädchen auf dem Bild wurde heute morgen vor meinen Augen ermordet. Inzwischen sind noch andere Dinge passiert, die mein Interesse rechtfertigen. In der Wohnung der jungen Dame entdeckte ich ein Säckchen mit gestohlenen Diamanten — und hier im Haus wurde ein Mann erhängt, der in die Geschichte verwickelt war. Ich könnte Ihnen noch andere, nicht weniger aufregende Einzelheiten nennen, möchte Sie jedoch bitten, sich mit dem Hinweis zufriedenzugeben, daß ich ein G-man bin.«

»Ein G-man?« Er stellte das Bild ab. »Mord? Damit will ich nichts zu tun haben!« erklärte er entschieden.

»Ein vernünftiger Standpunkt«, lobte ich. »Wer hat Sie hergeschickt?«

»Ich kenne den Mann nicht.«

»Was Sie nicht sagen!« spottete ich. »Aber es ist die Wahrheit, Sir!« ereiferte er sich. »Mein Name ist Bill Grooner. Ich arbeite als Nachtkellner im ,Heaven‘. In der letzten Zeit kann ich tagsüber kaum noch schlafen. Ich weiß nicht, warum. Nervosität, nehme ich an. Nachmittags hänge ich dann meistens in Toms Kneipe herum. Sie ist in dem Haus, wo ich wohne. Brooklyn, Atlantic Avenue. Dort quatschte mich der Mann an, als ich am Automaten stand.«

»Weiter«, sagte ich, als Grooner eine Pause einlegte.

»Er fragte mich, ob ich mir einen Fünfziger verdienen möchte. Das kommt auf die Arbeit an, antwortete ich ihm. Er meinte, ich brauchte bloß ein Bild aus dem Keller eines abbruchreifen Hauses zu holen. Er beschrieb mir genau, wo ich es finden würde. Ich fragte ihn, warum er nicht selbst ginge. Er meinte, er könnte sich hier in der Gegend nicht sehen lassen. Na ja, da machte ich mich auf die Socken; Ich bin nicht knapp bei Kasse, aber einem leichtverdienten Fünfziger kann ich nicht widerstehen.«

»Wie sah der Mann aus?«

»Groß, noch jung, nicht älter als achtundzwanzig, dunkles Haar, gut gekleidet.«

»Wo sollen Sie das Bild abliefern?«

»Er hat mir die Adresse aufgeschrieben Es ist ein Lokal in der Ramsen Street.«

»Kennen Sie es?«

»Nein. Ich bin aufgefordert worden, das Bild im Hinterzimmer abzustellen.«

»Sind Sie schon bezahlt worden?«

»Ja.«

»Okay«, sagte ich, »Sie werden das Bild hinbringen.«

»Hören Sie, Mister«, meinte Grooner zögernd, »mir wäre es lieber, wenn Sie mich verschwinden ließen. Wenn ich gewußt hätte, daß ich in eine Mordgeschichte gerate, wäre ich niemals auf den Vorschlag des Fremden eingegangen. Ich möchte nichts mehr damit zu tun haben.«

»Sie führen den Auftrag aus, für den Sie bezahlt wurden!« bestimmte ich. »Ihnen wird nichts passieren. Lassen Sie mich einen Blick auf den Zettel mit der Adresse werfen.«

Place of all Places, Ramsen Street 41

stand auf dem Zettel.

»Der Mann sagte mir, ich solle das Haus durch den Hintereingang betreten und wieder verlassen«, berichtete Grooner. »Das kam mir ein bißchen seltsam vor, aber dann sagte ich mir, daß ein Bild, das ungesichert in einem Keller hängt, kaum einen großen Wert verkörpern kann.«

»Ich muß noch einen Blick auf Ihren Ausweis werfen«, sagte ich. Grooner händigte mir seinen Führerschein aus. Er hatte mir seinen richtigen Namen genannt. »Das genügt«, sagte ich. »Sie bleiben noch fünf Minuten hier, dann fahren Sie mit dem Bild los.«

»Okay«, sagte Grooner. Ich verließ den Keller und betrat die Straße. Als ich mich in meinen Jaguar setzte, kreuzte ein Patrolcar der City Police als Vorausabteilung auf. Ich stellte mich dem Sergeant vor und bat ihn, Grooner mit dem Bild nicht aufzuhalten.

»Das Mädchen, das den Toten gefunden hat, sitzt da vorn in dem Metropolitan«, sagte ich. »Ich kann nicht warten, bis die Mordkommission eintrifft — aber ich melde mich, sobald ich kann.«

Ich fuhr zur Ramsen Street. Das Place of all Places entpuppte sich als eine gewöhnliche Kneipe. Sie war leidlich gut besucht, strahlte aber nichts von dem Flair aus, das man hinter dem großspurigen Namen vermutete.

Ich setzte mich an die Theke und bestellte ein Bier. Der Wirt war ein Mittfünfziger mit Halbglatze. Er trug eine knallrote Weste. Das Haar, das seinen Kopf so ängstlich mied, wucherte dunkel und üppig auf seinen tätowierten Armen. Ich trank ein paar Schlucke des ausgezeichneten Bieres, steckte mir eine Zigarette an und marschierte dann zur Toilette.

Von .dem kurzen weißgekachelten Flur, der hinter dem Zugang lag, zweigten vier Türen ab. Zwei gehörten zu den Toiletten, eine führte in die Privaträume und war dementsprechend gekennzeichnet, an der dritten hing ein ovales Schild mit dem Aufdruck »Klubzimmer«.

Diese Tür war unverschlossen. Ich warf einen Blick ins Innere des Klubraumes. Ein großer runder Tisch mit grüner Filzdecke, eine sehr tief darüber hängende Lampe, einfache Stühle, ein paar Bilder an den Wänden und der Geruch abgestandenen Rauches machten mir klar, daß hier oft gepokert wurde. Ich zog meinen Kopf zurück, schloß die Tür, besuchte die Toilette und kehrte dann zu meinem Bier zurück.

Unter dem Flaschenregal hing ein Spiegel mit einem Reklameaufdruck. Von meinem Platz aus konnte ich bequem in diesem Spiegel den Lokaleingang überwachen. Ein sichtlich angetrunkener Mann wankte herein und flegelte sich neben mich an den Tresen.

»Das übliche, Hank«, sagte er.

»Morgen«, meinte der Wirt kühl. »Schlaf dich erst mal aus, Derek. Für heute hast du genug.«

Ich erwartete, daß der Gast protestieren würde, aber er glitt nur schweigend von seinem Hocker und verließ das Lokal. Offenbar war der Wirt ein Mann, dessen Autorität respektiert wurde.

Als ich den nächsten Schluck nahm, kam Grooner mit dem in eine Decke gewickelten und mit Bindfaden verschnürtem Bild herein. Er schaute sich beinahe ängstlich um und ging dann auf die Tür zu, die zu dem Klubzimmer und zu den Toiletten führte.

Ich behielt in diesem Moment den Wirt im Auge. Er stellte ein gespültes Glas aus der Hand, das er gerade aus dem kleinen Tresenbecken geholt hatte, und folgte dem Gast mit einem Blick aus seinen kaum merklich schmaler gewordenen Augen.

Grooner kehrte eine Minute später ohne das Bild zurück. Er setzte sich an das andere Ende des Tresens und bestellte sich eine Cola, die er sofort bezahlte. Er trank sie hastig aus und wandte sich dann zum Gehen.

»Hallo, Mister«, rief der Wirt ihm hinterher. »Sie haben etwas vergessen!« Grooner blieb verdutzt stehen und blickte über seine Schulter. Er sah ziemlich ängstlich aus. »Vergessen?« fragte er. »Ich habe schon bezahlt.«

»Sie sind mit einem großen Paket hereingekommen«, stellte der Wirt fest und verschränkte seine haarigen Arme vor der Brust.

»Ach das… Ich hole es später ab«, sagte Grooner rasch. »Vielleicht kommt auch ein anderer…«

»Ich übernehme keine Verantwortung dafür, hören Sie?« meinte der Wirt sehr bestimmt. »Wo haben Sie es denn gelassen? In der Toilette?«

»Nein, im Klubzimmer«, meinte Grooner und huschte aus dem Lokal.

»Komischer Vogel«, murmelte der Wirt und schaute mich dabei an. Ich fragte mich, ob er ahnte oder wußte, daß ich ein G-man war. Hatte er diese kleine Show nur abgezogen, um mich davon zu überzeugen, daß er an diesem seltsamen Handel nicht beteiligt war und seine Hände in Unschuld wusch? »Noch ein Bier, Mister?« fragte er.

Ich blickte auf mein Glas und war erstaunt, daß ich es tatsächlich schon geleert hatte. »Okay«, sagte ich.

Diesmal nahm ich mir mit dem Trinken Zeit, aber nach einer halben Stunde mußte ich wohl oder übel noch etwas bestellen. Ich entschied mich für einen Kaffee. Weitere dreißig Minuten verstrichen. Ich genehmigte mir noch eine Cola. Die Gäste kamen und gingen.

Zuweilen suchte einer die Toilette auf, aber keiner kehrte mit dem Bild unterm Arm zurück. Ich hatte die Toilettenfenster inspiziert und wußte, daß es keine Möglichkeit gab, durch sie zu verschwinden. Das Klubzimmer hatte kein Fenster.

Ein paar junge Leute machten sich an dem Musikautomaten zu schaffen. Ich wurde langsam unruhig. Die Zeit rann mir durch die Finger. Draußen begann es zu dämmern. Hatten die Gangster gemerkt, daß die Bildaktion für sie geplatzt war?

Ich mußte mit dem District Office sprechen, um zu erfahren, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. Ich mußte herausfinden, was die Mordkommission im Fall von Hugh Parrish ermittelt hatte. War das entführte Modell inzwischen wiederaufgetaucht? Mir brannten hundert Fragen auf der Zunge. Mehr als ein Dutzend Dinge drängten auf ihre Erledigung, und ich saß in dieser Kneipe fest, ohne zu wissen, ob die Warterei erfolgreich sein würde.

»Kann ich bei Ihnen mal telefonieren?« fragte ich den Wirt.

Er nickte. »Im Klubzimmer hängt ein Münzautomat«, sagte er. »Sie müssen die kleine Wandtür öffnen, an der Lincolns Bild hängt.«

Ich glitt vom Hocker und betrat kurz darauf das Klubzimmer. Das verpackte Bild lag mitten auf dem Tisch. Ich fand die Wandtür ohne Schwierigkeiten. Als ich eine Münze aus der Tasche holte, öffnete sich hinter mir die Tür.

Ich wandte mich um. »Guten Abend, Miß Price«, sagte ich.

Die Entführte stellt sich wieder ein

Corinna Price trug eines dieser schlicht gearbeiteten Stadtkostüme, deren Preis sich nur an ihrem Schnitt, ihrer ausgefallenen Farbe und der Stoffqualität ablesen läßt. Für ein Mädchen, das seine Schwester vor wenigen Stunden durch einen heimtückischen Mord verloren hatte, wirkte sie erstaunlichkühl und frisch. Sie starrte mich an. »Mr. Trevellian!« hauchte sie.

Ich wies mit der Hand auf den Tisch. »Das Bild ist schon hier«, sagte ich.

»Sie auch«, stellte das Girl fest.

»Ich bin überall dort, wo etwas los ist«, sagte ich. »Mein Kompliment. Sie sehen fabelhaft aus.«

»Vielen Dank, aber ich fühle mich nicht so.«

»Kein Wunder«, sagte ich. »Die Familie Price steckt bis über beide Ohren in Schwierigkeiten. Sie wissen, was Hugh Parrish zugestoßen ist?«

»Papa hat es mir berichtet.«

»Wohnt er bei Ihnen?«

»Nein, im Hotel. Als er hörte, was Lala zugestoßen ist, kam er sofort mit dem Flugzeug von Chicago herüber. Er sucht Lalas Mörder.«

»Das hat er mir gesagt. Beteiligen Sie sich an der Jagd? Sind Sie deshalb hergekommen?«

»Ich wollte das Bild abholen«, sagte sie.

Ich nickte. »Das ist mir klar. Woher wissen Sie, daß es hier ist?«

»Ich bekam einen Anruf von einem Mann. Er nannte seinen Namen nicht. Er sagte mir, daß Lalas Bild — von dem Papa mir erzählt hatte — im Klubzimmer dieses Lokals läge und daß ich es abholen könnte.«

»Hatten Sie keine Angst, in eine Falle zu laufen?«

»Ein bißchen schon. Ich war unentschlossen, ob ich der Aufforderung, das Bild abzuholen, folgen sollte. Schließlich siegte meine Neugier. Haben Sie mich angerufen?«

Falls sie schwindelte, spielte sie ihre Rolle ausgezeichnet. »Nein«, sagte ich. »Wußten Sie übrigens, daß Lala sich vor ihrem Tod porträtieren ließ?«

»Davon hatte ich keine Ahnung«, meinte Corinna Price. »Aber das war nichts Ungewöhnliches. Sie wissen, daß Lala und ich kaum miteinander sprachen.«

»Wie viele Begleiter hat Ihr Vater aus Chicago mitgebracht?« fragte ich.

»Lieber Himmel, das interessiert mich nicht. Als Papa mich zu Hause auf suchte, war er allein.«

»Machen wir uns nichts vor. Er kann es sich nicht leisten, ohne Leibwächter spazierenzugehen. Wie kommt es, daß er in New York auf seine Gorillas verzichtet?«

»Warum fragen Sie ihn nicht selbst? Ich darf ihm damit nicht kommen. Papa sagt niemals mehr, als er verantworten kann — meistens weniger.«

»Kennen Sie Jack Gardner? Er ist der Maler, der Ihre Schwester porträtierte.«

»Nein«, antwortete Corinna Price. »Ich höre den Namen zum erstenmal. Darf ich das Bild einmal sehen?«

»Bitte«, sagte ich und beobachtete, wie Corinna Price den Bindfaden und die Decke von dem Gemälde löste.

Als sie das Bild zu Gesicht bekam, stieß sie einen halblauten Ruf aus. Ich musterte sie scharf und entdeckte Tränen in ihren Augen.

»Lala war nicht gut, aber sie war schön«, murmelte Corinna Price. »Es ist ein wunderschönes Bild — ein bißchen frivol vielleicht, aber das macht es nur echter und überzeugender. Lala lebt in diesem Bild fort…«

Ich nahm das Gemälde in die Hände und drehte es herum. Mir fiel sofort die ungewöhnliche Verzahnung des Rahmens auf. Ich prüfte seine Festigkeit und entdeckte, daß sich die obere Querleiste mühelos abheben ließ. Ihr Inneres war hohl.

»Was ist denn das?« fragte das Mädchen erstaunt.

»Ein wundervolles Versteck«, sagte ich. »Das können auch Sie erkennen.«

»Ein Versteck! Aber wofür? Der Hohlraum ist doch winzig klein«, meinte Corinna Price ratlos.

»Groß genug, um Diamanten im Wert von mehreren hunderttausend Dollar aufzunehmen«, sagte ich und fügte den Rahmen wieder zusammen. »Ihre Schwester ist leider nicht mehr dazu gekommen, die Hartford-Diamanten in diesen Hohlraum zu legen.«

»Ich kann noch immer nicht glauben, daß Lala so tief gesunken sein sollte«, murmelte Corinna Price, aber die Worte klangen nicht sehr überzeugend.

»Sie können das Bild mitnehmen«, sagte ich. »Es gehört Ihnen. Ihre Schwester hat es bezahlt.«

»Soll das heißen, daß ich gehen darf?« Ich nickte.

Corinna Price wickelte mit nervösen Bewegungen das Bild in die Decke. Sie wartete auf weitere Fragen von mir, aber sie blieben aus. Ich spürte, wie sehr das ihre Unruhe vertiefte. Als sie ging, hielt ich ihr die Tür auf. Ich wartete, bis sie in dem Lokal verschwunden war, dann wählte ich die Nummer meiner Dienststelle. Sekunden später hatte ich Milo an der Strippe.

»Wo steckst du denn bloß?« lautete seine erste Frage. »Wir waren deinetwegen in Sorge.«

»Das ist ein erhebendes Gefühl für mich. Ich habe mich in einer Kneipe amüsiert.«

»Machst du Witze?«

»Ich sitze gern am Tresen. Man trifft dabei immer wieder hochinteressante Leute.«

»Mir passiert das nie«, meinte Milo. »Mir schon. Heute war es Corinna Price. Ich komme gleich auf das Thema zurück, aber erst muß ich wissen, was mit Hugh Parrish los ist. Was haben die Ermittlungen der Mordkommission ergeben?«

»Die tippen auf Selbstmord, aber sie sind sich ihrer Sache nicht völlig sicher«, meinte Milo. »Schließlich brauchte er kein Versteck, um sich aufzuknüpfen. Was wollte Corinna Price in der Kneipe? Hast du sie hinbestellt?«

»Wir sprechen noch immer von Parrish. Hast du Norwich’ Leuten sein Foto gezeigt?«

»Die Vorzimmerdame ist sicher, daß er nicht der Schütze war«, sagte Milo. »Der Trenchcoat und das schüttere Haar stimmen zwar, aber sonst gibt es keine Ähnlichkeit mit dem Mann, der auf Norwich schoß.«

»Hugh Parrish hatte demnach die Aufgabe, Schmiere zu stehen«, sagte ich nachdenklich.

»Schon möglich. Was war mit Corinna?«

»Sie kam her, um das Gemälde ihrer Schwester abzuholen«, erwiderte ich und berichtete Milo, was es dazu zu sagen gab. »Mir wird allmählich klar, was sich dahinter verbirgt«, schloß ich.

»Na los, spule dein Garn ab«, meinte Milo.

»Kann ich nicht — es ist jemand an der Tür«, murmelte ich leise.

Milo verstand mich nicht. »Was sagst du?« fragte er.

»Was ist mit Hobson?« fragte ich laut dagegen.

»Er ist noch nicht vernehmungsfähig, aber Lester Norwich hat sich nach der sofort vorgenommenen Operation erstaunlich rasch erholt. Eine richtige Pferdenatur. Er ist bei vollem Bewußtsein und konnte bereits eine Beschreibung des Schützen liefern. Sie deckt sich mit der der Vorzimmerdame. Auch ihm wurde Hugh Parrish’ Foto vorgelegt. Lester Norwich bestätigte die Angaben seiner Angestellten und sagte, daß Hugh Parrish als Täter ausscheide.«

Ich legte auf, ohne ein Wort zu erwidern, und schlich mich zur Tür. Ich riß sie auf.

Der Mann, der dicht vor der Schwelle stand, prallte zurück.

»Ich — ich wollte auch mal telefonieren«, murmelte er. Ich erinnerte mich, daß er schon vor meinem Eintreffen am Tresen des Lokals gesessen hatte.

Er produzierte eine hübsche Fahne und sah ziemlich betreten aus. Ich ging schweigend an ihm vorbei und betrat das Lokal. Mein Hocker war inzwischen besetzt worden.

Auf ihm saß Liz Gaylord, das Modell aus Jack Gardners Atelier.

Sie starrte mich an, ich starrte sie an.

»Ihr Whisky, Miß«, sagte der Wirt und stellte ein Glas vor sie hin.

Ich ging auf das Girl zu und blieb neben dem Hocker stehen. »Wissen Sie, daß die Polizei hinter Ihnen her ist?«

Sie schluckte. »Ich habe nichts verbrochen…«

»Ich glaubte, Sie seien von Parrish entführt worden. Wie, um alles in der Welt, kommen Sie hierher?«

»Ich bin hergeschickt worden.«

»Von wem?«

»Ich kenne den Mann nicht«, sagte sie und nahm einen Schluck aus dem Glas. Ich parkte meinen Ellenbogen auf dem Tresen und ließ sie nicht aus den Augen. Das Mädchen war sehr hübsch, aber es machte nicht den Eindruck, als hielte ihre Intelligenz mit den Vorzügen ihrer Figur und ihres Gesichtes Schritt.

»Sie sind doch mit Parrish weggefahren, nicht wahr?«

»Er hat mich dazu gezwungen.«

»Was wollte er von Ihnen?«

»Mich als Geisel benutzen, nehme ich an. Er fuhr mit mir auf ein Trümmergrundstück und zwang mich dazu, in den Kofferraum seines Wagens zu steigen. Ich hatte schreckliche Angst und glaubte darin ersticken zu müssen, als er stoppte und ausstieg, ohne mich herauszulassen.« Sie nahm einen weiteren Schluck aus dem Glas. Ich merkte, daß die Gäste und der Wirt des Lokals uns anstarrten, kümmerte mich, aber nicht darum.

»Wann, wo und von wem wurden Sie aus Ihrem Gefängnis befreit?« wollte ich wissen.

»Ich blieb ungefähr zwei Stunden darin, dann öffnete endlich jemand die verdammte Klappe…«

»Hatten Sie nicht versucht, sich vorher durch Rufen und Klopfzeichen bemerkbar zu machen?« unterbrach ich sie.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich hatte Angst. Ich fürchtete, er hielte sich in der Nähe auf und würde mich hören. Parrish, meine ich.«

»Haben Sie ihn vorher schon mal bei Gardner gesehen?«

»Nein.«

»Okay, irgend jemand öffnete die Klappe und ließ Sie heraus. Wer war es?«

»Der Kerl nannte nicht seinen Namen. Es war ein Mann in Ihrem Alter. Er befahl mir, in ein Taxi zu steigen und hierherzufahren«, sagte sie.

»Er forderte Sie dazu auf, dieses Lokal zu betreten?«

»So war es, Sir.«

»Und das haben Sie getan, ohne vorher die Polizei zu benachrichtigen?«

»Ich — ich hatte Angst«, meinte das Mädchen. »Ich habe noch immer Angst.«

»Wie sah der Mann aus, der Ihnen den Auftrag erteilte, diese Kneipe aufzusuchen?«

»Groß, hager und dunkel«, sagte das Mädchen.

»Würden Sie ihn auf einem Foto wiedererkennen?«

»Ich — ich weiß es nicht«, murmelte sie und vermied es dabei, mich anzusehen.

Es war klar, daß sie sich fürchtete und sich nur deshalb vor einer Identifizierung des Mannes zu drücken versuchte.

»Noch ein Bier, Mister?« fragte mich der Wirt.

Ich schüttelte den Kopf und machte kehrt, um nochmals telefonieren zu können.

Im Striptease-Schuppen hämmern die Maschinenpistolen

Die vier Männer schwiegen. Sie begannen unter der lastenden Stille zu leiden, aber keiner unternahm einen Versuch, das Schweigen zu brechen. Sie blickten durch die Wagenfenster nach draußen, ohne viel von dem zu sehen, was ihre Augen erfaßten.

Der Chevrolet rollte die 3. Avenue hinauf. Harry Fisher steuerte. Er war der jüngste des Quartetts und ziemlich dandyhaft gekleidet. Von Zeit zu Zeit faßte er verstohlen nach dem aufgeklebten Bärtchen, um sich zu vergewissern, daß es nicht verrutscht war.

Harry Fisher steckte sich eine Zigarette an, als sie bei Rotlicht an einer Kreuzung stoppen mußten. Er schaute hinaus. Ein Mädchen fing seinen Blick auf und lächelte ihm ins Gesicht. Das Lächeln des Mädchens zerbrach, als Fisher es nicht erwiderte. Er hatte es nicht einmal bemerkt.

Der Wagen zog erneut an. Tom Woodrow, der neben Fisher saß, sagte plötzlich: »Es stinkt.«

»He?« fragte Fisher.

»Es stinkt«, wiederholte Woodrow. Er war ein ziemlich beleibter Mittdreißiger mit einem speckig glänzenden Doppelkinn. »Das Öl, meine ich.«

Einer der Männer im Fond kicherte. Er hieß Tony Garrit und wurde wegen seiner hohen, brüchig wirkenden Stimme allgemein nur Fistel-Tony genannt. »Wenn ein Polyp seine Nase in unseren Schlitten stecken sollte, rührt den glatt der Schlag. Vier frisch geölte Pusten verbreiten einen penetranten Gestank!« Die Männer stimmten nicht in Garrits Lachen ein. Sie fanden seine Bemerkung keineswegs lustig. Im Gegenteil. Harry Fisher hatte Fistel-Tony sogar in Verdacht, daß er sich und den anderen mit diesen Worten nur zu beweisen versuchte, wie gelassen er der Aufgabe entgegensah. Im Grunde war es der Versuch, sich selber den Mut zu machen, den er nicht hatte.

Der Wagen bog in die östliche 57. Straße ein und verlangsamte seine Geschwindigkeit.

»Da vorn steht Ray«, sagte der zweite Mann im Fond. »Ray Alvino.« Der Sprecher hieß Earl Wilson und wirkte wie ein pensionierter Buchhalter. Er war der älteste des seltsamen Quartetts.

Harry Fisher stoppte in einer Halteverbotszone, da sämtliche Parkplätze besetzt waren.

Ray Alvino beugte sich zu Woodrow hinab. »Er ist vor zehn Minuten gekommen«, sagte er im Verschwörerton.

Woodrow nickte gelassen, als habe er keine andere Auskunft erwartet. »Allein?«

»Nein, mit zwei Gorillas und einer Puppe.«

»Wer ist die Puppe?«

»Keine Ahnung«, meinte Alvino. »Ihr müßt jetzt weiterfahren. Es fällt sonst auf.«

Harry Fisher lenkte den Wagen in die Tiefgarage eines Bürohochhauses. Die Männer stiegen aus. Sie trugen konservative Anzüge von dunkelblauer Farbe, nur Harry Fisher war mit einem stark taillierten Nadelstreifen-Zweireiher bekleidet. Die Männer schauten sich in der Garage um. Um diese Zeit war sie nur knapp zur Hälfte belegt. Die Glasbox des Garagenwärters war leer. Er versah hier nur während der Office-Stunden seinen Dienst, Harry Fisher öffnete die Klappe des Kofferraums. Er nahm einen schwarzen mittelgroßen Koffer heraus. »Artistengepäck« stand auf dem Deckel.

Harry Fisher knallte die Klappe zu, hob den Koffer auf und ging mit den Männern zum Ausgang. Sie bewegten sich in derselben Aufteilung, wie sie im Wagen gesessen hatten. Tony Garrit und Earl Wilson bildeten die Nachhut.

Die Männer schwiegen erneut. Es gab nichts mehr zu sagen. Jetzt kam es darauf an, den Plan minuziös einzuhalten. Am Ausgang blieben Garrit und Wilson stehen. Fisher und Woodrow tauchten mit dem Koffer im Strom der Passanten unter.

»Jetzt«, sagte Wilson, nachdem die beiden Männer einen Vorsprung von etwa fünfzig Schritten gewonnen hatten. Er schlug mit Tony Garrit dieselbe Richtung wie Fisher und Woodrow ein.

Im Hause Nummer 287 befand sich das Gentleman’s Prisma, ein kürzlich eröffnetes Striptease-Lokal, von dem in New York viel gesprochen wurde. Der Nachtklub bemühte sich mit überhöhten Preisen und überdurchschnittlich gut aussehenden Girls darum, in einer zweifelhaften Branche eine unzweifelhafte Spitzenstellung zu erreichen.

Der Name des Lokals war insofern zutreffend, als es zu vier Fünfteln von Männern besucht wurde. Fisher und Woodrow passierten den Eingang und stoppten vor einer schmalen Eisentür, die keinerlei Aufschrift trug. Diese Tür war unverschlossen. Woodrow öffnete sie. Hinter der Tür war ein kleiner, schmaler Flur, der an einer zweiten Tür endete. »Bühneneingang« stand auf dieser Tür, »Zutritt für Unbefugte verboten«.

Neben der Tür lehnte ein hochaufgeschossener junger Mann. Er hatte eine Hand in seiner Jackentasche stecken und blickte hoch, als Fisher und Woo4-row auf ihn zukamen. Zwischen seinen Lippen klemmte eine erkaltete Zigarette. Er spuckte die Zigarette aus und fragte: »Wohin des Weges, Männer?«

»Was geht Sie das an?« fragte Fisher. »Eine ganze Menge, Kleiner«, sagte der Mann. »Ich werde dafür bezahlt, daß niemand die Girls in ihren Garderoben belästigt.«

»Das ist neu«, meinte Fisher. »Gestern stand niemand an dieser Tür.«

»Gestern war gestern, und heute ist heute, Kleiner«, sagte der Mann grinsend. Er hatte dunkle, eng beieinanderstehende Augen und eine auffällig große Nase. Die schmalen Lippen waren nahezu farblos.

Fisher hob seinen Koffer hoch. »Der Inhalt ist für Tilly bestimmt«, sagte er. »Ihr neues Kostüm. Es ist in letzter Minute fertig geworden. Sie braucht es für ihren Auftritt.«

»Okay, ich bringe es ihr.«

»Das ist nicht zu machen, Bohnenstange«, meinte Fisher kopfschüttelnd. »Blas dich nicht auf, öffne uns die Tür, sonst gibt’s kein Trinkgeld.«

Tom Woodrow stand dem Mann an der Tür genau gegenüber. Woodrows Hand schnellte hoch, fast ansatzlos. Mit der Handkante traf er den Hals des Mannes. Der sackte zusammen und riß in einer Reflexbewegung seine Rechte aus der Jackentasche. In seinen Fingern hielt er eine Pistole. Er kam nicht mehr dazu, die Waffe in Anschlag zu bringen. Woodrow schlug erneut zu. Der Mann mit der Pistole ging zu Boden.

»Mann, das hast du großartig gemacht«, staunte Fisher. »Sieh mal, der Kerl hatte eine Kanone in der Tasche!«

Woodrow bückte sich und nahm dem Mann die Waffe ab. Dann holte er ihm die Brieftasche aus dem Jackett. Er öffnete sie, warf einen Blick hinein und stieß einen halblauten Pfiff aus, als er den Führerschein in die Hand bekam. »Die Type heißt Henry Darenger und stammt aus Chicago«, sagte er.

Harry Fishers Augen wurden hart und schmal. »Chicago?« fragte er irritiert.

Tom Woodrow ließ die Brieftasche und die Pistole in seinem Jackett verschwinden. »Einer von Ken Price’ Gorillas«, murmelte er. »Ken denkt an alles, das muß ihm der Neid lassen.«

»An zuviel, wenn du mich fragst«, knurrte Harry Fisher übellaunig. »Wenn Price diesen Darenger hier postiert hat, kann das nur bedeuten, daß er sich gegen einen Angriff von der Bühnenseite her absichern wollte.«

»Na und?«

»Damit wird er sich nicht zufriedengegeben haben. Ich wette, er hat einige seiner Leute im Lokal verteilt. Vielleicht warten die nur auf uns!«

»Sie werden gleich erleben, daß das Warten sich für sie gelohnt hat«, preßte Tom Woodrow höhnisch durch seine Zähne. »Hast du Angst?«

»Quatsch, aber es wäre Wahnsinn, sich einer Übermacht zu stellen.«

»Also doch Angst!«

»Verdammt noch mal, was ist, wenn Ken Price nur auf uns wartet? Hast du etwa Lust, in eine Falle zu laufen?« fragte Fisher erregt.

»Du machst dir gleich in die Hosen«, höhnte Tom Woodrow.

Henry Darenger wälzte sich stöhnend herum und unternahm einen Versuch, auf seine Beine zu kommen. Tom Woodrow holte die Pistole aus seinem Jackett. Er holte aus und setzte den Waffenschaft hart und gezieit auf Darengers Schläfe. Er schlug nochmals zu, auf dieselbe Stelle. Henry Darenger sackte in sich zusammen und verlor das Bewußtsein.

»Warum hast du das getan?« fragte Harry Fisher verdutzt. »Wir hätten ihn in die Mangel nehmen können.«

»Wofür denn? Um uns von ihm einen Haufen Märchen auftischen zu lassen? Das können wir uns nicht leisten«, meinte Tom Woodrow. Er bückte sich nach den Füßen des Bewußtlosen und packte sie mit beiden Händen an. »Mach die Tür auf, los.«

Harry Fisher befolgte die Aufforderung. Tom Woodrow zerrte Darenger über die Schwelle in einen von zwei nackten Glühbirnen beleuchteten Korridor, von dem einige rohe Holztüren abzweigten. Das Mauerwerk war unverputzt; unterhalb der Decke zogen sich ein paar mit Isoliermasse umwickelte Rohre entlang.

»Wohin mit ihm?« fragte Fisher ratlos und schloß die Tür hinter sich.

»Irgendwohin«, keuchte Woodrow. »Wir müssen weg vom Flur.«

Fisher öffnete die erste Tür zu seiner Linken. Er knipste das Licht an. »Hier geht’s«, sagte er. »Sieht aus wie die Requisitenkammer.«

»Klasse«, meinte Woodrow und schleifte den bewußtlosen Darenger in den mit Kulissen und allerlei Gerümpel vollgestellten Raum. »Hier finden wir, was wir brauchen.«

Sie entdeckten ein paar alte Stricke und begannen Darenger zu fesseln und zu knebeln. Als der Mann aus Chicago zu sich kam, konnte er sich nicht rühren. »Wir bestellen deinem Boß ein paar heiße Grüße«, höhnte Woodrow und verließ mit Fisher den Raum, nachdem er das Licht ausgeknipst hatte.

Der Korridor endete an einem dicken Filzvorhang. Als sie darauf zugingen, begann auf der anderen Seite des Vorhangs die Musik zu spielen, Musik, die offenbar von der Platte kam und über eine Stereoanlage gesendet wurde.

Harry Fisher stellte den Koffer heben dem Vorhang auf den Boden. Woodrow teilte den Vorhang gerade weit genug, um mit einem Auge hindurchspähen zu können. Vor ihm befand sich ein hölzernes Podium. Auf ihm bewegte sich im Spotlight von drei Scheinwerfern ein junges rothaariges Mädchen.

Das Mädchen war mit einem Leopardenfell und schwarzen Schaftstiefeln bekleidet. In der Hand hielt es die Peitsche eines Dompteurs. Das Mädchen begleitete den Rhythmus der Musik mit regelmäßigem Peitschenknallen.

»Alles okay?« flüsterte Fisher heiser und setzte sich eine Brille auf.

Woodrow ließ den Vorhang los. Er holte ein schwarzes Tuch aus seiner Hose und band es vor sein Gesicht. »Ich kann nichts erkennen«, sagte er. »Die verdammten Scheinwerfer blenden mich zu stark. Aber das ist die richtige Nummer. Wir müssen warten, bis der Trommelwirbel einsetzt.«

Hinter ihnen öffnete sich eine Tür. Ein Mädchen betrat den Korridor und stutzte erschreckt, als sie die beiden Männer sah, von denen einer maskiert war. Das Mädchen trug einen knöchellangen, mit Pelz besetzten Schiwagomantel aus grünem Samt.

Tom Woodrow war mit drei Schritten bei ihr. Er preßte ihr die Hand auf den Mund und drängte sie in die Garderobe zurück. Er schaute sich um und stellte zufrieden fest, daß die Garderobe kein Telefon hatte. »Bleib hier drin«, befahl er dem Mädchen mit scharfer Stimme. »Es ist besser für dich und deine Gesundheit. Ist das klar?«

Das Mädchen schluckte und nickte heftig. Tom Woodrow zog den auf der Innenseite steckenden Schlüssel ab und verschloß die Tür dann von außen. Als er Harry Fisher erreichte, bückte der sich nach dem Koffer. Er öffnete ihn und entnahm dem Koffer zwei Maschinenpistolen.

»Good bye, Ken Price«, höhnte Woodrow, als er die Waffe entgegennahm und sich mit einem, kurzen Griff davon überzeugte, daß das Magazin richtig eingesetzt war.

Draußen wurde die rhythmische Musik von einem langsam einsetzenden Trommelwirbel abgelöst. Tom Woodrow peilte durch den Vorhang. Das tanzende Mädchen war nur noch mit seinen langen Schaftstiefeln bekleidet. Die Peitsche diente ihm jetzt als Tanzrequisit.

Plötzlich fielen die Schüsse.

Sie waren nur wenig lauter als der anschwellende Trommelwirbel. Die Kugeln trafen die Bühnenscheinwerfer. Schrille Schreie, das harte Schnarren zurückgestoßener Stühle, zerbrechende Gläser und fluchende Männerstimmen erzeugten ein wüstes Lärmkonzert. Der Trommelwirbel in den Lautsprechern brach ab. Das Girl blieb zitternd und fassungslos mitten auf der dunklen Bühne stehen.

Die Schüsse kamen vom Eingang her. Dort standen Earl Wilson und Tony Garrit im Schutz von zwei samtbezogenen Betonsäulen und feuerten gezielt auf die Deckenlampen. Ein Funkenregen bildete den nicht unerwarteten Auftakt zu einem Kurzschluß. In dem Lokal gingen die Lichter aus.

An Ken Price’ Tisch gab es relativ wenig Aufregung. Der Syndikatsboß stieß das neben ihm sitzende Mädchen vom Stuhl. »Hinlegen, nicht rühren!« befahl er ihm.

Er selbst blieb sitzen. Seine beiden Begleiter hatten sich erhoben und ihre Revolver gezogen. Sie standen mit dem Rücken zur Wand und lauerten auf ihre Konterchance. Obwohl ihnen das Aufblitzen der Waffenmündungen verriet, wo die Schützen standen, verzichteten sie darauf, das Feuer zu erwidern.

Einer der Männer säh Licht durch den Bühnenvorhang schimmern. »Es wird am besten sein, wir verdrücken uns durch den Bühnenausgang«, sagte er laut, um gegen den allgemeinen Lärm aufzukommen.

»Gehen wir«, entschied Ken Price und erhob sich. »Du machst den Anfang,. Bob.«

Bob Hunter, einer von Price’ Leibwächtern, huschte auf den Lichtspalt zu. Er fluchte laut, als er über ein Lichtkabel stolperte. Ken Price und der zweite Gorilla folgten Hunter. Sie hatten dicht an der Bühne gesessen und benötigten nur wenige Schritte, um den Vorhang zu erreichen.

Bob Hunter riß den Vorhang zurück. Er wollte einen Warnruf ausstoßen, als er die beiden Männer mit den Maschinenpistolen gah, aber das plötzlich losbrechende Hämmern der automatischen Waffe ließ ihm nur noch Raum für einen letzten Muskelreflex. Bob Hunter brach mit weit aufgerissenem Mund zusammen.

»Idiot!« keuchte Tom Woodrow, als er sah, daß der nervöse Harry Fisher zu früh gefeuert hatte.

Zwei Gestalten jumpten von der Bühne herab ins Dunkel. Das Inferno der Schreie steigerte sich zu einem hysterischen Tumult. Noch ehe Woodrow oder Fisher einen weiteren Feuerstoß abgeben konnten, blitzte es nur wenige Yard vor ihnen auf.

Fisher zuckte zusammen. Er ließ seine Maschinenpistole fallen. Die hart aufschlagende. Waffe löste die Mechanik aus. Ein kurzer Feuerstoß schickte eine Geschoßgarbe in die Ziegelwand des Bühnenkorridors.

»Mich hat’s erwischt«, keuchte Fisher und preßte seine linke Hand auf den rechten Oberarm.

Woodrow zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Dann hielt er seine MP auf die beiden nackten Glühbirnen und brachte sie mit einem Feuerstoß zum Verlöschen. Jetzt war es auch im Bühnenkorridor stockdunkel.

Der zweite Leibwächter, der vor dem Podium kniete, schoß zum zweitenmal. Er feuerte blindlings in den Korridor, ohne sich um die schrillen Angst- und Schreckensschreie zu kümmern, die das Lokal erfüllten.

Inzwischen war regelrecht Panik ausgebrochen. Die Gäste, die in der Nähe der Bühne gesessen hatten, drängten zum Ausgang, während sich die weiter hinten befindlichen Leute verzweifelt dagegen wehrten, in Richtung der Schützen gestoßen zu werden.

Woodrow hob Fishers Maschinenpistole auf. Fisher torkelte durch den Korridor zum Ausgang. Der fluchende Woodrow folgte ihm. Hinter ihnen krachte es erneut. Die Kugel ging dicht an Woodrow vorbei.

»Der Koffer!« stieß Woodrow hervor, als sie die erste Tür erreicht hatten.

»Ich kann nicht mehr«, japste Fisher.

»Versager!« preßte Woodrow durch die Zähne. »Mach nicht soviel Aufhebens wegen des Kratzers.«

Fisher lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Er fühlte, wie das klebrige Blut durch seine Finger rann. Er hatte keine Schmerzen, aber ihm war so übel, daß er befürchtete, sich erbrechen zu müssen.

Woodrow rannte durch die Dunkelheit des Korridors zurück. Er prallte mit dem Leopardenmädchen zusammen, das einen schrillen Schrei ausstieß, schleuderte das Girl zur Seite, berührte mit einem Fuß den am Boden liegenden Bob Hunter, fand endlich den leeren Koffer und jagte damit zurück.

Woodrow gelangte mit Fisher in den kleinen Vorraum, der zwischen den Garderoben und dem Straßenzugang lag. Mit fliegenden Fingern packte Woodrow die Waffen in den Koffer. Dann richtete er sich auf und schaute den leichenblassen Fisher an. Er sah die blutüberströmte Hand, die sich über die Einschuß wunde spannte, und sagte: »Du gehst dicht hinter mir. Niemand darf das Blut sehen, hörst du?«

Er wartete Fishers Antwort nicht ab und stieß die Tür zur Straße auf. Fisher stolperte hinter Woodrow her. Ihm war es zumute, als müßte er schon beim nächsten Schritt zusammenbrechen.

Tom Woodrow schaute sich nicht um. Aus dem Lokaleingang sprangen ein paar Männer. Sie schauten sich keuchend um, als könnten sie nicht begreifen, daß hier auf der Straße das Leben völlig normal verlief, daß die Lichtreklamen brannten und Dutzende von desinteressierten Fußgängern einem unbekannten Ziel zustrebten.

Falls die Schüsse auf der Straße gehört worden waren, hatte man sie offenbar als akustischen Effekt für das Bühnenprogramm gewertet. Niemand war auf den Gedanken gekommen, sie mit einem Feuerüberfall in Verbindung zu bringen.

Tom Woodrow schenkte den aufgeregten, auf die Straße drängenden Gästen keinen Blick. Er ging ziemlich schnell die Straße hinab, wenn auch nicht so rasch, daß es wie eine Flucht aussah.

»Langsam, Tqrn«, würgte Fisher hervor. »Ich — ich bin am Ende.«

Tom Woodrow blickte über seine Schulter. »So schnell krepiert man nicht, mein Junge«, sagte er. Seine Worte waren voll Haß und Zorn, aber er verlangsamte das Tempo.

Als Woodrow und Fisher die Kellergarage erreichten, saßen Garrit und Wilson bereits im Fond des Wagens. Wilson stieg sofort aus, als er sah, daß Fisher verletzt war. »Schlimm?« fragte er.

Fisher brach in die Knie. Seine Kräfte verließen ihn.

»Dieser verdammte Stümper!« fluchte Woodrow. »Er hat zu früh geschossen.«

»Soll das heißen, daß ihr Price nicht erwischt habt?« fragte Wilson stirnrunzelnd.

»Ich weiß es nicht. Nur einen seiner Gorillas, glaube ich«, sagte Woodrow. »Wir müssen weg von hier, los!« Er legte den Koffer mit den Maschinenpistolen in den Wagen und setzte sich hinter das Lenkrad. Wilson hob Fisher auf und verfrachtete ihn mit Garrits Hilfe im Wagenfond.

Harry Fisher erholte sich ein wenig, als er die weichen, stützenden Polster unter sich fühlte. »Tom spinnt«, keuchte er. »Ich mußte schießen, um Price’ Gorilla zuvorzukommen. Er hatte eine Puste in der Hand.«

»Es lief alles genau nach Plan«, konterte Tom Woodrow wütend. »Eure Schüsse am Eingang jagten Ken Price und seine Leute prompt in die offene Falle — und dann legt dieser Anfänger um eine volle Sekunde zu früh los!«

»Verdammt noch mal, du standest hinter mir«, würgte Harry Fisher hervor. »Du hast nicht gesehen, wie der Kerl…« Er führte den Satz nicht zu Ende und rutschte plötzlich bewußtlos in sich zusammen.

»Er muß zu einem Arzt, Tom«, sagte Wilson.

»Von mir aus kann er abschrammen«, meinte Tom Woodrow wütend und lenkte den Wagen auf die Ausfahrt zu.

»Nun mach mal das Ventil dicht«, meinte Garrit. »Du warst schließlich dabei, als die Sache schiefging. Warum hast du dich nicht vor Harry aufgebaut? Mir brauchst du diese Frage nicht zu beantworten, aber ich wette, daß sie den Boß interessieren wird.«

Woodrow schwieg. Als er den Wagen auf der Straße in den Verkehrsstroin einordnete, ertönte hinter ihnen das rasch anschwellende Heulen von Polizeisirenen. Ein Patrolcar und zwei Ambulanzwagen jagten an ihnen vorüber. Sie stoppten vor dem Eingang zum Gentleman’s Prisma, an dem sich eine größere Menschenmenge angesammelt hatte.

»Einen haben wir jedenfalls erwischt«, sagte Tom Woodrow mit einem Anflug von Zufriedenheit.

»Aber nicht Price«, meinte Wilson düster. »Das werden wir noch zu spüren bekommen.«

Zum Striptease eine blutige Show

Ich verließ das Office am nächsten Morgen um zehn Uhr zwanzig. Ich wußte, was im Gentleman’s Prisma geschehen war. Der Tod von Bob Hunter bildete ein wichtiges Glied in der Kette meiner Beweisführung. Ich kletterte in meinen Jaguar und machte mich auf den Weg zum Waldorf-Astoria.

Milo fuhr gleichzeitig mit einem Sonderauftrag zu Lester Norwich, der im Lenox Hill Hospital lag.

Ken Price empfing mich im großen Salon seiner Vierzimmersuite. Er trug einen blau-rot gestreiften Morgenmantel aus schwerer Seide und war gerade beim Frühstück. Während er lautstark seinen Orangensaft schlürfte, studierte er die Börsennachrichten der Morgenzeitung.

Er war nicht allein im Zimmer. Neben der Tür saß ein blasser Mann in grauem Flanellanzug. Der Mann beschäftigte sich intensiv mit seinen Fingernägeln und vermied es, mich anzusehen.

»Ruf den Etagenkellner, Henry«, sagte Price. »Er soll noch ein Gedeck für Mr. Trevellian auflegen.«

»Danke, nicht nötig«, winkte ich ab. »Ich habe schon gefrühstückt.«

»Setzen Sie sich«, sagte Price und wies auf einen,Stuhl an seinem gedeckten Tisch. »Es stört Sie doch nicht, wenn Henry unserer Unterhaltung folgt?«-Ich wandte mich dem Mann an der Tür zu. »Sie sind Henry Darenger?« Price nahm dem Mann an der Tür die Antwort ab. »Jawohl, das ist er«, sagte der Syndikatsboß. »Der gute Henry wurde von der Polizei in der Requisitenkammer dieses Bumslokals entdeckt, geknebelt und gefesselt. Er kann Ihnen erzählen, wie alles gekommen ist.«

Ich setzte mich. »Das können Sie genausogut, nicht wahr?« fragte ich ihn.

Ken Price legte die Zeitung beiseite. »Ich kann Ihnen nicht viel mehr sagen, als Sie bereits wissen«, meinte er. »Ich wollte mir' gestern abend eine nette Show ansehen und besuchte auf Empfehlung des Liftboys das Gentleman’s Prisma. Liftboys sind gut orientierte Burschen. Man kann sich auf ihre Tips verlassen.« Er lachte kurz auf. »Der Boy versprach mir einen aufregenden Abend. Ich muß zugeben, daß er Wort gehalten hat.«

»Wann erhielten Sie den Tip, und mit wem sprachen Sie darüber?« wollte ich wissen.

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, meinte Price, »aber ich glaube nicht, daß Sie auf der richtigen Fährte sind. Ich sprach mit dem Boy eine Stunde vor unserem Aufbruch. Wie Sie wissen, wurde ich von Bob Hunter und Ted Craig begleitet. Außerdem kam noch Cynthia Hershey mit, eine Bekannte von Ted. Ich vermute, daß uns jemand folgte, als ich mit meiner Begleitung dieses Lokal betrat. Dieser Jemand sorgte dann binnen einer Stunde für die Inszenierung des kleinen Zwischenfalls.«

»Der kleine Zwischenfall forderte immerhin einen Toten und neun Schwerverletzte«, stellte ich fest. »Hinter wem sind Sie her, Price?«

Price riß die Augen auf. »Sie machen mir Spaß. Da kommt jemand auf den Gedanken, mich zur Zielscheibe zu machen, und Sie wollen wissen, hinter wem ich her bin? Fragen Sie lieber, wer hinter mir her ist!«

»Ein Mann, der sich vor Ihnen fürchtet und der es darauf anlegt, Ihrer Rache zuvorzukommen«, mutmaßte ich.

»Das sind die üblichen Bullenhypothesen«, schnarrte Price verächtlich. »Alles Quatsch!«

»Sie werden zugeben, daß das Geschehen im Zusammenhang mit dem Tod Ihrer Tochter Lala betrachtet werden muß.«

Er starrte mich an. »Warum sollte ich das zugeben? Ich habe keine Ahnung, wer Bob Hunter erschossen hat, obwohl mir klar ist, daß die Kugeln für mich bestimmt waren. Ich habe es oft genug erlebt, daß meine Gegner mich auf diese Weise aus dem Weg räumen wollten. Vielleicht glaubten sie, daß das hier in New York leichter als in Chicago zu schaffen sei. Fragen Sie mich aber bitte nicht, wer dahintersteckt. Ich weiß es nicht. Ehrlich nicht! Henry Darenger kann zwei der Gangster beschreiben. Er hat das, wie Sie wissen, Ihren Kollegen von der Polizei gegenüber auch getan. Wir kennen die Leute nicht. Es sind gekaufte Killer. Sie interessieren mich nur wenig. Ich muß und werde herausfinden, wer sie bezahlte und mir auf den Hals hetzte.«

»Was werden Sie tun, wenn Sie es schaffen, den Namen dieses Mannes zu erfahren?«

Ken Price lächelte sphinxhaft. »Ich gehe zur Polizei und erstatte Anzeige«, sagte er.

»Sie sind heute morgen zum Scherzen aufgelegt«, stellte ich fest.

»Dazu habe ich guten Grund. Schließlich bin ich noch einmal davongekommen.«

»Sie wissen genau, wer hinter dem Anschlag steckt«, sagte ich ruhig.

Ken Price sah überrascht aus. »Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

»Es war gestern der zweite Anschlag innerhalb weniger Stunden — stimmt es?« fragte ich ihn.

Er schwieg ein paar Sekunden. Es war nicht zu erkennen, was hinter der ausdruckslosen Fassade seines Gesichtes vor sich ging. »Es stimmt«, gab er dann überraschend zu. »Gestern wurde schon in den frühen Abendstunden auf mich geschossen.«

»Wann und wo? Ich muß es genau wissen.«

Er schüttelte den Kopf. »Vergessen Sie es.«

»Sie machen einen Fehler, wenn Sie glauben, die Abrechnung mit Ihren Gegnern allein erledigen zu können«, sagte ich. »Eigentlich hätten Sie das spätestens nach Bob Hunters Tod begriffen haben imüssen. Ihr Gegner gibt nicht auf.«

»Was schlagen Sie denn vor? Daß ich Sie um Ihre Unterstützung bitte?« raunzte er. »Das finde ich gar nicht komisch.«

»Ich will Ihnen sagen, wann gestern zum erstenmal auf Sie geschossen wurde, Price. Es geschah zu dem Zeitpunkt, als Ihre Tochter Corinna im Place of all Places auftauchte, um dort Lalas Porträt aus dem Klubzimmer abzuholen.«

»Schon möglich«, meinte Ken Price mit schleppender Stimme. »Aber was sagt das schon?«

»Eine ganze Menge«, erwiderte ich. »Spitzen Sie die Lauscher, Price. Corinna wurde in die Kneipe geschickt, um für die Tatzeit ein Alibi zu haben.«

»Das wirft mich um«, spottete er. »Wollen Sie Corinna eine gegen mich gerichtete Komplicenschaft andichten? Wollen Sie behaupten, daß meine Tochter zusammen mit ein paar Gangstern Jagd auf meinen Skalp macht?«

»Wer beerbt Sie nach Ihrem Tod?«

»Corinna.«

»Na,' bitte«, sagte ich. »Sie hatte ein Tatmotiv. Es ist klar, daß sie den eigenen Vater nicht eigenhändig umzubringen wünschte. Sie überließ es anderen.«

»Sie sind verrückt, Trevellian. Ich war ihr sicherlich kein guter Vater. Ich hatte immer zuwenig Zeit für meine Töchter. Aber ich habe sie auf meine Weise geliebt. Ich liebe Corinna noch immer. Sie weiß das. Sie würde sich nie da£u hergeben, mich in die Pfanne zu hauen.«

»Ich hoffe, Sie behalten recht«, sagte ich. »Aber könnte es nicht sein, daß Corinna einem Mann hörig ist, der ihr Erbteil kassieren möchte?«

»Sie übersehen, daß ich noch lebe und keineswegs die Absicht habe, ins Gras zu beißen. Sprechen Sie mal mit meinem Arzt. Er wird Ihnen bestätigen, daß ich eine richtige Pferdenatur habe«, sagte Price.

»Das mag stimmen, aber es ist auch richtig, daß innerhalb von vierundzwanzig Stunden zweimal versucht wurde, eine Öffnung Ihres Testaments vorzubereiten.«

»Sie behaupten, daß Corinna hinter den Anschlägen steht«, sagte er. »Das klingt phantastisch.«

»Das ganze bisherige Geschehen ist phantastisch«, stellte ich fest. »Es begann damit, daß Lala mich erschießen wollte, weil sie in mir den Mörder eines gewissen Les sah, aber Lester Norwich lebt. Es ging damit weiter, daß ich in Lalas Schlafzimmer nicht nur die geraubten Hartford-Diamanten entdeckte, sondern auch den Mann, der sie hatte stehlen wollen und der dabei von Stan Pollock ertappt worden war.« Ken Price fiel mir ins Wort. »Ich kann Ihnen auf diese Ungereimtheiten keine Antwort geben«, sagte er scharf. Er stand auf und schob die Hände in die Taschen seines Morgenmantels. Ich sah, wie er die Fäuste unter der dünnen Seide ballte. »Wenn Sie mir mit konkreten Ergebnissen imponieren wollen — bitte. Die sind mir jederzeit willkommen. Für Hypothesen und Theorien habe ich keine Zeit.«

»Wie gut kennen Sie Norwich?«

»Ich kenne ihn überhaupt nicht. Was ich von ihm weiß, stammt aus Ihrem Mund oder den Zeitungen.«

»Sie hatten keine Ahnung, daß er mit Lala befreundet war?« fragte ich.

»Nein, zum Henker!«

Ich grinste lustlos. »Jetzt machen Sie einen Fehler, Price. Sie beschäftigen zwei Gorillas, die den Auftrag haben, Ihre Töchter zu beschatten. So eine Art von Geheimdienst. Ich wette, Pollock und Harper mußten Ihnen detailliert berichten, mit wem Ihre Töchter verkehrten und was sie in New York trieben. Wenn Sie das Gegenteil behaupten, ist das Ihre Sache — aber Sie können nicht erwarten, daß ich das glaube.«

»Ich habe zu tun«, sagte Ken Price. »Bitte, gehen Sie jetzt.«

Ich machte kehrt und ging hinaus.

Der Gangsterboß ist wütend — er fühlt sich durchröntgt Henry Darenger wartete, bis sich die Tür zum Hotelkorridor geschlossen hatte. Dann sagte er grinsend: »Was für ein Trottel!«

Ken Price setzte sich. »Wer?«

»Jesse Trevellian«, sagte Darenger und machte an der Tür ein paar Freiübungen. »Was für ein Trottel!«

»Geh an den Spiegel!« befahl Ken Price scharf.

Darenger sah verdutzt aus. »Was?«

»Tritt vor den Spiegel und sieh hinein!« kommandierte Ken Price. »Los, beeil dich!«

Darenger gehorchte zögernd. Er starrte in den Spiegel. Er sah Ken Price hinter sich im Hotelzimmer stehen.

»So«, meinte Ken Price, »jetzt sag es noch einmal.«

»Was soll ich sagen, Boß?«

»Was du gerade geäußert hast — sogar zweimal.«

Henry Darengers Gesicht rötete sich. Er schaute sich im Spiegel an und sagte leise: »Was für ein Trottel!«

»Lauter!« brüllte Ken Price.

Henry Darengers Mundwinkel zuckten. Er war jetzt knallrot. »Was für ein Trottel!« rief er.

»Okay«, schnaufte Ken Price. »Du kannst dich wieder setzen. Jetzt weißt du Bescheid, wer hier der Trottel ist.« Henry Darenger schluckte. Er sah ziemlich fassungslos aus. »Sie glauben doch nicht etwa, daß dieser Unsinn stimmt, den Trevellian von Corinna sagte…?« meinte er.

»Ich weiß nur, daß Trevellian auf der richtigen Fährte ist«, sagte Ken Price. »Ich kann nicht behaupten, daß mir das gefällt. So, und jetzt hältst du die Schnauze. Du störst mich beim Denken.«

Das Telefon klingelte. Henry Darenger nahm den Hörer ab und nannte die Zimmernummer. »Hier ist ein Mr. Svensson, Sir«, sagte der Portier. »Er wünscht Mr. Price zu sprechen. Kann ich Mr. Svensson ’raufschicken?«

»Moment, bitte«, sagte Darenger. Er ließ den Hörer sinken und schaute seinen Chef an. »Ein Mr. Svensson will Sie sprechen, Boß. Er ist unten in der Halle.«

»Svensson?« fragte Ken Price stirnrunzelnd. »Kenn’ ich nicht. Was will er denn?«

»In welcher Angelegenheit wünscht der Besucher Mr. Price zu sprechen?« erkundigte sich Darenger bei dem Portier.

»Er sagt, es sei privat.«

Darenger gab die Auskunft an Ken Price weiter. An dessen Schläfen schwollen ein paar Adern. »Zum Teufel mit ihm!« entschied er. »Ich empfange keinen Besucher.«

»Mr. Price legt keinen Wert darauf, sich mit Mr. Svensson zu unterhalten«, sagte Henry Darenger kühl und legte den Hörer aus der Hand. Dann setzte er sich wieder an die Tür. Ken Price vertiefte sich in das Studium der Börsennachrichten. Zwei Minuten später klopfte es an die Tür. Henry Darenger sprang auf. Seine Hand glitt an den Schaft der Pistole, die aus seinem Hosenbund ragte und vom Jackett verdeckt wurde.

»Herein«, rief Ken Price, nachdem er sich mit einem Blick vergewissert hatte, daß Henry Darenger aktionsbereit war.

Die Tür öffnete sich. Ein hochgewachsener Mittvierziger betrat das Zimmer. Mit seiner ungebügelten, sehr verwaschen aussehenden Popelinehose und der ledernen Pilo ten jacke nahm er sich in dem eleganten Raum wie ein Fremdkörper aus. Er hatte ein kantiges Gesicht mit babyblauen Augen, strohblondes, kurz geschnittenes Haar und eine Narbe unter dem Kinn.

»Hoch mit den Greifern!« kommandierte Darenger, der einen Schritt zurückgetreten war.

Der Mann mit der Pilotenjacke lächelte verächtlich, als er die Waffenmündung auf sich gerichtet sah. Er hob schweigend die Hände und schaute Ken Price an, der seine Zeitung aus der Hand legte und die Kaffeetasse zum Mund führte. Darenger klopfte den Besucher nach Waffen ab. »Okay«, sagte er dann. »Sie können die Hände herunternehmen.«

»Ich bin Svensson«, stellte sich der Mann vor und schob beide Daumen in den schmalen Ledergürtel seiner Hose. »Erik Svensson. Ich muß mit Ihnen sprechen, Ken Price.«

Ken Price antwortete nicht. Er studierte die Züge des Besuchers so gründlich, als versuche er in ihnen einen verlorenen Sohn wiederzuerkennen. Svensson ließ sich die Musterung ohne Augenblinzeln gefallen.

»Was wollen Sie von mir?« fragte Ken Price.

»Ich möchte Ihnen ein Geschäft Vorschlägen«, sagte Svensson. »Wenn Sie wollen, wechsle ich die Fronten.«

Ken Price erhob sich. Er trat an das Sideboard, auf dem ein kleiner Turm von Zigarrenschachteln stand, und entnahm der oberen Schachtel eine dunkle Havanna. Darenger sprintete heran und gab seinem Boß Feuer.

Das kühl-brutale Gesicht von Erik Svensson drückte spöttische Selbstsicherheit aus. Er hatte gute Nerven und war nicht bereit, sich von Ken Price’ Hinhaltespielchen beeindrucken oder ins Bockshorn jagen zu lassen.

»Was versprechen Sie sich von diesem Frontwechsel?« fragte Ken Price, als seine Zigarre brannte.

»Geld«, sagte Svensson.

Ken Price setzte sich und schlug ein Bein über das andere. »Das ist nicht Ihr einziges Motiv«, stellte er fest.

»Erraten«, sagte Svensson. »Ich gehöre ungern zur Verliererseite, Sir.«

»Sie haben also Hartfords Maschine abgeschossen?« fragte Ken Price.

»Das hat der Kopilot erledigt. Ich habe den Einsatz geflogen, so ist es richtig.«

»Sind Sie Trevellian begegnet?«

Zwischen Svenssons Augen bildete sich eine steile Stirnfalte. »Wer ist Trevellian?«

»Ein G-man. Er war gerade bei mir. Es ist möglich, daß er Sie gesehen hat.«

»Was ist dabei?« fragte Svensson. »Er kennt mich nicht.«

»Sie tragen eine Pilotenjoppe — und das FBI ist hinter einem Piloten her«, sagte Ken Price geduldig.

»Verdammt noch mal — es gibt ein paar hundert Piloten in dieser Stadt!«

»Aber nur wenige, die mich zu besuchen wünschen. Nur einen, um genau zu sein. Sie! Wenn Trevellian das mitgekriegt hat, wird er ein paar naheliegende Kombinationen auf stellen.«

»Soll ich mal nachsehen, ob er noch in der Halle sitzt?« fragte Darenger.

Ken Price nickte. »Schließ hinter dir ab und nimm den Schlüssel mit«, sagte er.

Henry Darenger kehrte fünf Minuten später zurück. Obwohl er den Lift benutzt hatte, war er ein wenig außer Atem. »Trevellian sitzt in der Halle!« berichtete er. »Er hat sich zwar hinter einer Zeitung vergraben, aber er sitzt so, daß er den Eingang, die Lifts, das Treppenhaus und den Rezeptionstresen im Auge behalten kann.«

»Na, bitte«, sagte Ken Price grimmig. Erik Svensson richtete seine babyblauen Augen auf den Syndikatsboß. »Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen seine Leiche als Einstand«, sagte er. »Einen besseren Köder als mich können Sie sich nicht wünschen.«

Ken Price sog an seiner Zigarre und drehte sie dabei zwischen den Fingern hin und her. »Das ist kein übler Gedanke«, sagte er. »Unterhalten wir uns über seine Verwirklichung.«

Mein Mörder wird gedungen

Ich sah, wie der Mann in der Pilotenjacke den Lift verließ. Er stoppte am Zeitschriftenstand, kaufte sich ein paar Comics und ein Taschenbuch, schaute einem Mädchen hinterher, das in einem sehr kurzen Minirock durch die Drehtür kam, und marschierte dann hinaus auf die Straße.

Ich hatte inzwischen vom Portier erfahren, daß der Mann sich Erik Svensson nannte und von Ken Price abgewiesen worden war, als er den Wunsch geäußert hatte, mit dem Syndikatsboß zu sprechen. Ich wußte aber auch, daß Svensson trotz der Abfuhr nach oben gegangen und in Price’ Suite verschwunden war. Er hatte sich fast zwanzig Minuten lang darin aufgehalten.

Unter normalen Umständen wäre mir ein Mann in der Montur eines Sportoder Privatpiloten kaum aufgefallen, aber so kurz nach dem Raub der Hartford-Diamanten und in so unmittelbarer Nähe von Ken Price hatte Svenssons Erscheinen sofort das Räderwerk meiner Kombinationsmaschinerie in Tätigkeit gesetzt.

Erik Svensson ging die Straße hinab, fast wie ein Seemann auf Landurlaub, mit wiegenden Schritten und ohne Eile. Offenbar hatte er eine Schwäche für Blondinen. Er schaute jeder hinterher, die zwischen achtzehn und achtundzwanzig war und eine leidlich gute Figur hatte.

Ich war nicht sehr glücklich darüber, daß wir uns immer weiter von meinem Jaguar entfernten, aber das mußte ich wohl oder übel in Kauf nehmen. Erik Svensson betrat einen Drugstore. Als er ihn wieder verließ, klemmte eine Stange Zigaretten unter seinem linken Arm. Er blieb wiederholt vor Schaufenstern stehen und zeigte immer wieder Interesse für junge blonde Mädchen, denen er sogar manchmal hinterherpfiff.

Einmal schien es mir so, als streife mich dabei sein Blick, aber das war sicherlich nur ein Zufall. Er ging weiter und betrat eine schmale Seitenstraße. Svensson stoppte vor einem kleinen Austin, der ziemlich schmutzig und heruntergekommen aussah, warf die Zigaretten und die Comic-Hefte durch das herabgekurbelte Fenster und setzte sich dann ans Steuer.

Ich schaute mich nach einem Taxi um und hatte Glück, daß gerade eins um die Ecke bog. Als Svensson mit seinem Austin die Parklücke verließ, kletterte ich in das Taxi. »Folgen Sie dem Austin«, bat ich den Fahrer, »aber nicht so dicht, bitte. Er soll nicht merken, daß wir hinter ihm her sind.«

»So was mache ich nicht gern, Mister«, sagte er. »Sind Sie ’n Schnüffler?«

Ich zeigte ihm meinen Ausweis.

Er nickte mürrisch. »Billiger wird es deshalb nicht«, meinte er. »Aber das kratzt Sie sicher nicht. Mit Spesen ist der Uncle Sam ja nicht kleinlich.«

»Da kennen Sie unseren Zahlmeister aber schlecht«, sagte ich und bedauerte, nicht in meinem Jaguar zu sitzen. Mich interessierte es, zu erfahren, wer dieser Erik Svensson war und ob er seinen eigenen Wagen benutzte.

Wir fuhren den Broadway hinauf und dann über die George-Washington-Zollbrücke hinüber nach Jersey. Als wir Palisades Park erreicht hatten, tippte ich darauf, daß Svensson zu einem der kleineren Flugplätze in der Umgebung dieses Bezirks wollte, vielleicht auch zu dem Teterboro Airport, der weiter westlich lag. Nach einer Viertelstunde hatten wir jedoch auch Teterboro hinter uns gelassen.

Erik Svensson fuhr nicht sehr schnell, er bummelte sogar ein wenig. Ich überschlug meine Barschaft, um festzustellen, ob ich genügend Kleingeld für die Bezahlung eines längeren Taxitrips bei mir hatte, und kam zu dem Schluß, daß es für eine weitere Stunde Fahrzeit reichen würde.

Dann erreichten wir Rochelle Park am Highway 62, ein kleines Nest, das an seinem Nordrand einen winzigen Privatflugplatz unterhielt. »Rochelle Aero Club« stand in verwitterten Buchstaben an seinem Blechhangar. Ein kleines Klubhaus und ein Mast, an dem der rot-weiße Windsack flatterte, vervollständigten die Anlage. Das Flugfeld war nicht eingezäunt. Die Zufahrt zu den beiden Gebäuden bestand aus gewalztem Splitt.

Ich beobachtete, wie der Austin auf das Klubgebäude zurollte, und wies den Taxifahrer an, hinter einer Baumgruppe am Highway zu stoppen.

Erik Svensson kletterte aus dem Austin, schnappte sich die Zigaretten und die Hefte und betrat das niedrige weißgestrichene Klubgebäude. Der Austin war der einzige Wagen, der vor dem Gebäude stand.

Ich brannte darauf, einen Blick in den Hangar zu werfen und mir die darin abgestellten Maschinen anzusehen, verzichtete aber darauf, weil ich nicht Erik Svenssons Verdacht zu wecken wünschte und im übrigen vorhatte, zunächst ein paar Erkundigungen über den Mann einzuziehen.

»Fahren Sie mich in den Ort«, sagte ich zu dem Taxichauffeur. »Zum Office des Sheriffs, bitte.«

Das Office lag neben dem einzigen Hotel des kleinen, recht verschlafen wirkenden Ortes. Jetzt, in der prallen Mittagssonne, waren die Straßen wie ausgestorben. Sogar die Hunde hatten sich in die Schatten der Holzveranden verzogen. Ich bat den Fahrer darum, auf mich zu warten, und betrat das Office.

Ein großer Deckenventilator quirlte fleißig die stickige warme Luft, ohne sie wesentlich abzukühlen. An dem Schreibtisch, der hinter einer hölzernen Barriere in der Mitte des Raumes stand, saß ein Mann. Er hatte die Füße hoch gelegt, die Hände vor dem Bauch gefaltet und seinen Hut über das Gesicht gezogen. Der Mann schien zu schlafen.

Ich legte meine Hände auf die Holzbarriere und räusperte mich laut. Der Mann zuckte zusammen, schob den Hut hoch und schaute mich an. Er traf keine Anstalten, die Füße vom Schreibtisch zu nehmen oder seine bequeme Haltung zu verändern. »Well?« fragte er.

»Jesse Trevellian vom FBI«, stellte ich mich vor. »Skid Sie der Sheriff?«

»Der Hilfssheriff«, erwiderte er: »Andy Bribe ist mein Name. Der Sheriff ist krank.«

Ich öffnete das kleine Tor der Holzbarriere und trat an den Schreibtisch. Bribe war ein Mann von knapp vierzig Jahren. Er hatte ein straffes schmales Gesicht mit dunklen Augen und schmalen Lippen. Er sah aus wie jemand, der wenig Spaß versteht.

»Ich brauche eine Auskunft«, sagte ich. »Sie betrifft den Aero Club und eines seiner mutmaßlichen Mitglieder.«

»Schießen Sie los«, sagte Bribe, ohne die geringste Überraschung zu zeigen. »Um wen geht es?«

Ich ließ mich in den Besucherstuhl fallen. »Um Erik Svensson«, sagte ich.

Seufzend schwang Bribe die Beine auf den Boden. Er klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab, fand keine und bedankte sich bei mir mit einem Kopfnicken, als ich ihm mein Päckchen unter die Nase hielt. Er steckte sich eine Zigarette an, wies mit dem Daumen zur Seitenwand und meinte: »Erik Svensson wohnt im Hotel nebenan. Er ist kein Bürger dieser Stadt.«

Mich wunderte es ein wenig, daß Bribe nicht meinen Ausweis zu sehen wünschte, aber möglicherweise hielt er dieses Gespräch für zu unwichtig, um daraus eine Staatsaffäre zu machen.

»Was tut er in Rochelle Park?« fragte ich.

»Nichts, was ich mit Arbeit bezeichnen möchte«, meinte Andy Bribe. »Svensson hat seine Maschine im Hangar abgestellt. Gelegentlich läßt er sich von Privatleuten für einen Flug chartern. Manchmal ist er wochenlang unterwegs.«

»Warum hat er sich ausgerechnet in Rochelle Park niedergelassen?«

»Das hat er mir einmal erklärt. Die Plätze, die sehr stadtnah liegen, verlangen zu hohe Benutzungsgebühren.«

»Empfängt er oft Besuch, und wenn ja, von wem?«

»Das müssen Sie den Hotelbesitzer fragen«, meinte Bribe. »Was ist denn mit Svensson? Hat er etwas angestellt?«

»Das versuche ich gerade herauszufinden«, sagte ich. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen?«

»Bitte'V meinte Bribe und erhob sich. Ich griff nach dem Hörer, setzte mich auf die Schreibtischkante, kurbelte die Vorwahlnummer herunter und wählte dann New York 535-7700. Andy Bribe trat hinter mich. Ich vermutete, daß er,den Raum zu verlassen wünschte, aber plötzlich rammte er mir ein« Eisen in den Rücken, dessen Form keinen Zweifel an seiner Aufgabe zuließ. Es war eine Revolvermündung.

»Werfen Sie den verdammten Hörer auf die Gabel zurück«, zischte Bribe.

Aus dem Hörer drang Myrnas samtige Stimme an mein Ohr. Sie war das Beste, was unsere Zentrale zu bieten hatte. Langsam ließ ich den Hörer sinken.

Bribe knallte seine Hand auf die Gabel. »Keine falsche Bewegung!« warnte er mich.

Ich blieb reglos stehen. »Wer sind Sie?« fragte ich und starrte ins Leere.

»Andy Bribe«, höhnte er. »Haben Sie meinen Namen vergessen?«

»Sie sind kein Hilfssheriff?«

»Doch — aber nicht von Rochelle Park«, spottete er. »Ich arbeite für Erik Svensson. Was sagen Sie nun?«

Ich kapierte. »Er hat Sie angerufen«, sagte ich. »Ihm war klar, daß ich zum Office des Sheriffs fahren würde, um ein paar Erkundigungen über ihn einzuziehen. Sie kamen mir zuvor. Sie setzten sich in den Stuhl des Sheriffs und erwarteten meine Ankunft. Alle Hochachtung. Sie haben rasch geschaltet.«

»Ich wohne nebenan im Hotel, genau wie Erik«, sagte Bribe. »Ja, er hat mich vom Flugplatz aus angerufen. Ich hatte keine Mühe, den Platz des Sheriffs einzunehmen. In den Mittagsstunden ist er leer. Er läßt dann den Apparat zu seiner Wohnung umschalten.«

»Wie soll es jetzt weitergehen?«

»Ich muß mich um den Taxifahrer kümmern«, sagte Bribe. »Er weiß, daß Sie hier sind.«

»Und dann?«

Bribe lachte kurz auf. »Dann landen Sie in der Hölle!«

»Sie sind nicht der erste, der sich das vornimmt«, sagte ich. »Und Sie werden nicht der letzte sein, der mit dieser Prophezeiung auf den Bauch fällt.«

»Gehen Sie durch die Tür dahinten!« befahl mir Andy Bribe barsch und verstärkte den Druck der Revolvermündung in meinem Rücken. »Oder sind Sie scharf darauf, an Ort und Stelle abserviert zu werden?«

Er brachte mich in eine der beiden Zellen, die in dem Flur hinter dem Office lagen und durch eine Gitterwand von dem Flur abgetrennt waren. Er holte mir den Smith and Wesson aus meiner Schulterhalfter, verschloß die Tür von außen, zog den Schlüssel ab und verschwand.

Zwei Minuten später kehrte er mit dem wütend dreinblickenden Taxifahrer zurück. Andy Bribe sperrte ihn in die Nachbarzelle und ging wieder hinaus. Ich hörte, wie er telefonierte, konnte aber nicht verstehen, was er sagte.

»Mann, sind Sie ein Anfänger!« schimpfte der Taxifahrer und rüttelte mit beiden Händen an den eisernen Gitterstäben. »So was muß mir im Beisein eines G-man zustoßen. Was haben Sie denn eigentlich bei Ihrem Verein gelernt?«

Ich setzte mich auf die Holzpritsche und steckte mir eine Zigarette an. »Erstens«, antwortete ich, »wurde uns eingebleut, in kritischen Situationen sinnlosen Widerstand zu vermeiden, und zweitens haben wir gelernt, in jedem Fall die Ruhe zu bewahren.«

»Für meinen Geschmack haben Sie von dieser löblichen Ruhe ein bißchen zuviel«, giftete der Taxifahrer. »Was hat der Kerl mit uns vor?«

»Er will mich aus dem Verkehr ziehen«, sagte ich. »Da er und sein Freund wissen, wer ich bin und wohin ich von Ihnen gebracht worden bin, halten sie es verständlicherweise für notwendig, Sie am Sprechen zu hindern.«

»Soll das heißen, daß diese Burschen mich…?« Er führte den Satz nicht zu Ende. Die Aussicht, von ein paar Gangstern zum Schweigen gebracht zu werden, raubte ihm die Sprache.

»Regen Sie sich nicht auf«, tröstete ich ihn. »Es wird nicht zum Äußersten kommen.«

»Sie machen mir Spaß!« keuchte der Fahrer. »Ich pfeife auf Ihren Optimismus… He, was ist das? Jetzt fährt der Kerl mit meinem Wagen weg!«

Ich hörte, wie sich ein Wagen entfernte.

»Hilfe!« brüllte der Taxifahrer laut. »Hilfe! Hilfe!«

Er schrie, bis er heiser war. Ich war offenbar der einzige, der ihn hörte. Die Zellen hatten keine Fenster. Die Hilferufe des Fahrers drangen sicherlich bis in das Office, aber sie erreichten schon nicht mehr die Straße. Und wenn sie das taten, war niemand in der Nähe, der darauf reagieren konnte.

Zehn Minuten später öffnete sich die Flurtür. Bribe und Svensson kamen herein. Svensson schaute mich grinsend an. »Ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es so einfach sein würde«, sagte er. »Ich habe es darauf angelegt, daß Sie mir folgten. Na ja, ich gebe zu, daß mich Ken Price erst darauf brachte. Ihr Tod ist für Andy und mich das Entree in sein Syndikat. Billiger macht es dieser Bursche nicht.«

»Da wir gerade von Preisen reden, sollten Sie sich mal durch den Kopf gehen lassen, was auf Mord steht«, warnte ich ihn.

Svensson lachte verächtlich. »Man kann nur einmal sterben… Egal, wie viele Leute man über seine Klinge springen ließ.«

»Ich vermute, daß Sie von Hartford und Broadstairs sprechen«, sagte ich.

»Genau. Wir haben sie abgeknallt wie die Fliegen. Es hat richtigen Spaß gemacht«, höhnte Svensson.

»Sie haben einen recht bizarren Sinn für Humor«, stellte ich fest.

»Lassen Sie mich ’raus, bitte«, bettelte der Taxifahrer plötzlich mit weinerlicher Stimme. »Ich schwöre Ihnen, daß ich den Mund halten werde. Ich habe eine Frau und drei Kinder zu ernähren. Ich kann es mir nicht leisten, jemanden zu verpfeifen. Sie müssen mir das glauben, Gentlemen!«

»Shut up!« brüllte Andy Bribe scharf. »Mit dir rechnen wir später ab.«

Ich blickte Erik Svensson an. »Sie arbeiteten für Lester Norwich«, sagte ich. »Was brachte Sie dazu, sich mit seinem Gegner zu arrangieren?«

»Mit Ken Price, meinen Sie?« fragte Svensson. »Na, raten Sie mal, Schlauköpfchen!«

Ich zuckte mit den Schultern. »Leute Ihres Schlages kennen keine Loyalität. Sie hängen ihr Mäntelchen nach dem Wind und arbeiten für den Stärkeren.«

»Stimmt genau«, höhnte Erik Svensson. »Andy und ich hielten Lester Norwich für einen großen Knüller, für einen Mann mit fabelhaften Ideen und Verbindungen, für den Leiter einer schlagkräftigen Organisation. Dann begriffen wir, daß er nicht so glücklich operierte, wie man das von einem Syndikatsboß erwarten muß. Als Norwich zusammengeschossen wurde und im Hospital landete, kamen Andy und ich zu der Überzeugung, daß es am besten sei, die Fronten zu wechseln.«

Was er sagte, interessierte mich nicht. Ich hatte es in dem Moment geahnt, als Svensson im Waldorf-Astoria erschienen war, um mit Ken Price zu sprechen. »Wer erschoß Lala Price?« fragte ich.

Andy Bribe blickte auf seine Armbanduhr. »Hier wird zuviel gequatscht«, meinte er nervös. »Willst du warten, bis der Sheriff aufkreuzt?«

Erik Svensson winkte ab. »Mach dir nicht in die Hose. Wenn er jetzt käme, würden wir ihn rasch dazu bringen, kleine Brötchen zu backen. Ein Provinzsheriff! Wer ist das schon? Vor unseren Pusten wird er kuschen.«

»Darauf möchte ich’s nicht ankommen lassen«, argumentierte Bribe. »Es ist besser, wir bringen das Unternehmen glatt und unauffällig über die Bühne. Denke an unseren neuen Boß. Es würde ihm nicht gefallen, wenn wir bei diesem Job eine Menge Staub aufwirbelten.«

»Okay, gehen wir«, lenkte Svensson ein. »Laß die beiden heraus.«

Erik Svensson trat bei diesen Worten an die Wand zurück und holte einen großkalibrigen Revolver aus der Schulterhalfter. Andy Bribe öffnete meine Zellentür.

»Verschränken Sie die Hände im Nacken, und stellen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand«, kommandierte-Svensson. Ich gehorchte. Als Svensson hinter mich trat, ahnte ich, was kommen würde. Ich spannte meine Muskeln, um den Schlag abzufangen, aber die Anstrengung war ohne meßbaren Wert. Der Waffenschaft landete hart und gezielt auf meiner Schläfenpartie. Ich ging zu Boden und verlor das Bewußtsein.

Auf dem Weg ins Jenseits Hitze. Der Geruch von Öl und Benzin. Das Rattern eines Automotors, der mit einem schadhaften Pleuellager lief. Ein Schmerz im Kopf und die deprimierende Erkenntnis, gefesselt und völlig wehrlos zu sein — das waren die ersten Eindrücke, die sich mir aufdrängten, als ich wieder zu mir kam.

Ich lag im Kofferraum eines Wagens, mit angewinkelten Knien, an Händen und Füßen mit Stricken gefesselt, aber nicht geknebelt. Angestrengt lauschte ich nach draußen.

Wir rollten über eine asphaltierte Straße und fuhren trotz des Lärms, den die schadhafte Maschine verursachte, nicht sehr schnell. Niemand überholte uns, niemand kam uns entgegen. Vielleicht irrte ich mich auch mit diesen Verkehrsbeobachtungen. Der Motor machte zuviel Lärm. Es war schwer feststellbar, was tatsächlich außerhalb meines Blechgefängnisses geschah.

Dann wechselte der Straßenbelag. Die Reifen knirschten laut, als sie über eine Splittdecke rollten. Der Wagen stoppte. Der Motor wurde abgestellt.

»Die Luft ist rein«, hörte ich Andy Bribe sagen. Die Männer stiegen aus. Sekunden später wurde die Kofferraumklappe geöffnet. Ich sah, wie Erik Svensson sich über mich beugte. In seiner Hand blitzte ein Messer. Er setzte es an meinen Hals.

»Wie fühlen Sie sich, G-man?« fragte er höhnisch.

Er wartete meine Antwort nicht ab und zog das Messer zurück. Ich streckte mich, als er die Stricke an meinen Beinen zerschnitt, und stellte fest, daß der Wagen unter dem Dach eines Flugzeughangars stand.

»Aussteigen!« befahl Erik Svensson beinahe fröhlich. »Wir begleiten Sie ein Stück zum Jenseits.«

Ich richtete mich auf und stieg mit einiger Mühe aus dem Wagen. Meine Hände waren auf dem Rücken gefesselt. Ich spürte, daß die Gangster dabei sehr gründliche Arbeit geleistet hatten.

Der Hangar enthielt vier Maschinen, drei ältere Cessnas und eine Piper Cub. Der Hangar war zum Flugfeld hin offen.

Ich machte ein paar Kniebeugen, um die Steifheit meiner Glieder loszuwerden, vor allem aber, um die Festigkeit der Fesseln überprüfen zu können.

»Beeilen wir uns«, sagte Andy Bribe ungeduldig. »Draußen steht ein Gartenschirm. Er wird von einem Betonfuß gehalten. Ich kann den Fuß abnehmen und Trevellian damit beschweren. Mit diesem Anhängsel kommt er nie wieder an die Oberfläche…«

»Für den Hin- und Rückflug zum See brauchen wir eine Menge Sprit«, meinte Erik Svensson. »Eigentlich können wir uns diesen Trip sparen.«

»Willst du den Wagen nehmen?« fragte Bribe verdutzt. »Das ist doch sinnlos. Die Ufer fallen nicht sehr steil ab. Wir müssen ihn genau in der Mitte des Sees versenken.«

»Ich habe eine Idee«, meinte Erik Svensson. In seinen Augen leuchtete es kalt.

»Was ist es?« fragte Andy Bribe. Er schien von Svenssons Ideen nicht viel zu halten.

»Wir fabrizieren für unseren Freund einen runden kleinen Unfall«, sagte Erik Svensson. »Ungewöhnlich, aber überzeugend — mit dem Propeller.«

»Ich verstehe nicht, worauf du hinauswillst«, sagte Bribe, aber die Langsamkeit seiner Worte machte mir klar, daß er Erik Svenssons Vorhaben zu durchschauen begann. Mich überlief ein eiskalter Schauer.

»Die Burschen wissen doch, daß er in der Hartford-Sache unterwegs ist«, sagte Svensson. »Das machen wir uns zunutze.«

»Welche Burschen?« fragte Bribe.

»Mann, schaltest du heute langsam. Seine Kollegen. Das FBI. Die Bullen in der Stadt. Sie alle wissen, daß Trevellian unter anderem die Maschine sucht, mit der Hartfords Kiste abgeschossen wurde. Okay — Trevellian hat also die Stadt verlassen, um sich die Flugplätze der Umgebung anzusehen, vor allem die kleineren. Unter anderem kam er nach Rochelle Park. Warum nicht? Er traf niemand im Hangar an. Er kam herein, um die Maschinen unter die Lupe zu nehmen, und kletterte zu diesem Zweck in die einzelnen Cockpits. Er probierte hier und da ein wenig herum und berührte zufällig den elektrischen Anlasser. Er stieg aus, während die Vorzündung zu arbeiten begann, und ging in dem Moment am Propeller vorbei, als die Zündung voll einsetzte und der Motor ansprang. Kein Wunder, daß Trevellian dabei seinen Kopf verlor.«

»Das kauft uns keiner ab.«

»Uns? Was hat das denn mit uns zu tun? Für das FBI sind wir unbeschriebene Blätter. Trevellian wäre der einzige, der uns überführen könnte — und der gerät unter eine Guillotine mit siebentausend Touren. Außerdem werden wir nicht unsere Maschine verwenden, sondern die von Buck Ammons. Er ist in Florida beim Angeln.«

»Dann hat er ein Alibi, und sie werden die Besitzer der anderen Maschinen duiph die Mangel drehen«, meinte Andy Bribe, aber es war zu spüren, daß er trotz seiner Einwände nicht grundsätzlich abgeneigt war, Svenssons Vorschlag aufzugreifen.

»Wenn schon!« meinte Erik Svensson. »Ken Price wird uns ein paar Zeugen kaufen.«

»Quatsch. Wir sind in Rochelle Park gesehen worden«, wandte Andy Bribe ein.

»Die sehen uns täglich ein paarmal«, meinte Svensson. »Schließlich wohnen wir hier.«

»Wie stellst du dir die praktische Ausführung vor?« wollte Bribe wissen. »Soll ich ihn etwa halten?«

Svensson lachte. »Unsinn. Das würdest du nicht schaffen. Nein, wir binden ihn auf den alten Jeep, der hinter dem Hangar steht. Dann fahren wir den Jeep langsam an die Maschine heran. In der Art eines Baumstammes, der von einer Transportbühne an die Säge hei'-angeführt wird.«

»Mir wird schon bei dem Gedanken übel«, sagte Bribe.

»Ich bin gleich wieder da«, meinte Erik Svensson und ging hinaus. Andy Bribe steckte sich eine Zigarette an, obwohl mindestens ein Dutzend Schilder innerhalb des Hangars das Rauchen strikt untersagten.

»Wer tötete Lala Price?« fragte ich Andy Bribe.

Er starrte mich verblüfft an. »Das wirft mich um«, murmelte er. »Wir reden von dem, was wir mit Ihnen anstellen wollen, und Sie interessieren sich für Dinge, die nicht im geringsten damit Zusammenhängen. Haben Sie denn nicht kapiert, daß Sie Ihren Kopf praktisch schon los sind?«

»Theoretisch«, stellte ich richtig. »Los, sagen Sie es mir: Wer hat es getan?«

»Erik hat das Mädchen erschossen. Lester Norwich wollte es so«, sagte Bribe.

»Und Sie lenkten den Wagen?«

Andy Bribe nickte. »Erik konnte nicht gleichzeitig schießen und fahren. Wir waren dem Mädchen über eine Stunde gefolgt. Lala wiederum hatte sich Ihnen an die Fersen geklebt.«

»Warum wollte mich das Girl töten? Wer hatte ihr weisgemacht, daß ich Lester Norwich erschossen haben sollte?«

»Lester Norwich wollte Lala loswerden. Um dieses Ziel zu erreichen, mußte er sie mit einem Trick aus dem Haus locken. Er ließ Lala telefonisch bestellen, daß Sie — Jesse Trevellian — hinter die Zusammenhänge des Hartford-Diamantenraubes gekommen seien und versucht hätten, Lester Norwich zu verhaften. Dabei sei es zwischen Norwich und Ihnen zu einem Schußwechsel gekommen, in dessen Verlauf Lester getötet worden sei.«

»Wie kam Norwich ausgerechnet auf meinen Namen?« erkundigte ich mich.

Andy Bribe zuckte mit den Schultern. »Er hat ihn irgendwo mal aufgeschnappt, nehme ich an. Er hätte ebensogut den Namen eines anderen FBI-Agenten wählen können, aber es war nun mal Ihrer.«

»Okay, weiter«, sagte ich. »Konnte er denn voraussehen, daß Lala Price seinen Tod rächen würde?«

»Nein«, sagte Bribe kopfschüttelnd. »Aber ihm war klar, daß das Girl wie eine Furie aus dem Haus rauschen würde, um Sie zur Rede zu stellen.«

»Ich kann noch immer nicht verstehen, warum Norwich das Mädchen loswerden wollte«, sagte ich. »Es sei denn, er wünschte die Beute mit ihr nicht zu teilen.«

»Das war nur ein Punkt seiner Überlegungen«, meinte Andy Bribe. »Es gab einen weitaus bedeutungsvolleren. Er wollte nicht Lala, sondern Corinna heiraten. Solange Lala lebte, wäre das nicht möglich gewesen.«

»Warum nicht? Die beiden Schwestern verstanden sich nicht. Vielleicht hätte es Corinna sogar Vergnügen gemacht, der ungeliebten Schwester den Liebhaber auszuspannen.«

»Das hätte Lala nicht zugelassen. Sie haben ja erlebt, wozu sie imstande war. Norwich wußte, daß Lala nicht einmal vor einem Mord zurückschrecken würde — und das störte ihn an ihr. Er wollte keine Frau heiraten, die seine kriminellen Neigungen teilte. Er wollte der Boß sein und bleiben — deshalb zog er die schöne Corinna vor.«

»Wie gut kannte er Corinna?«

»Eigentlich kannte er sie nur vom Ansehen. Er war überzeugt davon, sie gewinnen zu können. Er fühlte, daß sie für seine Zwecke die geeignetere Partnerin sein würde — nicht so ausgekocht wie Lala, die ihn zwar abgöttisch liebte, von der er aber befürchtete, daß sie ihm immer wieder mit ihrem Temperament Schwierigkeiten machen würde, und die er im übrigen nicht in dem Maße für gesellschaftsfähig hielt wie ihre Schwester Corinna.«

»Es gab sicherlich noch einen anderen Punkt, der Lester Norwich’ Pläne und Überlegungen formte«, sagte ich. »Er ist der wichtigste von allen.«

»Nämlich?« fragte Bribe.

»Ken Price’ Vermögen. Norwich wollte es erben.«

»Stimmt«, sagte Bribe.

»Es war von Anbeginn Norwich’ erklärte Absicht, die Price-Millionen zu kassieren«, sagte ich. »Um dieses Ziel zu erreichen, mußten ihm zwei Dinge gelingen. Erstens mußte er eine der Erbinnen heiraten, und zweitens mußte er durch Ken Price’ Tod die Erbschaft wirksam werden lassen. Wenn Norwich eines der Mädchen geheiratet und das andere am Leben gelassen hätte, wäre nur die Hälfte der Erbschaft in seinen Besitz gelangt. Da Norwich kein Mann ist, der halbe Sachen macht, entschloß er sich dazu, die Schwester seiner ,Braut' aus dem Weg zu räumen. Für ihn erhob sich demnach die Frage, ob es Lala oder Corinna treffen sollte. Er konzentrierte sich zunächst auf Lala. Sie verliebte sich prompt in ihn. Er drehte mit ihr ein paar krumme Sachen, um sie enger an sich zu ketten, begriff aber dabei, daß sie nicht die Frau war, mit der er auf die Dauer zusammen leben konnte.«

»Warum fragen Sie soviel? Sie wissen doch bestens Bescheid!« meinte Andy Bribe.

»Ich weiß zwar, was geschehen ist, aber es gibt da ein paar Dinge, die mir zu hoch sind«, sagte ich. »Da ist zum Beispiel der Diamantenraub. Die Aktion hätte Lester Norwich mit einem Schlag zum reichen Mann machen können. Wieso gab er sich damit nicht zufrieden?«

»Sie überschätzen den Wert der Beute. Außerdem wurde sie ihm ja wieder abgeknöpft.«

»Das konnte er vorher nicht wissen.«

»Er mußte Erik und mich für die Morde entlohnen, und wir sind nun mal nicht billig. Lester Norwich unterschätzte seine Aufgabe keineswegs. Er wußte, welche Macht Ken Price verkörperte und wie schwierig es sein würde, den Syndikatsboß abzuservieren. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigte Lester Norwich eine eigene schlagkräftige Organisation. Das kostet Geld. Mit der Hartford-Beute wollte er ursprünglich seinen Feldzug gegen Ken Price finanzieren. Dummerweise schnappten Sie ihm die Beute aus Lalas Schlafzimmer weg. Norwich hatte sie dem Girl überlassen, um zu zeigen, wie sehr er Lala vertraute — es war einer seiner Bluffs.«

»Als Norwich den Befehl gab, Lala zu töten, schickte er eines seiner Bandenmitglieder los, um die Beute aus dem Apartment holen zu lassen…«

»Ganz recht«, nickte Andy Bribe und schielte unruhig zum Eingang des Hangars, »aber Bernie Hobson geriet dabei in die Hände von Stan Pollock. Sie kamen dazu und verhafteten Bernie. Damit war die Beute im Eimer.«

»Welche Rolle spielte Lala Price’ Gorilla in diesem schmutzigen Stück?« wollte ich wissen.

»Fred Harper? Gar keine. Er ging einfach stiften, als er sah, daß es Lala erwischt hatte. Fred Harper hatte Angst, von Ken Price wegen Vernachlässigung seiner Sorgfaltspflicht zur Verantwortung gezogen zu werden.«

»Wie kam Ken Price hinter Lester Norwich’ Pläne?«

»Das kann ich nur vermuten«, sagte Andy Bribe. »Ihn interessierten die Leute, die mit seinen Töchtern verkehrten. Er ließ sie vermutlich überwachen und mit Abhörgeräten belauschen. Dabei muß er entdeckt haben, was gespielt wurde. Es ist klar, daß er zum Gegenangriff ansetzte und Lester Norwich abzuservieren versuchte.«

Ich hörte, wie ein Motor ansprang.

»Endlich«, sagte Bribe. »Ich dachte schon, der wollte einen Jeep aus dem Ort holen.«

Am Tor des Hangars erschien ein alter, klappriger Jeep. Er rollte bis zu Andy Bribe und mir heran und stoppte. Svensson sprang heraus. Er hatte eine Handvoll Stricke unter seinem linken Arm.

»Mann, wo hast du denn so lange gesteckt?« fragte ihn Andy Bribe.

»Ich mußte mir ein paar Stricke zusammensuchen«, erklärte Erik Svensson und hob die Augenbrauen. »Dir ist doch hoffentlich die Zeit nicht lang geworden?«

»Ich will weg von hier«, sagte Andy Bribe nervös. »Verdammt, was geschieht, wenn plötzlich jemand hier aufkreuzt?«

»Um diese Zeit und in dieser Hitze? Keine Angst!« lachte Erik Svensson. »In zehn Minuten ist alles vorüber. Lege ihn auf die Motorhaube.«

Andy Bribe zog seinen Revolver aus dem Hosenbund und schaute mir in die Augen. »Hören Sie gut zu, Trevellian. Es ist für alle Beteiligten das beste, wenn wir die Sache schnell hinter uns bringen. Natürlich können Sie versuchen, sich zu wehren, aber das würde ich Ihnen nicht raten. Wenn Sie Schwierigkeiten machen, bekommen Sie eine Vollnarkose mit dem Revolverschaft. Ist das klar?«

Mein Mund war trocken. In dem Hangar war es knallheiß. Unter Bribes und Svenssons Achseln zeichneten sich Schweißflecken ab. Ich wollte etwas sagen, ich wollte mit ein paar schlauen Worten versuchen, den Plan der Männer umzustoßen, aber mir fiel nichts ein. Mein Kopf war wie ausgehöhlt.

Sie legten mich auf die Motorhaube. Ich ließ mich prompt herunterrollen. Dann geschah das, was Bribe mir angedroht hatte. Ich erhielt einen Schlag über den Kopf und wurde ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, zurrten sie mich mit den Stricken auf der Motorhaube fest.

Ich entdeckte, daß die Gangster mich auf ein Brett geschnallt und dann auf die Motorhaube gelegt hatten. Das Brett stützte den Nacken und sorgte dafür, daß ich mit dem Kopf über den Kühler hinausragte. Meine Füße lagen auf der heruntergeklappten Windschutzscheibe.

Ich konnte mich nicht rühren. Die Stricke waren alt und schmutzig, aber sie hatten nichts von ihrer soliden Festigkeit verloren. Ich versuchte sie mit einem gewaltsamen Anspannen meiner Muskeln zu sprengen, mußte aber vor den Schmerzen kapitulieren, die ich mir dabei zufügte.

»Alles okay?« fragte Svensson, als Andy Bribe nochmals den Sitz der Knoten prüfte.

»Es kann losgehen«, sagte Andy Bribe , schwer atmend.

Über Erik Svenssons schweißnasses Gesicht huschte ein schmutziges Grinsen. »Diese Methode hat einen unleugbaren Vorteil«, sagte er. »Wir sind dabei echte Partner. Wenn einer von uns ausfiele, wäre diese Exekution unmöglich. Ich lasse den Motor an, und du fährst unseren Freund unter das Rasiermesser.«

»Halt die Schnauze!« brüllte Andy Bribe wütend. »Du redest zuviel. Steig endlich ein, damit wir die Sache hinter uns bringen können.«

»Warum denn so eilig?« höhnte Svensson. »Ich finde, wir sollten unserem Freund noch Gelegenheit zu einem letzten Wort geben.«

Ich verzog das Gesicht. Die schmutzigen, ölverschmierten Stricke stanken bestialisch. Entweder hatten sie bislang zur Befestigung von Benzinkanistern gedient, oder Svensson hatte sie aus einer Öllache gezogen.

»Haben Sie noch einen Wunsch, G-man?« erkundigte sich Erik Svensson spöttisch.

»Ja«, sagte ich. »Eine Zigarette.«

»Kommt nicht in Frage«, entschied Andy Bribe. »Er will bloß Zeit gewinnen.«

»Du bist zu hart, Andy«, höhnte Erik Svensson und zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hosentasche. Er schob mir eine Zigarette zwischen die Lippen und gab mir Feuer. Ich inhalierte tief und fragte mich, ob diese Zigarette meine Henkersmahlzeit sein sollte.

Ich lauschte angestrengt nach draußen. Außer dem Zirpen der Grillen war nichts zu hören. Man hätte meinen können, daß im Umkreis von fünfzig Meilen keine Menschen wohnten.

»Willst du etwa warten, bis er mit dem Ding fertig ist?« fragte Andy Bribe gereizt und setzte sich an das Steuer des Jeeps.

Erik Svensson beobachtete mich grinsend, dann schüttelte er seinen Kopf. »Da fällt mir eine Nummer ein, die ich mal im Zirkus gesehen habe«, sagte er. »Da schlug jemand seinem Partner mit der Peitschenspitze die brennende Zigarette aus dem Mund. Wir ändern das 'ein wenig. Wir machen das mit dem Propeller.«

»Wenn du nicht sofort anfängst, hau’ ich ab«, drohte Andy Bribe wütend.

»Erst müssen wir mal Maß nehmen«, sagte Svensson. »Fahr zu Ammons Maschine hinüber.« .

Der Motor des Jeeps sprang beim ersten Startversuch an. Ich blickte an die Decke des Hangars, als wir auf eines der Flugzeuge zurollten. Andy Bribe stoppte den Wagen unterhalb des Propellers. »Mist«, sagte er. »Das hätten wir uns vorher überlegen sollen. Da fehlen mindestens noch anderthalb Yard.«

»Das werden wir gleich haben«, meinte Svensson. Ich hörte, wie er zum Schwanz des Flugzeugs ging. Er hatte keine Mühe, ihn anzuheben. »Ich schiebe den Holzbock darunter«, sagte er. »Reicht das?«

»Prima«, sagte Andy Bribe. »Jetzt kommt es tadellos hin. Wird die Chose auch halten, wenn du die Kiste anläßt?«

»Ich schiebe vorsichtshalber noch ein paar Bremsklötze unter das Fahrgestell«, meinte Erik Svensson.

Ich wandte den Kopf. Dicht neben mir war die Schneide des Metallpropellers. Wenn der Motor ansprang, war es für mich zu spät. Ich hörte, wie Erik Svensson die Bremsklötze unter die Räder schob und wiederholt mit seinen Füßen dagegentrat.

»Kann’s losgehen?« fragte Andy Bribe. Erstaunlicherweise klang seine Stimme jetzt ganz ruhig.

»Es ist soweit«, bestätigte Erik Svensson und kletterte in die Kanzel der Maschine.

Ich machte einen tiefen Zug. Dann drehte ich den Kopf mit der Zigarette so weit herum, wie mir das möglich war, und drückte ihr brennendes Ende gegen den ölgetränkten Strick, der meine Schultern an dem Brett festhielt.

Die Wirkung war verblüffend. Nach einem kurzen häßlichen Zischlaut schoß eine Flamme aus dem Strick, als wäre es eine Zündschnur. Ich spürte, wie die Hitze nach meiner Haut griff, und schloß die Augen.

»Stop!« schrie Andy Bribe und schwang sich aus dem Jeep. Die Stricke brannten jetzt lichterloh. Mein Anzug bot einen gewissen Schutz gegen die züngelnden Flammen, aber es war klar, daß sie sich in Sekundenschnelle hindurchgefressen haben würden.

Andy Bribe sprang vor die Kühlerhaube, des Jeeps, um schieben zu können. Er wollte vermeiden, daß die Flammen die Benzinleitungen des über mir befindlichen Flugzeugmotors gefährdeten. Genau in diesem Moment sprang der Motor knatternd an.

Ein seltsames, ebenso flaches wie hartes Geräusch machte mir klar, daß Andy Bribe von dem Propeller erwischt worden war.

Mein Kopf war von dem rotierenden Propeller nur wenige Inch entfernt. Mir war es zumute, als würde er mein Haar und meine Kopfhaut abrasieren. Ich zog meinen Körper zusammen oder bildete mir doch ein, es zu tun. Die sengende Hitze auf meiner Haut verebbte. Der Propellerwind drückte die Flammen aus und ließ nur noch einen kleinen Schmorbrand übrig.

Der Motor wurde gestoppt. Der Propeller machte noch einige Umdrehungen, dann kam er zum Stillstand. Die schmorenden Stricke stanken infernalisch.

Erik Svensson sprang aus der Kanzel auf die Tragfläche und von dort auf den Boden. Als er seinen Partner sah, stieß er einen würgenden Laut aus. Ich wußte nicht, welches Bild sich ihm in diesem Moment bot.

Erik Svensson wandte sich ab. Ich hörte, daß er sich erbrechen mußte.

Ich spannte die Muskeln und schaffte es mit äußerster Kraftanstrengung, die von den Flammen zerfressenen Stricke an meinen Schultern zu sprengen. Nachdem ich den Oberkörper frei bewegen konnte, schaffte ich es, die Handfesseln gegen die scharfen Seitenkanten des Brettes zu reiben. Ich spürte, wie die einzelnen Hanfstränge platzten. Der Rest war ein Kinderspiel. Ich schwang mich von der Motorhaube. Hinter mir polterte das Holzbrett zu Boden.

Das Geräusch ließ Erik Svensson herumfahren. Er lehnte leichenblaß an der Tragfläche. Seine Augen weiteten sich, als er entdeckte, daß es mir während seines Unwohlseins gelungen war, mich zu befreien.

Seine Hand zuckte hoch, um den Revolver aus der Schulterhalfter zu reißen. Ich war bei ihm, noch ehe er die Waffe auf mich anlegen konnte. Mit einem Handkantenschlag fegte ich sie aus seinen Fingern.

Einen Moment lang schien es so, als wollte er sich mit einem Hechtsprung hinterherstürzen, aber als er bemerkte, daß die Waffe mit einem metallischen Geräusch jenseits seiner Reichweite geriet, hielt er es für klüger, mit seinen Fäusten auf mich loszugehen.

Ich praktizierte einen Sidestep und ließ ihn leerlaufen. Als er erneut angriff, bediente ich ihn mit einer knallharten Körperdublette. Das nahm ihm den Atem. Er senkte prompt die Deckung. Genau das hatte ich beabsichtigt.

Als er seine Linke bei mir anzubringen versuchte, lief er in meinen Konterschwinger. Ich traf ihn hart und setzte sofort nach, als er zurückstolperte. Ich bediente ihn mit allem, was ich drin hatte.

In mir war noch die Erregung über das, was Svensson und Bribe mit mir anzustellen versucht hatten. Es gab meinen Schlägen den nötigen Drive.

Erik Svensson versuchte mitzuhalten, aber der Schock über die unerwartete Wende und über das, was seinem Partner zugestoßen war, bedeutete für ihn ein Handikap, mit dem er ebensowenig fertig werden konnte wie mit meinen harten rechten und linken Haken.

Ich trommelte ihn binnen weniger Minuten zusammen. Er versuchte noch zweimal, wieder hochzukommen, mußte es sich aber gefallen lassen, dabei gleichsam in das offene Messer meiner Fäuste zu laufen.

Das letztemal erwischte ich ihn voll am Kinn. Er klappte zusammen, rollte auf seinen Bauch und blieb liegen, ohne sich zu rühren. Ich schaute mich nach Bribe um und spürte ein häßliches Zerren in meiner Kehle. Ich schaute rasch weg. Andy Bribe war nicht mehr zu helfen.

Ich sammelte die wenigen Stricke auf, die die beiden Gangster nicht benutzt hatten, und machte mich daran, Erik Svensson damit zu fesseln. Er kam erst wieder zu sich, als ich ihn in den Jeep legte.

Ich setzte mich ans Steuer und fuhr aus dem Hangar. Draußen empfing mich eine brüllende Hitze, weniger dumpf, stickig und drückend als im Innern der Halle, aber um vieles intensiver. Ich lenkte den Jeep am Klubgebäude vorbei zum Highway und drückte voll auf das Gaspedal, um möglichst rasch das Sheriff’s Office von Rochelle Park zu erreichen.

Ein Saldo zu unseren Gunsten: zwei Syndikate geschafft

Wir fanden den Taxichauffeur in einer verlassenen Scheune unweit des Sheriff’s Office. Auch sein Wagen stand darin. Ich kehrte mit dem Fahrer nach New York zurück, nachdem ich mich davon überzeugt hatte, daß die Ermittlungen um Andy Bribes Tod ebenso glatt verliefen wie die Verhaftung von Erik Svensson.

Am Abend dieses Tages — um einundzwanzig Uhr dreißig, um genau zu sein — betraten Milo und ich Lester Norwich’ Krankenzimmer.

»Wir bringen Ihnen eine frohe Botschaft«, sagte ich. »Ken Price ist verhaftet worden. Sie haben Ihr Ziel erreicht. Damit dürfte er für immer aus dem Verkehr gezogen worden sein.«

Lester Norwich’ Hände glitten nervös über das makellose Weiß der Bettdecke. »Warum erzählen Sie mir das?«

»Ich dachte, es interessiert Sie«, sagte ich und holte einen Haftbefehl aus der Tasche. »Umgekehrt wird es Price erfreuen, daß Sie nach Ihrer Verhaftung wegen wiederholter Anstiftung zum Mord kaum eine Chance haben dürften, jemals wieder die Luft der Freiheit zu atmen. Hier ist die Verfügung, die bestimmt, daß Sie in das Gefängnishospital überführt werden.«

»Ich hasse Sie!« preßte Lester Norwich durch seine Zähne.

»Sie täten gut daran, sich selbst zu hassen«, sagte ich. »Sie haben sich das alles selber eingebrockt. Eines würde mich noch interessieren. Warum haben Sie es getan? Was brachte Sie auf die schiefe Bahn? Sie waren ein wohlhabender Mann, ein geachteter und renommierter Diamantenhändler…«

Lester Norwich’ Hände kamen zur Ruhe. Er starrte an die Zimmerdecke.

»Das letzte Jahr war für mich die Hölle«, sagte er. »Verluste und Fehlspekulationen brachten mich plötzlich an den Rand des Ruins. Ich sah keine Chance, in kurzer Zeit wieder nach oben zu kommen. Und dort gehöre ich hin. Das ist die einzige Luft, die mir atmenswert erscheint. Als ich kapiert hatte, daß ich dieses Ziel nicht auf legale Weise erreichen konnte, wählte ich einen weniger feinen Weg. Die Freundschaft mit Lala Price bildete dazu den Auftakt. Wenn ich geahnt hätte, was der Versuch, mich von Lala zu befreien, um an Corinna heranzukommen, für Folgen haben würde, wäre ich gewiß nicht auf die Idee gekommen, diesen verrückten Plan auszuführen. Mein größtes Pech war es, daß Ken Price von meinep Absichten und Taten Wind bekam und nun seinerseits versuchte, mich abzuschießen. Von diesem Bandenkampf profitierten letzten Endes nur Sie.«

»Hatte Corinna Price Ihnen denn Hoffnungen gemacht?« wollte ich wissen.

»Nein, aber ich war sicher, sie für mich gewinnen zu können«, meinte Lester Norwich. »Ehe ich damit beginnen konnte, hielt ich es jedoch für notwendig, Lala auszuschalten.«

Vom Krankenhaus aus fuhren Milo und ich zu dem schon verhafteten Ken Price. Er weigerte sich, unsere Fragen zu beantworten. Wir nahmen daraufhin Darenger in die Mangel und schafften es, in den folgenden Tagen die beiden feindlichen Organisationen aufzurollen, indem wir ihre Mitglieder gegeneinander ausspielten.

Es begann mit einem Haftbefehl für Bernie Hobson und nahm seinen Fortgang mit der Unschädlichmachung des Killerquartetts, das in Lester Norwich’ Auftrag den Überfall im Gentleman’s Prisma ausgeführt hatte. Zuletzt griffen wir uns den Mann, der Hugh Parrish auf geknüpft hatte — einen Gangster aus Chicago, der mit Ken Price nach New York gekommen war und die Weisungen seines Bosses befolgt hatte.

Als Milo und ich das Anklagematerial an die zuständigen District Attorneys weiterleiteten, waren Chicago und New York um zwei schlagkräftige Unterweltorganisationen ärmer und die Presse um ein paar Sensationen reicher geworden.

ENDE

Einäugige Killer: 5 klassische Krimis

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